Dunkel über Drachenheim - Jörg Benne - E-Book

Dunkel über Drachenheim E-Book

Jörg Benne

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Das packende Finale der Drachenheim-Dilogie! Während die Bewohner Drachenheims dem Dunkelfest entgegenfiebern, steht Diani kurz vor der Prüfung zur Zauberin. Wenn sie diese meistert, könnte sie die Stadt endlich hinter sich lassen - doch ihrem Vater ist jedes Mittel recht, um das zu verhindern. Arnik glaubt, außerhalb von Drachenheim eine neue Heimat gefunden zu haben. Doch die Margai wollen, dass er in die Stadt zurückkehrt, um die Drachen zu befreien. Er stimmt zu - ohne zu ahnen, dass er damit den Plänen der Verschwörer in die Hände spielt. Drachenheim stehen dunkle Stunden bevor!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dunkel überDrachenheim

Jörg Benne

abonniere meinen Newsletter und erhalte meinen Roman Königsfeuer kostenlos!

1

Seit eine Gruppe von Gardisten begonnen hatte, Trinklieder anzustimmen, war der Lärm im Dreckigen Dutzend ohrenbetäubend. Fast jeder in der überfüllten Schenke stimmte begeistert mit ein, obwohl manch einer kaum mehr als ein Lallen zustande brachte.

Kenja war hingegen nicht nach Singen zumute. Da sie selbst nur ein wenig an ihrem Humpen genippt hatte, ging ihr die Bierseligkeit der anderen allmählich auf die Nerven. Dazu nagte die Sorge um Gosek an ihr, und sie blickte immer wieder zur Hintertür der Schenke, durch die er mit diesem zwielichtigen Kerl verschwunden war, den er die Nase genannt hatte.

Vered hieß er, rief sie sich in Erinnerung. Wie lange sind die beiden nun schon weg?

Zu lange, für ihren Geschmack. Diese ganze Sache mit dem vorgetäuschten Überfall auf den Kaufmann und der vermeintlichen Verschwörung der Margai war ihr nicht geheuer - und diesem Vered traute sie auch nicht über den Weg.

»… tanzen die Huren im Kreis!«, grölte die Menge die letzte Zeile eines Liedes und brach in schallendes Gelächter aus.

Kenja beschloss, dass es Zeit war, in der Gasse hinter der Schenke nach dem Rechten zu sehen. Vered wird schon nicht gleich davonlaufen, wenn ich dazukomme. Sie stand auf.

»Wo willste denn hin?«, fragte Miranas und wischte sich mit dem Handrücken Bierschaum von den Lippen. »Gosek kann schon auf sich selbst aufpassen.«

»Bist du dir da sicher?«, fragte sie zurück. Sie musste schreien, um sich über den Lärm verständlich zu machen. »Für ein paar Fragen dauert mir das zu lange.«

Miranas zuckte die Schultern. »Na gut, ich komme mit. Ich hol nur meine Laterne.«

Kenja drängte sich schon mal in Richtung Hintertür durch.

»He, Kleine, lass uns tan… uh!«

Mit einem gezielten Ellbogenhieb brachte Kenja Abstand zwischen sich und den aufdringlichen Säufer, der ihr seine Pranke auf die Schulter gelegt hatte, schob einen anderen grob beiseite und erreichte die Tür. Gerade hielt sie nach Miranas Ausschau, als sie über das Stimmengewirr und das Gelächter ganz leise den Ton einer Alarmpfeife vernahm, der jäh erstarb.

Sofort riss sie die Tür auf und stürmte mit der Hand am Griff ihrer Waffe in die Gasse, blinzelte in die Dunkelheit. Als die Tür hinter ihr zuschlug und der Lärm aus der Schenke nur noch gedämpft nach draußen drang, glaubte sie, sich hastig entfernende Schritte zu hören, konnte aber niemanden erkennen. Hektisch sah sie sich nach Gosek um. Keine Spur von seiner Laterne, und sie selbst hatte keine.

Weiter entfernt erklang eine weitere Alarmpfeife. Zu leise, als dass Kenja sie in der Schenke hätte hören können, wahrscheinlich nur die Antwort auf den Pfiff zuvor.

»Gosek?«, rief sie gedämpft in die Finsternis.

Keine Antwort.

Hinter ihr ging die Tür wieder auf und Miranas kam mit einer Laterne herausgestolpert. Vor sich hin fluchend fingerte er an der Belüftung herum, damit die Flamme im Inneren der Laterne ihre volle Kraft entfaltete.

Schon das wenige Licht, das sie jetzt verbreitete, enthüllte die umliegenden Meter der Gasse und Kenja entdeckte eine zersplitterte Laterne auf dem Boden. Ob es Goseks war, ließ sich in dem schummerigen Licht zwar nicht sagen, aber der Anblick reichte aus, um ihre Nervosität noch zu steigern.

Sie ging weiter in die Gasse und hielt den Atem an, als sie vor sich ein Bein aus den Schatten ragen sah. »Hierher, Miranas«, zischte sie über die Schulter.

»Verdammt, ist das …?«

Der Tote lag zusammengekrümmt in einer riesigen Blutlache, die im Licht der nun hellen Laterne schimmerte. Seine schreckgeweiteten Augen starrten zu ihnen empor, die Finger der einen Hand waren um den Hals geklammert, dennoch konnte Kenja deutlich sehen, dass Vereds Kehle mit mehreren Stichen geradezu in Fetzen geschnitten worden war.

»Scheiße«, stieß Miranas hervor. »Was ist hier passiert?«

»Und wo ist Gosek?« Kenja sah sich um und Miranas schwenkte seine Laterne umher.

»Da!«, rief er aus und im gleichen Moment sah Kenja ihn auch.

Gosek lehnte ein paar Schritte weiter an einer Wand, als wolle er sich nur ausruhen, aber als sie zu ihm eilten, bemerkte Kenja sein blutdurchtränktes Hemd und ihr stockte der Atem.

Miranas blieb stehen und hielt die Laterne, während Kenja sich neben Gosek kniete und nach seiner Halsschlagader tastete. Sie spürte einen Puls. »Er lebt«, stieß sie erleichtert hervor und tätschelte ihm die Wange, erst sanft, dann fester. »Wach auf!«, drängte sie.

Gosek stöhnte schwach, schlug aber die Augen nicht auf.

»Wir müssen ihn in die Festung zu einem Mediker bringen«, drängte Miranas.

»Viel zu weit«, widersprach Kenja. »Sieh ihn dir doch an. Bis wir ihn dorthin geschafft haben, ist er längst verblutet.« Sie knöpfte sein Hemd auf, um die Wunde betrachten zu können.

Vielleicht kann ich die Blutung ja stillen und …

Eilige Schritte näherten sich, zwei Gardisten in Rüstung kamen die Gasse entlang, beide hatten ihre Waffen gezogen »Was ist hier los?«, fragte einer von beiden mit einer Stimme, die wohl streng klingen sollte, aber unverkennbar zitterte. »Bist du das, Miranas?«

»Ja, Orlav. Nimm die verdammte Laterne runter, du blendest mich.«

»Sicher, Feldwebel.« Orlav senkte seine Laterne und Kenja konnte erkennen, dass Relana bei ihm war. »Habt ihr Alarm gegeben?«, fragte er.

»Nein, das war Gosek«, erwiderte Kenja und rückte beiseite, sodass Orlav ihn sehen konnte. »Er ist schwer verletzt. Wir brauchen so schnell wie möglich eine Bahre und Verbandszeug, damit er uns nicht wegstirbt.«

Orlav starrte kurz auf Gosek und schluckte, nickte dann aber. »Klar.« Die beiden machten kehrt und eilten davon.

Kenja wandte sich Gosek zu, der das Bewusstsein wieder verloren hatte. Sie löste das klebrige Hemd von seiner Haut und entdeckte nun die Einstichstelle zwischen seinen Rippen, links auf halber Höhe des Rumpfs. Verdammt nah am Herzen.

Entschlossen riss sie sein Hemd in Fetzen und versuchte daraus einen provisorischen Verband zu machen.

»Scheiße, guck dir seine Hand an«, stieß Miranas unvermittelt hervor.

Erst jetzt bemerkte Kenja die klaffende Wunde in Goseks Handfläche. Auch die blutete stark, aber sie konnte sich nicht um beide gleichzeitig kümmern. »Hilf mir«, murmelte sie. »Wenn wir die Blutungen nicht stoppen, schafft er es nicht.«

Miranas stellte seine Laterne ab und riss ein großes Stück Stoff aus seinem eigenen Hemd heraus. Er murmelte irgendetwas.

»Was hast du gesagt?«, fragte Kenja, die eben den Verband um den Einstich festzog.

»Ich? Ich hab nichts gesagt«, erwiderte Miranas.

Die beiden tauschten einen überraschten Blick und sahen dann zu Gosek. Tatsächlich bewegten sich seine Lippen leicht. Kenja beugte sich über sein Gesicht.

»Hängt … mit … drin«, stieß Gosek hervor. Jeder Atemzug schien ihm große Schmerzen zu bereiten.

»Wer?«, fragte Kenja verständnislos. »Wer hängt mit drin?«

Gosek holte Luft, verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Virpan«, ergänzte er gepresst.

Kenja sog erschrocken die Luft ein und sah zu Miranas auf. Der hatte es auch gehört und wirkte genauso überrascht wie sie.

»Bleib wach, Gosek. Rede mit uns!«, forderte sie. »Was ist hier passiert? Wer war der Angreifer? Was hat Virpan damit zu tun und …?« Sie brach ab, als sie sah, dass ihm das Kinn auf die Brust gesackt war. Für einen Augenblick fürchtete sie, er sei gestorben, doch sie spürte noch seine flachen Atemzüge unter der Hand, mit der sie den provisorischen Verband auf seine Wunde presste.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie an Miranas gewandt.

Der zuckte bloß mit den Schultern. »Vielleicht fantasiert er und es war bloß ein Überfall, der …«

»Ein Überfall?«, unterbrach Kenja ihn brüsk. »Du hast die Kehle von diesem Vered doch gesehen. Er wusste irgendwas und wurde zum Schweigen gebracht - auf eine Weise, die jedem anderen Mitwisser klar macht, dass man besser den Mund hält.«

Ihre Gedanken rasten. Vielleicht war ja auch gar nicht Vered das Ziel des Attentats, sondern Gosek - oder eben beide. Wenn rauskommt, dass Gosek noch lebt, wird man noch mal versuchen ihn umzubringen. Und wenn Virpan in die Sache verwickelt ist, dann ...

Sie schob die verwirrenden Gedanken beiseite. Zunächst galt es dafür sorgen, dass Gosek überlebte. »Wo bleibt die Trage, verdammt?«

Endlich kamen Relana und Orlav zurück. Zu viert hoben sie Gosek vorsichtig an Schultern und Beinen auf die Bahre. Kenja ergriff das eine Ende, Miranas das andere. »Wir bringen Gosek zu einem Mediker, ihr haltet hier die Stellung und sorgt dafür, dass der Tote weggebracht wird, klar?«, befahl Miranas.

»Verstanden, Feldwebel.«

»Und wenn jemand fragt, erzählt lieber nur, dass es hier einen Toten gibt«, ergänzte Kenja einem Impuls folgend. »Ist vielleicht besser, wenn erst mal keiner erfährt, dass ein Gardist beteiligt war, sonst gibt es nur wieder neue Unruhe in der Stadt«, setzte sie erklärend hinzu.

Relana und Orlav sahen zwar verwirrt aus, nickten jedoch. Wenn Virpan wirklich etwas mit dieser Bluttat zu tun hatte, verschaffte die Lüge Kenja vielleicht ein wenig Zeit. Früher oder später würde der Hauptmann es natürlich mitbekommen, wenn Gosek nicht zum Dienst erschien.

»Wo bringen wir ihn hin?«, fragte Miranas schnaufend, als sie das Ende der Gasse erreichten.

»Ich habe eine Idee.« Kenja steuerte die Schöne Perle an, die keine hundert Schritte entfernt war.

»Ein Hurenhaus?«, fragte Miranas zweifelnd, als sie sich dem Hintereingang näherten.

»Vertrau mir«, gab Kenja zurück. »Hier gibt es jemanden, der Gosek helfen kann.« Zumindest hoffe ich das, fügte sie in Gedanken hinzu.

Sie setzten die Trage ab und Kenja klopfte. Wie damals, als sie Samina hergebracht hatten, dauerte es eine Weile, bis jemand kam.

»Wer ist da?« Diesmal war es eine Männerstimme. Sie klang misstrauisch und abweisend.

»Ich bin eine Bekannte von Linera«, log Kenja. Alles genau zu erklären, würde viel zu lange dauern. »Ein Freund von mir wurde angegriffen und schwer verletzt. Er braucht ihre Hilfe.«

Der Mann auf der anderen Seite der Tür zögerte kurz, dann öffnete er. Es war ein vierschrötiger Kerl, der Kenja um einen Kopf überragte und so breite Schultern hatte, dass er kaum durch die schmale Tür passte. Sie erkannte in ihm den Wächter Brigar wieder, der bei ihrem ersten Besuch in der Perle an der Vordertür gestanden hatte. Er hielt einen kleinen Leuchter mit drei Kerzen in der Hand und musterte Kenja, Miranas und Gosek.

Hoffentlich erkennt er uns nicht wieder. Zum Glück sind wir in Zivilkleidung unterwegs, dachte Kenja.

»Und du kennst Linera?«, fragte er noch einmal nach.

»Wenn ich sie nicht kennen würde, würde ich hier wohl keine Heilerin vermuten, oder?«, versetzte Kenja und deutete auf Gosek. »Er ist schwer verletzt und braucht wirklich dringend ihre Hilfe, sonst verblutet er.«

Von Brigars Miene war deutlich abzulesen, dass er noch immer nicht ganz überzeugt war, trotzdem gab er den Weg frei. »Tragt ihn da rechts den Flur runter in die Kammer«, knurrte er.

Sie hatten Mühe, die Trage durch die Tür in den engen Flur zu bekommen. Leise Musik und gedämpftes Gelächter hallten ihnen von dort entgegen.

Die Kammer war offenbar eine Art Abstellraum, im schummrigen Licht der Kerzen konnte Kenja einige Kisten erkennen. Sie schoben zwei zusammen und legten die Trage darauf ab.

Brigar blieb in der Tür stehen und rief den Flur herunter nach Linera. Kenja blickte nervös auf den schon wieder durchgebluteten Verband auf Goseks Wunde. Wann kommt sie denn endlich?

Kurz darauf eilte Linera herbei. Sie warf nur einen kurzen Blick auf Gosek und wandte sich sofort dem Türsteher zu. »Verbände, warmes Wasser, Nadel und Faden, mehr Licht - sofort!«, befahl sie. Brigar gehorchte und verschwand im Flur. »Samina soll kommen und mir helfen«, rief sie ihm noch hinterher.

Linera beugte sich über Gosek, fühlte nach seinem Puls, schob vorsichtig den Verband an der Stichwunde beiseite.

Miranas beobachtete sie mit skeptischer Miene, was Kenja durchaus verstehen konnte. Anders als bei ihrer ersten Begegnung mit Linera, war sie diesmal zwar vollständig angezogen, doch ihr Kleid war verführerisch ausgeschnitten und ihr Gesicht so übertrieben geschminkt, dass kaum ein Zweifel daran bestand, welcher Profession sie in der Perle eigentlich nachging.

»Das sieht nicht gut aus«, murmelte Linera, wohl mehr zu sich selbst. Dann wandte sie sich Kenja und Miranas zu. »Ich werde ihn hier behandeln. Besser, wir bewegen ihn so wenig wie möglich. Da ich Platz brauche, kann nur einer von euch bleiben.«

Kenja und Miranas tauschten einen Blick. »Ich gehe«, entschied er. »Hoffentlich ist er bei dir in guten Händen.«

»Ich werde mein Bestes geben«, erwiderte Linera kühl. »Aber versprechen kann ich nichts.«

Miranas nickte Kenja knapp zu und drängte sich an ihr vorbei.

»Dass Gosek hier ist, behalten wir besser für uns«, zischte sie ihm halblaut zu.

Miranas brummte zustimmend und verließ den Raum.

Kurz darauf kam Samina mit den geforderten Dingen herein. Sie erschrak, als sie Kenja erkannte, aber auf Lineras hektische Geste hin, reichte sie ihr die Schüssel mit Wasser und die Verbandstücher. Dann kümmerte sie sich um die Laterne, die sie bei sich hatte, und regulierte ihre Flamme so, dass die Kammer komplett erhellt wurde.

Gosek stöhnte leise, als Linera den von Kenja angelegten Verband wieder löste, rührte sich aber kaum. Kenja fand, dass er furchtbar blass aussah und der Schwall Blut, der aus der Brustwunde quoll, nährte ihre Furcht, dass er es nicht schaffen könnte.

Nicht Gosek, dachte sie und sandte ein Stoßgebet an den Kriegsgott Joram. Von all ihren Kameraden hier war Gosek der einzige, den sie einen Freund genannt hätte. Sie mochte seine knorrige, aber ehrliche Art - und er war zum Glück zu alt, um ihr noch an die Wäsche zu wollen.

Linera machte sich konzentriert ans Werk, wusch die Wunde aus und begutachtete sie. Dann ließ sie sich Nadel und Faden geben, drückte die Wundränder zusammen, vernähte sie und legte einen frischen Verband an. Als sie sich seiner Hand zuwandte, schüttelte Linera den Kopf. »Ich werde sie nähen und verbinden«, sagte sie und blickte dabei kurz auf. »Aber ob er sie je wieder wird benutzen können, weiß ich nicht.«

»Wird er denn überleben?«, fragte Kenja hoffnungsvoll.

Linera wiegte den Kopf. »Hätte die Klinge in seiner Brust Herz oder Lunge getroffen, wäre er schon tot. Sofern er den Blutverlust wegsteckt, wird er es wohl schaffen, denke ich. Aber wir müssen die nächsten Tage abwarten. Wenn ich die Handwunde vernäht habe, kannst du ihn in die Festung bringen lassen und …«

»Kann er nicht hierbleiben?«

Linera hielt in der Behandlung inne und sah auf, eine steile Falte bildete sich zwischen ihren Brauen. »Wieso das?«

Kenja zögerte kurz, aber nachdem Linera Goseks Leben gerettet hatte, war Kenja ihr zumindest Ehrlichkeit schuldig - und es betraf in gewisser Weise ja auch Samina. »Gosek wurde überfallen, als er mit einem Söldner sprach, der vermutlich in den Angriff auf das Margailager verwickelt war«, eröffnete sie ihnen. »Der Söldner wurde brutal ermordet und Gosek hat wohl einfach nur Glück gehabt. Vielleicht versucht der Angreifer es noch einmal, wenn er erfährt, dass Gosek noch lebt.«

Samina legte die Stirn in Falten. »Aber wäre die Festung dann nicht der sicherste Ort in der Stadt?«

Kenja seufzte. »Als wir ihn fanden, hat Gosek noch gesagt, dass jemand von der Garde mit in die Sache verwickelt ist. Ich weiß nicht, wem ich noch trauen kann.«

Samina schlug sich die Hand vor den Mund. »Was ist mit mir?«, fragte sie erschrocken. »Wer in der Garde weiß noch, dass ich hier bin und was ich euch erzählt habe?«

»Niemand«, beruhigte Kenja sie rasch. »Nur Gosek und ich. Und weil dich hier bislang niemand gefunden hat, glaube ich, dass die Schöne Perle auch für Gosek ein gutes Versteck sein könnte, bis die ganze Sache aufgeklärt ist.« Sie bemerkte Lineras skeptischen Blick und setzte hastig hinzu: »Ich weiß, ich verlange viel. Aber wohin soll ich ihn sonst bringen?«

Linera zögerte kurz, dann nickte sie. »Na schön. Wenn der Betrieb in der Perle vorbei ist, lasse ich Gosek nach oben bringen. Er kann ein paar Tage hierbleiben, wahrscheinlich wird er sowieso erst mal nicht zu sich kommen. Du bist öfter in der Gegend auf Patrouille?«

Kenja nickte.

»Dann werde ich dir eine Nachricht zukommen lassen, wenn er aufgewacht ist - vorher solltest du dich hier nicht blicken lassen. Und außer dir, will ich keinen anderen Gardisten in der Perle sehen, verstanden? Sonst bringt ihr Samina in Gefahr.«

»In Ordnung«, stimmte Kenja zu. »Ich danke dir.«

Linera nickte bloß und fuhr fort, Goseks Hand zu versorgen.

Eine Weile sahen Samina und Kenja ihr schweigend zu. »Was hat der Söldner denn erzählt?«, wagte Samina schließlich zu fragen.

»Ich weiß es nicht«, gestand Kenja. »Er wollte mit Gosek allein reden.«

»Also bin ich immer noch die einzige, die Jorshak und Nassino beschuldigt?«

Kenja hob die Schultern. »Dieser Söldner wird uns jedenfalls nichts mehr sagen können.«

»Glaub jedenfalls nicht, dass ich meine Beschuldigungen öffentlich wiederholen werde, wenn ihr euch nicht einmal selbst vor den Schergen dieser Verbrecher schützen könnt.« Samina unterstrich ihre Worte mit einer kategorischen Geste.

Kenja hob beschwichtigend die Hände. »Das erwartet auch niemand von dir. Wenn Gosek wieder zu sich gekommen ist, werden wir ja erfahren, was der Söldner erzählt hat. Dann sehen wir weiter.«

Linera durchschnitt den Wundfaden mit einem Messer und richtete sich auf. »Ich bin fertig. Es gibt nun nichts weiter, was wir für ihn tun können, außer ihm Ruhe zu geben.«

»Danke. Soll ich hier bei ihm bleiben, bis er nach oben gebracht werden kann, oder …?«

»Nein, geh lieber. Und rede mit diesem anderen Gardisten, der mit dir hier war, um sicherzustellen, dass auch er nicht herkommt.«

Kenja stimmte zu und verließ die Schöne Perle.

Sie hatte erwartet, dass die Gasse hinter dem Dreckigen Dutzend von einigen Gardisten und ihren Laternen hell erleuchtet sein würde, jeder Quadratzentimeter abgesucht und alle Anwohner befragt würden. Doch Kenja fand bloß Miranas und Relana dort vor. Sie standen vor der Leiche von Vered, die noch immer nicht abgeholt worden war.

»Wie geht es Gosek?«, fragte Miranas. Die Sorge war seiner Stimme deutlich anzuhören.

»Wenn er Glück hat, kommt er durch. Offenbar waren weder Herz noch Lunge verletzt. Was ist mit dem?« Kenja deutete auf den Toten.

»Orlav holt gerade eine weitere Trage«, erklärte Relana.

»Wir haben uns vorher hier umgesehen, aber im Licht der Laternen kann man ja kaum was erkennen«, setzte Miranas schulterzuckend hinzu.

»Als wir vorhin die Trage geholt haben, haben wir der Wache am Tor Bescheid gegeben.« Relana seufzte. »Da wir keine Beschreibung des Täters haben, befürchte ich, dass der Drecksack davonkommen wird, wenn er nicht gerade mit blutverschmierter Kleidung versucht, aus der Stadt zu fliehen.«

Kenja blickte zu den Fensterläden der angrenzenden Häuser. Hinter allen war es dunkel, obwohl sie sich ziemlich sicher war, dass ein paar neugierige Leute sie beobachteten.

Orlav kam endlich mit der Trage zurück.

»Was hat denn da so lange gedauert?«, knurrte Miranas.

»Am Tor gab’s Ärger«, stieß Orlav japsend hervor. »Musste helfen.«

Gemeinsam hoben sie die Leiche auf die Trage.

»Wo habt ihr Gosek hingebracht?«, fragte Orlav.

»Jetzt nicht«, zischte Kenja.

»Wir bringen Vereds Leichnam in die Festung«, entschied Miranas und sie machten sich zu viert auf den Weg. Kenja überlegte fieberhaft, was sie Orlav und Relana sagen sollten, damit die beiden dem Hauptmann nicht meldeten, dass Gosek verletzt war und sie und Miranas ihn weggebracht hatten.

Nachdem sie die Hurengasse hinter sich gelassen hatten, kamen sie in eine ruhige Gegend, wo zu dieser späten Stunde keine Leute mehr auf den Straßen unterwegs waren. Hier hielten sie an.

»Habt ihr Gosek am Tor erwähnt?«, fragte Kenja an Relana und Orlav gewandt. Zu ihrer Erleichterung schüttelten beide den Kopf. Also tischte sie ihnen die Lüge auf, die sie sich auf dem Weg überlegt hatte. »Dann behaltet es weiterhin für euch. Gosek ist kurz zu sich gekommen. Er glaubt, sein Angreifer war ein Gardist.«

»Was?«, brach es aus Orlav heraus.

»Ja, wir waren auch entsetzt«, setzte Kenja hinzu. »Aber wer weiß? Solange wir nicht sicher sind, wem wir in der Festung trauen können, sollten wir wegen Gosek keine Meldung, machen.«

»Aber …«, setzte Orlav an.

»Ich kläre das mit dem Hauptmann«, setzte Miranas im Befehlston hinzu.

»Verstanden, Feldwebel«, erwiderte Relana und auch Orlav nickte knapp.

Miranas befahl den beiden, ihre Patrouille wieder aufzunehmen, und nahm dann mit Kenja die Trage wieder auf.

»Wie stellst du dir das vor, keine Meldung zu machen?«, fragte er, als die beiden anderen außer Hörweite waren. »Spätestens morgen wird es so oder so Fragen geben, wenn Gosek nicht zum Dienst erscheint. Wenn wir Virpan nicht sagen, wo er ist, wird er ihn als fahnenflüchtig einstufen. Das kann für Gosek schwerwiegende Konsequenzen haben.«

»Schwerwiegendere als ein Messer zwischen den Rippen? Wohl kaum.«

Sie schwiegen eine Weile, da sie sich dem Obertor näherten.

»Wer is’n das?«, fragte Maned, ein stiernackiger Gardist, den Kenja nicht mochte.

»Irgendein Söldner, der in der Hurengasse abgestochen wurde«, gab Miranas zurück. Sie durften passieren und kamen durch die schlafende Oberstadt.

»Was ist mit der Obersten?«, fragte Kenja. »Können wir ihr vertrauen?«

»Auf jeden Fall«, erwiderte Miranas mit Bestimmtheit. »Die ist Militär durch und durch und schon mehrfach mit dem Magistrat aneinandergeraten. Außerdem habe ich gehört, dass sie bald dauerhaft in die Hauptstadt versetzt werden soll. Ein neuer Krieg hier würde ihr das vermasseln. Ich glaube, keiner will den weniger als sie.«

»Gut, dann müssen wir mit der ganzen Sache zu ihr«, entschied Kenja.

»Sie kommt aber erst kurz vor dem Dunkelfest zurück«, entgegnete Miranas. »Bis dahin sind es noch neun Tage. So lange können wir das mit Gosek nicht vertuschen.«

Kenja fluchte unterdrückt. »Wir müssen uns eben irgendwas einfallen lassen«, murmelte sie, hatte aber keine Idee, wie sie seine Abwesenheit erklären sollten.

2

Arnik erwachte mit dem Duft von Kräutern in der Nase. Blinzelnd sah er sich im Zelt um. Draußen war es bereits hell und er war allein. Weder von Nahea noch von ihren Geschwistern oder ihrer Mutter war etwas zu sehen.

Er schlug die Decke zurück und wollte aufstehen, sackte aber stöhnend wieder auf die Matte zurück. Jeder Muskel in seinen Beinen tat ihm weh.

»Alles in Ordnung?« Nahea hatte offenbar vor dem Zelt gehockt und schlug jetzt den Stoff am Eingang beiseite.

»Schon gut«, wiegelte Arnik ab. »Die letzten Tage waren nur sehr anstrengend.«

Sie lächelte. »Kein Wunder, dass du so lange geschlafen hast. Noch ein bisschen länger und du hättest sogar das Mittagessen versäumt.«

»Oh«, machte Arnik nur. Er hatte also fast einen Tag und eine Nacht durchgeschlafen, das war ihm noch nie passiert. Es erklärte allerdings auch, warum sein Magen schon wieder genauso heftig knurrte wie am Nachmittag zuvor.

»Das liegt auch am Seelenblick«, erklärte Nahea und trat ins Zelt. »Der ist sehr ermüdend, nicht nur für die Blickende, sondern auch für den, in dessen Seele gesehen wird.«

Sie ging zu einem der Körbe an der Zeltwand, wo einige Kleider gestapelt lagen. Diese nahm sie und legte sie vor Arnik ab. Es waren knappe Hosen und ein einfaches Hemd aus gefärbtem Stoff, ähnlich den Sachen, die Iskan und die anderen Jäger getragen hatten, als sie Arnik in den schwelenden Ruinen des niedergebrannten Lagers fanden. »Die sind von einem meiner Brüder. Meine Mutter meinte, sie könnten dir passen.«

Arnik sah an sich herab. Die Strapazen seiner Flucht aus Drachenheim waren an seiner Kleidung deutlich abzulesen. Ein Ärmel des Hemdes war zerrissen und bei der Hose lugte ein Knie heraus.

»Meine Mutter hat angeboten, sie zu flicken«, setzte Nahea hinzu.

»Das … äh …« Spontan wollte Arnik ablehnen, aber das hätte ja bedeutet, einfach weiter die Kleider von Naheas Bruder zu benutzen. So oder so war er auf die Freundlichkeit von Naheas Familie angewiesen. »Das wäre sehr nett«, murmelte er verlegen.

»Zieh erst mal das Hemd aus, ich will mir die Wunde an deinem Arm noch einmal ansehen.« Sie sagte es mit befehlsgewohntem Unterton und Arnik gehorchte beinahe automatisch.

Mit geübten Handgriffen wickelte Nahea den Verband von seinem Arm. Die Wunde darunter sah noch ein wenig gerötet aus, aber Arnik hatte das Gefühl, dass der Bereich um die Verletzung weniger geschwollen war als am Vortag. »Ich werde noch etwas Heilsalbe auftragen«, erklärte Nahea und holte aus einem anderen Korb einen kleine Holztiegel mit einer stark riechenden, dunklen Paste.

Arnik musste die Zähne zusammenbeißen, als sie davon ein wenig auf die Wunde schmierte. Anschließend legte sie den Verband wieder an. »Nun zieh dich an, das Mittagessen ist bald fertig. Ich warte draußen.«

Die Sachen von Naheas Bruder passten Arnik wirklich recht gut, die Ärmel des Hemdes und auch die Hose waren vielleicht ein wenig kurz, aber das schien hier im Lager ja normal zu sein und der Tag war warm.

Nahea nickte anerkennend, als er aus dem Zelt trat. »Komm!«, forderte sie ihn auf und deutete in Richtung einer der Feuerstellen.

Arnik folgte ihr und versuchte die neugierigen Blicke der anderen Stammesmitglieder zu ignorieren, die er auf sich spürte. Zwar war die Stimmung, die ihm entgegenschlug, deutlich freundlicher als noch bei seiner Ankunft, trotzdem war es ihm unangenehm, im Zentrum des allgemeinen Interesses zu stehen.

Über dem Feuer hing ein großer Kupferkessel, in dem ein älterer Margai mit grauem Bart und Glatze herumrührte. Aus dem Kessel wehte Arnik ein würziger Duft um die Nase, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ und seinem Magen ein vernehmliches Knurren entlockte. Erst, als er jetzt darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass er seit dem Frühstück am Morgen vor seiner Flucht aus Drachenheim nur das bisschen Brot hier im Lager gegessen hatte.

Arnik war jedoch nicht der einzige Hungrige. In der Nähe des Feuers standen bereits einige Stammesangehörige bereit, vor allem Kinder. Im Gegensatz zu den meisten Erwachsenen, deren Stimmung eher gedrückt schien - wohl wegen der Schreckensnachricht vom Überfall auf das andere Lager, überlegte Arnik - waren die Kinder lebhaft. Einige schwatzten und kicherten, während sie warteten, andere tollten zwischen den Zelten umher.

Da Nahea nur stumm neben ihm stand und Arnik nicht wusste, worüber er mit ihr sprechen sollte, beobachtete er den Koch, der unablässig mit einer großen Kelle in seinem Kessel rührte. Zwischendurch kostete er und würzte dann mal mit einer Handvoll Kräuter oder irgendwelchen Pulvern nach, wobei sich Arnik fragte, wie die winzigen Prisen, die er hinzufügte, angesichts des riesigen Kessels einen Unterschied machen sollten.

Immer wieder wagte sich eines der Kinder mit seiner Schale vor und bettelte darum, schon eine Portion zu bekommen, doch der Koch wehrte jedes Mal mit gespielter Grimmigkeit ab.

Als er schließlich ein Zeichen gab, dass der Eintopf nun serviert würde, stürmten sogleich die Kinder voran, drängelten und schubsten. Die, die es zu wild trieben und dabei dem Feuer zu nahe kamen, wurden von den Erwachsenen scharf ermahnt, aber es gab kein großes Geschrei oder gar Androhung von Schlägen, wie Arnik es aus Drachenheim kannte. Nach und nach bildete sich eine Schlange geduldig Wartender heraus, und da der Koch zunächst jedem nur eine Kelle von seinem Eintopf gab, ging es schnell voran.

Arnik war einer der letzten, der etwas bekam. Eigentlich hatte er sich sogar ganz am Ende der Schlange einreihen wollen, doch da sein Bauch so laut grummelte, winkten ihn einige der älteren Stammesmitglieder vorbei.

Als der Koch seine riesige Kelle in die Schale leerte, war Arnik von dem Anblick ein wenig enttäuscht. Anhand des Duftes hatte er sich einen dunklen Eintopf mit vielen Einlagen vorgestellt. Stattdessen fand er eine klare Brühe in seiner Schale vor, in der bloß einige Fetzen Fleisch, ein paar dünne Halme und Kräuter schwammen.

Während sich die anderen in der Nähe des Feuers zum Essen niederließen, führte Nahea ihn zu einer Stelle am Rand des Lagers, wo das Steppengras niedergedrückt worden war. Arnik war es ganz recht, ein wenig abseits zu sein, und er setzte sich dort neben sie auf den Boden.

Nachdem er den ersten Löffel geschlurft hatte, änderte er seine Meinung über die Suppe. Das Fleisch war butterzart und herrlich würzig und die Halme gaben dem Ganzen eine besondere Note. Am liebsten hätte Arnik die Schale an die Lippen gesetzt und den Inhalt mit gierigen Schlucken getrunken, aber dafür war die Suppe zu heiß, und so musste er sie trotz seines Heißhungers Löffel für Löffel genießen.

»Darf ich dich etwas fragen?«, wagte er ein Gespräch zu beginnen.

»Sicher, frag.«

»Haben alle Shal-Nar diese schwarzen Augen, so wie Jandi?«

»Wir bekommen sie während der Ausbildung«, erklärte Nahea und deutete auf ihre eigenen. »Das kommt von bestimmten Tinkturen und Tränken, die wir zu uns nehmen, um unsere Fähigkeiten zu stärken.«

»Könnt ihr trotzdem noch normal sehen?«

»Wir können sogar viel mehr sehen als andere.« Nahea blickte versonnen in die Ferne.

»Du meinst wie beim Seelenblick?« Arnik versuchte seine Neugier zu zügeln, doch die Fragen sprudelten nur so aus ihm heraus.

»Nicht nur das«, erwiderte Nahea und wandte sich wieder ihrer Schüssel zu. Offenbar wollte sie nicht näher darauf eingehen.

Arnik nahm auch einen Löffel, doch die zwischen ihnen einsetzende Stille war ihm unangenehm. Also fragte er weiter. »Wie lange dauert die Ausbildung zur Shal-Nar?«

»Meine Ausbildung hat vor drei Sommern begonnen, und wenn ich mich bewähre, werde ich noch in diesem Sommer zur Shal-Nar geweiht.«

»Ach, so bald schon? Ich dachte …« Er zögerte.

Sie sah ihn an und lächelte. »… dass alle Shal-Nar so alt und grau wie Jandi sind?«

Arnik lächelte ein wenig verlegen. Es war ihm etwas unangenehm, wie wenig er über sein Volk wusste.

»Was ist mir dir? Was hast du in Drachenheim gemacht?«, fragte sie, klang dabei aber nicht besonders interessiert.

Wahrscheinlich fragte sie nur aus Höflichkeit, dachte Arnik. »Ich bin ein Drachenhüter«, erwiderte er und war einen Augenblick lang auch stolz. Doch das Gefühl verflog, als ihm jäh wieder klar wurde, dass er eigentlich gar kein Hüter mehr war. Nach seiner Flucht würde er vermutlich nie mehr nach Drachenheim zurückkehren, den Hort nie wieder betreten - und Fesk niemals wiedersehen. Der Gedanke machte ihn traurig.

»Du warst den Göttern nahe?«, fragte Nahea und klang mit einem Mal beinahe atemlos. »Hast du … hast du sogar mal einen berührt?«

Arnik sah sie stirnrunzelnd an. Er war sich nicht ganz sicher, ob sie sich nur über ihn lustig machte, doch in ihrer Miene las er nun offene Neugier, vielleicht sogar so etwas wie Bewunderung. »Als Drachenhüter war es meine Aufgabe, für einen Drachen zu sorgen. Fesk heißt er. Ich habe ihm Wasser gebracht, kleine Wunden versorgt, solche Sachen.«

»Ich beneide dich«, sagte Nahea und es klang beinahe andächtig. »Ich wäre unseren Göttern auch gern einmal so nah. Ihnen dienen zu dürfen, muss eine große Ehre für dich sein.«

»Äh … ja«, brachte Arnik nur hervor. Schon Jandis Feststellung, er sei ein Bote der Götter, hatte ihn verwirrt. Zwar war ihm bewusst, dass sein Volk früher, vor der Niederlage gegen die Tarisier, die Drachen angebetet hatte, aber dass sie sie noch immer als Götter verehren könnten, obwohl sie nun, durch Magie gezähmt, den Drachenrittern gehorchten, war ihm nie in den Sinn gekommen. Er wusste nicht, was er auf Naheas Bemerkung erwidern sollte, und starrte gedankenverloren in seine Schüssel.

»Nicht erschrecken«, flüsterte Nahea plötzlich.

Er wandte den Kopf in ihre Richtung und sprang trotz der Vorwarnung erschrocken auf, als er zwischen ihnen den riesigen Kopf eines Rindes erblickte, das seelenruhig Gras wiederkäute. Arnik ließ beinahe seine Schale fallen und taumelte ein paar Schritte beiseite.

Nahea lachte. »Du solltest dein Gesicht sehen«, prustete sie. »Gib’s zu, für einen Moment hast du geglaubt, ich hätte mich in eine Kuh verwandelt.«

Arnik spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss.

Die Kuh war nicht allein, zwei kleine Kälber waren bei ihr. Sie staksten wie auf Stelzen durch das Gras und es sah aus, als würden sie jeden Augenblick umfallen. Ihre Unbeholfenheit brachte auch Arnik zum Lachen, aber er hielt vorsichtshalber etwas Abstand zu der Kuh. Die war riesig, ihre Schulter eine Handbreit höher als Arniks Kopf und die breiten Hörner auf ihrem massigen Schädel sahen gefährlich spitz aus.

Nahea tätschelte dem Tier hingegen ganz unbefangen die Flanke und lachte auf, als eines der Kälber sie mit seiner feuchten Schnauze anstieß. Sie schlang ihre Arme um den Hals des Kalbs und drückte es wie ein Schoßtier. Erst, als die Kuh ein Muhen ausstieß, das in Arniks Ohren ein wenig vorwurfsvoll klang, ließ Nahea von dem Kalb ab.

»Das ist Mahija«, erklärte sie und knuffte die Kuh spielerisch in die Seite.

»Woran erkennst du sie?«, fragte Arnik. Die Kuh sah für ihn nicht anders aus als die Rinder, die er weiter draußen vor dem Lager grasen sah. Sicher, die Stiere waren massiger, etwas größer und hatten noch beeindruckendere Hörner und die Kühe große Euter. Davon abgesehen waren sie jedoch alle gleichmäßig braun gefärbt und wiesen in Arniks Augen keine besonderen Merkmale auf.

Nahea deutete auf den Buckel, den alle Rinder über der Schulter hatten. »Darauf musst du achten. Er ist bei allen ein wenig anders geformt. Außerdem hat Mahija einen kleinen Riss im rechten Ohr, siehst du? Und dann ist da noch dieser helle Fleck hier auf der Stirn.«

Nun, da sie ihn auf diese individuellen Merkmale hinwies, erkannte Arnik sie zwar, konnte sich aber dennoch nicht vorstellen, mehrere Dutzend Tiere anhand solch kleiner Unterschiede auseinanderzuhalten.

»Ist das deine Kuh?«, fragte er.

Nahea blickte ihn verwirrt an. »Natürlich nicht«, erwiderte sie kopfschüttelnd. »Die Herde gehört dem ganzen Stamm, jeder kann sie melken, und die Stammobersten bestimmen, welche Tiere geschlachtet werden. Wie sollte es sonst sein?«

»Na ja …« Arnik kannte es aus der Stadt so, dass die Reichen viel mehr besaßen, als sie brauchten, während den Armen oft nur die Kleider am Leib blieben. Für ihn war das bislang immer der normale Lauf der Dinge gewesen, aber er wusste nicht, wie er Nahea das erklären sollte.

Sie runzelte die Stirn. »Stell dir mal vor, meine Mutter besäße vier Kühe. Ich habe fünf Geschwister. Wenn meine Mutter stirbt, wie sollten die Kühe dann verteilt werden? Bekäme jeder von uns dann eine halbe Kuh und eine bliebe übrig?« Sie lachte über den Gedanken.

Plötzlich unterbrachen Geräusche aus dem Lager ihr Gespräch. Jemand begann dort eine Trommel zu schlagen, bald darauf setzten eine zweite und eine dritte ein. Sie gaben einen langsamen Rhythmus vor, zwischen jedem Schlag vergingen zwei Herzschläge. Überall im Lager erhoben sich die Leute, kamen aus ihren Zelten, versammelten sich auf dem kleinen Platz vor Jandis Zelt, wo auch die Trommler saßen.

Nahea bedeutete Arnik wortlos, ihr zu folgen, und sie schlossen sich der rasch wachsenden Menge an, die sich stumm im Rhythmus wiegte. Arnik kam sich dabei zunächst wie ein Fremdkörper vor, doch als er sich auf die Musik einzulassen begann, fühlte er sich als Teil der Gruppe.

Unvermittelt setzte eine Flöte ein, spielte eine helle, traurige Melodie. Die Margai begannen zu singen, doch es waren keine Worte, sondern Klagelaute, die sie, passend zur Melodie der Flöte, in den Himmel riefen.

Arnik begriff, dass dies eine Art Trauertanz war, ein Abschied von den Margai, die in dem anderen Lager umgekommen waren. Die Wehklage der Menschen um ihn herum ging ihm durch Mark und Bein, und wenngleich er weder von den Toten noch von den Klagenden jemanden kannte, überkam auch ihn eine tiefe Traurigkeit, während er sich mit ihnen im Rhythmus des Tanzes wiegte. Bald merkte er, dass ihm Tränen über die Wangen rannen.

Als er schon glaubte, die Trauer nicht länger ertragen zu können, begann der Schlag der Trommeln sich zu verändern, wurde schneller, treibender. Die Melodie der Flöte passte sich dem an und auch die Tanzenden nahmen den Rhythmus auf. Statt sich nur hin und her zu wiegen, fassten die Leute sich bei den Händen und bildeten Kreise. Das Wehklagen verstummte, wich einem Singsang, der zunächst tief und heiser aus den Kehlen der Margai drang, sich aber allmählich höher schraubte.

Schneller und schneller wurden die Schläge der Trommeln, lauter und lauter der Singsang, immer wilder der Tanz. Manche der Tanzenden legten einander die Arme um die Schultern und schwangen die Beine in die Luft. Die Gesichter, eben noch von Gram gezeichnet, hellten sich auf, hier und da erklang ein Jauchzen.

Immer weiter steigerten sich die Trommeln, wild schlagenden Herzen gleich, die bis zum Äußersten getrieben wurden. Die Kreise der Margai begannen sich zu drehen, die einen linksherum, die anderen rechtsherum. Der Singsang wurde von lauten Rufen unterbrochen, in die immer mehr Leute einstimmten. Arnik wurde schwindelig, so schnell trieb ihn der Kreis herum, zu dem er gehörte.

Mit einem kollektiven Schrei aller Versammelten endete der Tanz abrupt. Auf einen Schlag verstummten Trommeln und Flöte und es war wieder still. Die Leute wischten sich die Tränen aus den Augen, einige lächelten. Dann, wie auf ein unhörbares Zeichen, löste sich die Versammlung auf und die Menge zerstreute sich zwischen den Zelten.

Arnik blieb ein wenig ratlos zurück. Er spürte die veränderte Atmosphäre, so etwas wie Erleichterung hatte sich im Lager breit gemacht. Dennoch verstand er nicht ganz, woran er da gerade teilgehabt hatte. Er war froh, als Nahea wieder zu ihm kam, ihn bei der Hand ergriff und ein Stück aus dem Lager führte, diesmal hinauf auf einen nahen Hügel.

»Das war ein Shebar-Dahel«, beantwortete sie Arniks unausgesprochene Frage, die ihm wohl ins Gesicht geschrieben gestand. »Ein Abschiedstanz für die Freunde und Familienmitglieder, die wir durch den Überfall auf Colivs Stamm verloren haben. Wir trauern um den Verlust, freuen uns aber auch, dass unsere Angehörigen und Freunde nun bei den Ahnen an einem besseren Ort sind.« Auf der Hügelkuppe blieb sie stehen, sah nach Osten und wischte sich eine Träne von der Wange. Arnik folgte ihrem Blick. In der Ferne erhoben sich die Götterzinnen und irgendwo auf halbem Weg dorthin, inmitten das Grasmeeres, waren die Ruinen des abgebrannten Lagers verborgen.

»Hast auch du dort jemanden verloren?«, wagte Arnik nach einer Weile zu fragen.

Nahea nickte. »Meine Tante«, erwiderte sie tonlos. Unvermittelt wandte sie sich ihm zu. »Haben Soldaten aus Drachenheim sie umgebracht?«

Arnik schluckte. Er hatte noch gar nicht darüber nachgedacht, wer das Lager wohl überfallen hatte, doch nun, da Nahea danach fragte, erschien ihr Verdacht ihm erschreckend plausibel. Vielleicht ein Racheakt für den Anschlag auf den Kaufmann? »Kann sein … ich weiß es nicht«, gestand er.

Nahea schüttelte den Kopf. »Warum tut jemand so etwas?«, fragte sie, wohl ohne eine Antwort zu erwarten. »Warum schlachtet man Frauen und Kinder und Alte ab und verbrennt sie?«

Arnik wusste darauf nichts zu sagen. So standen sie nur stumm beieinander und starrten in die Ferne.

Später am Nachmittag wurde Arnik zu Jandi gerufen. Er war sich nicht sicher, ob das eine gute Nachricht war. Die alte Shal-Nar hatte ja über das nachdenken wollen, was sie in seiner Seele erblickt hatte. Welche Schlüsse hatte sie wohl daraus gezogen?

Mit einem mulmigen Gefühl ging er zu ihrem Zelt. Sie erwartete ihn bereits und gebot ihm, auf einem der Hocker Platz zu nehmen, auf dem sie ihn schon am Vortag verhört hatte. Diesmal war Arnik jedoch mit ihr allein, Haro war nirgends zu sehen.

»Ich habe in deiner Seele gesehen, dass du einen bestimmten Drachen versorgt hast«, fuhr Jandi fort. »Gilt das für alle Drachenhüter? Jeder versorgt genau einen Drachen?«

»Normalerweise schon«, erwiderte Arnik. »Außer es ist jemand krank, dann übernehmen wir schon mal.«

»Dieser Drache liegt dir sehr am Herzen, nicht wahr?«

Arnik schluckte. Hatte sie nicht nur die Bilder aus seiner Erinnerung gesehen, sondern auch noch seine Emotionen gespürt? Mit einem Mal fühlte er sich, als läge sein ganzes Leben ausgebreitet vor ihr. Ein unangenehmer Gedanke. »Ja, Fesk ist mir wichtig - und ich glaube, das beruht auf Gegenseitigkeit. Nach der langen Zeit, die ich mich nun schon um ihn kümmere, verbindet uns etwas.«

Jandi nickte. »Du weißt, woher manche Margai die Fähigkeit haben, die Gefühle der Drachen zu spüren?«

Arnik schüttelte den Kopf. Er hatte dieses Talent immer als gegeben hingenommen.

»Unser Volk lebt schon lange in diesem Teil der Welt«, erklärte ihm die Shal-Nar. »Schon vor Jahrhunderten haben wir hier Rinder gezüchtet und sind als Nomaden durch das Grasmeer gezogen, immer auf der Suche nach neuen Futterplätzen für die Tiere. Das tarisische Reich gab es damals noch gar nicht, nur ein paar vereinzelte Dörfer weit im Norden, mit denen nur wenige von uns je Kontakt hatten.

Stattdessen gab es aber viele Drachen, große und kleine, manche sogar mit zwei Köpfen. Sie waren unersättlich und unsere Rinderherden waren leichte Beute für sie. Immer wieder kamen die Drachen über uns, verbrannten unsere Lager und rissen unser Vieh, löschten sogar ganze Stämme aus. Mit unseren Speeren und unseren Pfeilen konnten wir ihnen kaum etwas anhaben.

Die Drachen hatten jedoch einen anderen Feind. Die Dashiri wühlten sich auf der Suche nach Bodenschätzen schon damals durch das Fundament des Gebirges. Manchmal hatten sie es dabei auch auf die Horte der Drachen abgesehen, stiegen in die Höhlen und stahlen ihre Schätze. Die Drachen ließen sich das nicht gefallen und griffen ihrerseits die überirdischen Siedlungen der Dashiri an. So kam es zum Krieg zwischen den beiden Völkern und fortan raubten die Dashiri den Drachen nicht nur ihre Schätze, sondern zerstörten auch ihre Gelege, wenn sie welche fanden.

Deshalb brauchten die Drachen jemanden, der die Horte in ihrer Abwesenheit beschützte, und so kam Barnis, ein großer Rotrücken-Drache, auf die Idee, mit unserem Volk einen Pakt zu schließen. Wenn wir uns um die Drachen und ihre Horte kümmerten, würden sie in Zukunft unsere Herden verschonen und uns ihrerseits vor anderen Völkern beschützen.

Um den Pakt zu besiegeln, wollte Barnis einigen von uns die Fähigkeit verleihen, mit den Drachen sprechen zu können. Doch die meisten anderen Drachen trauten uns nicht, fürchteten, wir würden sie ausspionieren und uns mit den Dashiri verbünden, wenn wir erst ihre Gespräche verstehen könnten.«

»Gespräche?«, fragte Arnik ungläubig.

Jandi lächelte nachsichtig. »Ja, die Drachen kommunizieren miteinander, selbst die Silberrücken, die du kennst. Sie sind aber die niedersten der Drachen und nicht besonders intelligent. Anders die Zweiköpfigen und die Rotrücken, die es früher einmal zuhauf in Nuareth gegeben hat. Die waren sogar unserer Sprache mächtig.«

Arnik staunte. Er hatte zwar immer das Gefühl gehabt, dass Fesk und die anderen Drachen intelligente, fühlende Wesen waren, aber dass sie sprechen könnten, war ihm nie in den Sinn gekommen.

»Barnis fand einen Kompromiss«, fuhr Jandi mit ihrer Geschichte fort. »Wir Margai sollten nicht der Sprache der Drachen mächtig sein, sondern nur ihre Bedürfnisse spüren können. Und auch nicht alle von uns, sondern bloß einige unserer Kinder, weil die Drachen sie weniger bedrohlich fanden. Als Erwachsene ließen die Drachen sie dann nicht mehr in ihre Nähe, aber sie vererbten ihr Talent an ihre Kinder.«

Deshalb gibt es also keine erwachsenen Drachenhüter, dachte Arnik.

»Verstehst du, was das heißt, Arnik?«, fragte Jandi, die wohl eine Reaktion von ihm erwartete. Sie blickte ihm direkt in die Augen, was Arnik nervös machte. »Die Drachen haben deine Vorfahren schon vor Generationen ausgewählt. Du bist ein Auserwählter, kein Diener, kein Sklave, auch wenn die Tarisier euch das immer eingeredet haben.«

Er bemerkte, dass ihm der Mund offen stand und klappte ihn zu. Zwar hatte er gewusst, dass die Margai die Drachen als Götter verehrt hatten, aber die genaue Geschichte hinter diesem Glauben hatte er nicht gekannt, und schon gar nicht die Rolle, die die Drachenhüter darin spielten.

»Der Pakt hielt über Generationen«, führte die Shal-Nar weiter aus. »Wir huldigten den Drachen als Götter, die uns beschützten, und sandten die Auserwählten zu ihnen, um die uns zugedachten Aufgaben zu erfüllen. Nachdem die Drachen die Hortburg von den Dashiri erobert hatten, war sie lange Zeit unser Tempel, wie du wohl weißt.

Es war ein gutes Zeitalter für uns Margai. Unser Volk wuchs, viele neue Stämme zogen mit immer größeren Herden durch das Grasmeer, unsere Kultur erlebte eine Blüte.« Sie seufzte schwer. »Doch dann erfanden die Dashiri eine Waffe, mit der sie den Willen der Drachen brechen konnten und vertrieben damit die meisten von ihnen aus Nuareth.

Wenige Jahre später kamen die Tarisier. Sie raubten mehr und mehr von unserem Land und knechteten die verbliebenen Drachen mit ihrer Magie.« Jandis Stimme war nun schneidend und sie unterstrich jedes Wort mit energischen Gesten. »Schließlich eroberten sie Drachenheim und die Hortburg und nahmen uns alles: unsere Götter, unser Land, unsere Freiheit.« Sie seufzte abermals und blickte Arnik ins Gesicht. »Das gilt auch für dich, obwohl du in Drachenheim geboren wurdest und nichts anderes kennst. Dich haben die Tarisier genauso unterdrückt wie uns, und die Ritter haben deine Fähigkeit zu ihrem Vorteil ausgenutzt. Du bist ihnen nichts schuldig, ganz im Gegenteil.« Sie machte eine kurze Pause und ihre Augen verengten sich ein wenig. »Siehst du das auch so?«

Er nickte langsam, obwohl er nicht glaubte, dass das für Ser Vareen galt. Sie hatte ihn nie wie einen Sklaven behandelt und ihm ja sogar einen Hauslehrer gestellt, weil sie in ihm einen zukünftigen Ritter sah. Aber er dachte auch an die Herablassung von Derek und all den anderen Tarisiern in Drachenheim.

Jandis Züge entspannten sich und es wirkte beinahe so, als würde sie lächeln. »Du siehst, du gehörst nicht in diese Stadt, und du hast gut daran getan, zu fliehen. In deinen Erinnerungen konnte ich sehen, dass du dich verfolgt gefühlt hast, aber nicht, was genau geschehen ist. Willst du es mir erzählen?«

»Ich … ich wurde verdächtigt, an einer Verschwörung beteiligt zu sein«, erklärte er stockend. »Es gab wohl einen Überfall auf einen reichen Kaufmann und danach hieß es, wir Margai planten einen Umsturz in der Stadt.«

Jandi hob die Brauen. »Einen Umsturz?« Sie klang interessiert. »Weißt du mehr darüber?«

Arnik schüttelte den Kopf. »Nein, gar nichts. Ich bin unschuldig, aber wahrscheinlich hätte mir das niemand geglaubt. Die Stadtgarde suchte bloß jemanden, dem sie den Überfall in die Schuhe schieben und den sie dann hängen oder in den Kerkern verrotten lassen konnte. Deshalb bin ich aus Drachenheim geflohen, als der Verdacht auf mich fiel.«

Die Shal-Nar nickte bedächtig. »Ich verstehe. Darüber muss ich nachdenken«, murmelte sie, wohl mehr zu sich selbst, und verfiel dann in Schweigen.

»Darf ich auch etwas fragen?«, wagte Arnik sich vor.

Jandi blickte auf. »Ja, natürlich.«

»Ihr spracht davon, dass ich ein Bote sei, den die Drachen … also die Götter, Euch gesandt hätten.« Sein Mund wurde ganz trocken, während die Worte über seine Lippen stolperten. »Wie … wie habt Ihr das gemeint?«

Jandi lächelte wissend. »Dass du den Weg zu uns gefunden hast, ist kein Zufall, Arnik. Feuer, das Fanal der Götter, war es, das dich zum Ort des Verbrechens führte, genauso wie unseren Jägertrupp, der dich dort fand und hierherbrachte. Die Götter haben dich auserwählt, um uns eine Botschaft zu schicken.

Die Bilder, die ich in deiner Seele erblickt habe, sind ein Zeichen, dass die Zeit reif ist, das Joch der Unterdrückung abzulegen, das seit vielen Jahren gleichermaßen auf den Rücken der Drachen und unserem Volk lastet. Du hast mir gezeigt, wie sie im Hort zusammengepfercht sind und wie die Leute unseres Volkes in der Stadt unterdrückt werden. Wir müssen endlich handeln und sie alle befreien.« Sie schlug sich mit der knochigen Faust in die runzlige Handfläche.

Arnik hielt den Atem an. Das klang nach Aufstand, vielleicht sogar nach Krieg. »Seid Ihr sicher? Ich meine, ich möchte nicht der Auslöser …«

Sie wischte seinen Einwand beiseite, bevor er ihn ausformulieren konnte. »Der Auslöser liegt lange zurück«, erwiderte sie grimmig. »Die Tarisier haben uns besiegt, gedemütigt, unseres Glaubens beraubt. Und nun, da bin ich mir mittlerweile sicher, haben sie auch noch einen friedlichen Stamm ausgelöscht. Das ist der Funke, der die Flamme des Widerstands auflodern lassen wird. Du, Arnik, du hast mir nur gezeigt, wohin ich diese Flamme tragen muss.«

Er verstand nicht, was sie damit meinte, aber er kam nicht dazu, nachzufragen, denn die Shal-Nar fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Aber behalte das für dich. Ich entscheide nicht allein, was weiter geschehen wird, und ich will nicht, dass Erwartungen geweckt und Gerüchte gestreut werden, ehe ich mich mit anderen Shal-Nar beraten habe.« Sie blickte ihm tief in die Augen. »Du siehst, ich vertraue dir, Arnik. Und ich würde es gern sehen, wenn du bei uns bleiben würdest – vorausgesetzt, dass du das willst.«

Arnik war so überrascht, dass er zuerst gar nicht wusste, was er darauf sagen sollte. »Wenn … Wenn ich darf, sehr gern«, stammelte er.

Jandi ergriff seine Hand. »Dann heiße ich dich hier willkommen. Du bist nun Arnik von Jandis Stamm. Du wirst sicher deinen Platz bei uns finden.« Mit einem Mal strahlte sie eine ungeheure Güte aus, wie er es der gestrengen Shal-Nar gar nicht zugetraut hätte, und Arnik spürte, wie ihm Freudentränen in die Augen stiegen.

Arnik von Jandis Stamm, wiederholte er ihre Worte in Gedanken. Das klang gut - fast nach einem neuen Zuhause.

3

Diani sah immer wieder nervös über die Schulter, während sie sich durch die Menge drängte. Jeder Mann, der sie anblickte, verstärkte die Angst noch, die ohnehin schon an ihren Eingeweiden nagte, seit sie durch die Tür von Rials Haus getreten war. Ständig hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Überall witterte sie Schergen ihres Vaters, die sie unvermittelt packen und gegen ihren Willen zu seinem Haus schleifen könnten. Deshalb lag ihre linke Hand die ganze Zeit über auf dem Siegelring, bereit, ihn sofort abzuziehen, falls sie sich zur Wehr setzen musste.

Weder am Vortag noch heute hatte ihr Vater von sich hören lassen. Dennoch glaubte Diani nicht einem Augenblick, dass er ihre Flucht einfach so hinnehmen würde, und hätte sich deshalb am liebsten weiter in Rials Haus verschanzt.

Trotzdem hatte sie Kirus Rat beherzigt. Die praktischen Übungen in der Schule würden ihr helfen, nach ihrem Kontrollverlust im Garten der Schule wieder Sicherheit für die nahende Prüfung zu gewinnen, und spätestens am Prüfungstag musste sie ja ohnehin das Haus verlassen.

Rial hatte sie nur widerwillig gehen lassen, wobei ihre Sorge eher der angespannten Lage in der Stadt galt als Dianis Vater. Tatsächlich erschien Diani die Atmosphäre noch immer aufgeheizt, aber wenigstens beobachtete sie keine Jagdszenen auf Margai mehr. Das lag jedoch vor allem daran, dass sich kaum ein Margai auf den Straßen blicken ließ. Die wenigen, die es taten, wurden vereinzelt beschimpft, vor allem aber gemieden, als sei jeder von ihnen ein potenzieller Attentäter, der nur auf eine Gelegenheit lauerte.

Immer, wenn Diani eine Margai-Frau bemerkte, musste sie an Samina denken. Wohin war sie wohl geflohen? Hatte sie Drachenheim verlassen oder versteckte sie sich in den Gassen? War sie in Sicherheit oder hatte die Garde sie doch noch gefangen und sie saß nun im Kerker?

Verglichen damit, sind meine eigenen Sorgen eigentlich lächerlich, dachte Diani, und doch jagte ihr der strenge Blick eines entgegenkommenden Mannes schon wieder einen Schauder den Rücken hinab.

Endlich kam das Schultor in Sicht und Diani beschleunigte noch einmal ihre Schritte. Als sie es durchquert hatte, zog sie sofort den Siegelring vom Finger und atmete wie befreit auf. Die Macht der Magie vertrieb die Angst und Diani wandte sich herausfordernd zur Straße um. Jetzt, das wusste sie, konnte ihr keiner mehr etwas anhaben. Aber da war niemand, der sie beobachtete.

Ich werde noch verrückt, dachte Diani, ging kopfschüttelnd über den leeren Schulhof auf das Schulgebäude zu und zwang sich, nicht mehr an ihren Vater zu denken, sondern stattdessen an die Übungen, die sie sich für heute vorgenommen hatte. Am späten Nachmittag, nach dem Unterrichtsende der beiden unteren Jahrgänge, stand der Übungsraum den Prüflingen offen. Hier konnten sie sich unter Aufsicht in den praktischen Zaubern üben, da sie ja nur auf dem Gelände Magie wirken durften.

Als Diani die Treppe in den Keller hinabstieg, wo sich der Übungsraum befand, hörte sie die Stimme von Magisterin Taniba und freute sich, dass sie heute die Aufsicht führte. Der strenge Blick oder gar Ermahnungen von Erzmagisterin Rahena wären das letzte gewesen, was sie hätte gebrauchen können.

Der Übungsraum maß sechs Schritte im Quadrat und war vollkommen schmucklos, das Mauerwerk nackt, abgesehen von den vielen kleinen Löchern und Rußflecken, die fehlgeleitete Zauber auf den Wänden hinterlassen hatten. Mobiliar gab es kaum, abgesehen von ein paar Übungsobjekten wie einem Hocker oder einem Holzteller, die ähnlich mitgenommen aussahen wie die Wände.

Mit Magisterin Taniba waren Kiru und Jerek im Raum. Kiru übte offenbar gerade einen Schildzauber, wie Diani an dem leichten Flirren der Luft um sie herum erkannte. Ihre Blicke trafen sich und Kiru nickte ihr mit einem Lächeln auf den Lippen zu, konzentrierte sich dann jedoch wieder auf ihren Zauber. Magisterin Taniba winkte Diani, sprach aber weiter gedämpft mit Jerek.

Diani wartete am Eingang, bis Kiru ihren Schildzauber mit einem Wink auflöste, dann ging sie zu ihr. Gern hätte sie ihre Freundin umarmt und geküsst, aber das ging hier natürlich nicht, obwohl es fast weh tat, es nicht zu tun. »Bist du schon länger hier?«, fragte Diani ein wenig hölzern, wohlwissend, dass Taniba und Jerek jedes Wort hören konnten.

Kiru nickte. »Ich bin mit den meisten Zaubern durch, bisher hat alles gut geklappt.« Sie wirkte zufrieden mit sich.

Diani freute sich für sie. »Wollen wir dann zusammen etwas üben?«, schlug sie vor.

»Gern«, willigte Kiru ein. »Ich war gerade bei den Schildzaubern. Möchtest du einen Kampfzauber versuchen? Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir in der Prüfung einen Schild mit einem Blitz oder einem Feuerball durchdringen müssen. Ich baue einen Schild der ersten Stufe um den Schemel hier auf und du benutzt einen Blitzzauber, in Ordnung?«

Diani stimmte zu, trat einen Schritt zurück und konzentrierte sich, während Kiru neben dem Schemel in die Hocke ging und ihren Schild vorbereitete. Kurz darauf flimmerte die Luft in einem kleinen Bereich vor dem Schemel und Kiru nickte Diani auffordernd zu.

Bei Kampfzaubern war es Diani auch früher schon manchmal schwergefallen, die Magie im Zaum zu halten, und so ließ sie sich Zeit dabei, die Magie, die sie in sich aufnahm, genau zu dosieren. Erst dann streckte sie ihren Zeigefinger aus, deutete auf den Hocker und murmelte leise »Besante!«

Ein dünner Blitzstrahl schoss aus ihrer Fingerspitze, traf auf den Schild und brach dort in unzählige, noch dünnere Blitze auf, die von dem Schild abgelenkt wurden, ohne ihn zu durchdringen.

Diani seufzte, sie war zu vorsichtiggewesen. »Gleich noch mal«, sagte sie und Kiru nickte ihr aufmunternd zu.

Abermals ließ Diani die Magie in sich strömen, etwas mehr, nur nicht zu viel. Sie streckte den Finger aus und schoss einen weiteren Blitz ab. Diesmal durchschlug er den Schild und Diani blickte gespannt auf den Schemel. Doch der bewegte sich nicht und es kräuselte sich auch kein verräterischer Rauch. Diani lächelte zufrieden.

»Sehr gut«, lobte Kiru. »Vielleicht jetzt mal ein Schild der dritten Stufe?« Sie löste ihren ersten Schild auf und beschwor einen neuen, dessen Flimmern sich nicht von dem des vorherigen unterschied. »Ich bin bereit.«

Diesmal musste Diani schon deutlich mehr von der Magie in sich aufnehmen und spürte dabei, wie sie sich ihr aufzudrängen versuchte. Sie brauchte einige Augenblicke, um die Magie zu bändigen, dann glaubte sie, das richtige Maß für den Schild gefunden zu haben. »Besante!«, sagte sie abermals und der Blitzzauber schoss aus ihrem Finger. Auch diesmal durchschlug er den Schild und ließ den Schemel unberührt.

Das klappt ja besser, als ich dachte. Diani ballte zufrieden die Faust.

»Gut gemacht.« Diani war so konzentriert gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie Magisterin Taniba neben sie getreten war. »Für die Prüfung solltet ihr euch aber auch darauf vorbereiten, einen Schild durchdringen zu müssen, dessen Stärke ihr nicht kennt, also den Zauber während der Ausführung allmählich zu verstärken.«

»Wollen wir das versuchen?«, fragte Kiru.

Diani nickte, obwohl sie nach den beiden Erfolgserlebnissen lieber nicht so etwas Schwieriges probiert hätte. Kiru löste ihren Zauber auf und formte einen neuen Schild. Wie stark dieser war, konnte Diani nicht erkennen. Sie würde also mit einem schwachen Blitzzauber beginnen und diesen dann vorsichtig verstärken müssen, wie die Magisterin gesagt hatte.

Sie atmete einmal tief durch und konzentrierte sich, begann mit einem ähnlich leichten Zauber wie beim ersten Mal. Auch diesmal wurde der Blitz von dem Schild in viele kleine Blitze zerrissen, doch anders als zuvor, setzte Diani nicht von Neuem an, sondern ließ behutsam mehr Magie in sich strömen und leitete sie durch ihren ausgestreckten Finger. Der Blitz wurde ein wenig heller, das flackernde Licht durchzuckte den ganzen Raum und Diani kniff die Augen zusammen, um den Schild weiter beobachten zu können. Sie musste genau den Moment abpassen, in dem der Blitz den Schild durchschlug, damit sie den Zauber rechtzeitig unterbrach, bevor er den Schemel erreichte.

Noch immer hielt der Schild stand und Diani verstärkte ihren Zauber weiter. Sie spürte erste Ansätze des Magie-Rauschs, dem sie damals im Schulgarten erlegen war, als sie die Blumen hatten wachsen lassen. Gleichzeitig schwand ihre Geduld. Offenbar hatte Kiru einen besonders starken Schild gewirkt, die Anstrengung war ihr mittlerweile auch anzusehen. Lange würde Kiru ihren Zauber wohl nicht mehr aufrechterhalten können.

Also öffnete Diani sich mehr und mehr für die Magie und das berauschende Gefühl nahm zu. Es schien, als seien der Stärke ihres Blitzes nach oben hin keine Grenzen gesetzt. Ich muss die Kontrolle behalten, ermahnte sie sich, und dämmte den Zufluss der Magie gerade noch rechtzeitig wieder ein.

---ENDE DER LESEPROBE---

Inhalt

Table of Contents

1234567891011121314151617181920212223242526272829303132Leseprobe DämonengrabImpressum

Landmarks

Cover