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Ein verlassener Turm. Ein düsteres Geheimnis. Ein Kampf ums Überleben! Hauptmann Sigur und die Rekrutin Nalana werden mit drei Kameraden zu einem einsamen Zollturm geschickt. Ein ruhiger Posten, so scheint es … doch die vorherige Besatzung ist spurlos verschwunden, und gleich in der ersten Nacht quälen Nalana düstere Träume. Als nach einer grausigen Entdeckung auch noch der Winter die Soldaten im Turm einschließt, nehmen Spannungen und Misstrauen zu. Lastet ein Fluch auf dem Gemäuer – oder lauert dort ein noch dunkleres Geheimnis? Packende Mischung aus klassischer Fantasy und Haunted House Mystery. Die Reihe "Dungeons & Dämonen" bietet spannenden Fantasy Horror für Erwachsene und besteht aus abgeschlossenen Einzelbänden, die in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können. Bereits erschienen: Dämonengrab - Fantasy Horror in einem düsteren Dungeon
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Taul zitterte vor Angst.Er war ein altgedienter Soldat, hatte in vielen Schlachten seinen Mann gestanden, unter seinen Kameraden als hartgesottener Kerl gegolten. Aber das schien ihm nun lange zurückzuliegen.
Jedes bisschen Mut, das einmal in ihm gewesen war, hatte ihn verlassen. Keine anstürmende Übermacht, kein schwertschwingender Berserker, nichts hatte ihm jemals so viel Furcht eingeflößt wie dieser Ort. Mit jeder neuen Vision, mit jedem unheimlichen Wispern in seinem Ohr, mit jedem Vorfall zwischen seinen Kameraden hier im Turm, war seine Selbstsicherheit langsam dahin gebröckelt und nun war er ein vor Angst zitterndes Wrack.
Bloß noch ein paar Tage, versuchte er sich Mut zu machen. Wenn die Ablösung eintrifft und wir endlich von hier wegkommen, wird vielleicht alles wieder gut. Doch insgeheim war ihm klar, dass er sich etwas vormachte und es in Wirklichkeit kein Entrinnen mehr gab.
Plötzlich gellte draußen ein Schreckensschrei, erst über ihm, dann neben ihm, dann brach er jäh ab. Stattdessen folgte der dumpfe Laut, mit dem ein Körper auf dem Fels aufschlug. Als ob das noch nicht grauenhaft genug gewesen wäre, ertönte von oben Gelächter, lang anhaltend, schallend, als ob gerade jemand einen hervorragenden Witz gemacht hätte.
Sie hat endgültig den Verstand verloren, dachte er. Sie wird uns alle umbringen.
»Taul!«, rief die Frau nach ihm, noch immer lachend. »Taul, wo steckst du?«
Mit einem Mal war er auf den Beinen. Ich muss weg, raus hier, egal wohin. Sie darf mich nicht finden, sonst bin ich als nächster dran. Er stürmte aus seiner Kammer und zur Treppe.
»Taul, bleib hier!«, hörte er die Frau rufen, erschreckend nah.
Er sah sich nicht um, stolperte weiter die Stufen hinunter, kam ins Taumeln, prallte unten gegen die Seitenwand des Treppenhauses, fing sich, lief in den Flur, auf das Tor zu. Seine Hände zitterten, während er sich mit dem schweren Riegel abmühte und dabei seine Verfolgerin nach sich rufen und ihre Schritte auf der Treppe hörte. Endlich hatte er den Riegel beiseitegeschoben - aber zu langsam. Als sich ihre Hand auf seine Schulter legte, erstarrte Taul und hielt unwillkürlich den Atem an.
»Wo willst du denn hin?« Ihre Stimme war ein sanftes Säuseln, das ihm einen Schauder über den Rücken laufen ließ.
Er antwortete nicht, der Schrecken hatte ihm die Sprache verschlagen.
Sie trat neben ihn, ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen, von dem keinerlei Wärme ausging. »Wir müssen doch zusammenhalten, jetzt, wo nur noch drei von uns übrig sind«, sagte sie mit leisem Vorwurf in der Stimme. »Du willst mich doch nicht etwa im Stich lassen, oder?«
Taul schluckte. Nichts wollte er mehr als sie und diesen verfluchten Ort hinter sich zu lassen, trotzdem schüttelte er den Kopf.
Ihr Lächeln wurde noch breiter und gleichzeitig auch unheimlicher. »Dann komm mit und hilf mir«, forderte sie und stieß das Tor auf.
Gehorsam folgte er ihr nach draußen, die Stufen hinab, halb um den Turm herum, bis er die Leiche sah. Mit zerschmettertem Schädel und verrenkten Gliedern lag der Körper auf dem Fels, eine Blutlache breitete sich aus. Glücklicherweise war das Gesicht von ihnen abgewandt, Taul hätte den Anblick wohl kaum ertragen.
»So unnötig«, flüsterte die Frau mit gespieltem Mitgefühl. »Mit etwas mehr Gehorsam, hätte es nicht so weit kommen müssen.«
Wenn ich mehr Mumm gehabt hätte, hätten wir dich noch stoppen können, dachte er im Stillen. Hätte ich doch nur auf Kendras gehört, statt ihn einen Verräter zu schimpfen.
»Wir müssen die Leiche verstecken«, überlegte die Frau laut und wandte sich Taul zu. »Die Ablösung kommt bald und wir wollen sie doch nicht verschrecken, nicht wahr?« Wieder zeigte sie dieses abgründige Lächeln und dazu glomm in ihren Augen ein Feuer auf. Mehr als alles andere verriet es Taul, dass die Frau nicht mehr sie selbst war, und bestätigte damit seinen schon länger gehegten Verdacht. In ihr steckte etwas, ein Dämon, ein Unheilsbringer, der im Turm gelauert und sich in ihr eingenistet, sich ihrer bemächtigt hatte.
Ich muss sie aufhalten, dachte er. Ich muss verhindern, dass die neue Truppe den Turm überhaupt betritt. Sonst sind auch sie verloren. Aber sein Mut reichte nicht einmal mehr dafür aus, vor ihr wegzulaufen.
Dieser Ort brach jeden - auf die eine oder die andere Weise.
Sigur brauchte einen Moment, um sich daran zu gewöhnen, dass der Boden unter seinen Füßen nicht mehr schwankte. Vom Anleger blickte er auf den schmalen, langgezogenen Kahn zurück, auf dem er die letzten Tage den Nanuath hinuntergefahren war.
»Gute Reise, Hauptmann«, rief der Kapitän vom Ruder herüber und hob zum Abschied die Hand.
Sigur erwiderte den Gruß halbherzig. Sieben Tage auf dem Fluss, umgeben von knurrigen Flößern, dem Gestank von frisch ausgenommenem Fisch, dem Geschrei der Möwen und dem unablässigen Gluckern und Plätschern des Wassers - das reichte ihm für’s Erste. Fester Boden unter den Füßen war ihm definitiv lieber.
Er wandte sich vom Fluss ab und ging im Dämmerlicht des Morgens den Anleger entlang. Mit jedem Schritt auf den Holzbohlen wurde sein Tritt fester, und als er die Mole des kleinen Hafens erreichte, blieb er stehen und ließ den Blick schweifen. Die Sonne lugte kaum über den Horizont und am Himmel konnte er noch zwei der drei Monde sehen, die dicht beieinander lagen, was das Ende einer der knapp dreißig Tage dauernden sogenannten Mondjagden anzeigte.
Als die Monde das letzte Mal in dieser Konstellation standen, war mein Leben noch in Ordnung. Er hatte in der größten Garnison der Hauptstadt gedient, als aussichtsreicher Kandidat für die Führung der Königsgarde gegolten und war kurz davor gewesen, um die Hand einer Tochter aus adligem Hause anzuhalten. Und jetzt bin ich stattdessen hier, am Ende der Welt.
Der Nanuath bildete an dieser Stelle, wenige Meilen von seiner Mündung ins Meer, einen breiten Strom, war aber nicht besonders tief. In seiner Mitte ragte eine schmale Insel aus dem Wasser. Steinige Sandbänke reichten von beiden Ufern weit in den Fluss hinein, bis fast zu der Insel. Wenn der Nanuath nicht gerade Hochwasser führte, konnte man ihn an dieser Stelle überqueren.
Zweifurt hieß die Siedlung, die sich auf beiden Seiten des Flusses gebildet hatte. In Sigurs Augen war es ein mickriges Dörfchen, auf dieser Seite gerade einmal zwei Dutzend Häuser, die um die Anlegestelle gruppiert waren. Dahinter ragte die Wand des Forts auf, das größer war als die ganze Siedlung. Neben den namensgebenden Furten war es das Einzige, was dem Ort Bedeutung verlieh. Zwar konnte man den Fluss auch weiter südlich über die Brücken von Girano überqueren, der großen Stadt an der Mündung, aber für die endlosen Züge von Soldaten, die aus allen Gegenden des tarisischen Reiches zur Front unterwegs waren, wäre das ein zu großer Umweg. Also überquerten sie den Nanuath hier, machten Rast und dann ging es für sie weiter nach Westen zur Front.
Auch der Anblick des Forts beeindruckte Sigur nicht, sondern entlockte ihm bloß einen Stoßseufzer. Missmutig stapfte er die schlammige Straße zum Fort entlang, auf der zu dieser frühen Stunde kaum jemand unterwegs war.
Verglichen mit der Garnison in der Hauptstadt war das Fort nicht groß. Die Wand aus Holzbohlen zog sich vom Tor her in beide Richtungen über mehr als fünfzig Schritt dahin. Über dem Tor ragte ein hölzerner Turm auf, wo zwei Soldaten gelangweilt Wache schoben. Zwei weitere lehnten ebenso nachlässig am Tor, einer kaute auf einem Grashalm herum.
Sigur trat auf die beiden zu.
»Nanu, ganz allein?«, fragte der mit dem Grashalm grinsend. »Haste auf dem Weg hierher deine Kompanie verloren, oder was?« Sein Kamerad lachte auf.
Sigur blickte auf seine Schulter herab und bemerkte, dass der Trageriemen seines Rucksacks sein Rangabzeichen verdeckte. Er schob ihn beiseite.
Der Soldat bekam große Augen und nahm zackig Haltung an. »Verzeihung, Herr Hauptmann. Willkommen in Zweifurt.« Hastig gab er seinem Kameraden ein Zeichen und der schob das Tor ein Stück weit auf.
»Danke«, knurrte Sigur, und beließ es bei einem tadelnden Blick. Wer noch was taugte, wurde an die Front geschickt und nicht an einem unwichtigen Ort wie diesem zum Wachdienst verdonnert. Wahrscheinlich waren die Wachen also auch Abgeschriebene, so wie Sigur selbst, was konnte man da schon in Sachen Disziplin erwarten?
Er trat durch das Tor in das große Geviert, das die Wände des Forts umfriedeten. Im Inneren gab es Baracken, Lagerhäuser, Ställe, aber alles wirkte seltsam unbelebt. Ein paar Reitechsen, Nobos, standen grasend in einer Art Koppel. Nur wenige Soldaten waren zu sehen, von denen drei offenbar gerade dabei waren, eine Kutsche zu beladen. Könnte meine sein, dachte Sigur und der Gedanke, dass diese Kutsche ihn an einen Ort bringen würde, der dem Ende der Welt noch näher lag als Zweifurt, verschlechterte seine Laune weiter.
Die Offiziersbaracke war gut daran zu erkennen, dass die Wände frisch geweißelt waren, während die anderen Gebäude ziemlich heruntergekommen wirkten. Auf halbem Weg zur Baracke stand ein bulliger Soldat in Uniform gegen einen Strohmann gelehnt, der eigentlich als Zielscheibe für Schützen gedacht war, aber im Moment schien hier niemand zu üben.
Der bullige Soldat beobachtete Sigur und schien zunächst desinteressiert. Dann aber ging ein Ruck durch seinen Leib und er kam mit ein paar hastigen, aber leicht hinkenden Schritten auf Sigur zu. »Bei Jorams Arsch«, rief er aus. »Wenn das nicht mein Lieblingsleutnant ist!«
Sigur betrachtete den Mann mit gerunzelter Stirn. Er war zwar kein gläubiger Mensch, schätzte es aber nicht, wenn Soldaten den Namen des Kriegsgottes so missbrauchten. Dennoch weckte Jorams Arsch bei ihm vage Erinnerungen. Kenne ich den Mann?
Das verblichene Abzeichen am Revers wies ihn als Feldwebel aus. Sigur schätzte ihn mindestens zehn Jahre älter als sich selbst, also Mitte vierzig. Sein graumeliertes Haar war kurz geschoren, wohl um zu verbergen, wie wenig ihm davon geblieben war. Das breite Gesicht wurde von einem grauen Backenbart und der zerschlagenen, schiefen Nase geprägt. Sein Grinsen entblößte einige Zahnlücken, aber er schien sich wirklich zu freuen, Sigur zu sehen.
Während der Feldwebel mit zur Begrüßung ausgebreiteten Armen auf ihn zu kam, durchforstete Sigur sein Gedächtnis, ein Name wollte ihm jedoch nicht einfallen.
Das Grinsen des Feldwebels verblasste und er blieb zwei Schritte vor Sigur stehen. »Nun sag bloß, du erinnerst dich nicht mehr an mich.« Er ließ die Arme sinken und stemmte die fleischigen Fäuste in die Hüften. »Wir waren zusammen in Arfan, drittes Regiment. Erst habe ich dir den Arsch gerettet und du dann dem Teil der Truppe, der vom Regiment noch übrig war, weißt du noch?«
Sigur runzelte die Stirn. Sicher, an Arfan erinnerte er sich - besser als ihm lieb war. Aber wer …? Plötzlich dämmerte es ihm. »Ullbich?«
»In alter Frische«, rief der aus und sein dröhnender Bass war sicher über den ganzen Hof zu hören. Für einen Moment schien Ullbich eine Umarmung zu erwägen, fasste Sigur dann aber nur an den Schultern und schüttelte ihn ordentlich durch. »Schön, dich zu sehen, Mann!«
Sigur rang sich ein Lächeln ab. Seine Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit dem Feldwebel waren nicht die besten, auch wenn das nicht unbedingt Ullbichs Schuld war.
»Was sehe ich da - du bist jetzt Hauptmann?« Ullbich deutete mit dem Finger auf Sigurs Rangabzeichen. »Schon länger?«
»Eine Weile.«
»Jetzt sag bloß, du bist der Hauptmann, auf den wir warten. Für den Zollturm?«
Sigur nickte. Er war nicht gerade stolz darauf.
»Na, dann sind wir ja wieder vereint. Ich bin als Unteroffizier für die Truppe eingeteilt.« Er stieß den Atem aus. »Joram sei Dank. Ich dachte schon, die schicken uns irgendeinen Schreibtischtäter, der die Streifen nur bekommen hat, weil er aus einem adeligen Schoß gerutscht ist.« Er legte Sigur in vertraulicher Geste einen Arm um die Schulter. »Freut mich wirklich. Ich …«
Sigur räusperte sich und schüttelte den Arm ab. »Ich freue mich auch, Ullbich. Aber hier im Fort sollten wir diese Vertraulichkeiten unterlassen.«
»Verstehe.« Ullbichs zog die Nase hoch und trat einen Schritt beiseite. »Hast dir Offiziersallüren zugelegt, was?« Er grinste wieder. »Aber sonst bist du hoffentlich noch der Alte.«
Bin ich das? Sigur versuchte sich an den heißblütigen Leutnant zu erinnern, der er gewesen war, als er gemeinsam mit Ullbich gedient hatte. Wie lange war das her? Sechs Jahre oder sogar schon sieben? So oder so, es kam ihm wie eine Ewigkeit vor.
»Ich bin jedenfalls noch derselbe«, fuhr Ullbich fort.
Das sah Sigur etwas anders. Der Feldwebel war zwar schon immer untersetzt und bullig gewesen, aber in Arfan hatte seine Nase noch nicht so ausgesehen und sein Bauch deutlich weniger Umfang gehabt als jetzt.
»Weißt du noch, wie unser Hauptmann den Befehl zum Angriff geben wollte und genau in dem Augenblick einen Bolzen in die Kehle bekam? War das ein Chaos. Hätte ich dich nicht aus dem Sattel gezogen, wärst du wohl als nächster mit Bolzen gespickt worden. Plötzlich hattest du als junger Leutnant den Befehl über das ganze Regiment.« Ullbich nickte versonnen. »Hast dich wacker geschlagen und wir haben den Jiluviern so richtig in den Arsch getreten.«
Wacker geschlagen? Am Ende der Schlacht war die Hälfte des Regiments tot, dachte Sigur unbehaglich.
»Wohin hat es dich danach verschlagen? Hab ja ewig nichts von dir gehört.«
»Ogastor, Stadtgarnison.«
»Stadtgarnison? Echt jetzt? Ich dachte, nach der Schlacht von Arfan hätten sie dich gleich zur nächsten Front geschickt.«
»Ich wollte es etwas ruhiger angehen lassen«, murmelte Sigur. Hab mir nämlich beim Gedanken an eine weitere Schlacht in die Hosen gemacht, fügte er in Gedanken hinzu.»Und du?«
Ullbich zuckte die Schultern und grinste. »Margastan, das Denbach-Tal, immer an irgendeiner Front, und stets dafür gesorgt, dass die Leute die Arschbacken zusammenkneifen und kämpfen.« Sein Grinsen verblasste unvermittelt. »Aber dann hab ich einen Pfeil ins Bein bekommen.« Er deutete auf seinen rechten Oberschenkel. »Schlecht verheilt, leider. Seitdem ist nichts mehr mit voranstürmen, tauge bloß noch zum Hinterherhumpeln.«
»Das tut mir leid.«
»Ach was.« Das Grinsen war sofort wieder da. »Hätte mich ja auch in den Hals treffen können - oder in den Sack. Schwer zu sagen, was schlimmer gewesen wäre, was?« Er lachte dröhnend.
Sigur lächelte schwach und ließ seinen Blick über den Hof des Forts schweifen. »Nicht gerade viel los hier«, murmelte er.
»Da sagst du was. In Zweifurt gibt’s nicht mal ein ordentliches Hurenhaus. Bleibt halt keiner lang genug, um einen wegstecken zu können.« Wieder lachte er.
»Wie lange bist du denn schon hier?«
»Seit gestern. Mit ‘ner Postkutsche gekommen. Das Geschaukel hat mich halb wahnsinnig gemacht - und die Gesellschaft erst.« Er blies die Backen auf. »Ein piekfeiner Herr mit Stock im Arsch und seine junge Tochter. Die haben mich die ganze Zeit angesehen, als sei ich ein Wilder, dabei hab ich nur ein paar Witze zum Besten gegeben, um die Stimmung ein wenig aufzulockern.«
Sigur lachte auf, als er sich die entgeisterten Blicke der Fahrgäste ausmalte. Vielleicht tut mir ein Typ wie Ullbich ja sogar ganz gut.
»Und du? Gerade angekommen?«
»Ja, mit einem Lastkahn. Wollte mich in der Offiziersbaracke melden und dann zusehen, dass wir noch heute hier wegkommen. Ich habe auf dem Kahn lange genug rumgesessen. Der Rest unserer Truppe ist schon da?«
Ullbich zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, wer dazugehört. Es hieß gestern bloß, der Hauptmann, also du, sei noch nicht da. Wir können ja mal nachfragen.«
Auch das Innere der Offiziersbaracke wirkte beinahe verlassen, die meisten Schreibstuben waren unbesetzt. In einer trafen sie auf einen älteren Offizier, der dem Rangabzeichen nach ein Leutnant war. Seine grauen Haare bildeten bloß noch einen mickrigen Kranz um eine altersfleckige Platte. »Ja?«, fragte er, als Sigur eintrat. Dabei hob er die Brauen, was tiefe Furchen in seine hohe Stirn grub.
»Hauptmann Sigur aus Ogastor, eingeteilt für den Zollturm am Darn«, meldete er sich. »Ich brauche meine Befehle und will meine Truppe kennenlernen.«
Der Leutnant nickte. »Wir haben Euch bereits gestern erwartet, Hauptmann. Nun bekommt Ihr Eure Befehle von mir, weil der Oberst heute leider auswärts beschäftigt ist.«
Wie so ziemlich alle anderen auch, wie’s aussieht, dachte Sigur bei sich.
Der Leutnant öffnete eine Depesche und überflog die Zeilen. »Ihr werdet mit Eurer Truppe den Zollturm für sechs Mondjagden besetzen, dann erfolgt die Ablösung. Ihr fahrt mit einer Kutsche und sechs Nobos, die ihr vor Ort an die derzeitige Besatzung übergebt, die damit hierher zurückkehrt.« Er entrollte eine Karte, die die Gegend zeigte, deutete mit dem Finger zuerst auf Zweifurt und dann ein ganzes Stück nach Westen. »Hier steht der Turm.«
»Das ist ja mitten im Nirgendwo«, kommentierte Ullbich stirnrunzelnd.
»Ja, unsere Armee war zuletzt sehr erfolgreich. Die Frontlinie befindet sich mittlerweile schon zwanzig Meilen weiter westlich«, pflichtete der Leutnant ihm bei. »Aber zum einen liegt der Turm günstig als Beobachtungsposten über das Darn-Tal.« Er fuhr mit dem Finger an einem schmalen Fluss entlang und verharrte über einer Siedlung. »Außerdem sind die Leute aus Darnbrück und der Umgebung erst seit Kurzem Bürger unseres Reiches. Möglich, dass ein paar von ihnen noch Sympathien für ihre vorherigen Lehnsherren hegen. Von daher ist es in jedem Fall ratsam, militärische Präsenz zu zeigen. Und nicht zuletzt ist es mit Recht und Gesetz hinter der Front stets nicht so weit her, von daher wäre es fahrlässig, ein wehrhaftes Gebäude wie den Turm irgendwelchem Gesindel zu überlassen.«
»Wie viele Leute bekommen wir?«, fragte Sigur.
»Drei«, erwiderte der Leutnant ohne mit der Wimper zu zucken.
»Bloß drei?«, platzte Ullbich heraus. »Wie soll man denn mit so einer kleinen Truppe die ganze Gegend überwachen?«
Der Leutnant zuckte mit den Schultern. »Unsere Kräfte werden nun mal mehrheitlich an der Front gebraucht, der Oberst kann nicht mehr Leute entbehren. Die bisherige Besatzung war auch nur zu fünft und es liegen uns keine Meldungen über irgendwelche Probleme vor. Zu fünft könnt ihr problemlos Tag und Nacht Wache halten, selbst, wenn mal jemand ausfällt. Außerdem bricht in der Gegend bald der Winter herein, dann ist wohl ohnehin nicht mit irgendwelchen Aktivitäten zu rechnen.«
»Mit anderen Worten: Wir werden uns da ein paar Mondjagden lang die Ärsche wundsitzen und Däumchen drehen, bis die Ablösung kommt«, brummte Ullbich missmutig.
Der Leutnant runzelte abermals die Stirn. »Wenn du es so ausdrücken willst.«
Sigur war von dieser Aussicht genauso wenig begeistert wie Ullbich. So ein Kommando bekommt man, wenn dein Vorgesetzter dich ein für alle Mal loswerden will, dachte er bitter, sagte aber nichts. »Wer sind die drei, die uns begleiten werden?«
»Die beladen gerade die Kutsche«, erwiderte der Leutnant und deutete zum schmalen Fenster seiner Schreibstube hinaus.
Sigur trat an das Fenster und betrachtete die drei Gestalten, die ihm vorhin schon aufgefallen waren. Zwei Männer und eine Frau. »Sind die drei von hier?«
»Nur eine.« Der Leutnant deutete auf die zierliche Frau mit blondem Pferdeschwanz, die sichtlich Mühe mit einer der Kisten hatte, die sie gerade in die Kutsche wuchtete. »Nalana.«
»Hat sie sich freiwillig gemeldet?«, fragte Sigur.
Der Leutnant stieß ein unterdrücktes Schnauben aus und schüttelte den Kopf. »Nein, sie wurde zwangsversetzt«, erwiderte er und hatte offenbar Mühe ein Grinsen zu unterdrücken.
»Warum?« Sigur schwante Übles.
»Sie hat sich auf Affären mit Offizieren eingelassen.«
»Affären?«, wiederholte Ullbich ungläubig. »Gleich mehrere?«
Der Leutnant zuckte abermals die Schultern. »Gerüchten zufolge sogar gleichzeitig. Gab wegen ihr einiges böses Blut hier im Fort, ein Hauptmann wurde deshalb bereits versetzt und der Oberst will sie daher loswerden.«
»Verstehe«, brummte Sigur wenig begeistert.
»Aber sie ist eine sehr gute Schützin«, setzte der Leutnant hinzu.
»Gut zu wissen, dass sie noch über andere Talente verfügt, als Offizieren den Kopf zu verdrehen«, frotzelte Ullbich.
»Was kannst du mir über die anderen beiden sagen?«, fragte Sigur.
Der Leutnant blätterte in seinen Papieren. »Die eine heißt Assani.«
Sigur maß die beiden Soldaten genauer. Der eine war von mittlerer Statur, trug eine ordentliche Rüstung und wandte dem Fenster gerade das Profil zu, sodass sein sauber gestutzter Bart zu sehen war. Der andere war anderthalb Köpfe größer und auch zwei Handspannen breiter als der Bärtige und hatte einen kahlgeschorenen Kopf. »Das ist eine Frau?«, fragte Sigur erstaunt.
Der Leutnant nickte. »Ehemalige Joram-Geweihte.«
Das erklärte einiges. Die Geweihten des Kriegsgottes durchliefen schon im Jugendalter ein jahrelanges, martialisches Training, bei dem Gerüchten zufolge auch alchemische Tränke eingesetzt wurden, um die Körper der Heranwachsenden für den Kampf zu stählen. Bislang hatte Sigur diese Gerüchte immer als Unsinn abgetan, aber Assanis Anblick gab ihm Anlass zu glauben, dass an dem Gerede doch etwas Wahres dran sein könnte.
»Hat sich in einigen Schlachten durch Mut und Tapferkeit ausgezeichnet, steht hier«, setzte der Leutnant hinzu, nachdem er die Akte kurz überflogen hatte.
»Warum schickt man sie dann nicht an die Front, sondern auf einen götterverlassenen Grenzposten?«, fragte Ullbich.
»Scheint, als hätte sie Schwierigkeiten mit Autoritäten«, erklärte der Leutnant. »Es gab wohl eine tätliche Auseinandersetzung mit ihrem Hauptmann.«
»Ha!«, rief Ullbich aus. »Die eine wickelt Offiziere um den Finger, die andere haut ihnen aufs Maul. Das ist mal ‘ne Truppe nach meinem Geschmack.« So, wie er dabei grinste, schien er das durchaus ernst zu meinen.
Sigur war weit weniger angetan.»Und was hat der dritte ausgefressen?«
»Oh, nichts. Jolak van Basren ist Offiziersanwärter. Er kommt von der Akademie in Tronburg und will nun Erfahrung sammeln. Auf Empfehlung seines Vaters, Baron van Basren, wurde er zum Grenzturm versetzt.«
… damit der Sohnemann bloß nicht an der Front verheizt wird, dachte Sigur.
»Mist, also doch ein Schreibtischtäter dabei«, knurrte Ullbich. »Aber solange er kein Offizier ist, kann ich ihm ja noch ordentlich den Marsch blasen.«
Der Leutnant maß Ullbich mit missbilligendem Blick, was den aber nicht sonderlich zu beeindrucken schien. »Was die Ladung angeht …« Der Leutnant blickte wieder auf seine Dokumente. »Verpflegung, Ersatzrüstungen und Waffen, Papiere, Tinte und Federkiele.« Er leierte die Liste noch weiter runter. »Neben den vier vorgespannten Nobos, bekommt ihr zwei weitere mit, damit ihr eine Vorhut ausschicken könnt. Es gab da in letzter Zeit ein paar Vorfälle mit Wegelagerern in der Gegend. Meist konzentrieren die sich auf Handelstrosse, aber man weiß ja nie. Bis zum Grenzturm sind es dreieinhalb Tagesreisen. Wenn ihr sofort aufbrecht, könnt ihr heute die halbe Etappe schaffen.«
Sigur nickte. »Gut, dann los.«
»Moment, Hauptmann, bitte quittiert vorher noch die Übernahme der Ladung hier und hier.« Er reichte ihm einen Federkiel.
Sigur zögerte kurz, bevor er unterschrieb. Sechs Mondjagden in einem bedeutungslosen Turm am Ende der Welt. Es schien ihm beinahe so, als quittiere er mit der Unterschrift das Ende seiner Offizierskarriere.
Der Leutnant setzte noch ein Siegel unter das Dokument und verstaute es dann in einem Ordner. Wie es aussah, war er hauptsächlich mit Papieren beschäftigt.
Ich hätte auch auf so einem Schreibposten enden können, versuchte Sigur sich aufzumuntern. Schlimmer geht’s immer.
Nalanas Arme zitterten unter der Last der Kiste, die sie aus dem Lager zu der Kutsche trug. Keine Ahnung, was da drin war, aber es schien Tonnen zu wiegen. Es waren nur noch wenige Schritte bis zur Kutsche, als sie zwei Männer bemerkte, die in ihre Richtung kamen. Den untersetzten Feldwebel hatte sie schon gestern gesehen. Der andere Mann war größer, jünger, hatte eine gute Figur, kurze braune Haare und trug einen Vollbart. Ob das der Hauptmann war, auf den sie …?
Sie blieb mit dem Fuß an einem hervorstehenden Pflasterstein hängen, geriet ins Stolpern und schaffte es gerade noch, die Kiste halbwegs sanft auf dem Boden abzusetzen, bevor sie sich mit einer Hand auffing.
»Na Püppchen, heb dir mal keinen Bruch«, knurrte die breitschultrige Soldatin mit einem hämischen Grinsen auf den Lippen. Ohne jede Spur einer Anstrengung hob sie die Kiste hoch und trug sie die letzten Schritte bis zur Kutsche, ehe Nalana etwas erwidern konnte.
Jolak, der junge Offiziersanwärter, der sich gestern höflich und etwas linkisch vorgestellt hatte, trat zu Nalana und bot ihr die Hand. Bevor sie sie ergreifen konnte, waren aber die beiden Offiziere heran.
»Steht mal stramm, ihr drei«, raunzte der bullige Feldwebel. »Euer Hauptmann steht vor euch.«
Jolak nahm sofort Haltung an und hob die Hand, die er eben noch helfend ausgestreckt hatte, zum Soldatengruß an die Stirn. Nalana rappelte sich auf und tat es ihm gleich. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie die andere Soldatin währenddessen in aller Ruhe die Kiste im Inneren der Kutsche zurecht schob und erst dann zu ihnen herüberkam, sich neben Jolak stellte und nachlässig Haltung annahm.
»Ich bin Feldwebel Ullbich. Ich habe schon in vielen Regimentern gedient und reihenweise Leuten in den Arsch getreten, von denen einige heute weit über mir stehen. Aber das ist mir egal, in Ärsche zu treten liegt mir eben.« Er grinste. »Eure Ärsche sind die nächsten auf meiner Liste.«
In Nalanas Ohren klang es, als hätte er diesen Spruch schon öfter aufgesagt.
»Für den Anfang stellt euch dem Hauptmann mal vor«, befahl er. »Name, Alter, Rang, bevorzugte Waffe.« Er nickte der großen Soldatin auffordernd zu.
»Assani, siebenundzwanzig, einfache Soldatin, Schwert«, erwiderte sie gelangweilt.
Nalana war ihr heute Morgen zum ersten Mal begegnet und fand sie furchteinflößend. Ihr massiger Schädel war kahlgeschoren und von einigen Narben und einer tiefen Furche an der linken Schläfe gezeichnet. Ihr Gesicht war kantig, die Augen schmal und dunkel, einzig die vollen Lippen hatten etwas Sinnliches an sich, doch ihr Mund wirkte verkniffen. Ihre Statur ließ sicher viele ihrer männlichen Kameraden vor Neid erblassen. Sie hatte ein Kreuz wie ein Kleiderschrank und ihre bloßen Arme waren so muskulös, dass die Adern deutlich hervortraten. An den Händen trug sie zwei auffällige Ringe.
Der Hauptmann nickte bloß und sah Nalana an.
»Nalana, zwanzig, einfache Soldatin, Bogenschützin«, erklärte sie, und bemühte sich den zackigen Soldatenton nachzuahmen, den sie bei anderen gehört hatte.
Der Hauptmann musterte sie mit prüfendem Blick, was Nalana unangenehm war. Sie war ohnehin schon recht schmächtig, aber neben einer Schlächterin wie Assani stehend, wirkte sie auf ihn wahrscheinlich wie ein von zu Hause ausgerissenes Mädchen - was auch nicht ganz falsch war.
Wieder nickte der Hauptmann und wandte sich Jolak zu.
»Jolak van Basren, vierundzwanzig, Absolvent der Tronburger Offiziersakademie«, stellte der sich vor, wobei unverkennbar Stolz in seiner Stimme mitschwang. »Meine bevorzugte Waffe ist der Degen.«
Nalana fand, dass Jolak jünger aussah, wahrscheinlich versuchte er seine Jungenhaftigkeit mit dem Bart zu kaschieren. Eigentlich wirkte er durchtrainiert, aber neben Assani stehend doch mehr wie ein Hänfling. »Hauptmann Sigur, ich freue mich sehr …«, setzte er noch hinzu.
»Arschkriecherei war nicht gefragt«, unterbrach ihn Ullbich barsch und Nalana sah dabei etwas in seinen Augen aufblitzen, als bereitete es ihm Vergnügen, Jolak zurechtzuweisen. »Hauptmann, die Truppe ist angetreten.«
»Danke, Feldwebel. Ich bin Hauptmann Sigur, war zuletzt bei der Stadtgarnison von Ogastor und habe mich freiwillig für den Zollturm am Darn beworben. Mir ist zu Ohren gekommen, dass das bei euch eher nicht der Fall war.«
Nalana spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss und sie senkte betreten den Blick. Also hatte er die im Fort kursierenden Gerüchte auch schon gehört. Sie unterdrückte ein Seufzen. Eigentlich hatte sie gehofft, unter seinem Kommando eine neue Bewährungschance zu erhalten. Neben ihr holte Jolak Luft, als wollte er widersprechen, aber ein warnendes Knurren von Ullbich ließ ihn stumm bleiben.
»Machen wir uns nichts vor«, fuhr der Hauptmann fort. »Das wird vermutlich kein Kampfeinsatz und auch kein großes Abenteuer. Stattdessen werden wir Fuhrwerke zu kontrollieren und viel Papierkram zu erledigen haben. Die Herausforderung wird sein, nicht vor Langeweile zu sterben. Wer damit ein Problem hat, kann das ruhig laut sagen. Eine Wahl habt ihr aber sowieso nicht.«
Offene Worte, fand Nalana. Das war sicher nicht die Art Einsatz, die sie sich vorgestellt hatte, als sie zur Armee gekommen war. Aber im Augenblick war ihr jeder Befehl recht, der sie bloß aus diesem Fort brachte, also schwieg sie. Auch die anderen beiden sagten nichts.
»Ist die Ladung vollständig verstaut?«, fragte Sigur.
»Die Kiste, war die letzte, Herr Hauptmann«, erwiderte Jolak zackig.
»Gut. Knapp vier Tage Kutschfahrt liegen vor uns, da werden wir genug Gelegenheit haben, uns näher kennenzulernen«, fuhr Sigur fort. »Holt eure Ausrüstung, wir brechen sofort auf. Feldwebel, überprüfe, ob alles ordnungsgemäß verstaut ist.«
»Aye, Hauptmann. Ihr habt es gehört, also zack, zack, holt euer Zeug«, bellte Ullbich.
Jolak und Nalana liefen in Richtung ihrer Baracke davon. Assani beeilte sich nicht besonders, aber mit ihren langen Beinen war sie kaum langsamer als die beiden.
Nalana hatte ihre wenigen persönlichen Habseligkeiten wohlweislich schon gestern Abend in ihren Rucksack gepackt. Kurz prüfte sie, ob wirklich alles darin war. Die silberne Haarspange ihrer Mutter, die Haarbürste, das Jagdmesser, das sie von ihrem Vater bekommen hatte. Mehr Habseligkeiten besaß sie nicht. Sie zog die Riemen zu, schulterte den Rucksack und eilte zurück auf den Hof.
Der Hauptmann war inzwischen auf den Kutschbock geklettert, der Feldwebel inspizierte immer noch den Innenraum. »Und?«, hörte Nalana den Hauptmann fragen.
»Ziemlich voll, aber noch drei Sitzplätze frei«, rief der Feldwebel zurück, der Nalana noch nicht bemerkt hatte. Leiser fügte er dann hinzu: »Scheiße noch mal, von Kutschfahrten hatte ich eigentlich genug die letzten Tage. Und wie’s aussieht wird die Gesellschaft diesmal auch nicht viel besser als zuletzt.«
Kurz darauf brachen sie auf. Sigur befahl, die beiden einzelnen Nobos an der Rückseite der Kutsche anzubinden. Assani, Nalana und Jolak sollten zunächst im Inneren der Kutsche Platz nehmen, während er mit Ullbich auf dem Kutschbock saß und die Zügel in der Hand hielt.
Die Kutsche rumpelte aus dem Fort und Nalana blickte aus dem Fenster zurück. Sie hatte sich hier nie wohl gefühlt, aber die Wände des Forts hatten ihr doch Sicherheit gegeben. Nun ging es zu ihrem ersten Einsatz, und auch wenn es nur ein Zollposten war, hatte Nalana ein mulmiges Gefühl bei der Sache.Der Morgen dämmerte und Nalana hockte gerade hinter einem Busch und erleichterte sich, als Ullbich fluchend aus der Kutsche kletterte. »Verdammte Scheiße«, knurrte er. »Dagegen war die Strohmatratze in der Kaserne ja der reinste Luxus.« Stöhnend presste er die Hände in die Seiten und drückte den Rücken durch.
Nalana zog ihre Uniformhose hoch und wischte sich die Finger am herumliegenden Laub ab. Die Arme um den Leib geschlungen, ging sie zur Feuerstelle hinüber, wo nur noch ein paar kleine Flämmchen an den verkohlten Zweigen leckten. Immerhin strahlte das Feuer noch ein wenig Wärme ab und Nalana hielt ihre klammen Finger so dicht wie möglich über die Flammen.
Es war der Morgen des zweiten Tages ihrer Reise. Der erste war ereignislos verlaufen, auf dem Weg von Zweifurt hatten sie bloß ein Dorf und ein paar Gehöfte passiert. Je weiter sie nach Westen gekommen waren, desto schlechter war die Straße geworden und desto langsamer waren sie vorangekommen, sodass alle froh waren, als Sigur schließlich in einem kleinen Wäldchen ein Lager aufschlagen ließ.
Die Nacht war unbequem und von drei Stunden Wache unterbrochen gewesen, sodass Nalana nun müde war und ihr alle Knochen wehtaten. Noch dazu war der Morgen kalt, Nebel war aufgekommen und hing in gespenstischen Schwaden zwischen den Bäumen, teilweise so dicht, dass sie nur wenige Schritte weit sehen konnte. Eine unheimliche Stille lag über dem Wald, als hielten alle Tiere den Atem an.
Diese Stille wurde von Ullbich jäh gestört, der weiter vor sich hin grummelnd in den Wald stapfte und dabei einige Äste zerbrach, laut aufseufzte, als er sich zu erleichtern begann und dann auch noch langanhaltend furzte.
»Die Nobos sind noch beinahe erstarrt«, sagte Jolak unvermittelt von der anderen Seite des Lagers her. »Es wird eine Weile dauern, bis sie die Kutsche ziehen können.« Er trat zu Nalana ans Feuer und lächelte schüchtern. »Ich könnte uns einen Kräutertee kochen.«
Nalana zuckte die Achseln. »Klar, warum nicht«, erwiderte sie, ohne ihn anzusehen. Schon gestern hatte Jolak mehrmals versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Offenbar war er der nächste Mann, dem sie den Kopf verdrehte.
An ihre Wirkung auf Männer hatte sie sich noch immer nicht gewöhnt. Ja, ihr war schon früh bewusst gewesen, dass sie hübsch war. Aber die Hütte ihrer Eltern hatte einsam im Wald gelegen, sie war kaum mal einem Fremden begegnet und wenn, dann meist auf der Jagd und da ging es den Männern eher um Wild als um Frauen. Doch seit ihrer Ankunft in Zweifurt konnte sie sich vor Verehrern kaum retten - wobei sie die aufdringlichen, die sich selbst für unwiderstehlich hielten, mehr störten als die eher schüchternen, wie Jolak. Trotzdem ging es ihr auf die Nerven, das fast jeder Mann in ihr nur die hübsche Frau sah, die es zu erobern galt.
Deshalb wollte sie nicht bei Jolak am Feuer sitzen und ging zum Zelt zurück. Assani lag noch darin und schien zu schlafen. Nalana gab sich Mühe, leise zu sein, während sie in ihrem Rucksack nach der Bürste kramte. Nachdem sie sie gefunden hatte, setzte sie sich auf ihre Decke, löste ihren Zopf und begann ihre Haare zu bürsten.
»Na, machst du dich hübsch, Püppchen?«, knurrte Assani unvermittelt und setzte sich gehässig grinsend neben ihr auf.
»Ich bin kein Püppchen«, zischte Nalana zurück.
Assani zuckte bloß mit den breiten Schultern. »Solange du dich wie eins verhältst, nenne ich dich auch so«, erwiderte sie in herablassendem Ton.
Die Kriegerin ging Nalana noch mehr auf die Nerven als Jolak, wenn auch aus anderen Gründen. Während der junge Mann ständig versuchte, irgendwie mit ihr ins Gespräch zu kommen oder ihr auf hölzerne Weise Komplimente machte, kamen von Assani immer wieder gehässige Bemerkungen. Püppchen war da noch das Harmloseste. Nalana lag eine schnippische Antwort auf der Zunge, aber sie schluckte sie herunter. Einen offenen Streit wollte sie mit der hünenhaften Kriegerin lieber nicht vom Zaun brechen, schließlich hatten sie noch einige gemeinsame Mondjagden vor sich. Aber in ihr brodelte es.
Assani beließ es jedoch bei der einen Gehässigkeit, schob ihre Decke beiseite und kroch aus dem Zelt. Nalana genoss es, einen Moment für sich zu haben und atmete tief durch, während sie weiter mit der Bürste durch ihre Haare fuhr.
Wenig später meldete Jolak, dass der Tee bereit sei, und alle versammelten sich um das Feuer, auf dem der Tee in einem Topf köchelte und einen angenehmen Geruch verströmte. Jeder schöpfte sich eine Kelle in die Tassen, die sie aus der Kutsche geholt hatten. Während Nalana die Hände um die Tasse legte und die Wärme an den Fingern genoss, stellte Assani ihre auf den Boden und hockte sich auf einen Felsen. Sie zückte ihren Dolch, prüfte die Schneide mit dem Fingernagel, und begann sich damit die Haarstoppeln vom Schädel zu schaben.
»Sag mal, stammen deine Narben vom Kampf oder rutscht dir beim Rasieren nur immer mal wieder die Klinge ab?«, flachste Ullbich grinsend.
Assani hielt inne und sah mit zusammengezogenen Brauen zu ihm hinüber. »Ich weiß ja nicht, wie du dich rasierst«, knurrte sie. »Aber solche Narben wie die …« Sie deutete auf die tiefe Kerbe an ihrer Schläfe. »… kriegt man wohl kaum beim Rasieren, oder?«
»Und das machst du jeden Morgen?«, fragte Ullbich weiter.
Assani zuckte die Schultern. »Es gefällt Joram, wenn man seinen Kopf schert. Hast du was dagegen?«
»Dachte nur, könntest die Haare ja mal ein bisschen wachsen lassen. Die Narben sind kein besonders schöner Anblick.«
Assani spuckte aus. »Wer sagt, dass ich ein schöner Anblick sein will? Ich bin Soldatin, keine Hure.«
Nalana meinte zu erkennen, wie Assani bei den letzten Worten in ihre Richtung nickte und das brachte das Fass zum Überlaufen. »Willst du damit sagen, weil ich auf mein Äußeres achte, macht mich das gleich zu einer Hure?«, fuhr sie auf.
Assani schnaubte verächtlich. »Nach allem, was man im Fort so gehört hat …«
»Was hast du denn gehört?«, fauchte Nalana.
»Dass du mit Offizieren im Bett warst«, erwiderte Assani gleichmütig.
»Ja, klar. Was Soldaten so erzählen, ist ja auch immer die Wahrheit, was? Vor allem, wenn es um Frauen geht. Aber wenn die was erzählen, dann bin ich gleich eine Hure, ja?« Nalana kochte vor Wut. Es war höchste Zeit, diesen dummen Gerüchten entgegenzutreten. Sie stellte ihre Tasse ab, trat vor Assani und stemmte die Hände in die Hüften. »Sag schon!«
Assani ignorierte sie einfach und fuhr seelenruhig damit fort, mit dem Messer über ihren Schädel zu schaben. Das war fast noch schlimmer als die gehässigen Bemerkungen und Nalana spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen, was ihre Wut nur noch weiter anfachte. »Schon mal überlegt, dass es nicht so war, wie du denkst? Wenn du mit dem kahlen Klotz auf deinen Schultern überhaupt denken kannst!«
Nun blickte Assani doch auf, ihre Augen wurden schmal. »Pass auf, was du sagst, Püppchen, sonst …«
»Lasst mal gut sein«, ging Ullbich dazwischen. »Jeder trägt hier seine Haare so, wie er mag, klar?«
Nalana funkelte Assani wütend an, erntete jedoch einen finsteren Blick, dem sie nicht standhalten konnte. Wütend über ihre Schwäche wandte Nalana sich ab, setzte sich etwas abseits und bürstete weiter ihre Haare.
»Sag mal, warum wolltest du denn deinem Hauptmann eine auf’s Maul geben?«, fragte Ullbich an Assani gewandt, wohl weil er das Thema wechseln wollte. »Das interessiert mich echt - und unseren Hauptmann bestimmt auch.«
Assani schnaubte. »Weil seine Befehle beschissen waren.« Wie um ihre Worte zu unterstreichen, hielt sie sich ein Nasenloch zu und rotzte den Inhalt des anderen auf den Boden.
Ullbich lachte auf. »Wenn ich jedem Offizier für jeden Scheißbefehl auf’s Maul gegeben hätte, wären meine Finger heute krumm und schief.«
»Ich meine, so richtig beschissen«, präzisierte Assani. »So beschissen, dass es eine Beleidigung für Joram war.«
Nalana runzelte die Stirn und selbst der Feldwebel schien für einen Augenblick sprachlos, was ihm sicher nicht oft passierte. »Wie kann man denn mit seinen Befehlen den Kriegsgott beleidigen?«, fragte er.
Assani drehte versonnen ihr Messer zwischen den Fingern. »Wir hatten eine einfache Aufgabe: dem Feind in die Flanke fallen und so unseren Kameraden zu Hilfe kommen, die eine Brücke hielten. Aber die Übermacht des Feindes war zu groß, fand der Hauptmann, und befahl stattdessen, bloß die Stellung zu halten. Ich habe protestiert - nicht nur mit Worten. Hätten mich meine Kameraden nicht zurückgehalten, hätte ich ihn niedergeschlagen und selbst den Angriff befohlen.«
Alle schwiegen einen Moment. Kaum jemand anderem hätte Nalana diese Geschichte abgekauft, aber zu Assani passte sie.
»Wenn der Hauptmann aus Feigheit vor dem Feind seine Befehle ignoriert hat, wurde er doch sicher nach der Schlacht vor einem Kriegsgericht zur Verantwortung gezogen«, mutmaßte Jolak.
Assani schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil. Sein Handeln sei vernünftig und zum Wohle seiner Leute gewesen, hieß es nach der Schlacht. Die Brücke fiel nahezu kampflos an den Feind, es gab keine nennenswerten Verluste auf unserer Seite, weil unsere Leute sich zurückzogen. Hätte der Hauptmann eingegriffen, hätte das nur die Verluste vergrößert, aber am Ergebnis nichts geändert.« Sie schüttelte grimmig den Kopf. »Eine Schande für Joram.«
»Vielleicht hatte dein Hauptmann ja recht?«, warf Sigur ein, der bislang stumm in der Nähe des Feuers gehockt und in seine Teetasse gestiert hatte.
Assani wandte sich ihm mit gerunzelter Stirn zu, und Nalana erwartete fast, dass sie den Hauptmann beleidigen oder sogar körperlich angehen würde. Doch die Kriegerin blieb sitzen. »Einem ehrlichen Kampf aus dem Weg zu gehen und dabei auch noch seine Kameraden im Stich zu lassen, das ist die schlimmste Sünde, die ein Joram-Geweihter überhaupt begehen kann. Und der Hauptmann hat mich zu dieser Sünde gezwungen.«
»Du wärest also lieber sinnlos gestorben, als dich zurückzuziehen?«, fragte Jolak ungläubig.
»Natürlich«, erwiderte Assani im Brustton der Überzeugung. »Auf dem Schlachtfeld zu sterben, ist meine Bestimmung.«
Ullbich lachte schallend. »Na, wenigstens wissen wir jetzt, warum du es wohl nie zur Offizierin bringen wirst.«
Nalana tauschte einen Blick mit Jolak und sie grinsten beide verstohlen, behielten dabei aber Assani im Auge, aus Sorge, ihren Zorn auf sich zu ziehen. Doch die Kriegerin grunzte nur und fuhr dann fort, ihren Schädel zu rasieren.
Der Hauptmann reagierte überhaupt nicht auf Ullbichs Bemerkung, er starrte weiter nur auf die Tasse in seiner Hand. Als Nalana genauer hinsah, meinte sie zu erkennen, dass seine Finger leicht zitterten.
Zum Glück brach die Sonne bald durch und der Nebel verzog sich. Die Reitechsen wurden munter, sodass sie sie vor die Kutsche spannen und den Weg fortsetzen konnten. Auf den zwei übrigen Nobos ließ Sigur je zwei der drei Soldaten abwechselnd als Vorhut ein Stück vorausreiten.
Nachdem sie das Waldstück durchquert hatten, schlängelte die Straße sich durch ein Flusstal. Sie war in keinem guten Zustand, es gab viele Schlaglöcher und tiefe Spurrillen. Die Kutsche rumpelte, die Achsen ächzten beängstigend laut und Ullbich, der auf dem Kutschbock saß, fluchte unentwegt.
Den ganzen Vormittag über kamen ihnen nur zwei Handelstrosse entgegen. Bei dem einen handelte es sich offensichtlich um wohlhabende Kaufleute, denn der Zug aus vier Kutschen wurde von einem Dutzend waffenstarrender Söldner begleitet. Der zweite Tross war hingegen eine Ansammlung von Karren, die vollbesetzt waren mit Männern, Frauen und Kindern in zerschlissenen, verdreckten Kleidern. Leute, die der Krieg um ihr Hab und Gut gebracht hatte und die die Grenzlande nun verließen, um anderswo ihr Glück zu versuchen, mutmaßte Sigur. Davon abgesehen verlief die Reise bis zum Mittag ereignislos.
Als sie gerade nach einem Platz für eine Rast Ausschau hielten, ließ ein Ruf Sigur aufmerken. Er blickte voraus und bemerkte eine Kutsche, die ihnen in rasender Fahrt entgegenkam. Angesichts der Löcher und Furchen in der Straße, war das Tempo buchstäblich halsbrecherisch und Sigur vermutete zuerst, dem Kutscher seien vielleicht die Nobos durchgegangen. Dann erkannte er jedoch, dass die Frau, die auf dem Kutschbock saß, unbarmherzig die Peitsche schwang und die Echsen sogar zu einer noch höheren Geschwindigkeit treiben wollte.
»Ist die irre?« Hektisch gab Ullbich den Zugtieren ihrer eigenen Kutsche Kommandos und dirigierte den Wagen an den Straßenrand, um Platz zu machen.
Sigur sprang vom Kutschbock und lief ein paar Schritte voraus. Die andere Kutsche raste weiter auf sie zu und tänzelte dabei von einer Spurrille in die andere. Es war nur eine Frage der Zeit, bis eine Achse oder ein Rad brechen und die Fahrt in einer Katastrophe enden würde.
Sigur legte die Hände trichterförmig an die Lippen. »Langsamer!«, brüllte er. »Sonst gibt es ein Unglück!«
Die Frau auf dem Kutschbock starrte zu ihm und hielt mit den Peitschenhieben inne. Offenbar erkannte sie die Uniformen von Sigurs Trupp, denn nun zog sie sogar an den Zügeln, um die Kutsche zu stoppen. Trotzdem raste das Gespann an Sigur vorbei und kam erst ein ganzes Stück weiter zum Halten.
Die Frau sprang vom Kutschbock, raffte ihren Rock und eilte auf Sigur zu, der ihr entgegenlief.
»Ihr müsst uns helfen«, rief sie schon von Weitem. Als sie ihn völlig außer Atem erreichte, sah Sigur, dass ihre Augen vom Weinen gerötet waren und die Tränen Spuren in ihrem schmutzigen Gesicht hinterlassen hatten. »Räuber«, stieß sie nach Luft ringend hervor und deutete in die Richtung, aus der sie herangerast war. »Meinen Mann und ein paar andere … haben sie angehalten. Ich bin … mit den Kindern geflohen.«
Hinter ihr öffnete sich eine der Türen der Kutsche und ein kleiner Junge lugte vorsichtig heraus. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Wie weit?«, fragte Sigur.
»Eine halbe Meile vielleicht.«
»Wie viele Räuber?«
»Ich weiß nicht genau«, keuchte sie und schüttelte hilflos den Kopf. »Sie kamen von dem Hügel da hinten, zehn, vielleicht mehr.«
»Wir kümmern uns darum. Fahr langsamer weiter, sonst bringst du dich und die Kinder noch um.« Damit wandte Sigur sich ab und eilte im Laufschritt zurück zu den anderen. Dabei überschlug er rasch ihre Möglichkeiten und entwarf einen Plan.
»Ein Überfall, eine halbe Meile voraus! «, informierte er seine Leute knapp. »Nalana, hol Bogen und Pfeile aus dem Wagen. Jolak, wie bist du als Schütze?«
Der wiegte den Kopf. »Es geht.«
»Egal, schnapp dir auch einen Bogen und einen Köcher.« Während die beiden seine Kommandos befolgten, drehte er sich zu Assani um. »Du nimmst einen der Nobos und schlägst dich rechts der Straße durch den Wald. Sorge dafür, dass dich keiner sieht und kundschafte die Lage aus. Wenn es deutlich mehr als zehn sind, kommst du sofort zurück. Andernfalls bleibst du in Deckung und greifst erst ein, wenn ich dir ein Zeichen gebe oder wenn es nicht anders geht, klar?«
Sie nickte, löste die Zügel des einen Nobo von der Kutsche, schwang sich in den Sattel und ritt über eine Wiese auf den nahen Wald zu.
Sigur kletterte ins Innere der Kutsche, wuchtete hastig zwei Kisten auf einen anderen Stapel und öffnete eine, die zwei Armbrüste und Bolzen enthielten. Mit den Waffen und einer Handvoll Bolzen kletterte er wieder heraus und reichte sie Ullbich auf den Kutschbock.
Kurz hielt er nach Assani Ausschau, aber von ihr war nichts zu sehen. Also ging er davon aus, dass die Lage so war, wie von der Frau beschrieben.
Er wandte sich an Jolak und Nalana, die mittlerweile Bögen und Köcher geschultert hatten, und deutete auf den Hügel, von dem die Räuber gekommen sein sollten. »Ihr lauft links von der Straße zu dem Hügel. Seht euch um, ob da noch mehr Räuber herumlungern. Falls es einzelne sind, schaltet sie aus. Danach sucht ihr euch eine gute Position, von der aus ihr uns anderen Deckung geben könnt, verstanden? Ansonsten gilt für euch dasselbe wie für Assani. Keine Alleingänge, und sollte die Situation für euch zu gefährlich werden, kommt ihr sofort zu uns zurück.«
Nalana nickte und lief los. Jolak sah so aus, als wolle er noch eine Frage stellen, wandte sich dann aber doch wortlos ab und eilte ihr nach.
»Wir beide halten einfach frontal drauf zu, nehme ich an?«, fragte der Feldwebel.
Sigur nickte. »Wir tun überrascht und versuchen es dann erst mal mit Verhandlungen.«
»Glaubst du wirklich, dass die sich darauf einlassen?«
»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte Sigur grimmig. »Falls nicht, haben wir jedenfalls die drei anderen in der Hinterhand.« Er sah sich nach Jolak und Nalana um, aber die beiden waren bereits zwischen den Bäumen verschwunden, die die Straße säumten. »Jetzt fahr zu!«, befahl er Ullbich und begann gleichzeitig, die erste Armbrust zu spannen. »Hoffentlich kommen wir nicht zu spät.«
***Nalana huschte geduckt voraus, den Bogen in der Hand, einen Pfeil auf der Sehne. Sie hörte Jolak hinter sich, sein keuchender Atem erschien ihr viel zu laut. Sie hatten die Ausläufer des Hügels erreicht und schlichen nun von Baum zu Baum, lauschten auf Geräusche. Es erinnerte Nalana an die Jagd im Wald, früher mit ihrem Vater, nur dass sie sich diesmal nicht an Wild heranpirschten, sondern an Menschen. Bei dem Gedanken wurden ihre Hände feucht von Schweiß und sie verdrängte ihn schnell.
Von rechts, wo die Straße lag, hörte sie Stimmen, Gelächter, Gejammer. Es klang nicht so, als würde dort noch gekämpft, offenbar hatten die Räuber den Widerstand der Verteidiger schon gebrochen. Wenn sie den Leuten dort zu Hilfe kommen wollten, dann schnell. Aber der Hauptmann hatte natürlich recht damit, die Flanken zu sichern, um nicht in einen Hinterhalt zu geraten.
Die Augen starr auf den Boden vor sich gerichtet schlich Nalana weiter, hielt nach Spuren Ausschau und setzte ihre Füße mit Bedacht, um nur nicht auf einen Zweig zu treten und sich mit dessen Knacken zu verraten. Unvermittelt blieb sie stehen, als sie vor sich deutliche Spuren ausmachte. Mindestens zwei Leute waren hier entlanggelaufen, leichte Abdrücke waren in dem vom letzten Regen noch feuchten Boden zu entdecken. Sie führten aber direkt zur Straße.
Mit einer schnellen Geste bedeutete sie Jolak stehenzubleiben. Sie blickte in die Richtung, aus der die Fußspuren gekommen waren, nach oben zum Kamm des niedrigen Hügels. Ob sich vielleicht dahinter noch weitere Räuber verborgen hielten? Da der Kampf auf der Straße entschieden schien, hatten sie eigentlich keinen Grund, sich länger dort zu verstecken, aber Nalana wollte lieber auf Nummer sicher gehen. Sie gab Jolak stumm zu verstehen, er solle bleiben wo er war und ihr Rückendeckung geben. Nickend stimmte er zu.
Noch immer den Bogen schussbereit in den Händen, schlich Nalana die Flanke des bewaldeten Hügels empor, bis hinauf zum Kamm. Dort duckte sie sich hinter einen umgestürzten Baum und spähte vorsichtig darüber.
Sie hörte irgendwo etwas im Gebüsch rascheln und fuhr herum. Ein Vogel stob auf und flog krächzend in die Wipfel empor. Ansonsten rührte sich jedoch nichts und es war auch kein Laut zu hören. Nalana verharrte trotzdem noch einige Augenblicke, bis sie sicher war, dass hier niemand lauerte, bevor sie umdrehte und zu Jolak zurückeilte.
Als sie ihn erreichte, deutete er mit hektischen Gesten zur Straße. Zuerst wusste Nalana nicht, was er meinte, aber dann vernahm sie es auch: Knappe Befehle wurden gerufen, und sie hörte aus den Wortfetzen, die bis an ihr Ohr drangen, heraus, dass die Kutsche mit Sigur und Ullbich bemerkt worden war und die Räuber sich auf deren Ankunft vorbereiteten.
Sie schluckte. Mehrere Mondjagden lang war sie in der Kaserne und auf Manövern für diesen Augenblick gedrillt worden, doch nun, da ihr erster Kampfeinsatz bevorstand, schlug ihr Herz wild und sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Sie blickte zu Jolak, in der Hoffnung, er würde Ruhe ausstrahlen und ihr Mut machen, las in seiner Miene aber dieselben Gefühle, die sie empfand: Angst und Unsicherheit.
Ihr Instinkt riet ihr, sich einfach zwischen den Bäumen versteckt zu halten, aber das kam natürlich nicht infrage. Der Hauptmann und der Feldwebel verließen sich auf sie als Rückendeckung. Nalana holte einmal tief Luft und nickte dann in Richtung der Straße, als Zeichen für Jolak, dass sie vorrücken sollten. Diesmal nickte er nur zögernd, offensichtlich hatte er noch größere Angst als sie. Von einem Offiziersanwärter hätte sie sich mehr erhofft. Mit einem energischen Wink spornte sie ihn an, ihr zu folgen, und schlich dann voran.
Mit jedem Schritt wurden die Geräusche von der Straße her lauter. Sie konnte die Stimmen von mehreren Männern unterscheiden, einige sprachen barsche Befehle, andere verhöhnten offenbar die Geschlagenen. Vereinzelt war ein schmerzerfülltes Stöhnen und Wimmern zu hören. Endlich wurde das Laubwerk vor ihnen lichter und Nalana konnte etwas erkennen.
Mehrere Fuhrwerke standen am Straßenrand, die Verteidiger hatten offenbar eine Wagenburg gebildet. Genutzt hatte es ihnen nichts und nun boten die Wagen den Räubern Deckung. Nalana zählte mindestens fünf, aber wahrscheinlich waren hinter den Wagen noch mehr. Abgesehen von zwei Toten, die auf der Straße lagen, konnte sie keinen der Verteidiger sehen.
Nalana blickte nach rechts, von wo die Kutsche mit Sigur und Ullbich sich nähern müsste, aber in diese Richtung versperrte ihr ein Baum den Blick. Wie wollte der Hauptmann mit so einer Übermacht fertig werden?
Ihre Nervosität wuchs, dennoch zwang sie sich, noch ein Stück weiter vorzurücken, bis sie hinter einem Busch eine gute Deckung nahe des Straßenrandes fand. Dort hockte sie sich in eine sichere Stellung, hob den Bogen und visierte zwischen den Zweigen hindurch einen der Räuber an.
Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und eine leichte Übelkeit überfiel sie, während sie mit zusammengekniffenen Augen über die Spitze des Pfeiles die Brust des Mannes anvisierte. Wenn sie jetzt den Pfeil losschnellen ließe, würde der Mann nur Sekunden später tot zusammenbrechen. Ihre Hände begannen zu zittern. Sie war sich nicht sicher, ob sie es fertigbringen würde, auf einen Menschen zu schießen, Räuber hin oder her.
Hoffentlich kommt es nicht so weit, betete sie stumm.
***Sigurs Hoffnungen waren vergeblich. Schon von Weitem wurde ihm klar, dass sie zu spät waren, um den Verteidigern zu Hilfe zu kommen.
Drei Gespanne, zwei offene Fuhrwerke und eine Kutsche, waren zu einer Art Wagenburg geparkt, die aber nicht ganz geschlossen war, sodass Sigur ins Innere des Kreises blicken konnte. Er zählte zwei Frauen und einige kleine Kinder, die sich dort zusammendrängten, dazu eine Handvoll Männer, von denen sich die meisten nicht mehr regten. Offenbar hatten die Erwachsenen versucht, ihre Stellung gegen die Angreifer zu behaupten, jedoch ohne Erfolg. Eine der Frauen schrie wie verrückt, die Kinder weinten.
Währenddessen plünderten die Angreifer. Wie die Frau auf der Kutsche gesagt hatte, waren es mindestens zehn, vielleicht noch mehr, falls sich hinter den Wagen oder in den Büschen am Wegesrand noch weitere verbargen. Alles Männer, die in ihren halb zerfetzten Kleidern und mit den langen Bärten und verfilzten Haaren so aussahen, als hätten sie seit Mondjagden keine Siedlung mehr gesehen.
Drei von ihnen stachen aus der Gruppe heraus, große, muskulöse Kerle, vermutlich die Anführer. Einer von den dreien, dessen Haar schon grau war, brüllte Kommandos, man hatte sie also kommen sehen und bereitete sich vor, ihnen zu begegnen. Von den drei großen Kerlen abgesehen, schien keiner der Räuber ein ernsthafter Gegner für die Truppe, aber sie waren eben in der Überzahl und Sigur und Ullbich konnten sich ja nicht einmal sicher sein, ob ihre drei Kameraden schon in Stellung waren.
Schöne Scheiße, dachte Sigur. »Halt die Kutsche an«, sagte er laut. Nachdem Ullbich die Nobos gezügelt und die Kutsche knapp zwanzig Schritte vor der Wagenburg zum Stillstand gebracht hatte, reichte Sigur ihm eine der Armbrüste. Die andere nahm er selbst in die Hand und sprang vom Kutschbock. »Komm mir nach und halt mir den Rücken frei.«
Ullbich kletterte steif vom Kutschbock. Sigur ging voraus und warf aus den Augenwinkeln Blicke zwischen die Büsche und Bäume auf beiden Seiten der Wagenburg, suchte nach einem Zeichen von den anderen. Nichts, aber immerhin auch keine Spur von weiteren Gegnern.
Als sie näherkamen, wandten sich der grauhaarige Anführer und ein weiterer Räuber Sigur und Ullbich zu, die anderen fuhren unbeirrt mit den Plünderungen der Wagen fort. Zwei schleiften gerade die beiden Frauen an den Haaren in Richtung Büsche. Die eine war offenbar bewusstlos, die andere schrie noch immer und schlug wild um sich.
Der Grauhaarige hob seine Waffe, die aussah wie das Beil eines Holzfällers. Der Säbel des anderen war schartig und hatte Rostflecken auf der Klinge. »Wen haben wir denn da?« Die beiden bauten sich breitbeinig auf und sahen ihnen herausfordernd entgegen.
»Lasst die Frauen los!«, rief Sigur.
»Sonst was?«, blaffte der Grauhaarige.
»Sonst hast du einen Bolzen in der Brust«, knurrte Sigur und richtete seine Armbrust auf ihn.
Nun hielten die anderen Räuber doch inne und blickten zu ihnen herüber.
Der Grauhaarige grinste bloß. »Und was dann? Meine Jungs machen euch beide ruckzuck nieder, und am Ende gibt es vielleicht ein paar Tote mehr, aber denen da ist nicht geholfen.« Er deutete zu den Gefangenen hinüber. »Nützt also keinem, wenn ihr hier die Helden spielt.« Unbeeindruckt wandte er sich dem Mann zu, der die strampelnde Frau an den Haaren hielt. »Setz ihr dein Messer an die Kehle, Bo«, rief er. »Wenn der Soldat schießt, schlitzt du sie auf.«
Bo tat wie befohlen und die Frau hörte auf zu schreien und war mit einem Mal ganz starr.
»Na? Was willste jetzt machen?«, höhnte der Grauhaarige und grinste Sigur herausfordernd an.
Sigurs Kiefermuskeln mahlten. Im Moment sah die Lage wirklich schlecht aus. Seine einzige Hoffnung war, dass Assani, Nalana und Jolak das Blatt wendeten, aber solange er sich nicht sicher sein konnte, dass sie in Position waren, durfte er nichts riskieren. »Verdammt!«, fluchte er und ließ die Armbrust sinken.
»Lass uns einfach machen, Mann«, grinste der Grauhaarige. »Ist ja nicht deine Schuld, dass ihr nur zu zweit seid.«
Bo und der andere Mann lachten und schleiften die Frauen weiter ins Gebüsch, bis sie außer Sicht waren.
»Bitte«, rief ein Mann, der blutend am Rad einer Kutsche saß. »Ihr könnt euch nehmen, was ihr wollt, wenn ihr …«
»Das machen wir sowieso«, blaffte der zweite Anführer über die Schulter. »Du …« Ein schriller Schrei aus dem Gebüsch unterbrach ihn und er fuhr herum.
Eine der Frauen? Sigur hob wieder die Armbrust. Aber es klang eher wie …