17,99 €
Mit der Vorlesung zum Wissenschaftsbegriff des Deutschen Idealismus startet die Edition einer Reihe von Vorlesungen Peter Bulthaups. Die vorliegende Vorlesung galt ihm als seine Einführung in die Philosophie. Für Bulthaups Philosophie war es zentral, den Wissenschaftsbegriff des Deutschen Idealismus zu erläutern. Bulthaup wandte sich damit gegen die an Philosophie-Instituten gängige Praxis, mit einführenden Vorlesungen zur »Wissenschaftstheorie« oder mit Überblicksvorlesungen zur Geschichte der Philosophie zu beginnen. Eine textnahe Darlegung dessen, womit Hegel in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes sein Philosophieren eröffnete, sollte für die Studierenden aufschließen, wie anzufangen sei. Bulthaup verstand seine Vorlesungen stets als Fortführung der kritischen Theorie. Nach Adornos Tod und der Integration der Erben Adornos in den Mainstream beharrte er darauf, durch Reflexion der philosophischen Grundlagen der kritischen Theorie deren Gesellschaftstheorie freizusetzen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Peter Bulthaup
Vorlesungen und Schriften aus dem Nachlass
Herausgegeben vom Gesellschaftswissenschaftlichen Institut Hannover
Band 1
Peter Bulthaup
Der Wissenschaftsbegriff des Deutschen Idealismus:
Vierzehn Vorlesungen zur Einführung in die Philosophie
(Wintersemester 1980/81)
Herausgegeben von Christoph Gödde und Sabine Hollewedde
© 2025 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe
www.zuklampen.de
Bei Fragen zur EU-Produktsicherheitsverordnung GPSR wenden Sie sich bitte an [email protected].
Umschlaggestaltung: [email protected]
Satz: Germano Wallmann · Gronau · www.geisterwort.de
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
ISBN Printausgabe 978-3-98737-048-9
ISBN E-Book-PDF 978-3-98737-460-9
ISBN E-Book-EPUB 978-3-98737-461-6
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text- und Data-Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Vorlesungen
Literaturverzeichnis
Editorische Nachbemerkung
Personenregister
Übersicht
21.10.1980
Die Wissenschaft hat bei vielen derjenigen, die ihrem Studium sich verschrieben haben, keinen guten Namen, steht aber außerhalb der Universität in hohem Ansehen. Das Paradox einer akademischen Wissenschaftsfeindlichkeit, die durch die Wissenschaft die Natur des Menschen vergewaltigt glaubt, ist Symptom dafür, dass die Unvereinbarkeit der Wissenschaft mit den Lebensverhältnissen der Menschen gespürt wird, ohne dass die Akademiker auf die ihnen doch naheliegende Frage kommen, ob das nicht vielleicht an den Verhältnissen liege und nicht an der Wissenschaft. Wissenschaft wird als etwas erfahren, was man ›sich reintut‹, ›sich draufschafft‹, was allenfalls, wenn es nicht nur für’s Examen gefordert ist, zu diesem oder jenem praktischen Zweck als Mittel zu gebrauchen ist, nicht aber als das, was mit den Subjekten und ihrer Entfaltung zu tun habe, mit ihrem Geist. Das Wort Geist mag einer heute kaum mehr aussprechen, weil er fürchten muss, dann gleich für einen Idealisten gehalten zu werden; dass er dafür gehalten wird, reicht aus, dass alles, was er sagt und schreibt, für widerlegt gilt. Dem Vorurteil über die Wissenschaft kommt die Gestalt, in der sie Ihnen im Wissenschaftsbetrieb der Universität erscheint, entgegen. Das erste, womit nach nichtssagenden Einführungen ein Student der Geisteswissenschaften konfrontiert wird, ist die Einsicht, dass es zu jedem Gegenstand, den zu erkennen ihn vielleicht reizen könnte, mindestens ein halbes Dutzend ›Ansätze‹ gibt, die sorgfältig unterschieden werden, auch wenn sie auf die Erkenntnis derselben Sache gerichtet sind. Nun sollte man meinen, dass ›Ansätze‹, mögen sie anfangs noch so unterschiedlich sein, dann, wenn durch sie die Sache erkannt wird, entweder in dieser Erkenntnis konvergieren oder sich für die Erkenntnis der Sache als unbrauchbar erweisen. Dem ist aber nicht so, vielmehr zeigt die zu erkennende Sache mit einem Mal so viele voneinander unabhängige Seiten, wie sich ›Ansätze‹ zu ihr erfinden lassen. Statt in der Erkenntnis der Sache zu konvergieren, spannen die ›Ansätze‹ ›Ebenen‹ auf, auf denen die Sache auf jeder ›Ebene‹ ganz anders erscheint. Die Verschiedenheit der ›Ebenen‹ garantiert, dass die verschiedenen Ansichten der Sache nicht untereinander in Konflikt geraten, und das heißt dann Pluralismus. – Ginge jemand, der Schmerzen hat, nacheinander zu drei verschiedenen Ärzten, und jeder dieser Ärzte stellte eine andere Diagnose, so würde er schwerlich die Medizin für eine Wissenschaft halten. Dies ist dann für die Ärzte Grund genug, ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zu erfinden, das empfindlich gestört werde, wenn ein Arzt die diagnostischen Methoden seiner Kollegen kritisiert.
Was bei den Medizinern noch ein Makel ist, eine Unsicherheit der Erkenntnis, die durch das besondere Vertrauensverhältnis eingenebelt werden soll, ist bei den Geisteswissenschaftlern eine wissenschaftliche Auszeichnung. Nur eines ist nicht erlaubt: zu fragen, wie es denn mit der zur Rede stehenden Sache wirklich sich verhalte. Erkenntnis ist nicht gefragt; wer nach ihr fragt, verstößt gegen die Regeln des Wissenschaftsbetriebes. Fragt doch einer danach, sind Konsens und gute Stimmung hin. In gewisser Weise ist die Methode der ›Ansätze‹ unfehlbar erfolgreich. Als mein Freund Günther Mensching1 auf einer Autorenversammlung hartnäckig darauf bestand, wissen zu wollen, worum es der Sache nach ging, wurde er endlich beschieden, er habe ›halt den objektivistischen Ansatz‹. Auf die Sprache ist einigermaßen Verlass. Hätte man Günther Mensching entgegengehalten, er habe einen objektiven Ansatz, so wäre der Widerspruch greifbar gewesen, denn ein Ansatz ist etwas willkürlich Gemachtes, was aber objektiv ist, kann nicht willkürlich gemacht sein. Aristoteles sagt in der Nikomachischen Ethik2, von den Gegenständen des Handelns könne es keine Wissenschaft geben, weil diese Gegenstände durch die Handlung, also willkürlich, zu verändern seien, so dass sie einmal so, einmal anders bestimmt seien, je nachdem, wie mit ihnen verfahren werde. Deswegen seien diese Gegenstände keine möglichen Gegenstände der Wissenschaft. Darin steckt die strikte Trennung der Objektivität, die Gegenstand der Wissenschaft sein kann, von dem, was subjektiv gemacht, verfertigt ist.
Sie könnten nun zu Recht darauf bestehen zu erfahren, was denn mit Wörtern wie Sache oder Objektivität gemeint sei. Die Antwort auf die Frage ist einfach: Die Sache, die Gegenstand der Wissenschaft ist, die Objektivität, ist das Wesen oder die substantielle Form. Die Antwort auf die Frage, was denn nun mit den Wörtern Wesen und substantielle Form gemeint sei, ist nicht ganz so einfach und am besten am Beispiel einer Wissenschaft zu erläutern. Jeder Student der Medizin muss am Anfang seines Studiums eine Vorlesung über Anatomie und einen Präparierkurs besuchen. Die Aufgaben, die im Präparierkurs gestellt werden, bestehen darin, einen bestimmten Muskel, Knochen, Nerv oder ein Organ zu präparieren, freizulegen, ohne es zu beschädigen. Dazu muss dem Studenten bekannt sein, wo an oder in der Leiche er den zu präparierenden Teil finden kann; er muss also die Anatomie der Leiche kennen, bevor er anfängt zu präparieren, sonst kann er die ihm gestellte Aufgabe nicht lösen. Um diese Aufgabe lösen zu können, muss der angehende Mediziner sich die Kenntnis der Anatomie aus Vorlesung, Lehrbuch und den anatomischen Atlanten aneignen und an oder in der Leiche wiederfinden, was er zuvor gelernt hat. Das, was er aus Vorlesungen, Lehrbüchern oder Atlanten gelernt hat, stammt aus Erfahrungen, die nicht er selbst gemacht hat. Diese also nur in Sprache und Zeichnung überlieferten Erfahrungen sind auch nicht nur die eines anderen Einzelnen, sondern sie wurden im Laufe der Entwicklung der Anatomie von vielen Einzelnen zusammengetragen, die selbstverständlich nicht alle dieselbe Leiche sezieren konnten, sondern verschiedene Leichen sezierten. Das, was aus Lehrbüchern, Atlanten und Vorlesungen über Anatomie zu lernen ist, betrifft also nicht eine bestimmte Leiche, sondern alle menschlichen Körper, die, wie unterschiedlich sie im Einzelnen auch sein mögen, alle dieselbe Anordnung von Knochen, Muskeln, Nerven, Bindegewebe etc. aufweisen. Diese Anordnung ist das, was Kant das Schema zu einem Begriff nennt. »Das Schema ist an sich selbst jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft; aber indem die Synthesis der letzteren keine einzelne Anschauung, sondern die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht hat, so ist das Schema doch vom Bilde zu unterscheiden. So, wenn ich fünf Punkte hintereinander setze, . . . . . ist dieses ein Bild von der Zahl fünf. Dagegen, wenn ich eine Zahl überhaupt nur denke, die nun fünf oder hundert sein kann, so ist dieses Denken mehr die Vorstellung einer Methode, einem gewissen Begriffe gemäß eine Menge (z. E. tausend) in einem Bilde vorzustellen, als dieses Bild selbst, welches ich im letzteren Falle schwerlich würde übersehen und mit dem Begriff vergleichen können. Diese Vorstellung nun von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das Schema zu diesem Begriffe. [Absatz] In der Tat liegen unseren reinen sinnlichen Begriffen nicht Bilder der Gegenstände, sondern Schemate zum Grunde. Dem Begriffe von einem Triangel überhaupt würde gar kein Bild desselben jemals adäquat sein. Denn es würde die Allgemeinheit des Begriffs nicht erreichen, welche macht, daß dieser für alle, recht- oder schiefwinklige usw. gilt, sondern immer nur auf einen Teil dieser Sphäre eingeschränkt sein. Das Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken existieren, und bedeutet eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft, in Ansehung reiner Gestalten im Raume. Noch viel weniger erreicht ein Gegenstand der Erfahrung oder Bild desselben jemals den empirischen Begriff, sondern dieser bezieht sich jederzeit unmittelbar auf das Schema der Einbildungskraft, als eine Regel der Bestimmung unserer Anschauung, gemäß einem gewissen allgemeinen Begriffe. Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allegemein verzeichnen kann, ohne auf irgendeine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto darstellen kann, eingeschränkt zu sein. Dieser Schematismus unseres Verstandes, in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Form, ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden. So viel können wir nur sagen: das Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Raume) ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wonach die Bilder allererst möglich werden, die aber mit dem Begriffe nur immer vermittelst des Schema, welches sie bezeichnen, verknüpft werden müssen, und an sich demselben nicht völlig kongruieren.«3
Kant sagt, das Schema sei ein Produkt der Einbildungskraft, also etwas subjektiv Gemachtes. Das aber, was Produkt der Einbildungskraft ist und was in dieser Gestalt im Atlas der Anatomie steht, befähigt denjenigen, der sich das Schema angeeignet hat, diesen oder jenen Körperteil der Leiche zu präparieren. Das Produkt der Vorstellungskraft hat ein fundamentum in re, einen Grund in der Wirklichkeit, in der die Form, hier: die Gestalt des menschlichen Körpers, sich realisiert findet. Die substantielle Form, die durch den Begriff einer Sache bezeichnet wird, charakterisiert eine species. Das ist ein noch vorläufiger Begriff der substantiellen Form, der nicht ausreicht, um zu bestimmen, was die Sache sei. Platon fragt im Dialog Kratylos4 danach, was homonym, gleichnamig sei, was also nach demselben Schema bestimmt sei, und gibt die Erklärung: Das, was auseinander hervorgehe, sei homonym: ein Pferd, weil es aus einem Pferd entstanden sei; ein Mensch, weil er aus einem Menschen entstanden sei. – Das ist eine Erkenntnis, die auch einer der früheren Präsidenten dieser Republik wiederentdeckte und mit ergreifender Schlichtheit in dem Satz formulierte, jeder Mensch habe eine Mutter.5
Dass das Schema auf alle Exemplare derselben Art passt, hat seinen Grund darin, dass diese Exemplare sich fortpflanzen zu Exemplaren derselben species. Damit die Exemplare sich fortpflanzen können, müssen sie sich selbst erhalten. Nur als lebende erhalten sie die Anordnung, Konfiguration von Knochen, Muskeln etc., und nur als lebende vermögen sie sich fortzupflanzen, ihr Schema in der Nachkommenschaft zu vervielfältigen. Das, was äußerlich einen Gegenstand als zu einer bestimmten substantiellen Form gehörig charakterisiert, beruht auf den Prozessen der Art- und Selbsterhaltung. Das, was diesen Prozessen ihre Einheit sichert, wurde anima vegetativa genannt. Die deutsche Übersetzung ›Pflanzenseele‹ ist nicht falsch, erweckt aber Assoziationen, die falsch sind, zum Beispiel die, die ›Pflanzenseele‹ sei mehr als die Pflanze selbst. Diese anima vegetativa ist nun der Grund der Einheit des Prozesses der Selbsterhaltung und des Prozesses der Arterhaltung. Sie ist die substantielle Form, das εἶδος, zu dem das Schema die äußere Gestalt, μορφή, abgibt. Die anima ist reflexiv, ist sich auf sich beziehende Form, was durch die Begriffe Selbsterhaltung und Arterhaltung – die Arterhaltung ist die Selbsterhaltung der Art – ausgedrückt ist. Die anima ist kein Gegenstand, sondern die Einheit eines in sich geschlossenen Prozesses. In sich geschlossen heißt, der Prozess der Selbsterhaltung und der der Selbsterhaltung der Art laufen innerhalb des einzelnen Lebewesens und innerhalb der Art ab. Der in sich geschlossene Prozess ist aber nicht nach außen abgeschlossen, sondern auf den Stoffwechsel mit dem, was außerhalb des in sich geschlossenen Prozesses liegt, angewiesen.
Zu der substantiellen Form der anima vegetativa treten die weiteren spezifizierenden substantiellen Formen der anima sensitiva und der anima intellectiva hinzu, die beide nicht unbedingt auf die Funktion in dem Prozess der Selbst- und Arterhaltung eingeschränkt sind. Dass eine Katze vor Wohlbehagen schnurrt und damit zu erkennen gibt, dass sie sich wohl fühlt, oder ein Philosoph sich Gedanken macht über die substantiellen Formen, ist keine notwendige Bedingung der Selbst- und der Arterhaltung. Die weiter spezifizierenden substantiellen Formen sind wie die anima vegetativa reflexiv, soweit sie gefasst werden als substantielle Formen der sich auf sich beziehenden Prozesse von Selbst- und Arterhaltung. Die anima sensitiva und die anima intellectiva sind darüber hinaus produktiv, die anima sensitiva zum Beispiel, wenn ein Tier träumt, die anima intellectiva, wenn ein Wissenschaftler Theorien ausdenkt. Als erste Annäherung an die Hegel’sche Vorstellung von Wissenschaft kann das Modell der anima vegetativa dienen, die sich als Identität im Prozess des Stoffwechsels erhält durch Assimilation dessen, was außerhalb des in sich geschlossenen Prozesses liegt. Das, was assimiliert wurde, ist dann das zur eigenen Substanz gewordene Äußere, das Äußere, das zur immanenten Bestimmung des Selbst geworden und von ihm nicht mehr zu unterscheiden ist.
28.10.1980
Ich bin gefragt worden, ob dasjenige, das ich versucht hatte Ihnen als Schema darzustellen, nicht etwas Intersubjektives oder ein Paradigma im Sinne von Kuhn sei.6 Da Vorstellungen wie die, dass etwas intersubjektiv verbindlich sein soll, zu gängigen Denkgewohnheiten geworden sind, möchte ich versuchen, das Problem in einem Schema darzustellen.
Wenn zwei Subjekte sich über etwas verständigen wollten, die Verständigung wechselseitig, aber nicht über Gegenstände vermittelt wäre, so könnten die Subjekte sich nur über sich selbst verständigen. Sie hätten keinen anderen Inhalt als sich selbst.
7
Hätte jedes dieser Subjekte ein nur ihm zugängliches Objekt, so dass O unterschieden wäre von O*,
so hätten die Subjekte nicht denselben Gegenstand, könnten also über Gegenstände gar nicht sich verständigen, weil sie keinen Gegenstand gemeinsam hätten.
Wenn aber die Subjekte einen gemeinsamen Gegenstand haben, können sie sich vermittels ihrer Beziehung auf diesen Gegenstand untereinander über den Gegenstand verständigen.
Was geschieht aber dann, wenn die Subjekte zeitlich und räumlich getrennt sind, sich zwar noch über die Sprache verständigen können, aber nicht mehr denselben Gegenstand haben können, also z. B. – wie in dem Modell in der letzten Vorlesung – nicht dieselbe Leiche haben? Die beiden Subjekte haben nicht dieselbe Leiche und darum kein Objekt, über das sie sich verständigen können, es sei denn, das Objekt gehört zu einem Schema, so dass sich die Subjekte untereinander über das Schema dieses Objektes, über einen Gegenstand, der unter dieses Schema fällt, ihnen aber nicht gemeinsam ist, verständigen können. Also ist die Verständigung von Subjekten, die räumlich und zeitlich getrennt sind, eine über Schemata, da sie nie denselben Gegenstand haben. Es gab im Anfang der Entwicklung der Chemie durchaus Probleme der Art, dass jemand irgendein Steinchen hatte und fragte: Was ist das? Er untersuchte dann den Stein mit noch recht unentwickelten Methoden und schickte dann den Stein einem Kollegen mit der Bitte, die eigenen Ergebnisse an dem Stein zu überprüfen. Das ist aber noch das Vorstadium einer Wissenschaft.
Verständigen sich die Subjekte über die Schemata, so ist das Problem, in welchem Verhältnis die Schemata zu den Objekten stehen oder in welchem Verhältnis das Schema zur Sache steht. Wenn es eine Wissenschaft geben soll, die einen Gegenstand hat, muss ein eindeutiges Verhältnis von Schema und Sache gegeben sein. Das ist der Fall sowohl in der Chemie als auch in der Anatomie. Gegenstand der Wissenschaft sind immer die Schemata, die, wie in der Anatomie, dann qua Präparierkurs auf die einzelnen Leichen und hinterher auch qua Chirurgie auf die einzelnen Menschen zu beziehen sind. Soweit zunächst zu der Erklärung der Notwendigkeit des Schemas und der problematischen Beziehung von Schema und Gegenstand. Bis jetzt ist nicht mehr gesagt, als dass eine notwendige Beziehung von Schema und Gegenstand vorausgesetzt ist, damit so etwas wie eine Anatomie überhaupt möglich ist. Wie diese Beziehung im Einzelnen beschaffen ist oder wie sie begründet werden kann, ist bislang offengeblieben. Zu dem Schema gibt es eine Form der Reproduktion empirischer Objekte nach dem Schema, und das war – wie in Platons Kratylos dargestellt – die Fortpflanzung im Gattungsprozess. Dieser Prozess, der sich auf sich selbst bezieht, also die Selbsterhaltung eines Organismus, aus dem andere Organismen, die nach dem gleichen Schema organisiert sind, hervorgehen, der Prozess der Arterhaltung, der Fortpflanzung, war reflexiv bestimmt. Die Einheit dieses Prozesses hatte ich versucht, Ihnen als anima zu bezeichnen, als Seele, aber nicht als Seele im gebräuchlichen Sinn als irgendetwas, das hinterher im Himmel herumtrödelt. Die Seele ist ebenso wenig ein Gegenstand wie das Schema.
Ich hatte Ihnen die substantiellen Formen genannt: ›Pflanzenseele‹, empfindende Seele und die denkende Seele – anima vegetativa, anima sensitiva und anima intellectiva. Diese substantiellen Formen sind nicht unabhängig voneinander. Das lässt sich am einfachsten durch negative Urteile einsehen, negative Urteile in der Form ›Alles, was nicht lebt, fühlt auch nicht‹; ›Alles, was nicht fühlt, denkt auch nicht‹. Solche Urteile lassen sich nur sehr bedingt in bejahende oder affirmative Urteile (affirmatio heißt Bestätigung) umkehren. Ich hoffe, dass diese bedingte Umkehrbarkeit plausibel ist. Um Ihnen das regelgerecht oder nach den Regeln der Kunst, der Logik, lege artis vorzuführen, müsste ich erklären, was eine Konversion ist und wie die Negation eines Urteils in die einzelnen Termini eines Urteils gezogen werden kann bzw. wie nicht. Das wäre aber hier zu aufwendig. Ich möchte es einfach so darstellen: Aus dem Urteil ›Alles Nicht-Lebende ist nicht fühlend‹ – einem richtigen Urteil – würde durch eine Umkehrung ›Alles Lebende ist fühlend‹ – ein falsches Urteil. Das Urteil ›Einiges, das lebt, ist fühlend‹ ist wiederum richtig. Hier kommt es nicht allein auf die logische Richtigkeit an, sondern auch auf die sachliche Richtigkeit. Die logische müsste ich Ihnen vorführen und bedürfte dazu eines logischen Apparates, den sich im Laufe eines Philosophiestudiums anzueignen außerordentlich nützlich ist. Um nicht missverstanden zu werden, ich meine damit nicht Aussagenlogik und Prädikatenlogik erster und zweiter Stufe. Die Aussagen- und Prädikatenlogik erster und zweiter Stufe sind entwickelt worden anhand bestimmter Problemstellungen innerhalb der Grundlagentheorie der Mathematik. Wer diese Probleme nicht kennt, kennt nicht die Nötigung zu der Entwicklung dieses formalen Apparates. Lernt er ihn gleichwohl, dann nur in der Gestalt eines dogmatischen Wissens, von dem er weder weiß, wo der Grund dieses Wissens liegt, noch wozu ein solches Wissen gut ist. – Deswegen bin ich auch energisch und polemisch dagegen eingetreten, dass im Studiengang Philosophie diese Aussagenlogik und Prädikatenlogik erster und zweiter Stufe zur Pflicht gemacht wird. – Wer gerne rechnet, dem sei es unbenommen, so etwas zu lernen, empfehlenswert wäre dann aber jeweils nachzusehen, aus welchen Problemen diese Formen entstanden sind oder zur Lösung welcher Probleme diese Formen entwickelt worden sind. Ansonsten wird die Form der Darstellung den Problemen ganz äußerlich aufgeklatscht. Ein schönes Modell dafür sind die darüber hinaus sehr verdienstvollen Referatbände von Wolfgang Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und AnalytischenPhilosophie8, ein gutes Nachschlagewerk, in dem in der Regel zunächst ein Problem in der Form der Aussagenlogik oder Prädikatenlogik erscheint, und danach noch einmal in einem diskursiven Text. Man fragt sich dann: Wozu der doppelte Aufwand?
Die substantiellen Formen sind voneinander abhängig, weil das, was nicht lebt, auch nicht fühlt, und weil das, was nicht fühlt, auch nicht denken kann. – Die explizite Theorie dieser Abhängigkeit der substantiellen Formen voneinander ist bei Thomas von Aquin entwickelt,9 der beweisen wollte, dass die Seelenbestandteile oder die Momente der Seele zusammengehören und nicht nur die denkende Seele in den Himmel kommt, sondern ebenso die fühlende Seele. – Diese einfach einzusehende Abhängigkeit der substantiellen Formen voneinander hat aber für die anima intellectiva, also für das, was denkt, noch eine Bestimmung, die sie nicht mit dem teilt, wovon sie abhängig ist. Diese Bestimmung möchte ich Ihnen ex negativo entwickeln, in einer Form, die in der Philosophie sehr häufig ist. Dafür, eine Bestimmung negativ zu entwickeln, hat Bruno Snell in einem Aufsatz ein schönes Beispiel gegeben. »Wenn man heute einen alten griechischen Hirten fragt: ›Wie alt bist du?‹, so kann es einem geschehen, daß er einen groß ansieht, sein Hemd aufknöpft, einen Lederbeutel herauszieht, ihn öffnet und sagt: ›Hier habe ich mein Geld. Das habe ich gezählt, weil es mir jemand wegnehmen kann. Meine Jahre habe ich nicht gezählt, denn die kann mir niemand fortnehmen.‹«10 Im Grunde hätte die Angabe gereicht: Ich brauche nicht zu wissen, wie alt ich bin, denn die Jahre kann man mir nicht wegnehmen. Der Hirt erklärte das aber durch ein Gegenbeispiel: Hier ist das, was ich zählen kann; davon weiß ich, wozu ich es zählen muss. Davon unterscheiden sich die Jahre, die ich möglicherweise auch zählen kann, von denen ich aber nicht weiß, wozu ich sie zählen muss.
Die folgende Argumentation, die versucht zu bestimmen, worin die anima rationale oder anima intellectiva sich unterscheidet von den anderen beiden Momenten der Seele, ist im Prinzip genauso aufgebaut wie die des Hirten. Die anima sensitiva ist das, was bewirkt, dass belebte Körper Empfindungen haben. Sie ist nicht reflexiv, kann sich also nicht explizit auf sich selbst beziehen, sondern immer nur auf anderes. Das Hören ist nicht zu hören, sondern Töne und Geräusche sind zu hören. Das Sehen ist nicht zu sehen, sondern Farben und Formen sind zu sehen, zwischen hell und dunkel ist zu unterscheiden. Die Bezeichnungen für die einfachen sinnlichen Wahrnehmungen fallen nicht mit diesen Wahrnehmungen zusammen, sondern sie fallen in ein Drittes, in das, was Begriffe bilden kann, nämlich in die anima intellectiva. Der Vorgang des Hörens lässt sich zwar als ein physikalisch-psychischer Vorgang vorstellen, aber die Bezeichnung ›Hören‹ fällt nicht in diesen Vorgang selbst. Der Begriff des Vorgangs ist von dem Vorgang selbst unterschieden, der Begriff des Sehens von dem Vorgang des Sehens – ein ebenso schlichtes wie zwingendes Argument gegen die Abbildtheorie.
Nun hatte ich versucht, Ihnen darzustellen, dass der Prozess der Selbsterhaltung und der Prozess der Arterhaltung reflexiv bestimmt seien, dass Stoffwechsel und Assimilation nur bei Organismen vorkommen, die sich und ihre Art erhalten. Für die gemeinhin als höher organisiert bezeichneten Organismen, die Tiere, ist die Fähigkeit zu empfinden und wahrzunehmen selbst eine Bedingung der Selbsterhaltung. Eine Katze in der Natur, die blind ist, fängt keine Maus und muss verhungern. Für sie ist also die irreflexible Fähigkeit, zu sehen, eine Bedingung ihrer Selbsterhaltung. Durch diese Fähigkeit orientiert sie sich in der Natur, in dem, was ihr äußerlich ist, was sie aber als Quelle ihrer Nahrung braucht, um sich zu erhalten und die Art fortzupflanzen. Exemplare pflanzen ja nicht sich fort, sondern die Art. Sie selbst sind in ihren Jungen nur noch als Schema enthalten, nicht aber als dieses eine Exemplar. Die Tiere als die höher entwickelten Organismen sind auf anderes Organisches angewiesen, während die Pflanze, bloße anima vegetativa, Anorganisches assimilieren kann. Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen anima vegetativa und anima sensitiva ist auch ein reales Abhängigkeitsverhältnis, insofern die Pflanzenwelt selbst die materielle Voraussetzung für die Tierwelt ist, ohne die sich die Tiere nicht erhalten können. Wenn sie versuchen, eine Katze mit Erde zu füttern, wird sie eingehen.
Auch die Pflanzen sind auf anderes außer ihnen angewiesen und müssen ein Vermögen haben, das unterscheidet zwischen dem, was sie zu assimilieren vermögen, und dem, was sie nicht zu assimilieren vermögen. Dieses Unterscheidungsvermögen ist die Bedingung ihrer Selbsterhaltung und der Selbsterhaltung der Art. Was außerhalb des Selbst liegt, ist dadurch Beziehung dieses Selbst – des Organismus, der sich selbst erhält – auf anderes. Die Feststellung dieser Beziehung liegt nicht in dem Selbst, dessen Beziehung auf anderes es ist, sondern die Feststellung dieser Beziehung fällt in ein Drittes, die Botanik oder die Zoologie, die den Stoffwechsel eines Organismus mit seiner Umgebung untersucht. Der Begriff des Stoffwechsels fällt also nicht in den Gegenstand, dessen Stoffwechsel er ist. Der Begriff fällt in ein Drittes, das ich als anima intellectiva oder als Wissenschaft bezeichne. Für die Biologie oder für den Wissenschaftler ist der Stoffwechsel die Beziehung eines Objekts, des Organismus, auf andere Objekte, die Umgebung des Organismus. Das Selbst des Organismus, das in der Selbsterhaltung und der Selbsterhaltung der Art genannt ist, dessen Beziehung auf sich, wird also festgestellt durch die Wissenschaft, die von ihren Gegenständen unterschieden ist. Der Organismus ist zwar an sich reflexiv, sich durch Selbsterhaltung und Selbsterhaltung der Art auf sich selbst beziehend, aber die Beziehung des Organismus auf sich selbst ist für uns, für die Wissenschaft. Der Organismus ist für uns an sich – nämlich an sich selbst – reflexiv. Er ist an sich reflexiv als dieser Organismus, der sich selbst erhält, aber Reflexivität ist ein Begriff, der selbst erst in unser Bewusstsein fällt. Der Organismus hat dieses Bewusstsein seiner Reflexivität nicht von sich. Darin liegt zunächst die Differenz, dass etwas an sich bestimmt ist, aber diese Bestimmung des Ansichseins ist eine Bestimmung für uns, für das Bewusstsein. Die Feststellung der Reflexivität der anima vegetativa und der anima sensitiva fällt in die anima intellectiva oder die anima rationale.
