Der Zauber jener Tage - Lea A. Winter - E-Book

Der Zauber jener Tage E-Book

Lea A. Winter

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Beschreibung

Den 40. in einem Kloster feiern? Hört sich nicht gerade nach Spaß an, doch für die Freundinnen Fritzi, Juli und Constanze ist es eine wunderbare Möglichkeit, endlich mal wieder richtig miteinander zu reden, ohne Männer, Kinder und Alltagsstress. Erst lassen sie vor allem ihre wilde Studentenzeit wieder aufleben, doch dann offenbart sich Stück für Stück, dass keine der drei wirklich glücklich ist. Die Begegnung mit Nelly, der trotz ihrer jungen Jahre nicht mehr viel Zeit bleibt, lässt sie erkennen, dass das Leben zu wertvoll ist, um es einfach nur vergehen zu lassen.

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Seitenzahl: 328

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Lea Winter

Der Zauber jener Tage

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Ihr drohender 40. Geburtstag hat Fritzi buchstäblich die Stimme verschlagen. Schonen Sie sich!, rät ihre Ärztin. Ich weiß da was!, verspricht ihr Mann. Und ehe Fritzi es sich versieht, verbringt sie mit ihren beiden ehemals besten Freundinnen Urlaub in einem Kloster.

Inhaltsübersicht

WidmungPrologMottoErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelEpilogThe Summer DayDanksagung
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Dieses Buch ist allen besten Freundinnen gewidmet.

Hütet euren Schatz!

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Prolog

Als der Brief kam, war es Herbst geworden. Ein ruppiger Wind fuhr durch die Bäume, fegte die stille Straße entlang und ließ den Wetterhahn auf dem Dach der alten Villa lustig kreiseln. In den roten Ästen des Hartriegels saß ein Rotkehlchen und sang. Wie jeden Vormittag ging Fritzi Engel den gewundenen Pfad mit den moosbedeckten Steinstufen hinunter zum Gartentor, um in den altmodischen Briefkasten zu sehen, der, windschief und verbeult, an einem der von Efeu überwucherten, steinernen Pfeiler hing. Ein Windstoß zerzauste ihre Haare und ließ sie frösteln. Mit einer Hand zog sie die unförmige Strickjacke, die ihr bis zu den Knien reichte, am Hals etwas enger zusammen, während sie mit der anderen Hand den Briefkasten öffnete und einen einzelnen Brief herausnahm.

Sie erkannte die große, ausdrucksvolle Schrift sofort, und mit einer Mischung aus Neugier und Beklommenheit riss sie den Umschlag auf noch während sie zurück zum Haus ging. Es war die Einladung zu einem Fest. Gerichtet an die BLUEROSES. Darunter stand: Zu Nellys Geburtstag. Fritzi blieb stehen. Das Rotkehlchen sang noch immer, doch sie hörte es nicht mehr. In ihren Ohren rauschte es, und ihr Magen machte ein paar nervöse Hüpfer. Nellys Geburtstag.

Wieder kam ein Windstoß, wehte ihr ihre widerspenstigen Locken ins Gesicht und rüttelte an den grünen Fensterläden. Fritzi hob das Kinn und blickte nachdenklich in den unruhigen Himmel. Vor über einem halben Jahr, als sie sich zu jenem denkwürdigen Wochenende getroffen hatten, hatte sie ein ähnlich aufmüpfiger Wind begrüßt. Im Rückblick schien es ihr, als hätten sich darin die bevorstehenden Ereignisse bereits angekündigt. Und jetzt schien der Wind wieder etwas Neues, Unerwartetes zu bringen. Sie konnte es spüren, als sie auf dem Pfad durch den verwilderten Garten zurück zum Haus ging, sah es an den Wolken, die wie fedrige Wattebälle über den spitzen Giebel der alten Villa geblasen wurden, und hörte es am aufgeregten Rascheln der welken Blätter des mächtigen Ahornbaums, die sie erst gestern mit ihrem Mann zu einem halbwegs ordentlichen Haufen zusammengekehrt hatte und die der ungeduldige Wind jetzt wieder durcheinanderwirbelte. Veränderung lag in der Luft.

 

Tiffi, die dreifarbige Glückskatze, die gleich nach ihrem Umzug von ihrer Tochter Esther angeschleppt worden war, lag auf dem Küchentisch, als sei sie die Frühstücksattraktion. Fritzi kraulte abwesend ihren dicken, weichen Bauch, während sie gleichzeitig nach dem Telefon griff, Julis Geschäftsnummer eintippte und wartete. Sie musste im Laden anrufen, denn unter der Arbeit hörte ihre Freundin ihr Handy meist nicht, und diese Sache konnte nicht warten. Eine junge Verkäuferin war am Apparat, Fritzi kannte sie vom Sehen, und so fragte sie ohne Umschweife nach Frau Schatz. Sie hörte Stimmengewirr durch das Telefon, schnelle Schritte und das Piepsgeräusch einer Kasse.

Als ihre Freundin an den Apparat kam, klang sie atemlos.

»Hast du auch eine gekriegt?«, fragte sie sofort.

Fritzi bejahte, und einen Augenblick lang schwiegen beide.

»Schon krass, oder?«, kam es schließlich leise von Juli, und ihre Stimme hatte einen fast ehrfürchtigen Ton. »Ich meine, da wird einem erst wieder richtig klar, dass das alles wirklich passiert ist.«

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Sag mir,

was willst du anfangen mit deinem einen, wilden und kostbaren Leben?

 

Mary Oliver,

THESUMMERDAY

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Erstes Kapitel

Es war der letzte Tag eines durch und durch verregneten nasskalten Aprils, als der bisher wetterbestimmende Westwind unvermittelt klein beigab und einem Gast aus dem Süden Platz machte: einer übermütigen, frechen Brise, die zusammen mit dem Geruch nach Frühling auch Veränderung und neue Gedanken mit sich brachte. Natürlich konnte man das als Zufall ansehen, doch für die drei Frauen, die genau in dem Moment die weit geschwungene Auffahrt hinauffuhren, als der verhangene, regenschwere Himmel aufriss, war es das keineswegs, auch wenn ihnen dies zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst war. Keine von den dreien dachte an Windrichtungen und daran, was der Südwind ihnen zu sagen hatte, als sie nacheinander aus dem Auto kletterten und sich, steif von der Fahrt, streckten und die Beine schüttelten. Und trotzdem hoben alle drei fast zeitgleich den Kopf, als der Wind ihre Haare zauste, streckten ihr Gesicht in die plötzlich aufgetauchte Sonne und blinzelten verwirrt, so als glaubten sie, sich an etwas zu erinnern, etwas Bedeutsames, etwas, das der Wind allein ihnen zuflüsterte.

Doch der Augenblick war so flüchtig wie der Wind selbst, einen Wimpernschlag später war er schon wieder vergessen, und Fritzi, Juli und Constanze sahen sich etwas befremdet um. Nur knapp eineinhalb Stunden war dieser Ort von München entfernt, und dennoch hatte man das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein. Trutzig und abweisend blickte das Kloster auf das kleine Dorf hinunter, dessen Bauernhäuser sich unter ihren ausladenden Vordächern furchtsam zu ducken schienen. Etwas weiter östlich, umgeben von einem Schilfgürtel, lag ein tiefblauer einsamer See. Es war so still, dass das Zuschlagen der Autotüren als Echo von der schmucklosen Fassade des hohen Gebäudes abprallte. Das Geräusch schreckte ein paar Tauben auf, die in der Dachrinne gedöst hatten. Ihr hastiger Flügelschlag klang unheilvoll, fast bedrohlich.

Fritzis Blick schweifte ungläubig über das Gemäuer. Es wies unübersehbare Spuren des Verfalls auf. Lange Risse zogen sich über das Kirchenportal, der Putz blätterte in Platten ab, und an einer Stelle unter dem Dach wuchs sogar ein kleiner Strauch aus einem zerbrochenen Ziegel heraus. Sie seufzte schwer und wäre am liebsten wieder zurück in Julis Auto geklettert. Das durfte einfach nicht wahr sein. Sie würde nicht wirklich hier, an diesem gottverlassenen Ort, ihren vierzigsten Geburtstag feiern, oder?

Letzte Woche hatte sie eines Morgens urplötzlich ihre Stimme verloren, und bis heute war sie nur sehr langsam und noch immer nicht vollständig zurückgekehrt. Nachdem ihre Ärztin keinen Hinweis auf eine Erkältung oder eine sonstige Ursache für Fritzis plötzlichen Stimmverlust hatte finden können und etwas ungeduldig gemeint hatte, das Ganze sei ja wohl »psychosomatisch«, hatte Fritzis Mann Georg die Initiative ergriffen. Er hatte die bereits geplante Party kurzerhand abgesagt und ihr stattdessen diesen Klostertrip beschert. »Um mal runterzukommen«, hatte er dazu gemeint.

Im Gegensatz zu seiner Frau musste Georg nie runterkommen, er war die Gelassenheit in Person. Vielleicht hing das mit seinem Beruf zusammen. Georg war Paläontologe und beschäftigte sich als Dozent an der Universität überwiegend mit versteinerten Schnecken und urzeitlichen Flechten. Da kam so schnell kein Stress auf. Und als ob das noch nicht genug Steinzeit wäre, baute Georg in seiner Freizeit im Auftrag von Museen noch Modelle von Dinosaurierknochen, mitunter sogar ganze Exemplare der Tiere nach. Während diese ungewöhnliche Nebentätigkeit, die dazu führte, dass ihre kleine Stadtwohnung sich langsam, aber sicher in einen Jurassic Park im Taschenformat verwandelte, seine Tiefenentspannung eher noch erhöhte, trieben Georgs endlose Tüfteleien am Küchentisch Fritzi hingegen regelmäßig in den Wahnsinn. Die fast schon meditative Akribie, mit der er stundenlang an winzigen Kunststoffknöchelchen herumfeilen konnte, war ein derart krasser Gegensatz zu ihrer eigenen Arbeit, dass sie allein schon vom Zusehen nervös wurde.

In Fritzis Branche war Entspannung eher ein Fremd- oder besser noch ein Schimpfwort und Hektik und Stress an der Tagesordnung. Fritzi arbeitete bei einem angesagten internationalen Musiklabel und war dort eigentlich für die Pressearbeit zuständig. Tatsächlich aber war sie eher Mädchen für alles, organisierte, plante und verwaltete das allgegenwärtige Chaos. Und sie war gut darin. Praktisch unentbehrlich. War sie doch schon um einiges länger in ihrem Job als ihre gegenwärtige Chefin, kannte die meisten Musiker persönlich, konnte gut improvisieren, beschwichtigen, umdenken, war ständig erreichbar und hatte im Notfall immer einen Plan B parat. Es hatte sie gehörige Anstrengung gekostet, für diese »Geburtstagsüberraschung«, wie ihr Mann den Ausflug zunächst nur geheimnisvoll genannt hatte, überhaupt freizubekommen, zumal sie ihrer äußerst unwilligen Chefin gar nicht hatte sagen können, wofür denn nun eigentlich.

Fritzi hatte anfangs mit einem schicken Wellnesshotel oder vielleicht sogar mit einem Überraschungstrip nach New York oder London gerechnet. Was man eben so zum vierzigsten Geburtstag erwartet, wenn man schon keine Party feiern darf und Panik davor hat, plötzlich zum alten Eisen zu gehören. Doch dann das: ein Wochenende in einem Kloster! Und das auch noch zusammen mit ihren »besten Freundinnen« Juli und Constanze. Ihr war vor Verblüffung der Mund offen stehen geblieben. Georg hatte diesen grandiosen Plan in aller Heimlichkeit ausgetüftelt und dann Juli eingeweiht, die, wie Constanze auch, eine alte Freundin aus Schul- und Studienzeiten war. Allein schon die Idee, Juli zu Rate zu ziehen, mit der Fritzi seit Jahren nur noch oberflächlichen Kontakt hatte, und das auch nur, weil Juli im Gegensatz zu ihr ein sehr sozialer Mensch war, hatte sie an der Zurechnungsfähigkeit ihres Mannes zweifeln lassen.

Nachdem sie sich von ihrem Schock erholt und begriffen hatte, dass das keiner von Georgs seltsamen Scherzen war, hatte Fritzi erst einmal gegoogelt, um herauszufinden, worum genau es sich bei diesem Ort überhaupt handelte. Immerhin hätte es sich ja noch um ein zu einem Luxusressort umgebautes Kloster handeln können, in dem man in gepflegter Abgeschiedenheit im Pool plantschen und bei einem Glas Champagner zu sich selbst finden konnte. Doch bereits die Homepage, die sie erst nach geraumen Suchen fand und die an Kargheit kaum zu überbieten war, hatte sie schnell eines Besseren belehrt. Es war tatsächlich ein richtiges Kloster, mit Nonnen und Kirche und allem Drum und Dran. Ohne Pool und ganz sicher ohne Champagner.

Jetzt, nachdem sie angekommen waren, war die Vorstellung, in diesem in die Jahre gekommenen Klotz könnte sich irgendetwas Luxuriöseres als eine Heizung und fließendes Wasser verbergen, geradezu lachhaft. Fritzi wandte den Blick von dem verkrüppelten Bonsai an der Fassade ab und seufzte schwer. Sie war bisher immer der Überzeugung gewesen, ihr Mann würde sie gut kennen. Doch hier und jetzt, auf dem menschenleeren Parkplatz vor diesem maroden Klostergemäuer am Ende der Welt, wurde ihr klar, dass dem nicht so war. Georg mochte sich mit versteinerten Schnecken und Dinosaurierknochen auskennen, aber sonst hatte er keinen blassen Schimmer von gar nichts. Vor allem nicht von ihr. Das hier war nun wirklich der allerletzte Ort, an dem sie ihren vierzigsten Geburtstag feiern wollte.

Abgesehen davon hätte sie, wenn sie eine Wahl gehabt hätte, diesen Tag wohl kaum mit Juli und Constanze verbracht. Was zum Teufel hatte sich Georg nur dabei gedacht? Juli sah sie wenigstens noch alle paar Monate einmal bei einem spontanen Kaffee in der Stadt, oder sie tauschten ein paar schnelle WhatsApp-Nachrichten aus, aber zu Constanze hatte sie seit Jahren überhaupt keinen Kontakt mehr gehabt. Im Grunde verband sie drei nichts mehr als die blassen Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit. Es stimmte schon, sie waren einmal beste Freundinnen gewesen, doch das war lange her. Und überhaupt. Was hieß das schon, beste Freundinnen? So etwas sagte sich leicht, wenn man jung, idealistisch und voller Träume war. Aber die Zeit ging weder mit Träumen noch mit Idealen gnädig um. Sie schliff sie ab und bleichte sie aus wie Kiesel am Strand, bis am Ende nur eine vage Ahnung von dem zurückblieb, was einmal so unglaublich bedeutsam erschienen war. Diese vage Ahnung von irgendetwas aus einer längst vergangenen Zeit erschien Fritzi wahrlich nicht genug, um zusammen ausgerechnet jenen Tag zu feiern, vor dem sie sich schon seit Monaten fürchtete. Im Gegenteil: In Gegenwart ihrer früheren besten Freundinnen fühlte sie sich schon jetzt uralt.

»Scheiße noch mal!«

Juli war in ihrem Bemühen, in ihrer Handtasche nach einem Feuerzeug zu suchen, über das von Constanze bereits ausgeladene Gepäck gestolpert, und Fritzi fuhr mit einem erschrockenen Krächzen aus ihren trübsinnigen Gedanken. Sie musste sich zusammenreißen. Irgendwie würde sie diese Tage schon überstehen. Juli hatte inzwischen ihr Feuerzeug gefunden und sah sich, bedächtig rauchend, auf dem Vorplatz um, der sich zum Dorf hinunter öffnete.

»Es hat was, oder?«, fragte sie, an niemand Bestimmten gewandt.

Fritzi folgte ihrem Blick. Der Platz, auf dem sie standen, lag etwas erhöht und war nach Süden hin von einer niedrigen Steinmauer begrenzt, die auf der rechten Seite von der Straße durchbrochen wurde, auf der sie eben gekommen waren, und links an einem hohen, von Kletterrosen bewachsenen Tor endete. Dahinter befand sich offenbar der Klostergarten. Fritzi konnte niedrige, kreisförmig angelegte Buchsbaumreihen und allerlei Stauden und Gewächse erkennen. Gleich neben dem Tor gab es noch einen weiteren, kleinen Durchbruch in der Mauer, der zu einer schmalen, steilen Treppe führte. Sie war an beiden Seiten von einer dichten Hecke umschlossen, die sich oben zu einem Dach schloss – ein schattiger, grüner Tunnel, der hinunter zum Dorf führte, das durch eine große Wiese mit verstreuten Obstbäumen vom Kloster getrennt war.

Wie das Kloster selbst, wirkte auch das Dorf wenig anheimelnd. Wie Soldaten reihten sich die Häuser in Reih und Glied eine einzige Straße entlang. Im Osten war das Dorf vom Schilfgürtel des Sees begrenzt, im Westen lagen weite, brachliegende Felder. Es wirkte einsam und verlassen in der schroffen Landschaft, kein Mensch war auf der Straße zu sehen. Immerhin gab es einen winzigen Lebensmittelladen und eine Wirtschaft, allerdings war beides am Nachmittag geschlossen, was Fritzi nicht entgangen war, als sie zuvor daran vorbeigefahren waren. Und so gab sie nur ein undeutliches Murmeln von sich, was sowohl als Zustimmung als auch als Magenverstimmung gewertet werden konnte.

Constanze dagegen musterte nach wie vor die marode Klosterfassade und meinte nur trocken: »Wir können froh sein, wenn uns kein Dachziegel auf den Kopf fällt.«

»Dreh dich doch mal um«, bat Juli und zupfte sie am Ärmel. »Die Lage ist doch phantastisch, oder nicht?« Ihr Blick flog nervös zwischen ihren beiden Freundinnen hin und her. »Schaut euch nur diesen See an! Ist der nicht wahnsinnig schön?«

Fritzi rollte mit den Augen. Es war klar, dass Juli Georgs bekloppten Einfall, sie drei hierher in die Einöde zu schicken, um jeden Preis verteidigen würde. Juli hatte schon früher immer alle verteidigt, auch wenn sie es gar nicht verdient hatten. Sie hätte Anwältin werden sollen.

Constanze tat Juli den Gefallen und drehte sich um. Sie musterte den menschenleeren See und das dunkle Gebirge am anderen Ufer und verzog den Mund: »Etwas zu düster für meinen Geschmack. Gleich wird eine Hohepriesterin in einer Barke angesegelt kommen, um uns auf die Apfelinsel zu holen.« Sie schüttelte sich und schulterte dann mit einem energischen Schwung ihre Reisetasche.

»Apfelinsel?«, fragte Juli verwirrt. »Wo siehst du denn da eine Insel?«

»Das war nur eine Metapher.« Constanze seufzte. »Ich meinte Avalon, du weißt schon, das entrückte Reich der Feen aus der Artussage. Ich glaube, es war auch die Insel der Toten …«

»Insel der Toten? Also bitte, was ist das denn für eine bescheuerte Metapher, wir feiern immerhin Fritzis Geburtstag!« Juli war empört, während Fritzi nur müde lächelte. Metaphern waren ihr egal. Schlimmer konnte es ohnehin nicht mehr werden.

Juli warf einen nervösen Blick auf ihre Uhr. »Wir sollten langsam reingehen, damit wir nicht zu spät kommen.«

»Zu spät wofür?«, fragte Constanze alarmiert. »Etwa zum Beten?«

Noch hatte Juli ihren Freundinnen nicht verraten, was Georg weiter geplant hatte. Auch jetzt schüttelte sie den Kopf. »Falsch. Etwas ganz anderes. Wir hatten übrigens unheimliches Glück, so kurzfristig überhaupt noch drei Plätze zu bekommen.«

»Ach, tatsächlich?« Constanze hob eine Augenbraue und sah sich bedeutungsvoll auf dem menschenleeren Platz vor dem Kloster um. Außer Julis kleinem roten Flitzer standen nur noch zwei weitere Autos da. »Sieht eher so aus, als hätte es sich der eine oder andere Gast doch noch einmal überlegt …«

Juli lächelte, wie immer, wenn sie sich in die Defensive gedrängt fühlte, doch es wirkte gequält. »Ihr werdet sehen, es wird etwas ganz Besonderes werden.«

Constanze warf einen Blick in den Himmel. »Darauf wette ich …«

Mit einem energischen Räuspern brachte sich Fritzi wieder in Erinnerung. »Aber hallo«, sagte sie heiser, »ich werde vierzig. Wenn das nichts Besonderes ist! Da werden wir einfach diese heiligen Hallen ein bisschen aufmischen …«

Constanze sah sie strafend an. »Wie hat dein unvergleichlich fürsorglicher Gatte sich ausgedrückt? Ruhe und Entspannung sollst du haben. Vielleicht täusche ich mich, aber von ›Aufmischen‹ war nicht die Rede.«

Fritzi zuckte mit den Schultern. »Er ist nicht hier, oder?« Sie hatten den Platz überquert und standen jetzt vor einer schmucklosen dunkelbraunen Holztür neben den Stufen, die hinauf zu dem barocken Kirchenportal führten. Auf einem schlichten Schild stand: Pforte. Bitte Türe leise schließen. Ächzend zog Fritzi die schwere Tür auf. »Außerdem hat Georg mich gar nicht gefragt, was ich will. Wenn er es getan hätte, dann hätte ich mich für Fünf-Sterne-Wellness entschieden, das könnt ihr mir glauben.«

Juli half Fritzi mit der Tür. »Meckert doch nicht die ganze Zeit herum«, bat sie. »Das hier ist wenigstens mal was anderes. Georg hatte vollkommen recht, Wellness kann jeder.«

»Wellness will auch jeder, im Gegensatz zu Klosterurlauben …«, brummte Constanze.

Sie traten nacheinander ein. Als hinter ihnen die Tür mit einem Krachen ins Schloss fiel, zuckten alle drei schuldbewusst zusammen.

»Ups«, machte Constanze, doch es kam leiser, als es sonst ihre Art war.

Sie sahen sich etwas beklommen in der hohen, dämmrigen Eingangshalle um. Hier herrschte die gleiche Stille wie draußen, jedoch war es um einige Grade kälter. Es roch nach Kerzenwachs und Weihrauch. Ein lebensgroßer, geschnitzter Christus, der an einem Kruzifix an der gegenüberliegenden Wand hing, schaute mit schmerzverzerrter Miene auf die drei Frauen herab. Das Kreuz wurde von zwei armdicken weißen Kerzen flankiert, die im plötzlichen Luftzug flackerten. Links vom Eingang gab es wie in einer altmodischen Postfiliale einen kleinen Schalter mit Glasscheibe. Eine alte Nonne in schwarzem Habit und einer dicken, wollig-weißen Strickjacke darüber stand hinter dem Schalter und blinzelte sie aus scharfen Äuglein an. Sie war so klein und krumm, dass sie kaum über den Schalter sah. »Einkehr und Meditatives Malen?«, fragte sie mit der überlauten Stimme einer Schwerhörigen, und ihr Gesicht verzog sich zu freundlichen Falten.

»Meditatives – was? Oh, nein!« Constanze schüttelte energisch den Kopf. »Ganz sicher nicht …«

»Doch!« Juli drängte sich an Constanze vorbei nach vorne zum Schalter. »Wir haben diesen Kurs gebucht. Drei Einzelzimmer.« Sie nannte ihre Namen.

»Moment!« Constanze starrte Juli ungläubig an. »Das ist nicht dein Ernst.«

»Doch.« Juli nickte nervös. »Georg dachte, nachdem Fritzi ja früher gemalt hat …«

»Fritzi hat mit Farbdosen Tische und Wände besprüht. Das kann man doch wohl kaum als Malen bezeichnen!«

»Ich habe nie einen Tisch besprüht!«, widersprach Fritzi empört.

Constanze wandte sich zu ihr um. »Hast du wohl. Und zwar meinen. Erinnerst du dich nicht mehr an den Tisch bei mir im Studentenwohnheim?«

»Das war kein Tisch! Das war ein Brett auf ein paar Ziegelsteinen.«

»Aber es war mein Couchtisch! Und nach deiner Aktion musste ich jedes Mal, wenn meine Eltern zu Besuch kamen, eine Tischdecke darüberlegen, um ihnen den Anblick entblößter männlicher Genitalien unter der Kaffeetasse zu ersparen.«

Fritzi musste lachen, und es klang wie das rauchige Krächzen einer Krähe. »Aber man hat sie doch gar nicht wirklich als solche erkennen können. Sie waren lila …«

»Bitte!« Julis Stimme zitterte ein wenig, und ihr Gesicht war rot angelaufen. »Das ist doch jetzt schon gebucht und …«

Fritzi lächelte Juli entschuldigend an und sagte: »… und natürlich machen wir das.« Sie nickte der alten Nonne, die ihrem Gespräch schweigend und ohne eine Miene zu verziehen gefolgt war, zu. »Ja. Meditatives Malen«, bestätigte sie. »Und ich kann auch andere Dinge malen als lila Penisse …«

Juli, deren Gesicht mittlerweile die Farbe einer Aubergine angenommen hatte, sah aus, als würde sie gleich zu weinen anfangen. Die Nonne indes hakte ungerührt ihre Namen auf einer Liste ab, auf der bereits mehrere Namen mit einem Häkchen versehen waren, und reichte jeder von ihnen mit zittriger Hand einen Schlüssel.

»Zweiter Stock links. Ich wünsche Ihnen einen fruchtbaren Aufenthalt in unserem Kloster!«, rief sie laut und nickte mehrmals mit dem Kopf. Dann drehte sie sich um und schlurfte langsam davon, ohne sie weiter zu beachten.

Die zurückgelassenen Frauen sahen sich verblüfft an.

»Einen furchtbaren Aufenthalt?«, fragte Constanze leise, und Fritzi musste kichern, was in einen heiseren Hustenanfall mündete.

»Fruchtbar, Constanze!«, krächzte sie, als sie sich mühsam wieder gefasst hatte. »Sie hat FRUCHTBAR gesagt!«

»Tatsächlich? Ich könnte schwören, ich hätte furchtbar gehört …«, murmelte Constanze und sah der entschwundenen Nonne nach.

»Kommt ihr jetzt oder was?« Juli war schon voraus zur Treppe gegangen und sah die beiden wütend an. »Das nächste Mal, Fritzi, wenn mich dein Mann in so eine Schnapsidee einweiht und mir einbleut, euch nichts zu verraten, dann werde ich ihm den ganzen verdammten Scheiß aber so was von um die Ohren hauen, das kannst du mir glauben.«

»Scht!«, flüsterte Fritzi, packte ihre Tasche und hastete ihr nach. »So schändlich darfst du doch hier nicht sprechen.« Sie griff nach Julis Hand. »Nimm unser dummes Gerede nicht so ernst. Wir sind eben so etwas nicht gewohnt.«

Juli schüttelte die Hand ab. »Aber ich oder wie? Meditatives Malen! Ausgerechnet ich! Wo ich doch noch nicht mal das Haus vom Nikolaus zeichnen kann.«

»Das Haus vom Nikolaus?«, wollte Constanze wissen, die jetzt unter dem Gewicht ihrer überdimensionierten Tasche schnaufend zu ihnen stieß. »Was willst du denn mit dem Haus vom Nikolaus?«

Juli seufzte. »Ach, nichts.« Als sie im zweiten Stock angekommen waren, blieb sie stehen und musterte ihren Schlüssel. »Ich habe Zimmer Kunigunde. Und ihr?« Fritzi und Constanze warfen einen Blick auf ihre Schlüssel.

»Caecilie.«

»Judith.«

»Da steht, was die Namen bedeuten.« Juli deutete auf die kleinen Schilder, die neben den Türen angebracht waren. »Kunigunde war eine kluge Politikerin, sogar einflussreicher als ihr Ehemann …«, las sie laut vor.

Constanze warf einen Blick auf ihr Türschild. »Und Judith hat Holofernes den Kopf abgeschnitten. Wie passend …« Sie lächelte etwas rätselhaft.

»Na, wenigstens sind das zwei toughe Frauen gewesen«, seufzte Fritzi. »Meine Caecilie ist die Patronin für Kirchenmusik … Nicht besonders aufregend …«

»Passt doch«, lächelte Juli. »Du hast doch auch was mit Musik zu tun …«

»Ach, Juli!« Fritzi schüttelte den Kopf und sperrte ihr Zimmer auf. »Du musst dir einfach immer alles schönreden, oder?«

»Na wenn schon! Besser, als alles Scheiße zu finden«, gab Juli spitz zurück.

Fritzi sah sie schuldbewusst an. »Hast auch wieder recht. Tut mir leid.«

»Passt schon.« Juli zuckte mit den Schultern und sah dann auf die Uhr.

»In einer halben Stunde ist Willkommenstreffen der Kursteilnehmer im Zeichenraum. Ich hole euch ab.« Sie verschwand in ihrem Zimmer.

»Okay …« Fritzi nickte abwesend. Mit ehrfürchtiger Fassungslosigkeit starrte sie in ihr eigenes Zimmer. »Das glaube ich jetzt nicht – ich werde meinen vierzigsten Geburtstag in einer Einzelzelle mit Namen Caecilie verbringen«, flüsterte sie. »Meditativ malend.« Ihre heisere Stimme bekam einen leicht hysterischen Unterton. »Sicher gibt es hier nicht einmal Alkohol! Wir werden mit Kräutertee anstoßen müssen …« Sie verstummte erschüttert.

Constanze warf über ihre Schulter ebenfalls einen Blick in den schlichten schlauchartigen Raum mit dem hohen Fenster, dessen Einrichtung nur aus einem Bett, einem schmalen Schrank und einem winzigen Tisch samt Stuhl bestand, und lachte leise.

»Weißt du, woran mich das erinnert? An unsere Besinnungstage in der Schule.«

Fritzi nickte erschüttert. »Ja, stimmt. Oh, Gott, weißt du noch? Wir wurden jeden Morgen durch die Lautsprecher am Gang mit Marschmusik geweckt. Das fand der Hausleiter witzig.«

Constanze grinste. »Und zu essen gab es so ungemein leckere Dinge wie Backerbsensuppe und gekochten Fisch im Reisring.«

»Grauenhaft.« Fritzi schüttelte sich, doch nach einer Weile musste sie wider Willen lächeln. »Wir hatten einen Riesenspaß.«

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Zweites Kapitel

Das Lächeln dauerte noch an, als Fritzi längst die Tür hinter sich geschlossen hatte und allein war. Constanzes Worte hatten sie an ihre gemeinsame Schulzeit erinnert. Sie hatten alle drei ein katholisches Mädchengymnasium besucht, was Anfang der achtziger Jahre das Alleruncoolste gewesen war, was man sich vorstellen konnte. Von ihren Freunden und Bekannten, die auf staatliche Gymnasien gingen, wurde die Schule nur verächtlich »Jungfernbunker« genannt. Seltsamerweise hatte sie das nie gestört. Wenn sie so zurückdachte, fiel Fritzi auf, dass sie eigentlich recht gerne in diese Schule gegangen war. Einmal im Jahr fuhren die einzelnen Klassen zu Besinnungstagen in ein kirchliches Jugendheim mit Gemeinschaftsküche, Tischtennisplatten im Keller und Hauskapelle unter dem Dach. Die Schülerinnen besannen sich allerdings meist nur darauf, möglichst viele unerlaubte Dinge in ihre Reisetaschen zu schmuggeln, wie Chips und Süßigkeiten, Walkman und später Asti Spumante und Martini Bianco. Letzteres mischten sie schon vor der Abfahrt in die mitgebrachten Colaflaschen und kamen sich dabei unglaublich verwegen vor. Wenn sie daran dachte, meinte Fritzi noch immer den künstlichen, süßen Geschmack des Martini auf der Zunge zu spüren. Fast so eklig wie Backerbsensuppe und gekochter Fisch im Reisring.

Wie recht Constanze hatte: Die Zimmer damals hatten genauso ausgesehen wie dieses hier, nur hatten statt eines Einzelbetts Stockbetten darin gestanden, drei oder vier wackelige Dinger aus Metallrohren oder billigem Holzfurnier, aufgereiht an den Wänden wie Gefängnisbetten. Roch es hier nicht sogar genauso? Fritzi schloss die Augen, atmete probehalber tief ein und fühlte sich augenblicklich in ihre Schulzeit zurückversetzt. Es war zweifellos der gleiche Geruch. Ein bisschen abgestanden und säuerlich, eine eigenartige Mischung aus ökologisch korrektem Essigreiniger, Kerzenwachs und Heiligkeit, der einem mit jedem Atemzug ein schlechtes Gewissen einflößte. Fritzi öffnete das Fenster, und frische, noch regenfeuchte Luft strömte herein.

Es war nicht zu fassen, dass sie an einem Ort gelandet war, in dem es genauso roch wie dort, wo sie vor fünfundzwanzig Jahren mit ihrem heißgeliebten Walkman auf den Ohren im Bett gelegen und jeden Abend vor dem Einschlafen »Nothing Compares 2 U« von Sinéad O’Connor gehört hatte. Damals hatte sie mit Vorliebe übergroße, karierte Flanellhemden und ausgefranste Röhrenjeans getragen und dazu Pickel auf der Stirn und den grässlichsten Liebeskummer aller Zeiten gehabt. Überhaupt hatte sie ständig Liebeskummer gehabt. Und wenn es ihr gerade einmal gutging, musste eine Freundin getröstet werden, die irgendein gedankenloser Schuft versetzt oder gar schamlos betrogen hatte. Und dazu immer Musik. Allen voran U2 und Guns N’ Roses.

Wie hatte sie diese Sänger und Bands verehrt – sie hatte seit ewigen Zeiten keine Lieder mehr von ihnen gehört, doch an diesem Ort, in diesem Moment waren sie und all ihre Lieder plötzlich wieder präsent: »With Or Without You«, »Where The Streets Have No Name«, »Knockin’ On Heaven’s Door«, »November Rain« … Bono war ihr Held gewesen, und The Edge, den Gitarristen von U2, hatte sie über alle Maßen bewundert. Wenn Fritzi jetzt über die Zeit nachdachte, kam es ihr so vor, als hätte sie ununterbrochen Musik gehört. Als wäre Musik das Wichtigste in ihrem von Konflikten, Peinlichkeiten und Unsicherheiten geprägten Teenagerleben gewesen. Das einzig Entscheidende. Sie hatte mit Sinéad O’Connor bitterlich um ihre erste verlorene Liebe geweint, mit Bryan Adams Lied »Everything I Do« aus dem Robin-Hood-Film Kevin Costner angeschmachtet und »Enter Sandman« von Metallica bis zum Anschlag aufgedreht, wenn sie wütend war. Ihr fiel auf, dass sie sich besser als an alles andere aus dieser Zeit an das Gefühl erinnern konnte, das bestimmte Lieder in ihr ausgelöst hatten, die sie immer und immer wieder angehört hatte und die ihr nie über geworden waren. Es hatte mit einem Kribbeln im Bauch begonnen, als die ersten Töne erklangen, und wenn es das richtige Lied war, war das Kribbeln zu einem unglaublichen, alles durchströmenden Gefühl von Stärke, Freiheit und Unbesiegbarkeit geworden, das sich so viel besser angefühlt hatte als all die verlegenen feuchten Küsse und ungeschickten Fummeleien in den dunklen Ecken der zahllosen Partys, die in Jugendzentren, Hobbykellern und ausgeräumten Elternwohnzimmern stattgefunden hatten. Und mit einem Mal erinnerte sie sich auch wieder an das selbstvergessene Tanzen mit geschlossenen Augen, das Wummern der Bässe in den Eingeweiden, das euphorische Kreischen auf Konzerten … und bekam eine Gänsehaut.

Gab es ein spezielles Gedächtnis für solche Gefühle? Konnte es sein, dass sie irgendwo in ihrem Gehirn in einer besonderen Schublade abgespeichert waren, auf immer verbunden mit dem Lied, das sie irgendwann einmal ausgelöst hatte? Fritzi musste wieder lächeln. Der Gedanke gefiel ihr. Sie stellte sich ein kleines Apothekerschränkchen vor, mit vielen Schubladen, und in jedem verbarg sich ein Lied und das dazugehörige Gefühl. Bei Bedarf konnte man es öffnen und eine Prise davon nehmen: eine Dosis Metallica für Gehaltsverhandlungen mit ihrer Chefin, etwas Melancholie von Leonard Cohen für einen stillen Regenspaziergang durch die Stadt, »Light My Fire« von den Doors für wilden Sex auf dem Wohnzimmerteppich …

Sie biss sich etwas verlegen auf die Lippen. Was kamen ihr denn plötzlich für krause Gedanken, nur weil dieses Zimmer nach Kerzenwachs und Essigreiniger roch? Hastig schloss Fritzi das Fenster und sah auf die Uhr. Zeit, sich für ihr meditatives Willkommenstreffen fertig zu machen.

 

Als Juli kam, um sie abzuholen, lächelte Fritzi noch immer in Gedanken an ihr Apothekerschränkchen für alle Gefühlsnotfälle. Am liebsten hätte sie Juli davon erzählt, doch sie verkniff es sich aus Angst, Juli könnte sie für verrückt halten.

Ihre Freundin musterte sie ohnehin etwas misstrauisch. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja. Warum nicht?« Fritzis Stimme hatte die halbe Stunde Schweigen, während sie gedankenverloren lächelnd die Tasche ausgepackt und sich umgezogen hatte, gutgetan. Sie klang jetzt fast normal.

»Du grinst so komisch.«

»Ich freue mich. Sei doch froh!« Fritzi drehte sich einmal um sich selbst. »Schau, ich hab mich für unser Willkommenstreffen sogar umgezogen.«

Juli betrachtete den flatternden bunten Kaftan, der Fritzi bis zu den Knien ihrer Jeans reichte, skeptisch. »Das ist irgendwie … ungewöhnlich«, meinte sie. »Du hast doch nie was Buntes an …«

»Stimmt.« Fritzi zuckte mit den Schultern. »Das Teil habe ich aber schon seit einer Ewigkeit.«

Sie hatte den Kaftan, der eigentlich ein Kleid sein sollte, vor Jahren während eines sonnendurchglühten, flirrend sorglosen Urlaubs in der Provence erstanden, aber zu Hause kein einziges Mal getragen. Für die Stadt und vor allem für ihre Arbeit war er viel zu hippiemäßig, zu wenig smart und schick, und sie hatte sich schon beim ersten Anblick im heimischen Spiegel darin vollkommen lächerlich gefühlt. Warum sie ihn gerade für dieses Wochenende eingepackt hatte, konnte sie nicht sagen. Vielleicht war es die Erinnerung an jenen Urlaub gewesen oder der schwache Geruch nach Lavendel, der dem dünnen, knittrigen Stoff noch immer anhaftete. Oder einfach nur der trotzige Versuch, dem Schreckensgeburtstag irgendetwas Fröhliches entgegenzusetzen, und wenn es nur ein lächerlich buntes Kleidungsstück war.

Als Fritzi es zuvor, noch ganz gefangen von ihren Teenagererinnerungen, aus der Tasche genommen hatte, musste sie an die seltsam gemusterten, glöckchenbesetzten indischen Kleider denken, die sie in jener Zeit neben den Flanellhemden mit Vorliebe getragen hatte. Ihre konservative Mutter hatten diese »Bhagwankutten«, wie sie es nannte, ebenso wie fast alle anderen Kleidungsstücke, die Fritzi liebte, regelmäßig zur Weißglut gebracht. Immer wenn sie ihr zornesrot verbot, so aus dem Haus zu gehen, hatte Fritzi scheinbar gehorcht, heimlich jedoch die bunten, knöchellangen Kleider, karierten Hemden, löchrigen Röhrenjeans und das ausgefranste graue Sweatshirt mit dem kiffenden Totenkopf in eine Plastiktüte gesteckt und sich bei einer Freundin oder in der öffentlichen Toilette am U-Bahnhof umgezogen. Es wäre für sie nie in Frage gekommen, sich dem Geschmack ihrer ignoranten Eltern zu beugen.

Als ihre eigene Tochter Esther kürzlich einmal Fritzis alte Klassenfotos betrachtet hatte, hatten ihre Outfits, auf die sie seinerzeit so stolz gewesen war, bei Esther für ungläubige Lachanfälle gesorgt. Fritzi hatte es ihr jedoch nicht übelgenommen. Es sah tatsächlich ein bisschen lächerlich aus, wie sie dort zusammen mit ihren ähnlich gewandeten Freundinnen vor der ehrwürdigen Schulfassade posierte, direkt unter den strengen Augen der Klosterschwestern, die sie unterrichtet hatten.

Doch damals war es für sie nicht lächerlich gewesen, sondern ein Statement. Ein Statement gegen Polohemden, Blusen und Bubikragen, gegen pastellfarbene Lacoste-Pullöverchen, Seitenscheitelbobs mit Spängelchen und Perlenohrringe. Dinge also, die an ihrer katholischen Mädchenschule durchaus beliebt und vor allem gern gesehen gewesen waren. Mittlerweile hatte Fritzi ihren Kleiderstil längst den Gepflogenheiten ihrer Branche angepasst, trug ihre eigentlich lockigen, dichten roten Haare als trendigen, geglätteten Kurzhaarschnitt und kleidete sich hip und gleichzeitig unauffällig in Grau und Schwarz, die Uniform der »Kreativen«. So gesehen war der bunte Kaftan ein Anachronismus, ein Rückfall in naive Flower-Power-Zeiten, die sie längst überwunden geglaubt hatte.

Unter Julis verwunderten Blicken wurde Fritzi daher wieder unsicher. »Vielleicht sollte ich etwas Dezenteres anziehen? Vielleicht etwas, das mehr klösterlich-asketisch wirkt?«, fragte sie.

Juli lachte auf. »Asketisch? Du?« Sie packte Fritzi am Arm und zog sie mit sich. »Das passt schon, wirklich. Sieht super aus.«

Als sie bei Zimmer Judith klopften, klang Constanzes Stimme so dumpf heraus, als steckte sie in einem Kellerloch fest. »Bin gleich da-ha!«

Fritzi fackelte nicht lange und öffnete die Tür.

»Glaub bloß nicht, dass du dich drücken kannst …«, begann sie und verstummte dann abrupt. »Was um alles in der Welt tust du da?«, wollte sie wissen und musterte ihre Freundin verständnislos.

Constanze kniete auf allen vieren vor dem Kleiderschrank, ihr Kopf war in einem der Regalfächer verschwunden. Ein scharfer Geruch nach Desinfektionsmittel erfüllte den Raum. Constanze krabbelte rückwärts und richtete sich dann mit rotem Kopf auf. »Ich habe … also … ähm … nur ein bisschen sauber gemacht«, meinte sie verlegen und strich sich eine ihrer wippenden Locken aus der Stirn.

»Sauber gemacht?« Fritzi riss die Augen auf. »Warum das denn? Hast du etwa ein Kakerlakennest gefunden?«

»Igitt!« Juli schüttelte sich.

»Nein!« Constanze stellte hastig die Sprühflasche ab, auf deren Rückseite ein Totenkopf abgedruckt war. »Es ist nur, man weiß ja nicht, ob hier immer alles wirklich gründlich gereinigt wird …«

»Aha.« Fritzi hob das Kinn und klappte dann nach kurzem Zögern kommentarlos ihren Mund zu.

Constanze starrte auf ihre Hände, die in rosafarbenen Gummihandschuhen steckten, und meinte: »Ich bin in fünf Minuten fertig, okay?«

Juli nickte. »Wir warten so lange draußen.«

 

Vor der Tür sahen sich Juli und Fritzi an. »Ich hätte nicht einfach so reinplatzen sollen«, meinte Fritzi schließlich zerknirscht.

»Na ja, so schlimm war das jetzt auch nicht. Ich meine, sie hat ja nichts wirklich Peinliches gemacht«, beruhigte sie Juli.

»Nichts Peinliches?« Fritzi warf einen besorgten Blick auf die verschlossene Tür. »Sie putzt. Ich würde ja nichts sagen, wenn das hier ein Stundenhotel wäre, aber wir sind in einem Kloster! Und sie putzt den Schrank! In rosa Gummihandschuhen! Das ist doch zumindest bedenklich, oder?«

Juli kicherte. »Also, ich glaube, da gibt es Bedenklicheres …«

»Und was, bitte schön?«, wollte Fritzi mit hochgezogenen Brauen wissen.

»Fremde Couchtische mit Penissen zu verzieren zum Beispiel …«, Julis Kichern steigerte sich, »in Lila?!«

»Was ist so lustig?« Constanze stand in der Tür und musterte die beiden misstrauisch. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt einen edlen schwarzen Kaschmirpullover zur schicken Jeans und darüber einen dünnen nougatfarbenen Blazer aus glänzendem Stoff, der ihre blonden, sorgfältig in Form geföhnten Haare leuchten ließ. Ihr Gesicht war noch etwas gerötet von ihrer Putzaktion.

»Oh!« Fritzi musterte Constanzes Outfit erschüttert. »Du bist so schick. Ich glaube, ich muss mich doch noch mal umziehen, sonst sehe ich zwischen euch aus wie eine abgedrehte, neurotische Henne!«

»Du bist eine abgedrehte, neurotische Henne«, grinste Constanze. »Warst du immer schon. Also steh gefälligst dazu!«

Fritzi öffnete empört den Mund, doch Juli unterbrach sie hastig: »Wir sprachen gerade über bedenkliche Dinge, die wir in unserem Leben schon gemacht haben.«

»Bedenkliche Dinge?« Constanze runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«

»Fremde Kleiderschränke desinfizieren zum Beispiel!«, sagte Fritzi boshaft. »In rosa Gummihandschuhen.«

Die Röte in Constanzes Gesicht vertiefte sich ein wenig, doch sie machte eine wegwerfende Geste: »Ach, solche Dinge. Ich dachte schon, ihr meintet wirklich bedenkliche Sachen …«

»Die da wären?«

Constanze überlegte, dann hob sie einen Finger: »Mit den Glühbirnen der Weihnachtsbeleuchtung die Fenster vom Finanzamt einwerfen halte ich schon einmal für sehr bedenklich …«

»Also, das ist doch schon Jahrhunderte her … Und außerdem war ich da betrunken!«, verteidigte sich Fritzi sofort.

»… oder die Nummernschilder meines Fiat 500 mit Fingerfarben verzieren, was mir eine Strafanzeige wegen Urkundenfälschung einbrachte.«

»Das war Julis Idee!« Fritzi deutete anklagend auf ihre Freundin.

Juli schmollte. »Es waren nur harmlose Blümchen zu deinem Geburtstag! Statt einer langweiligen Glückwunschkarte. Der idiotische Polizist hätte das erkennen müssen! Sie wären ja außerdem beim nächsten Regen sowieso wieder weggewaschen worden.« Sie schüttelte den Kopf. »Dieser phantasielose Trottel …«

»… hat zuerst die Schilder konfisziert und dann mein Auto abschleppen lassen, weil es keine zugelassenen Kennzeichen mehr hatte.«

Fritzi gluckste. »Ja, das war schon blöd. Und dann mussten wir noch zur Polizei und unsere Aussage machen. Wegen rosa Blümchen!«

 

Inzwischen waren sie im ersten Stock angelangt und standen vor einem Schild, auf dem mit schwungvollem Pinselstrich stand: Willkommen zur Gruppe Meditatives Malen!

»Also gut«, sagte Constanze und räusperte sich. »Augen zu und durch!«

Nacheinander traten sie in einen hellen Raum mit hohen Fenstern, aus denen man einen wunderbaren Blick auf den See und die gegenüberliegende Bergkette hatte. Die anderen Kursteilnehmer erwarteten sie schon. Sie saßen in einem Stuhlkreis um eine Kerze am Boden, die auf einem himmelblauen, sorgfältig drapierten Seidentuch stand und mit glitzernden Dekosteinen umkränzt war. Gestaltete Mitte, dachte Fritzi mit einer Mischung aus Grauen und Belustigung. Das hatte es auf ihren Besinnungstagen auch immer gegeben. Und endlos peinliche Gespräche darüber, wie es einem damit geht, was auch immer mit damit gemeint gewesen war. Die drei Frauen blieben unbehaglich in der Nähe der Tür stehen. Eine sehr kleine, schlanke, etwa fünfzigjährige Frau mit praktischem grauen Kurzhaarschnitt und einer randlosen Brille erhob sich und kam auf sie zu.

»Willkommen, meine Damen. Ich glaube, jetzt sind wir vollständig. Wenn Sie sich einen Platz suchen möchten?« Sie deutete einladend auf den Stuhlkreis, in dem sich noch genau drei leere Plätze befanden. Allerdings nicht nebeneinander. Fritzi setzte sich auf den freien Stuhl, der der Tür am nächsten war, und zupfte nervös an ihrem bunten Kaftan herum. Juli saß Fritzi gegenüber, und ihr Gesichtsausdruck erinnerte an ein verschrecktes Kaninchen. Zwei Stühle weiter nahm Constanze mit ihrem arrogantesten Kommt-mir-ja-nicht-zu-nahe-Blick Platz. Die Kursleiterin stellte sich als Schwester Josefa vor und meinte: »Wir sprechen uns alle beim Vornamen an, das ist einfacher. Ist euch das recht?« Sie sah fragend in die Runde. Niemand antwortete, jedoch nickten einige, einzig Constanze schnaubte verächtlich, aber auch sie hielt den Mund.

Schwester Josefas Blick blieb bei Juli hängen. »Vielleicht möchten unsere Neuankömmlinge gleich mit der Vorstellung beginnen?«, sagte sie freundlich.

Julis ohnehin schon angstvoller Gesichtsausdruck verstärkte sich noch, und an ihrem Hals blühten rote Flecken auf. Sie schluckte. »Ich, ja, also ich heiße Juliane Schatz …« Sie unterbrach sich und fragte verlegen: »Sie … äh … du … äh … sind Nonne? Ich meine, Sie … du … trägst gar keinen Schleier …«

Fritzi sah, wie Constanze die Augen verdrehte.

Schwester Josefa jedoch nickte nur und meinte: »Bei uns ist die Ordenstracht freiwillig. Ich für meinen Teil finde Hosen entschieden praktischer. Vor allem im Winter.«

Sie zwinkerte, und in der Runde wurde verhalten gelacht. Der einzige männliche Kursteilnehmer, ein dunkelhaariger, blasser Mann um die dreißig in Birkenstocksandalen und bis oben zugeknöpftem beigefarbenen Hemd, kicherte verschämt.

Juli räusperte sich und nahm einen zweiten Anlauf, sich vorzustellen. »Ich heiße Juliane, ich bin Mutter von zwei Kindern und Hausfrau.« Sie senkte den Kopf.

»Was hat dich zu uns geführt, Juliane?«, hakte Schwester Josefa nach. »Verrate uns ein bisschen mehr von dir: Was sind deine Erwartungen an diesen Kurs?«

»Ähm …« Julis Blick wanderte an die Decke, und die Röte an ihrem Hals vertiefte sich. »Blümchen«, stieß sie verzweifelt hervor, »also, äh, ich meine, Blumen! Ich male gerne Blumen. Rosa … ja … äh … Blumen …«

Fritzi musste husten und verbarg ihr Gesicht im Ärmel ihres Kleides, um nicht loszulachen.