Der Zimmerspringbrunnen - Jens Sparschuh - E-Book

Der Zimmerspringbrunnen E-Book

Jens Sparschuh

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Beschreibung

Hinrich Lobek, seit drei Jahren abgewickelter Angestellter der Ostberliner Kommunalen Wohnungsverwaltung, wittert Morgenluft. Das Wochenhoroskop von »Hallo Berlin« mahnt zur Initiative. Beherzt bewirbt sich Lobek bei einer westdeutschen Firma für Zimmerspringbrunnen und streicht in seiner alten Bewerbung die bewährte Formel »überzeugter Vertreter der sozialistischen Ordnung«. Mutig schreibt er: »Langjährige Erfahrung im Vertreterbereich«. Und so beginnt vor den staunenden Augen der berufstätigen Ehefrau Julia und des etwas ungezogenen Schäferhundes »Freitag« der unaufhaltsame Aufstieg von Hinrich Lobek zum erfolgreichen Vertreter Ost für Zimmerspringbrunnen. Wie ein Schwejk der Vertreterbranche stolpert Lobek ahnungslos von Erfolg zu Erfolg. Mit diesem burlesken Vertreterroman ist Sparschuh das Kunststück gelungen, alle komischen und tragischen Aspekte der Ost-West-Spaltung aufzugreifen und ohne Larmoyanz durchzuspielen. Eine gekonnte Satire über den Erfolg.

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Seitenzahl: 181

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Jens Sparschuh

Der Zimmerspringbrunnen

Ein Heimatroman

Kurzübersicht

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Inhaltsverzeichnis

Motto

– Eins zwei drei Jahre als Jäger in den eigenen vier Wänden –

– Soll ich oder soll ich nicht? Antworten über Antworten –

– Hurra! Erste, wenn auch unerwartete Bestätigungen –

– Das »Ja – Aber«-Prinzip Ein wenig geglückter Versuch –

– Ich will. Ich kann! Ich werde!!! –

– Haifischbecken der Gefühle –

– A. I. D. A. oder im Würgegriff des Kleinhandels –

– Kleinkram und Ahnungen –

– Alle Jahre wieder! Countdown –

– Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht! –

Förderung

Inhaltsverzeichnis

»Nur die Oberflächlichen kennen sich gründlich.«

Oscar Wilde

Inhaltsverzeichnis

– Eins zwei drei Jahre als Jäger in den eigenen vier Wänden –

Endlich, endlich! Mein HALLO-BERLIN-Wochenhoroskop hatte grünes Licht gegeben!

Damit Freitag, der alte Schnüffler, mich beim Überlegen nicht stören konnte, gab ich ihm ein paar Löffel Futter in die Schüssel. Dann wusch ich mir die Hände und setzte mich an den Küchentisch. – Er fraß. Ich überlegte. – Lesebrille brauchte ich nicht. Den Text kannte ich fast auswendig:

Liebe: Rosige Zeiten sind in Sicht. Das Glück läuft Ihnen nun nach. Sie erleben eine unvergeßliche Woche.

Beruf: Ein Plan entwickelt sich etwas ungewöhnlich. Kein Grund zur Beunruhigung. Treffen Sie Entscheidungen jetzt!

Allgemeines: Bleiben Sie gelassen. Durch überlegtes Handeln können Sie gewinnen. Es kann nur besser werden!

– Darüber sollte nachzudenken sein!

Wie gewöhnlich hatte Julia (»Juli«) gegen 7.15 Uhr unsere gemeinsame Wohnung verlassen. Ich war noch zum Fenster gegangen, hatte hinuntergewinkt, atemlos von meinem Hochstand aus ihr ruppig rasantes Ausparkmanöver beobachtet, es nur hilflos, getarnt durch die Gardine, mit aufzuckenden Schmerzgrimassen kommentierend – dann aber: sofort an die Arbeit!

Eintrag ins Protokollbuch: »Observationsobjekt J. verläßt gegen 7.15 Uhr die eheliche Wohnung (lila Lippenstift …!).

Vorausgegangen am Vorabend: telefonische Absprache der J. mit einem gewissen Hugelmann oder Hugemann – offenbar der neue Abteilungsleiter (nähere Informationen liegen derzeit noch nicht vor). Es fielen im Gespräch wiederholt die Worte ›toll‹, ›das ist ja toll‹ und ›wirklich, das ist ja toll‹.«

 

Am Abend zuvor – obwohl Julia »Ich geh schon!« aus dem Bad gerufen hatte, nahm ich den Hörer ab; ich stand gerade daneben. Auf mein geknurrtes »Hallo« hin, legte die Männerstimme am anderen Ende eine verdutzte Schweigesekunde ein, um dann, ziemlich unbeeindruckt übrigens, Frau Lobek zu verlangen, Betonung auf Frau.

Die Stimme hätte ohne weiteres ja auch fragen können »Darf ich bitte Ihre Frau sprechen?« – aber nein, das tat sie nicht. Wahrscheinlich hatte sie Gründe dafür, in Julia etwas anderes als meine Frau zu sehen.

Julia, direkt unter der Dusche hervor, nahm mir den Hörer aus der Hand. »Lobek …«, hauchte sie in die Sprechmuschel. An der Art, wie sie das sagte, merkte ich, sie hatte diesen Anruf erwartet.

Und da telefonierte sie also, nackt und tropfnaß und ganz selbstverständlich mit diesem Hugelmann oder Hugemann. Ich wollte ihr den Bademantel holen, damit sie sich wenigstens, wenn sie schon mit diesem Herrn spricht, etwas überhängt. Aber sie klappte nur kurz, verneinend die Augenlider herunter, ein winziges Kopfschütteln, dann wischte sie mich mit einer abwinkenden Handbewegung einfach beiseite. (Ihr Mund halboffen – wahrscheinlich, um besser aufzuschnappen, was Hugelmann/Hugemann ihr ins Ohr flüsterte …)

»Ich geh schon«, echote es in mir, »ich geh schon …«

Ich mußte mich beruhigen. Also zog ich mich diskret in den Hobbyraum zurück, um mich dort meinen Laubsägearbeiten hinzugeben. Julia, über den Apparat gebeugt, ganz Ohr, schien das schon gar nicht mehr zu registrieren.

Wohl aber registrierte ich, vom Hobbyraum aus, wo ich ein klein bißchen rumorte – an ernsthafte Laubsägearbeit war natürlich nicht zu denken! –, die eingangs protokollierten Wortfetzen.

Das dazu. Und – ab damit zu den Akten!

 

Julia hatte also, wie gewöhnlich, die Wohnung verlassen, ich – meinen Posten am Küchentisch bezogen. Für diesen Tag aber stand, anders als sonst, Wichtiges, Bedeutsames auf dem Plan: Ich mußte eine Bewerbung schreiben!

Eigentlich wollte ich dieses wurstige HALLO-BERLIN-Anzeigenblatt nicht mehr lesen. Ich schlug es nur wegen des Horoskops auf. Die Sterne lügen nicht! (Das können sie nämlich gar nicht; sie wissen ja auch nicht, was die Wahrheit ist …) Ohne abergläubisch zu sein, hatte ich aber bisher durchaus immer etwas Wahres in meinem Wassermann-Horoskop gefunden, oder anders: richtig falsche Tips gaben sie einem im Grunde genommen nie. Damals überzeugte mich vielleicht Punkt 1 (Stichwort Liebesleben) etwas weniger – dafür aber um so mehr die Punkte 2 und 3, wobei letzterer (Allgemeines) geradezu speziell auf mich zugeschnitten zu sein schien.

Auf der Nebenseite, unter den Stellenangeboten, hatte ich die kleine, unscheinbare Annonce gefunden. Normalerweise wäre sie mir gar nicht aufgefallen und schon beim ersten Satz »Wenn Sie auf 5000,– DM und mehr im Monat verzichten können, brauchen Sie nicht weiterzulesen …«, hätte ich aufgehört weiterzulesen. Daß ich dennoch weiterlas, lag wahrscheinlich daran, daß mir das »Treffen Sie Entscheidungen jetzt!« von Punkt 2 noch im Kopf herumgeisterte. Die Firma PANTA RHEIn (das kleine, in Schreibschrift angehängte »n« offenbar ein launiger Hinweis auf den oberrheinischen Firmenstandort) vertritt seit Jahren erfolgreich einen eingeführten Markenartikel und sucht für den Vertrieb im Raum Berlin/Brandenburg einen engagierten Vertreter. An Voraussetzungen waren lediglich Fahrerlaubnis und Einsatzbereitschaft genannt. (Fahrerlaubnis habe ich.) Erfahrungen im Vertreterbereich wären wünschenswert, aber, so die Einschränkung, »keineswegs Bedingung«.

Was sprach dagegen?

Die Kreise, in denen ich mich bewegte, waren in den letzten Jahren immer kleiner, immer enger geworden. Eigentlich bewegte ich mich gar nicht mehr, sondern saß, seit meiner Abwicklung, nur noch in der Wohnung herum. Oder: Ich lag einfach auf dem Sofa und starrte zum Fenster, ganze Nachmittage … Das Fenster hing schief, wahrscheinlich, weil mein Kopf schiefhing. Aber den verrückten Kopf geradezurücken, dazu hatte ich nicht die Kraft. So blieb auch das Fenster in der Schräglage. Die Stubenfliege kurvte unentwegt durchs Zimmer. Kaum, daß sie mal eine Pause machen, ein paar Schrittchen auf der Fensterscheibe laufen würde – schon war sie wieder unterwegs, hing zwischen ihren schwirrenden Flügeln in den Lüften herum. Ich stellte mir vor und sah es richtig vor mir: Überall, wo sie fliegt, hinterläßt sie eine schwarze Spur. Ein Gewirr abgewickelter Zwirnsfäden kreuz und quer durchs Zimmer. Ich richtete mich auf, saß auf dem Sofa, die Schultern sackten herab. Mühsam kam ich hoch, tappte zum Fenster, mir wurde schwarz vor Augen. Mit der Hand schob ich das schwarze Fadengewirr beiseite, zog den Kopf ein, zog das Fenster auf. Vogelgequietsch. In den Bäumen saßen die Insektenvertilger und warteten. Sie hatten Zeit und pfiffen sich eins. Nach mehreren Anflügen schaffte es die Fliege, endlich – hinaus, in die Freiheit! Gute Reise, kleine Fliege – ich kann dich nicht begleiten, weil-ich-hier-bleiben-muß …

Sogar Julia – obwohl das nichts zu sagen hatte – sagte damals: »Du mußt einfach wieder raus, du mußt unter Menschen.« Ob sie da schon ihren Herrn Hugelmann oder Hugemann kannte? Ich weiß es nicht. Das tut auch nichts zur Sache. Fakt aber war – und das wußte ich von Möbius, den ich aus meiner KWV-Zeit kannte –: Zum 1. 1. sollte wieder die Miete erhöht werden. Mein letztes Rückzugsgebiet, die Wohnung, war also in Gefahr! (»Dein Feuchtraumbiotop«, wie Julia es immer nannte – dazu aber später.)

An Versuchen, wieder Fuß zu fassen, hatte es ja nicht gefehlt. Nicht, daß es mich sonderlich nach draußen gezogen hätte. Aber inzwischen (genauer: nach über drei Jahren erzwungenen Hausmannsdaseins) wurde das Leben in den häuslichen vier Wänden für mich zum täglichen Überlebenstraining. Seit ich regelmäßig auch tagsüber zu Hause saß, merkte ich: Neubauwohnungen sind nichts anderes als Zellentrakte.

Dann wieder – und das lag wahrscheinlich daran, daß ich mit Freitag eingesperrt war – kam mir die Wohnung wie ein Tier vor. Das aufgeklappte Maul der Tür – und hinein, ins dunkle Innere. Der lange Flur – die Speiseröhre, die dich verschlingt. Fenster, trübe Augen, die den Blick nach draußen kaum freigeben. Die Rohre sind Adern; Därme die Abflußrohre, ingrimmig glucksend … Unterm dünnen Putz, im mürben Fleisch der Betonwand, das flimmernde Nervengeäst, die elektrischen Leitungen.

Um im Bild zu bleiben: Mein kleiner Hobbyraum wäre demnach das geistige Schaltzentrum, das Hirn der Wohnung gewesen. Und so war es auch! Sobald ich nämlich den Hobbyraum verließ, mich vielleicht ein bißchen hinlegte, zum Fenster schaute, hatte ich das Gefühl, ich würde allmählich verdaut werden …

Dabei – ich kann mich noch erinnern, wie froh wir damals waren, als wir endlich diese Neubauwohnung bekamen. Nach Jahren unseligen Angedenkens in einem Mietshaus am Rande des Prenzlauer Bergs – am Rande des Wahnsinns!

 

Dieses Mietshaus. Von außen betrachtet, alles in allem, konnte man ja meinen: eine ganz passable Bruchbude, warum nicht? Sogar mit einer Rosette über der Toreinfahrt, noch vom Krieg zerschossen. Überhaupt: die Fassade sah aus, als wäre 45 der Kampf um Berlin vor allem um dieses Haus geführt worden … Aber, immerhin: zwei Zimmer, Küche und (Luxus!) sogar ein schlauchartiges, immer eiskaltes Bad. Die Zimmer nach Norden. Wenn die Sonne schien, sah man das in den Nachrichten oder an den Schatten der Tauben auf der Hauswand gegenüber. (Doch das sahen wir erst später.) Dafür, als Mittelwohnung, von allen Seiten schön eingebaut. Sicher schön warm im Winter, dachten wir. Sicher. – Aber eben auch schön laut. Im Frühling. Im Sommer. Im Herbst. Und im Winter.

Ich erinnere mich noch an den ersten Abend. Erst dachten wir: wenn erst mal die Teppiche liegen, wird sich das schon geben – die Stimmen, die Musik … Es mußte ja. Schließlich waren wir mit dieser Wohnung, wie es wohnungsamtlich hieß, »endversorgt«.

Die Nachbarin links, tagsüber eine unscheinbare Kassiererin in einer Kaufhalle, entpuppte sich nachts als GRÖSSTER PETER-MAFFAY-FAN ALLER ZEITEN – und eben dieses Hauses. Eine besondere Einlage jedesmal, wenn sie um Mitternacht in ein Mikrophon sprach, die Lautsprecher angeschlossen: »Ich bin Marina, jawohl, und alle denken, ich bin bloß Kassiererin. Aber … ihr wißt nichts, nichts wißt ihr …« usw. Ergriffen im Bett liegen, die Arme unterm Kopf verschränkt, und jemand erzählte uns seine Lebensgeschichte durch die Wand. (Einmal, früh um halb fünf, klingelte bei uns dieser junge Mann, der wie Peter Maffay aussah, es aber nicht war, und fragte: »Wo ist Marina?«)

Die Bäckerfamilie rechts unten. Die hatte ihren akustischen Kulminationspunkt kurz vor halb zwei Uhr nachts, bevor der Mann zur Arbeit und die Frau ins Bett ging: diese endlos quiekenden Kicherkaskaden (was trieben die da?) für alle Ewigkeiten ins Gedächtnis eingebrannt.

Die ältere Dame rechts, um ihre Altersschwerhörigkeit beneidet, griff nur vormittags kurzzeitig ins akustische Geschehen ein und steuerte das gemeinsame Vormittagsprogramm von ARD und ZDF bei. Zum unbestrittenen Höhepunkt der Woche geriet aber erst der Freitagabend: Freddy, in der Wohnung links unter uns! Nach der geistigen Notversorgung mit dem Freitagabendfernsehprogramm meldeten sich regelmäßig auch die körperlichen Bedürfnisse zu Wort: »Wer von euch Bastarde hat meine Hackepeterschrippe jefressen?« Diese Frage löste wilde Verfolgungsjagden durch die Wohnung aus. Langwierige Verhandlungen durch zugesperrte, mit Füßen traktierte Türen, leider immer nur zur Hälfte verstehbar. Ein demonstratives: »Ha! Ha! Det ick nich lache«, oder einfach, als Vorschlag zur Güte: »Ick zähle bis drei, wenn denn nich off ist, schlag ick dir dot«. Flaschenklirren, Geschrei, gegen zwei oder drei dann der zum Himmel beziehungsweise zur Stubendecke ausgestoßene Kriegsruf: »Warte, gleich kloppt Lobek.« Das war das Zeichen, mein Einsatz! Vom Bett aus, mit dem Schuh, ein mattes Lebenszeichen … Prompt die Bestätigung von unten: »Siehste, jetzt kloppt der Bekloppte!« Nach langen Kämpfen – das erste gemeinsame, verbrüderte Lachen unterm Teppich.

Im Halbschlaf kreisten damals meine Gedanken um eine Maschine, die so konstruiert sein müßte, daß sie auf jedes ankommende Geräusch ein adäquates Gegengeräusch aussenden würde, so daß infolge der Überlagerung der Schallwellen absolute Stille entstünde …

 

Lange, lange her. Und ich hatte es schon fast vergessen. Die Erinnerung daran kam erst wieder, als die endlosen Tage begannen, die ich von morgens bis abends in unserer Neubauwohnung absaß, ich immer wieder die Mieterhöhungsbescheide las und ich mir vorzustellen begann, wie das wäre, eines Tages wieder zu Freddy & Co, zurück in die Bruchbude, zu müssen. Vor allem nachts schreckte ich davon hoch. Da ging mir überhaupt alles mögliche durch den Kopf. Deshalb, noch heute, mein Motto, wenn ich abends ins Bett krieche und es wird Nacht: Augen zu – und durch!

Alle meine Versuche, draußen, im feindlichen Leben, wieder Fuß zu fassen, waren bis dahin ja erfolglos geblieben. Einziger Erfolg: Ich wurde immer schweigsamer. Es gab ja auch nichts zu erzählen! Tagsüber, wenn Julia im Büro war, hatte ich mich bei verschiedenen Firmen telefonisch auf Stellenangebote hin gemeldet. Nach einer Weile aber, es genügte ja schon, daß ich auf Nachfrage mein Alter angab, hatte ich das Gefühl, einfach abgehängt zu werden.

Ich saß dann da, Telefonhörer in der Hand, ein Rauschen im Ohr – und ich sprach einfach weiter, erklärte dem Gegenüber, das längst aufgelegt hatte, daß ich durchaus, durchaus … und so weiter. Ich, langjähriger Atheist, flüsterte manchmal sogar ins Telefon: HErr, erhöre mich! Ich rufe Dich an …

(Nebenbei: Eine unrühmliche Rolle in diesem Zusammenhang spielte übrigens Freitag! Ich sperrte ihn zwar immer, wenn ich irgendwo anzurufen hatte, vorsichtshalber weg, aber auch durch die geschlossene Küchentür war sein Jaulen zu hören. Freitag – du mein Verräter!)

War ich auch schon früher eher ein »ruhiger Bürger« gewesen, verfiel ich nun fast völlig in Schweigen – sicherlich eine der Spätfolgen meiner erfolglosen Telefonbewerbungen.

Sogar Julia fiel das auf: Mit mir könne man nicht mehr reden, ihr fehle der Austausch mit mir. Da könne sie sich gleich vor ein Aquarium setzen. – Soweit ihre Darstellung.

Richtig ist: Ich beschränkte mich auf »Ja« und »Nein«. Damit sind die wesentlichen Dinge gesagt. Am Telefon zusätzlich noch ein geknurrtes »Hallo«. In komplizierten Fällen, die aber selten waren, verwendete ich außerdem noch die Wörter »Eventuell«, »Vielleicht«. Manchmal ließ ich mich auch zu einem »Mal abwarten« hinreißen. Das aber schon die Ausnahme.

Beim Arbeitsamt galt ich ohnehin von Anfang an als schwer vermittelbar. (Als ich Julia das mal, schon lange her, in einem Anflug von Redseligkeit mitteilte, war sie ganz erschrocken, meinte, da müsste ich doch etwas tun, das könne ich doch nicht auf mir sitzenlassen – ich hatte das aber bis dahin gar nicht so negativ gesehen, eher als eine Art Selbstbestätigung. Ihr zuliebe, nur ihr zuliebe hatte ich mich dann ja auch auf diesen Rotkreuz-Lehrgang eingelassen, eine Art »Weiterbildungsmaßnahme«.)

Dabei, das muß ich der Vollständigkeit halber sagen, mir kam das Schweigen eigentlich entgegen. Oft wußte ich wirklich nicht, was ich sagen sollte. (Das ist auch heute noch so.) Sollten doch die anderen ruhig reden. Ich blieb ganz ruhig. Früher war mir das peinlich, wenn plötzlich das Gespräch stockte, Schweigen eintrat – damals aber begann ich, das zu genießen. Ich nickte still, schwieg.

Julia irritierte das. Sie fühlte sich von mir stumm beobachtet.

Eintrag ins Protokollbuch vom 13. 4.: »Infame Vorwürfe! – Julia, sehr erregt (das entschuldigt aber nichts), behauptet heute: ich würde ihr nachspionieren und – wörtlich! – ›in einem Protokollbuch‹ (!!!) jeden ihrer Schritte verzeichnen. – Weiter, sinngemäß: wäre ich endlich wieder ausgelastet, es wäre ein Segen für uns alle, sogar für die Blumen und den Hund.«

Das muß – leider – nun doch etwas näher erklärt werden. Ich will gar nicht noch einmal davon anfangen, daß ich für die Topfpflanzen extra kleine Fensterbänkchen gebaut hatte. Tatsache jedenfalls ist: Seit ich zu Hause war, kümmerte ich mich um das Grünzeug.

Natürlich, es war für die Topfpflanzen eine Umstellung, daß sie nun regelmäßig Wasser – und zwar auf Zimmertemperatur vorgewärmtes Wasser! – bekamen. Ich erklärte mir das so: Sie hatten sich im Lauf der Jahre an das Lotterleben gewöhnt, hatten sich einfach, um zu überleben, daran gewöhnen müssen: Mal Sturzbäche eiskalten Wassers, dann wieder lange, lange nichts – so war das doch, früher, als wir noch beide Arbeit hatten. Daß sie früher auch gewachsen sind, wie Julia immer wieder behauptet hat, bewies da gar nichts.

Es war geradezu selbstverständlich, daß sie nun vorerst regelmäßige Wasseraufnahme verweigerten, daß sich mitunter auch kleine Pfützen in den Töpfen und Schalen bildeten. Sie verfaulten nicht, wie Julia vermutete; sie mußten nur lernen, umlernen.

Und deswegen hatte es auch überhaupt nichts zu bedeuten, daß sich das Grünzeug, als ich vom einwöchigen Rotkreuz-Lehrgang zurückkam, in einem ganz leidlichen Zustand befand. Julia sagte nichts. Wahrscheinlich dachte sie: Laß Blumen sprechen!

Ich gebe zu: Sie hatten sich erholt, doch.

Aber im Klartext hieß das doch nur: sie waren wieder rückfällig geworden. Die Versuchungen des Lotterlebens … Kein Wunder, daß sie da für den Moment regelrecht aufgeblüht waren. –

Ein weiterer Problemfall: Hasso vom Rabenhorst.

Allein die Art, wie Julia ihn immer in die Arme schloß, wenn sie von der Arbeit kam – als müßte sie das Hundetier jedesmal aus meinen Fängen retten, als sei es für den armen Hund eine Zumutung, den ganzen Tag mit mir eingesperrt zu sein … Da gab es nur eins für mich: Hobbyraum!

Julia meinte: Wenn ich nun schon den ganzen Tag zu Hause herumsitze, könnte ich ruhig mit Hasso einmal mehr die Runde machen. Ich aber war strikt dagegen: 1. (das sagte ich nicht) der Hund gewöhnt sich daran; 2. (das sagte ich auch nicht) damit hätte ich mein Zuhausesein ja nur zementiert, anders: was würde mit Hasso, wenn ich wieder Arbeit hätte? Julia schien offenbar davon auszugehen, daß ich für immer zu Hause bleiben würde.

Was Julia nicht wußte: Ich hatte Hasso damals heimlich umgetauft!

Ich rief ihn zu mir in den Hobbyraum. Vor diesem Ort hatte er, seit es mal einen Auftritt zwischen uns gab, über den ich hier nichts schreiben kann, Respekt. Im Hobbyraum war ich nicht sein Herrchen, sondern sein Herr! Hasso blieb an der Tür sitzen und sah mich an. Hundeblick. Ich legte meine Laubsäge aus der Hand und sagte mit ruhiger Stimme: »Du bist jetzt Freitag, Hasso!« Dann noch einmal direkt ins Gesicht: »Du bist jetzt Freitag! – Ende der Durchsage!« Er hechelte, verzog aber keine Miene. Stummes Einverständnis. Dann trollte er sich.

Normalerweise gingen wir uns tagsüber aus dem Wege. Er duckte sich weg, wenn ich kam. Recht so.

Wenn es aber klingelte oder Julia von draußen kam, war er sofort an der Tür. »Ach, wenigstens mein Hassolein sagt mir Guten Tag«, hörte ich Julia draußen sagen. Was erwartete sie eigentlich von mir? Sollte ich etwa auch schwanzwedelnd zur Tür rennen? an ihr hochspringen? ihre Hände ablecken? an ihren Taschen schnüffeln? Oder was! Ich saß im Hobbyraum und ruckte mich nicht vom Fleck. Vielleicht hatte ich im Moment auch gerade etwas sehr Wichtiges, etwas sehr Unaufschiebbares zu tun. Wer weiß.

Wie zum Beispiel an dem Tag, als ich meine PANTA- RHEIn-Bewerbung schrieb. Im Grunde genommen war sie ja, bis auf zwei, drei offene Formulierungen, schon fertig. Ich mußte mich nur noch entscheiden, wie ausführlich ich meinen bisherigen beruflichen Werdegang schildern sollte. Von meinem alten Lebenslauf war, abgesehen von einigen Daten, die ich immer wieder vergesse (Schulanfang usw.), leider nicht mehr viel zu gebrauchen. Vollständig gestrichen hatte ich zunächst den Passus, beginnend mit »Bin seit meiner Schulzeit überzeugter Vertreter der sozialistischen Ordnung«, dann aber überlegt, ob sich nicht doch etwas davon retten ließe und mich schließlich zu der Kurzfassung entschlossen: »Langjährige Erfahrungen im Vertreterbereich«.

Bevor ich an die endgültige Abschrift ging, wollte ich mich aber kurz aufs Sofa legen, um die Sache noch einmal komplex zu überdenken. Ich mußte eingeschlafen sein, denn plötzlich stand Julia in der Tür: »Es kann doch nicht wahr sein, daß du wieder den ganzen Tag stabile Seitenlage geübt hast …« (Unverhohlene Anspielung auf meinen Rotkreuz-Lehrgang!) Ich sagte nichts, sondern dachte nur intensiv an Punkt 3 des Wochenhoroskops: Bleiben Sie gelassen!

Inhaltsverzeichnis

– Soll ich oder soll ich nicht? Antworten über Antworten –

Als ich ungefähr einen Monat später den Antwortbrief der PANTA RHEIn auf mein Bewerbungsschreiben erhielt, zuckte ich innerlich zusammen. Eigentlich hatte ich fest damit gerechnet, nichts mehr von der Firma zu hören, bestenfalls vielleicht eine Absage. Und nun das! Eine Einladung, und zwar nach Bad Sülz, in den Hochschwarzwald, zur alljährlichen Vertreterkonferenz, »eine gute Gelegenheit, einander in aufgeschlossener Atmosphäre kennenzulernen« und zu überprüfen, ob nicht auch ich »ein neues Mitglied unserer großen, überaus erfolgreichen PANTA-RHEIN-Familie« werden könnte. Vom Direktor persönlich unterschrieben: »Ihr Alois Boldinger«. Mein Alois Boldinger.

Ich wankte zum Fahrstuhl. In der Wohnung angekommen, ging ich ins Wohnzimmer, zog die Gardinen vor und legte die Neunte, meine Lieblingssinfonie, auf den Plattenteller. Mich selbst legte ich aufs Sofa. Die Platte drehte sich. Alles drehte sich. Alles drehte sich um mich. Ich schloß die Augen und besah mich von innen. Die letzten Wochen und Monate, die ganzen Jahre (und die kaputten) zogen an mir vorüber. Sie verschwanden auf Nimmerwiedersehen im Dunkel der Vergangenheit, im Licht einer neuen Zukunft … Zum Schlußchor stand ich auf, stellte mich vor die Schrankwand und dirigierte, innerlich bewegt, bis zum Ende durch.

Danach, gegen alle Gewohnheit, wählte ich Julias Büronummer an, hatte aber, als sie sich meldete, plötzlich das Gefühl, sie sei nicht allein im Zimmer; Hugelmann ist bei ihr, dachte ich und legte sofort wieder auf. (Am Abend würde sie mir wieder sagen: Irgend so ein Idiot hat angerufen und gleich aufgelegt.)

Am nächsten Tag fuhr ich in die Innenstadt. Zu dem entscheidenden Treffen wollte ich nicht unbedingt in meinen ausgebeulten Jeans oder in Freizeitbekleidung fahren (seit der Wende hatten sich pinkfarbene Blousons, giftgrüne Jogginghosen und andere Sonderangebote bedrohlich und wie von selbst in den Fächern meines Kleiderschranks vermehrt).

Direkt gegenüber von Julias Bürogebäude gab es die Boutique »Avantgarde«. Ich wollte mich dort postieren, auf Julia warten und auf diese Weise das Unangenehme (Kauf einer Herrenhose) mit dem Nützlichen (Recherchen in Sachen Julia/Hugelmann) verbinden.

Einige Kundinnen durchstreiften die unübersichtliche Verkaufsetage. Lustlos, aber mit Kennerblick durchblätterten sie die ausgehängten Kleider und Blusen. Diskomusik. Ein Spiegelkabinett – und der herumirrende Affe im Spiegel: ich.

Endlich aber hatte ich entdeckt, was ich suchte. Ein verchromtes Hosenkarussell: Von diesem Standort aus hatte ich, ohne selbst gesehen werden zu können, optimale Einblickmöglichkeiten in die Straße und vor allem auf den Gebäudekomplex, aus dem Julia ungefähr gegen halb fünf kommen mußte. Ich tauchte probehalber unter …

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte mich von oben herab eine Verkäuferin. Ich richtete mich rasch auf und sah sie unschlüssig an. Ich schüttelte den Kopf.

»Suchen Sie vielleicht eine Bundfaltenhose?« half sie mir weiter. »Nein, das weniger«, raunte ich zurück, und ich fügte leise hinzu: »Ich suche die Wahrheit.«