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Holger Buschner, 35, Koch, Single nach einer schmerzlichen Trennung, fährt auf Rat eines Kollegen in den Ostseeurlaub, um sich von der Einsamkeit zu befreien. Um seine geistige Entwicklung besorgt, gibt ihm selbiger Kollege ein Büchlein mit, dessen Lektüre sich als schwierig erweist. Im Tanzlokal scheitert Buschner bei einer sehr charmanten aber unnahbaren Frau. Als er am nächtlichen Strand Ernüchterung sucht, entdeckt er im Wasser eine nackte Frauenleiche mit beinahe abgetrenntem Kopf, die sich bei genauer Betrachtung als eben jene Frau aus dem Tanzlokal erweist. Da die Polizei wenig später weder die Leiche findet, noch Spezialhunde Witterung aufnehmen, wird Buschners Anzeige nicht sehr ernst genommen. Auf eigene Faust ermittelnd, begibt er sich noch einmal in das Tanzlokal. Hier macht er eine unerwartete wie folgenschwere Entdeckung, die ihn in einen gefährlichen Strudel der Selbstanfechtung reißt. Neben dem kriminalistischen durchzieht die Erzählung noch ein psychologischer und erotischer Spannungsstrang. Die oft pointierte Verflechtung mit Zitaten aus "Also sprach Zarathustra" von FRIEDRICH NIETZSCHE gibt der Erzählung ihren besonderen Reiz.
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Seitenzahl: 271
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Für Katharina
Kursiver Text zitiert - allein in der Interpunktion leicht verändert und der neuen Orthographie angeglichen - aus
Also sprach Zarathustravon FRIEDRICH NIETZSCHE
Werke in zwei Bänden
Alfred Kröner Verlag Leipzig 1930
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Ich lebe jetzt fast genau ein halbes Jahr allein, ich meine, ohne Frau. Ich weiß, es klingt blöde, wenn man so mit der Tür ins Haus fällt. Aber das ist nun mal haargenau der Gedanke, der mir beinahe ständig durch den Kopf geht, vorsichtig ausgedrückt. Solitäre Erotik mag ja ein Weilchen übers Alleinsein hinwegtrösten, aber Ersatz auf Dauer ist sie nicht. Ich bin jetzt fünfunddreißig; arbeite als Koch. Gibt es eigentlich einen Beruf, der weniger als vier Buchstaben hat? Eine besonders gute Partie bin ich nicht, ich weiß. Aber ich bin ganz gut gebaut, umgänglich, sauber, rauche nicht, mitunter bin ich auch ganz lustig, wenn vielleicht auch nicht gerade zurzeit. Das ewige Rumhängen mit mir selbst nervt echt. Man sitzt Stunden vor der Glotze, säuft ein Bier am andern und holt sich am Ende noch eine Sehnenscheidenentzündung. Das ist doch nicht vulgär, Mann! Das ist ein Hilferuf; ein Verzweiflungsschrei.
Und als ob das nicht reichen würde, laufen mir neuerdings ständig auch noch irgendwelche Bilder aus der Kindheit ins Gedächtnis, die alles andere als erheiternd sind. Schon die Bezeichnung Kindheit ist relativ übertrieben. Nein, ich will hier keinen mit irgendwelchem Psychokram langweilen. Ist nur komisch, dass die längst vergessenen Geschichten plötzlich wieder hochkommen, jetzt, wo Vera nicht mehr da ist. Als hätte sie die ganze Zeit vor der Rumpelkammer meiner Vergangenheit gestanden. Nein, das ist eben ganz und gar nicht übertrieben. Aufgewachsen bin ich im Internat. Meine Alten hab ich nur mal so in den Ferien oder zu den Feiertagen gesehen. Und auch das war schon nervend genug. Meine Mutter hat in den paar Stunden versucht, ihr schlechtes Gewissen in Streicheleinheiten abzuarbeiten. Mein Alter schwankte ständig zwischen Trunkenheit und Reue. Wenn er nüchtern war, war er sogar ganz passabel. Am schlimmsten war ihr Schweigen. Ich sehe sie vor allem vor sich hinstarren; die Mahlzeiten wechseln, die Gesichter bleiben gleich. Unausgesprochene Vorwürfe springen hin und her. Meine Mutter muss mal eine heiße Flamme gewesen sein. Ohne Fahne und gläserne Augen war mein Alter immer noch ganz ansehnlich, jedenfalls bis es dann ganz abwärts mit ihm ging. Die Stimmung war der Gemütlichkeit sizilianischer Familien in Mafiafilmen am ähnlichsten. Obwohl meine Mutter kein Kopftuch trug, sah sie genauso aus wie eine dieser versteinerten Weiber, die scheinbar nur nicht sterben, um für andere ein Ärgernis oder ein Stein des Anstoßes zu sein. - Ich mag all dieses Zeug nicht, obwohl ich glaube, damit fertig zu sein. Hoffentlich wirkt die nächste Braut auf mein Gedächtnis ähnlich wohltuend narkotisch.
Aber wo soll man heutzutage eine Frau kennenlernen? Ich meine, eine, die nicht schon nach der ersten Nacht das Handtuch schmeißt oder dich zwingt, an Alzheimer zu erkranken; ich meine, eine für lange, so zum Knuddeln und Albern und Kuscheln und Vögeln. Ich sag immer Vögeln, alles andre ist mir zu blöd. Man muss über die Sache reden können, ohne zu stottern, sonst stottert man auch noch, wenn es zur Sache selber geht.
Wenn ich ehrlich sein soll, hat mich Vera auch hier von einem Albtraum befreit. Ich war vielleicht eine Pfeife. Verliebt war ich immerzu, sinnlos anzumerken, ohne glückliche Hand. Die Bräute standen auch schon im zarten Alter mehr auf protzige Kerle, die über alles und jeden einen blöden Spruch parat haben, mit tränenden Augen Lungenzüge aus Selbstgedrehten demonstrieren und dabei beachtliche Speichelpfützen aufs Pflaster rotzen. Für Zigaretten fehlte mir schon das Geld oder der Mut, sie zu klauen. Evelyn war anders. Sie kam neu in die Klasse. Bei ihr bin ich ganz tief rein, seelisch meine ich. Wir haben Briefchen geschrieben und Fotos getauscht. Ich hab ihr sogar mein Nest gezeigt, ein Versteck im Grünen, in das ich mich immer dann verkroch, wenn ich sterben wollte. Ich wollte oft sterben; ein einziges Mal vor Glück nach dem ersten Kuss von Evelyn, vielleicht, weil ich geahnt habe, dass dieses Glück nicht hält und ich dafür hart zu büßen habe; und unzählige Male aus Verzweiflung; als ich sie wenig später mit dem Protz tanzen sah; und dann, als sie sich knutschten; und dann, als der Protz mich zusammengehauen hat, damit ich ihm ihr Foto abtrete. Nach dieser Geschichte war ich mit aller Liebe am Ende. Und wenn mich der Trieb nicht ständig und zunehmend in die Zange genommen hätte, wer weiß, ob ich zuletzt nicht Mönch geworden wäre, so fertig war ich mit aller Liebe und aller Welt. In meinem Nest knutschten sich jetzt andere, drum zog ich in den Keller, der hart war und kühl und also ganz nach meiner Stimmung. Das dunkle Loch machte mir keiner streitig. Weil ich hier - um zu sterben - stundenlang bewegungslos auf die Wand stierte, lernte ich Edwin kennen, eine Ratte, dem bis heute besten Freund, dem ich begegnet bin. Nicht, dass wir uns besonders nahegekommen wären, ich hab ihm was zu fressen mitgebracht, und er hat sich herabgelassen, mir mein Alleinsein erträglicher zu machen, jedenfalls, solange da was zu fressen war. Ich empfand es als einen fairen Deal. Da ich mittlerweile geschnallt hatte, dass man vom Sitzen und Stieren allein nicht stirbt, erlaubte ich mir nun den Luxus, einseitig mit Edwin zu kommunizieren. Von meinen späteren hangreiflichen, peinlichen Liebschaften will ich mal gar nicht erst anfangen …
Vera war schon was Genaues. Wenn es vielleicht auch nicht die große Liebe war, sonst hat bei ihr eigentlich alles gestimmt. Die war wie eine gute Fee im Alltag und konnte auch sonst allen Quatsch mitmachen. Die konnte ernst sein und blödeln. Manchmal war sie wie ein Kind und dann wieder die Leidenschaft selber.
Ich muss hier mal aufhören. Ich komme sonst wieder ins Schwärmen. Und das ist eben ganz das Falsche, sagt Mayer. Er sagt, solange ich schwärme, solange bin ich noch nicht reif für was Neues; solange mach ich mich zu. Mayer steht mit mir in der Küche auf Posten. Wir trinken manchmal ein Bier zusammen. Freund ist zuviel gesagt. Man kennt sich halt so und weiß einiges voneinander.
Vera hat was Neues gefunden. Da war ich plötzlich übrig. Das war schon ein beschissenes Gefühl. Am schlimmsten war die ewige Frage, was ihr wohl bei mir gefehlt hat. Vielleicht wünscht man sich auch was, das es gar nicht gibt. Mitunter bin ich richtig philosophisch, sagt Mayer.
Ihm zuliebe lese ich sogar. Er sagt, ich soll auch mal was für meine Bildung machen. Nein, das hat er nicht irgendwie arrogant gemeint. Er denkt, dass Frauen auch mal über was Ernstes reden wollen, das nichts mit Autos oder Bauerei oder Fußball zu tun hat. Dabei weiß er, dass ich nicht einmal davon wirklich Ahnung hab. Aber übers Kochen wollen sie sich nach einer heißen Nacht wohl auch nicht gerade unterhalten. Mayer hat mir was von Nietzsche mitgegeben. Den Namen hatte ich immerhin schon mal gehört. Also sprach Zarathustra. Na, ob das was für gehobene Gespräche ist? Ich lese jeden Satz so an die drei bis fünf Mal. Und auch dann verstehe ich vielleicht mal gerade die Hälfte, optimistisch gesprochen. Wie der Mayer auf so was kommt? Immerhin hält er es für möglich, dass ich davon auch nur einen Satz kapiere. Manches ist ganz lustig. Ich sage euch: Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Wie sich jemand so was ausdenken kann? Wozu soll das gut sein? Einen Stern gebären, und dazu einen tanzenden. Der muss doch einen sexuellen Frust gehabt haben, gegen den meiner direkt erholsam ist. Der kann nur ständig mit angehobener Schädeldecke rumgerannt sein. Mitunter muss ich über den Text laut lachen, obwohl ich kaum ein Wort verstehe. Des Mannes ist hier wenig, darum vermännlichen sich ihre Weiber. Denn nur wer Manns genug ist, wird im Weibe das Weib - erlösen. Beim Gedanken, dass mich einer lachen hört und nach dem Grund meiner Heiterkeit fragt, muss ich erst recht lachen. (Mayer, du wärst wohl entsetzt, wenn du wüsstest, wie viel Spaß ich mit deinem Nietzsche habe.) Aber der ist auch teuer genug erkauft. Manchmal verschwimmt mir alles im Kopf zu einer zähen Soße.
Mayer hat mir auch den Tipp gegeben, im Urlaub an die Ostsee zu fahren, nach Wieck. Ich hatte den Namen noch nie gehört. Als ich hier ankam, wusste ich auch, warum. Das ist vielleicht ein Nest. Die haben noch nicht mal ordentliche Straßen. Die kippen einfach allen Schutt vors Haus und planieren ihn in den Sand. Man denkt, man ist irgendwo ganz hinten in Russland. Was bedeuten diese Häuser? Wahrlich, keine große Seele stellte sie hin, sich zum Gleichnis! Die Dächer sind mit Schilf gedeckt, das mitunter mit einer dicken Moosschicht bewachsen ist. Sieht ja ganz romantisch aus. Aber wohnen möchte man da nicht, jedenfalls nicht für immer.
Wenn man zum Strand will, muss man entweder vier Kilometer nach Prerow zum Stinostrand, wo sie an den heiteren Wochenenden schon mal in vier Reihen liegen. Oder man fährt acht Kilometer zum Weststrand, allerdings mit Fahrrad, denn dahin kommt man nur so, oder man geht zu Fuß, was bei den Mücken eine unsägliche Quälerei sein muss. Darum trifft man auch nicht zu viele Leute da. Die Fahrt ist schon eine mächtige Schinderei, für mich jedenfalls. Da kann mich auch kaum der Wald trösten, der die märchenhafteste Kulisse gibt, wie Mayer behauptet. Der hat so ein Faible für Naturzeug.
Die Unterkunft, die er mir besorgt hat, ist ganz passabel. Die Vermieterin ist nett, leider zu alt. Ich bin nicht sicher, ob sich in dem Nest noch leicht eine andere Gelegenheit bietet. Wenigstens kann sie mir sagen, wo was los ist. Gestern schickte sie mich mit glänzenden Augen zum Tonnenabschlagen. Na, wenn das hier oben schon die Spitze des Vergnügens ist, dann hätte ich auch fünf Wochen in ein Kloster ziehen können. Am drolligsten waren noch die Pferde. Da reiten sie im Schweinsgalopp unter einem Fass durch, auf das sie so lange mit Baseballschlägern und Keulen eindreschen, bis der letzte Span durch die Luft fliegt. Der, der der Tonne den Rest gibt, ist Sieger. Zwischen den Durchgängen wird natürlich mächtig gesoffen, so dass die Reiter hintenraus immer größere Probleme haben, die Tonne überhaupt zu treffen.
Zwei ganz hübsche Mädchen waren auch dabei, aber die hatten alle Hände voll mit ihren zappligen und nervösen Pferden zu tun. Da war kein Rankommen. Ich habe noch eine beinahe kalte Wurst gegessen und bin heim. Frau Dönklass hat mich natürlich gefragt, wie es war, und natürlich hab ich gelogen, um ihr eine Freude zu machen. Und log ich je, so log ich aus Liebe.
Der Spruch schiebt mir die kümmerliche Heldentat ins Gedächtnis, die mir den glücklichsten Augenblick meiner Kindheit beschert: Ihren Kuss. Sie hatte weiß der Teufel was ausgefressen, und ich hatte die Sache auf mich genommen. Der Donner des Direktors perlte an mir ab, denn hinter Göbel stand sie, und ich sah in ihrem schreckbleichen Gesicht ein schüchternes, dankbares Lächeln …
Die Dönklass hat ein Abendbrot gezaubert, das mich die Öde ringsum vergessen ließ. Ich hab eine Flasche Wein spendiert. Die hat Augen. Vor zehn Jahren war sie sicher noch unheimlich phantasieanregend. Sie gehört zu den Frauen, die uns noch im hohen Alter ihre einstige Attraktivität ahnen lassen. Die halten uns unsere Vergänglichkeit - ich meine das Schwinden der Jugend - am schmerzlichsten vor Augen. Ich werde dann immer irgendwie wehmütig darüber, nicht früher gelebt zu haben, oder, dass sie nicht ein bisschen später geboren sind. Sie versteht es ganz wunderbar, stilvoll zu flirten. Naja, wenn man so gar keine Alternative hätte, dann … (Mayer, warum hast du mich nur hierhergeschickt?!)
Mit Ines, was Frau Dönklass ist, kann man herrlich klönen. Die redet nicht bloß deutsch, die weiß, worauf es ankommt, da muss man nicht lange labern. „Na, mein Lieber“, sagt sie mit so einem rosigen Lächeln, „du bist doch sicher auf Brautschau oder nur mal so zum Kirschenpflücken, wie man heute sagt.“
Ich nicke ein Weilchen.
„Da musst du aber raus“, drängt sie, als wäre sie Mayers Schwester.
„Ich weiß. Aber hier scheint es ja außer Meer und Romantik nichts zu geben, wo man …“
„Mein lieber Holger, jetzt übertreibst du aber deinen Frust.“
Holger ist schon ein Scheißname, aber hier oben kann er einem echt zur Folter werden. Holgeeer, das klingt fast so schlimm wie Labskaus.
Ines begreift meine Not und schickt mich nach Prerow zum Tanz. Sie bügelt mir sogar das Hemd, obwohl das völlig unnötig ist. (Mayer, langsam verstehe ich, warum es dich jedes Jahr in dieses Nest zieht.)
Ich fahre mit dem Rad, um ein bisschen für die Strandtouren zu trainieren. Das Tanzlokal ist leicht zu finden. Man muss hier oben nur schauen, wo viele Autos stehen, dann ist man dem Leben oder der Unterhaltung mit Sicherheit nahe, wenn die Trefferquote auch nicht ganz hundertprozentig ist. Manchmal gerät man nur in einen Gottesdienst oder so eine Art Konzert, wo die Ohren die Augen um ihre Klappen beneiden.
Als ich die Lustscheune betrete, überwältigt mich der Lärm einer Maschinenhalle. Wer hier nicht nach zehn Minuten wahnsinnig geworden ist, kann nur taub sein. Ich dränge mich zum Tresen, der in so einer Art Lärmschatten steht, und bestelle ein Bier. Ich bin überrascht, dass mich der Kerl hinter der Theke versteht. Er schmunzelt weise. ‘Wir setzen unsern Stuhl in die Mitte’, das sagt mir ihr Schmunzeln, ‘und ebenso weit weg von sterbenden Fechtern wie von vergnügten Säuen.’ Dies aber ist - Mittelmäßigkeit, ob es schon Mäßigkeit heißt. Woher kommt auf einmal dieses Zeug? - Als ich mich unsicher umschaue, sehe ich, dass das Publikum ziemlich jung ist. Hat die Dönklass mich etwa zum Schippelrennen geschickt? Die jungen Kerlchen gehen ihren Bräuten ja ganz schön frech an und unter die Wäsche. Zwei lange Lulatsche schlendern schlaksig an mir vorbei. Nachdem mich der eine gemustert hat, sagt er mit verzogenem Mund zum andern: „Jetzt kommen die sogar schon zum Sterben her.“ Und verloren sei uns der Tag, wo nicht einmal getanzt wurde! Und falsch heiße uns jede Wahrheit, bei der es nicht ein Gelächter gab! Manchmal könnte man schon am eigenen Gedächtnis verzweifeln!
Die Jüngelchen stehen noch immer grinsend vor mir. Mir schießt das Blut in den Kopf. Aber noch bevor ich aufstehen kann, flüstert mir der Barkeeper schreiend zu, ob ich nicht vielleicht doch die Tanzlokale verwechselt habe. Für mein Niveau gäbe es noch eines ganz in der Nähe. Er lässt sich nicht mal das Bier bezahlen. Komische Leute sind das hier. Ich kenne das Glück von Nehmenden nicht; und oft träumte mir davon, dass Stehlen noch seliger sein müsse als Nehmen. Wieso gehen mir ständig die komischen Sprüche durch den Kopf? Erst gehen sie einem ewig nicht rein, und dann kriegt man sie nicht wieder raus.
Mayer meint, dass ich ein ungewöhnliches Gedächtnis habe. Dabei ist bei unserem Job ein gutes Gedächtnis die halbe Miete, nicht nur der Rezepte wegen, noch wichtiger sind die zeitlichen Abfolgen der Arbeiten, erst recht beim À-la-carte-Geschäft, da geht richtig die Post ab. Und wenn man da ständig was vergisst, steuert man beizeiten in eine nervliche Katastrophe. Mayer wünscht sich manchmal mein Gedächtnis. Mitunter kann es einem aber auch zur Folter werden.
Vor der Tür komme ich langsam wieder zu mir. Im Grunde bin ich schon wieder fertig mit allem Getanze und Kennenlernen. Ich schiebe das Rad in die mir vom spendablen Bierzapfer gewiesene Richtung. Das Tanzlokal ist wirklich nicht weit entfernt. Die Lautstärke ist angenehmer. Dafür sind auch weit weniger Leute hier. Und die Frauen sind ein ganzes Ende älter als die von vorhin. Die einen sind von gestern, die anderen von morgen. Irgendwie fehlt die Generation dazwischen.
Ich setze mich an einen leeren Tisch und besehe mir das Angebot. Mein Frust gegen Mayer wächst. Eulenschießen hätten wir früher gesagt, als es uns noch nicht unschicklich schien, die Wahrheit zu sagen. Die Kellnerin ist noch das Beste. Auf dem Parkett quälen sich ein paar nervöse Pärchen, die anstandshalber wohl wenigstens die eine Runde zu Ende bringen wollen, ehe es ins Nest geht. So, wie sie wackeln und die Gesichter glühen, haben sie alle Skrupel und allen Ekel, alle Hemmungen und Verklemmungen erfolgreich narkotisiert. Dem Gesindel ist Wollust das langsame Feuer, auf dem es verbrannt wird; allem wurmichten Holz, allen stinkenden Lumpen der bereite Brunst- und Brodel-Ofen.
Mir fällt sofort wieder ein, warum ich dieses Kennenlernen für völlig arschlos halte. Hier kann man doch höchstens einen Pinguin zur Linderung der allergrößten Not abschleppen. Wenigstens ist die Musik dezent und ganz geschmackvoll ausgewählt, jedenfalls, was meinen Geschmack betrifft. Kein guter, kein schlechter, aber mein Geschmack, dessen ich weder Scham noch Hehl mehr habe. Ja, wenn ich nur schon so weit wäre.
Ich bestelle bei der jungen Kellnerin ein Bier und genieße den Charme ihrer Bewegungen. Leider ist ihr Lächeln nur kommerziell. Die leicht abstehenden Ohren geben ihr etwas ganz Liebes wie Freches. Der dunkelblonde Zopf reicht fast bis zum Steiß. Sie hat sehr runde Formen, von den Waden bis unter die Bluse. Für freie Herzen ist Wollust unschuldig und frei, das Garten-Glück der Erde, aller Zukunft Dankes-Überschwang an das Jetzt. (Mayer, kannst du mir mal verraten, bei welcher Frau ich solche Sprüche loswerden kann, ohne einen Vogel oder Schlimmeres gezeigt zu kriegen?)
… unschuldig und frei, das Garten-Glück der Erde … Es war ein ganz schüchterner Kuss gewesen, damals mit Evelyn im grünen Nest. Ich kann es noch riechen, das grüne Nest; ein bisschen nach Heu und ein bisschen nach Fäulnis und ein bisschen nach den schweren Düften blühender Sträucher. Bis heute hat sich nie wieder etwas so wunderbar und vollkommen angefühlt wie dieser Kuss. Erwartungsvoll stand sie vor mir. Und da nichts geschah, weil ich vor Glück ganz gelähmt war, legte sie ihre Hände auf meine Wangen. Langsam zieht sie mich zu sich heran … Wahrscheinlich bezahlte sie wirklich nur eine Schuld …
Als sich das Parkett lichtet, entdecke ich - bisher von den schleimigen Lustmolchen verdeckt - am anderen Ende des Raumes eine junge - auf die Entfernung betrachtet - wahnsinnig attraktive Frau. Ich bewundere das schulterlange, kastanienbraune, leicht gewellte Haar mit dem Pony über der hohen Stirn; die großen, wenig nach oben geschnittenen, dunklen Augen in einem sehr harmonischen Gesicht; den schlanken Hals und die leicht hängenden Schultern. Mir fällt sofort die Trauer oder Schwermut auf, die sie noch anziehender machen. Ich lasse sie nicht mehr aus den Augen. Auch noch, als die Kellnerin das Bier bringt, stiere ich gebannt in die Ecke.
„Die können Sie mal gleich wieder vergessen. Die steht unter meinem besonderen Schutz“, sagt sie mit starkem Dialekt. Sie ist die erste, die ich hier oben treffe, bei der die Mundart richtig wohltuend klingt.
„Kommt sie denn öfter?“
„Seit sie hier ist, sitzt sie jeden Abend hier.“
„Ist sie schon vergeben?“
„Vergessen Sie es.“
Ich nicke und bin ungehorsam. Aus der Deckung meines Bierglases beobachte ich sie weiter. Der Tanz geht in die nächste Runde. Ein junger Kerl stelzt zielsicher an den von mir fixierten Tisch. Ich fühle eine vollkommen unangemessene Erregung.
Der junge Mann redet lächelnd ein paar Worte, die unschwer zu erraten sind. Meine Schöne lächelt einen Augenblick. Der arme Kerl verlässt daraufhin mit gefrorenem Lächeln geschlagen den Tisch. Obwohl ich weiß, wie sich der Verschmähte fühlt, frohlockt mein Herz. Das Schauspiel wiederholt sich noch oft an diesem Abend. Nach dem dritten Bier und einem schüchternen Blickkontakt wage auch ich den Gang nach Canossa.
Diesmal werde ich von ihrem kurzen wie bitteren Lächeln durchbohrt. Kein Wort, nur ein leises Kopfschütteln weist mich ab.
„Warum?“ Ich erschrecke selber über die vollkommen blödsinnige Frage. Ich weiß natürlich, dass ich es jetzt bin, der von vielen, wenn nicht allen Männern des Lokals angeglotzt wird.
„Ich mag nicht tanzen.“
„Aber warum kommen Sie dann hier her? - Macht es Ihnen Spaß, mit Körben um sich zu werfen und die armen Kerle zu kränken, die versuchen, Ihr hübsches Gesicht ein bisschen aufzuheitern?“
„Nun übertreiben Sie aber“, fährt mir die Kellnerin von hinten in die Parade. „Bei uns muss nicht getanzt werden.“
„Geschenkt!“, erwidere ich grob. „Was habe ich zu zahlen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, werfe ich den Schein auf den Tisch. So lässig wie möglich schlendere ich zur Tür. Mein Herz rast. Du Trottel! Du darfst dich doch nicht ohne alle Resonanz verlieben wie ein Zwölfjähriger. Wo man nicht mehr lieben kann, da soll man - vorübergehn!
Ich springe aufs Rad und fahre los. Aber auch in Wieck hat sich mein Herz noch nicht beruhigt. Immer wieder schickt es mich zurück. Ich mag der Dönklass jetzt nicht in die Arme laufen. Am Ende mache ich eine noch größere Dummheit. So alt ist sie nun auch wieder nicht.
Ich fahre - an meiner Pension vorbei - Richtung Weststrand. Es ist jetzt angenehm kühl. Als der Mond aufgeht, wähne ich, dass er eine Sonne gebären will, so breit und trächtig liegt er am Horizont. Der dunkle Buchenwald vorm Großen Stern treibt meine Phantasie auf Hochtouren.
Warum hat das Wegelagererhandwerk heute nur so wenige Meister? Die Zeiten waren doch nie günstiger. Die Leute haben beinahe immer Geld in der Tasche und sind leichtsinnig wie nie. Vier mutige Kerle genügen. Ein helles, blendendes Licht - ‘Geld oder Leben!’ - ein paar kräftige und nachdrückliche Rippenstöße - ‘Weiterfahren und nicht umdrehen!’ - fertig. Da lässt sich doch in kurzer Zeit ein Vermögen verdienen, und fast ohne Risiko. Hier fahren die Leute lieber dreihundert Kilometer auf Arbeit, als sich an ein so altes Gewerbe zu erinnern. Tugend ist ihnen das, was bescheiden und zahm macht. Damit machten sie den Wolf zum Hund und den Menschen selber zu des Menschen bestem Haustier. Diese Dinge aus der Position des eventuellen Opfers zu denken, ist nicht besonders angenehm. Vielleicht treffe ich ja auf den ersten der neuen Zunft in dieser Gegend, oder aber es hat sich nur noch nicht herumgesprochen, dass all die Wälder hier weit und breit nur so von Räubern wimmeln. »Du sollst nicht rauben! Du sollst nicht totschlagen!« - Solche Worte hieß man einst heilig. Vor ihnen beugte man Knie und Köpfe und zog die Schuhe aus. Aber ich frage euch: Wo gab es je bessere Räuber und Totschläger in der Welt, als es solche heilige Worte waren? Ist in allem Leben nicht - Rauben und Totschlagen? Und, dass solche Worte heilig hießen, wurde damit die Wahrheit selber nicht - totgeschlagen? Das ist doch schon Anstiftung zum Mord. (Mayer, wieso sind solche Bücher nicht verboten?)
Der Anfang vom Müllerweg erinnert am Tage an einen bilderbuchreifen Märchenwald, die halbhohen, bis auf den Rasen beästeten Fichten und die in allen Grüntönen ineinanderschwimmenden Moosmatten auf dem leichthügeligen Boden. (Mayer, du hättest deine helle Freude an meinen poetischen Ergüssen.) Auch jetzt - gegen Mitternacht - hat der Wald etwas ganz und gar Märchenhaftes. Am meisten ähnelt er noch einem Räuberwald. Alle Augenblicke schaue ich nach oben, um nicht etwa von einem Genicksprung überrascht zu werden.
Der Gang über die Dünen beruhigt meine kindliche Phantasie. Das Meer ist einigermaßen zahm. Der Wind bläst beinahe schüchtern. Tief atme ich das Klima der Einsamkeit. Im frustrierten Gesicht des Mondes finde ich mein Ebenbild. Ich schließe die Augen und lasse die Gedanken treiben. Es schläft jetzt alles noch, - auch das Meer schläft. Schlaftrunken und fremd blickt sein Auge nach mir. Aber es atmet warm, das fühle ich. Und ich fühle auch, dass es träumt. Es windet sich träumend auf harten Kissen. Horch! Horch! Wie es stöhnt von bösen Erinnerungen! Oder bösen Erwartungen? Ach, ich bin traurig mit dir, du dunkles Ungeheuer, und mir selber noch gram um deinetwillen.
Was ist es, das mich diese Worte erinnern lässt? Ich denke an das Lächeln der Unnahbaren, an ihren Korb. Das Gefühl von damals legt sich um mich wie ein schwerer Mantel. Es ist so frisch wie eh. Ich habe beinahe immer auf der langen Bank gesessen, auf diesen langen Bänken, wie sie jeder aus Turnhallen kennt. Immer haben die anderen getanzt. Und als ich glaubte, die Liebe gefunden zu haben, da hat auch sie mit dem anderen getanzt, den ganzen langen Abend, obwohl wir uns doch schon geküsst hatten. Jeden Tanz holte er sie, und sie erwartete ihn lächelnd, und ich sitze und leide und kann nicht sterben. Aber nicht das und nicht, dass sie sich draußen geknutscht haben, Zunge in Zunge, was ich mich nicht getraut habe, und auch nicht das Gegacker ihrer Freundinnen am nächsten Morgen hat mich umgehauen, sondern ihr kränkend mitleidiger, endlos distanzierter Seitenblick, der in seiner Kälte nicht zu beschreiben ist. Sie tuschelte im Kreis all der gackernden dummen Gänse. Und ich stehe wie angewurzelt mit flatterndem Bauch und warte auf ein Wunder, hoffe, dass das Kichern einem anderen gilt. Sie wendet den Kopf und sieht mich an mit diesem Seitenblick, der in seiner Kälte nicht zu beschreiben ist. Hätte ich damals nur dem Mumm gehabt, einfach wegzugehen …
Plötzlich quillt in mir das sichere Gefühl, nicht allein zu sein. Ich öffne die Augen und suche den Strand ab. Hundert Meter weiter, dort, wo die kleinen Kräuselwellen den Strand streicheln, sehe ich eine gegen die See gebeugte Gestalt. Als wenn sie meinen Blick hätte spüren können, dreht sie sich um und läuft, kaum dass sie mich sieht, auf kürzestem Weg über die Dünen in den Wald. Am Strand bleibt etwas Helles zurück, das einer nackten menschlichen Gestalt am ähnlichsten ist. Ich laufe dem Flüchtenden nach. Es gelingt mir, ihm den Weg abzuschneiden. Aber der Mann springt in ein helles Auto, das leider nicht die geringsten Probleme mit dem Anlasser hat. Die Räder drehen durch und hüllen mich in eine Sandwolke. Ich höre Holz splittern. Dann sind nur noch kurz die Rücklichter zu sehen.
Mein Herz beruhigt sich. Was hätte ich eigentlich mit dem Kerl anfangen wollen, wenn es mir gelungen wäre, ihn zu erwischen? Wenn er Dreck am Stecken hat, wäre er mir kaum freiwillig irgendwohin gefolgt. Wenigstens fesseln und anbinden hätte ich ihn müssen. Ich bin zwar nicht gerade ein Schwächling, aber mir fehlen alle Erfahrungen im Zweikampf. Ich hätte ihn noch nicht einmal gefesselt mit dem Auto transportieren können, weil ich nicht Auto fahren kann. Mayer hätte frohlockt. Der geht mir ständig auf die Nerven, dass jeder normale Mensch Auto fahren können muss, wenigstens für den Notfall. So ein Quatsch!
Zögerlich gehe ich an den Strand zurück. Der helle Körper liegt noch immer am Wasser. Je näher ich komme, desto mehr und deutlicher bestätigt sich meine Ahnung. Es ist wirklich ein nackter Körper. Das Herz schlägt mir bis in die Zunge. Im Mondlicht sehe ich die blasse Haut eines blutleeren Frauenleibes. Die steifen Brüste werfen lange Schatten. Der Kopf ist ungewöhnlich nach hinten verdreht. Das dunkle Haar treibt wie ein toter Tintenfisch im flachen Wasser. Unbeweglich - wie gebannt - stehe ich vor dem grausigen Fund. Ich fühle ein Zittern in den Knien, das sich nicht beherrschen lässt.
Meine Blicke irren ängstlich in alle Richtungen. Käme jetzt ein Fremder, würde es mir verdammt schwer fallen, die Situation zu erklären. Was hab ich um diese Zeit hier zu suchen? Meine Lage erscheint mir immer bedrohlicher. Vielleicht ging es dem Mann von vorhin nicht anders als mir jetzt. Alle Gedanken drängen mich fort. Trotzdem bleibe ich stehen. Mit einer zwiespältigen Faszination betrachte ich den Leichnam.
Es ist meine erste direkte Begegnung mit dem Tod überhaupt. Der Körper ist schön. Mein Blick streift das dunkle Dreieck zwischen den Beinen. Das mondgebleichte Weiß der jungen und straffen Haut wirkt marmorn. Ich beuge mich herab und sehe, dass der Kopf fast vollständig vom Rumpf getrennt und nur noch durch einen breiten Hautlappen mit dem Hals verbunden ist. Die furchtbaren Wunden klaffen dunkel und erbarmungslos. Die Berührung der Leiche ist bei aller Überwindung der Skrupel dennoch eine kaum zu bewältigende Prozedur. Ich drehe das Gesicht aus dem Wasser. Der Kopf ist schwer und kalt. Ich habe Angst vor der Betrachtung des Gesichtes. Bisher ist die Leiche anonym und nicht sonderlich gut von der Erinnerung festzuhalten. Mit dem Gesicht wird sie womöglich für längere Zeit zum beliebtesten Gegenstand meiner Albträume. Ich drehe das Gesicht ins Mondlicht und lasse den Kopf augenblicklich wieder zurückfallen.
Es ist die Frau aus dem Tanzlokal!
Ich werde Opfer einer verheerenden Panik. Mit langen Schritten - im weichen Sand immer wieder wegrutschend und lang hinschlagend - laufe ich über die Dünen zum Nottelefon. Es funktioniert nicht. Meine Arme zittern, dass ich den Fahrradlenker kaum halten kann. Die Knie sind butterweich.
Ich muss umnachtet gewesen sein, diesem Kerl einfach nachzulaufen. Die Sache hätte wesentlich schlimmer ausgehen können. Normalerweise hätte er mich doch als Zeugen gleich aus dem Weg räumen müssen. Wie ein Wahnsinniger trete ich in die Pedale. Vielleicht überlegt er sich die Sache ja noch und begreift den schweren Fehler, mich am Leben gelassen zu haben. So, wie die Frau ausgesehen hat, gehört er nicht gerade zu den Zimperlichen. Ich kann mich nicht erinnern, je solche Angst gehabt zu haben. Meine Gedanken gehen diffus hin und her. Mehrmals nehme ich den Dynamo vom Rad, um nicht schon Kilometer weit gesehen zu werden. Ebenso oft steige ich aber wieder ab, um mir Licht zu machen und wenigstens eine geringe Chance zu haben, in der Dunkelheit überhaupt etwas zu erkennen. Die Phantasie treibt meinen Puls auf eine atemberaubende, besorgniserregende Frequenz. Meine Knie schlottern geradezu. Der Schweiß läuft mir kalt über den Rücken. Immer wieder wechseln die Vernunftgründe. Mal scheint es mir klüger, ohne Rad fern der Wege durch den Wald zu schleichen, aber zuletzt siegt doch immer das Argument der Beweglichkeit. Schnelligkeit ist mir wichtiger als Sicherheit. Ja, wenn ich schnell genug fahre, gerate ich in eine Art Rausch, der noch am besten mit den aberwitzigen Gedanken fertig wird. Zuletzt falle ich sogar ungewollt, vielleicht um das Herz zu entlasten, in einen lethargischen Zustand, der mich für alle visuellen und akustischen Reize beinahe unempfänglich macht. Die Aussicht, einem Verbrechen zum Opfer zu fallen, tritt weit hinter die reale Möglichkeit zurück, an Überanstrengung oder Stress zu sterben. Nach den längsten zwanzig Minuten meines Lebens komme ich vollkommen ausgepumpt in meiner Herberge an. Ich poltere durchs Haus wie ein Gehetzter. Als die Telefonverbindung steht, kommt Frau Dönklass dazu.
„Ich möchte einen Mord anzeigen.“ Im Augenwinkel sehe ich das erschreckte Gesicht meiner Wirtin. Nachdem die Angaben gemacht sind, lege ich den Hörer auf. „Gehen Sie nur wieder schlafen“, versuche ich meine verstörte Wirtin zu beruhigen. Natürlich sinnlos. In einem Nest wie diesem kommen Morde wohl nicht gerade häufig vor, und noch weniger solche, von denen man aus erster Hand erfährt. Am längsten hätte ich über meine Angst reden können. Aber wer redet schon gern über seine Schwächen? Über den Mord selber kann ich kaum drei Minuten reden. Das ist der lieben Ines egal. Was meiner Geschichte an Länge fehlt, muss ich durch Wiederholungen wettmachen. Sie wird nicht müde. Sie kocht einen Kaffee, dessen Stärke mein Herz zu schmerzhaften Freudensprüngen verleitet. Selbst, als ich unter der Dusche versuche, mich vom zähen, kalten Angstschweiß zu befreien, steht sie mit dem Handtuch vor der Tür und stellt immer wieder die gleichen Fragen. Am interessantesten ist ihr der Umstand, dass ich das Opfer kurz vorher im Tanzlokal gesehen habe.
Das Eintreffen der Kripo ist eine Erlösung. Nur mit Hilfe Kommissar Kullbachs gelingt es mir, die unternehmungslustige Frau abzuwimmeln. Ich bin etwas verwundert über die Erscheinung des Kommissars. Man stellt sie sich doch immer ein bisschen anders vor, irgendwie imposanter und energischer. Kullbach macht einen sehr unausgeschlafenen und müden Eindruck. Mit Worten ist er sparsam. Die Verkahlung ist schon weit über die Mitte des knochigen Schädels vorgedrungen, obwohl er nicht viel älter als ich sein kann. Das Spitze des Gesichts findet im Körper eine gesteigerte Fortsetzung. Allein die Geiernase wirkt Respekt einflößend. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand bei den Worten ‘Dafür hab ich einen Riecher’ in seiner Gegenwart ernst bleibt. Überhaupt kann er es nicht allzu leicht haben, ernstgenommen zu werden.
Schweigend fahren wir über die sandigen Reitwege, die allein Pferden und behördlichen Fahrzeugen vorbehalten sind. Ich genieße die Befriedigung, wichtig zu