Harald Pottmeier - Jost Bonner - E-Book

Harald Pottmeier E-Book

Jost Bonner

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Beschreibung

Auf dem Weg zur Biologieprüfung begegnet Pottmeier einem alten Herrn, der sich als Mitglied einer Geheimorganisation zu erkennen gibt, die sich um die Entwicklung der menschlichen Spezies sorgt. Pottmeier wird als Proband für ein Experiment geworben, in dem der Beweis erbracht werden soll, dass der Mensch sehr wohl ohne die Früchte der Zivilisation glücklich zu leben vermag. Da der Alte vorgibt, alles in einer virtuellen Welt spielen zu lassen, und das Anliegen dem Weltverdruss des Helden entgegenkommt, sagt Pottmeier zu. Unversehens findet er sich in einer rauen Wildnis, die der Wirklichkeit erschreckend ähnelt. In der steinzeitlichen Welt kämpft Pottmeier ums nackte Überleben. Am eigenen Leib spürt er, wie erbärmlich er für diesen Kampf gerüstet ist. Immer wieder kreuzt ein Mädchen seinen Weg, das bald Dreh- und Angelpunkt aller Gedanken wird. Als auch der Tod in seine Welt einbricht, kommen ihm Zweifel an ihrem virtuellen Charakter. Am Ende ist Pottmeier grausam zwischen zwei Welten hin- und hergerissen ...

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Seitenzahl: 439

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Für Joh

Dieser Bericht erhebt erst gar keinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Nachwort

1

Es ist ganz und gar sinnlos! - Da bin ich restlos sicher. Kein Mensch wird glauben, was wirklich passiert ist, am allerwenigsten diejenigen, die mich drängen, diese Geschichte aufzuschreiben. Und gerade die, die denken, mich am besten zu kennen, werden behaupten, ich hätte alles aus einem verstaubten Wälzer abgeschrieben, der mir unverhofft auf einem wurmstichigen Dachboden in die Hände gefallen ist. Vielleicht gibt es wenigstens unter denen, für die ich ein vollkommen Unbekannter bin, ein paar, die diesen oder jenen Abschnitt der geschilderten Erlebnisse für möglich halten. Die vor allem habe ich im Auge, wenn ich mich quäle, das Sagenhafte zu Papier zu bringen.

Ich bin sechzehn und heiße Pottmeier, Harald Pottmeier. Mir muss keiner erklären, woran ihn der Name erinnert. Er ist gewissermaßen das Aushängeschild meiner Unverträglichkeit mit der Welt. Jeder, der ihn hört, hält es für erwiesen, dass der Name die Idee einer ehrgeizigen Mutter oder eines an Profanliteratur oder Zauberei interessierten Vaters ist. Es stinkt mich an, immer wieder erklären zu müssen, dass ich bereits zehn Jahre auf dem Buckel hatte, ehe das - wenigstens für mich - sehr ärgerliche Epos in die Buchläden kam. Mag sein, dass ich nicht ganz unvoreingenommen bin, aber ich finde es nicht einmal sonderlich gut. Mir sind die Typen zu sehr nach Schubladen geordnet, und dann habe ich auch meine Probleme mit dem Bösen, wenn es so geballt und vordergründig daherkommt, und mir an keiner Stelle erklärt wird, warum es - gegen jede Vernunft - so böse sein muss. Aber das spielt ansonsten natürlich gar keine Rolle. War mein Name auch vor dem nie ein Quell der Freude gewesen, seit der Geburt meines Namensvetters ist er ein einziges Ärgernis, zumal ich so gar nichts mit ihm gemein habe.

Von Statur bin ich eher seinem gleichaltrigen Cousin ähnlich. Im Schwimmbad vermag ich nur mit aller Anstrengung und auch das nur für kurze Zeit, den Speckansatz am Bauch unter Kontrolle zu halten. Ich habe keine Ahnung, wie es meine Mutter anstellt, immer genau die Badehosen anzuschleppen, die alle unvorteilhaften Wölbungen meiner Figur - wenn man überhaupt von Figur reden kann - auf deprimierende Weise zur Schau stellen. Zum Glück gehe ich nicht oft baden und zum noch größeren Glück außerordentlich selten mit Leuten, die mich kennen. Manchmal läuft einem dann aber doch unvermutet ein bekanntes Gesicht über den Weg. Besonders schmerzlich war eine Begegnung erst kürzlich mit Grit.

Sie heißt natürlich nicht Grit. Sie hat einen sehr schönen, klangvollen, kein bisschen exaltierten Namen. Aber den kann ich aus Rücksicht gegen sie nicht nennen. Also die, die ich Grit nenne, geht in die Parallelklasse, in die 10a also. Sie ist die Ernsthafteste von allen, weder intrigant noch darauf versessen, sich vor den Kerlen in Szene zu setzen, obwohl sie alles hat, um zu wirken. Vielleicht hat sie es ja genau deswegen nicht nötig, wie Uta, Conni, Karola und all die anderen zu gackern oder sich mit dem Handy oder ähnlichem Blödsinn wichtig zu tun oder in den Vordergrund zu spielen. Sie ist ganz anders. Ich finde sie sogar atemberaubend anders. Leider bin ich nicht der einzige, der das so sieht. Steffen und Gerold, zwei witzige und noch dazu gut aussehende Typen haben sie schon für den Abschlussball geworben. Irgendjemand hatte die großartige Idee, nur Pärchen für den Ball zuzulassen, damit es nicht wieder so öde wie letztens zugeht und keiner tanzt. Die Mädchen hatten für sich gesessen und die Kerle in einer anderen Ecke. Na, wie es eben so ist. Steffen und Gerold gehen immer mit Volldampf drauf zu. Grit will sich noch entscheiden. Ich habe wenigstens die Genugtuung, dass sie nur einer der beiden kriegen kann. Aber der Verlierer wird sich schon bald mit einer anderen Braut trösten. Gegen die beiden habe ich nicht die geringste Chance. Was soll ich mich also erst zum Affen machen. Offengestanden hätte ich auch gar nicht den Mut. Nicht, dass ich Angst vor einem Korb oder ihrem Spott habe, mit dem sie vermutlich meinen Antrag quittieren würde. Es ist mir ganz einfach peinlich, sie in eine so peinliche Situation zu bringen.

Ich kann nicht sagen, wann ich angefangen habe, mich für sie zu interessieren. Es scheint ewige Zeiten her zu sein. Echt, kein Abend vergeht, an dem ich nicht vorm Einschlafen an sie denke. Das klingt schwülstig, ich weiß. Es ist auch nicht so, dass ich nur denke. Aber mit der Zeit ist es eine ziemliche Viecherei. Manchmal habe ich schon ein paar Sätze mit ihr gewechselt. Ich bin nicht direkt blöd, aber wenn sie mich anspricht, dann hängen bei mir alle wichtigen Relais. Ich glotze sie an wie ein Wunder, und ehe ich begriffen habe, dass sie sich wirklich mit mir unterhält, ist das Gespräch meist schon vorbei. Danach übe ich stundenlang geistvolle Dialoge, die ich mit ihr hätte führen können, wenn ich nicht so gelähmt gewesen wäre.

Auch bei den andern bin ich nicht sonderlich beliebt. Nicht, dass ich was auszustehen hätte. Sie machen mich nicht dumm an oder so. Sie lassen mich in Ruhe. Aber genau das ist so ein Problem. Jeder gehört irgendwohin. Zu mancher Gruppe gehören nicht mehr als zwei. Aber zwei sind mehr als einer allein. Ich bin beinahe immer allein. Mir ist der Preis, so einer Gruppe anzugehören, einfach zu hoch, jedenfalls auf Dauer. Ich kann mich nicht ständig derart verstellen, dass ich den Scheiß mitlaber, mit dem sie sich von früh bis abends heiß machen. Musik. Klamotten. Weiber. Autos. Fußball oder Tennis. Weiber. Handys. Weiber. Rauchen oder Kiffen. Weiber.

Ich habe auch ein Handy, obwohl ich es nicht wirklich brauche. Als ich das erste Mal von meiner Mutter angerufen wurde, haben sie mich angeglotzt wie einen Mönch aus einem vergangenen Jahrhundert. Ich hatte vorher nie mit dem Ding rumgespielt, also wusste auch keiner, dass ich zu dieser Art Mensch mit verlängertem Ohr in der Tasche gehöre.

Offengestanden kotzt mich genau das am meisten an; dieser Kult um bestimmte Sachen, ohne die du nicht dazugehörst. Wer denkt sich das Zeug aus? Wer bestimmt, dass ich ein Handy haben muss? dass ich die oder die Band hören oder bestimmte Klamotten tragen muss? Mein Problem ist, dass ich mit all dem Kram nichts am Hut habe, oder, noch krasser, alles, was Mode wird, geht mir aufs Schwein. Ich kann damit nichts anfangen. In mir steigt sofort so eine Art Galle auf, die mich verbittert. Ein Kinofilm kann echt gut sein. Aber wenn sie mir einreden wollen, dass ich den Film gesehen haben muss, dann bringen mich keine zehn Pferde vor die Leinwand. Mein berühmter Namensvetter ist auch so ein Kult, was ihn mir natürlich nicht sympathischer macht. Das Handy liegt schon lange mit leerem Akku in irgendeiner Schublade. Ich kann da nix gegen machen.

Eigenbrötlerisch sagt mein Vater dazu. Und schon das Wort hat einen beleidigend verstaubten oder altmodischen Klang. Mein Alter leidet mit mir oder, genauer gesagt, an mir. Er hat wohl seine ganze Kindheit und Jugend in irgendwelchen abenteuerwütigen, unternehmungslustigen Cliquen zugebracht; sinnlos hinzuzufügen, dass er meistens der Boss der Truppe gewesen war. Kein Tag war ohne spannende Erlebnisse vergangen, von denen er wenigstens einen Haufen erzählen kann.

Wenn ich mich umsehe, dann weiß ich, dass ich nicht gerade ein Problemfall bin, auch wenn es mein Vater oft so hinstellt. Ich mache mein Ding, gehe meiner Wege, also kaum zur Disko; rauche nicht, weil es fast alle machen, und weil ich den Gestank an den Klamotten - gelinde gesagt - zum Brechen finde; ziehe in der Schule mit, ohne den anderen in der Klasse oder den Lehrern sonderlich aufzufallen. In Deutsch bin ich sogar ganz gut drauf. Frau Breul schwärmt manchmal so sehr, dass es mir unangenehm ist. Mit ihr teile ich die Leidenschaft für alte Wörter, die nur noch selten gebraucht werden, wie Haderlump oder Lotterbube oder spornstreichs. Der beste Aufsatz kommt meistens von mir, jedenfalls was Inhalt und Ausdruck angeht. In Rechtschreibung bin ich eine totale Niete. Ich werde nie begreifen, warum man Granit nicht mit K und Doppel-t schreibt, so hart, wie der ist. Es kann mir auch keiner befriedigend erklären, warum gibt nicht mit ie geschrieben wird wie ergiebig. Aber das sind nur so Krümelkackereien. Insgesamt halten sich die Kümmernisse in erträglichen Grenzen. Gut, manchmal komme ich zu spät, und manchmal verpasse ich auch schon mal eine Stunde. Aber wen interessiert das, solange ich mitkomme?

Die Schule ist kein Problem für mich, außer eben Sport und - was schlimmer ist - Biologie. Aber das liegt nicht allein an mir. Die Wassers… also Frau Wassersleben hat eine Art zu fragen, da habe ich absolut meine Probleme mit. Die Hälfte der Mädchen aus der Klasse kommt zu mir, um sich die vertracktesten Sachen erklären zu lassen. Klar, ihr denkt natürlich gleich an das eine. Nein, ich meine alles andere. Das hab ich alles drauf. Aber dann kommen diese gefürchteten wie verhassten Fragen, mit denen ich rein gar nichts anfangen kann. Ich schreibe mir die Finger wund und haarscharf am Thema vorbei. Mehr als Note Drei habe ich nicht oft gesehen. Diese Ungerechtigkeit schlägt sich mir mitunter tagelang auf den Magen. Und das Allerungerechteste an der Sache ist, dass die anderen offensichtlich nicht annähernd solche Probleme mit den Fragen haben wie ich. Aber ich schweife ab.

Es ist Freitagnachmittag. Ich sitze im Klassenzimmer und starre auf die weißen Bögen. Auch wenn ich noch so klein schreibe, werden sie nicht reichen. Dabei ist es vollkommen sinnlos.

Herr Mittmann, was unser Klassenlehrer ist, hat mich vor einer knappen Stunde aus den Händen der aufgebrachten Wass… also Frau Wassersleben befreit. „Zwei geschwänzte Stunden, Pottmeier, und dazu die geschwänzte Abschlussarbeit, das wird dir gehörigen Ärger einbringen“, hat er gesagt. „Versuch erst gar nicht, mir zu erklären, warum du geschwänzt hast. Natürlich war es was ganz Wichtiges, und natürlich sind alle möglichen Umstände daran schuld. Ich will es echt nicht hören.“ Mittmann ist immer furchtbar genervt. Weiß der Teufel, warum. Ich hatte gar nicht versucht, ihm die Sache zu erklären. Wer weiß besser als ich, dass es sinnlos ist? Trotzdem hat er zu einer seiner allgemeinen Belehrungen ausgeholt. „Weißt du, Pottmeier, was am Lehrerdasein das Schlimmste ist?“ Ich kenne den Spruch. Aber es hätte keinen Sinn gehabt, ihn darauf aufmerksam zu machen. „Die Ausreden“, hat er gezischt, ohne eine Antwort abzuwarten. „Alle offenen Unverschämtheiten oder Dummheiten oder Streiche erträgt man lächelnd. Aber die haarsträubenden Ausreden, die man täglich über sich ergehen lassen muss, ohne ihnen mit einer klingenden Maulschelle oder einem Tritt in den Arsch begegnen zu dürfen, bringen einen ins Irrenhaus. Sie sind nicht nur eine Beleidigung des Verstandes, sondern der menschlichen Spezies schlechthin, da man sich die Menschheit nicht gerne ohne Verstand denken mag. Bei all dem, was auf der Welt geschieht, findet sich eine Spur der Vernunft, Pottmeier. Also halt, verdammt noch mal, die Klappe!“ Er hat mich ins Klassenzimmer geschleppt, mir ein paar leere Seiten und einen Bleistift auf den Lehrertisch geschmissen und gesagt: „Schreib’s auf. Du hast ja Zeit. Mag den Schwachsinn dann lesen, wer will, ich bestimmt nicht. Es ist mir schnuppe. Aber treib’s nicht zu arg, Pottmeier, du hast auch so schon eine gewaltige Menge Ärger am Hals. - Müssen deine Eltern wissen, dass du später kommst?“

„Nein, ich bin schon groß“, hab ich gemault. Fehlte noch, dass er meine Alten in die Geschichte zieht.

„Erfahren werden sie die Sache auf jeden Fall“, verkündete er wie ein Inquisitor zwischen Tür und Angel, als wenn er meine Gedanken erraten hätte.

Mit dieser netten Information ließ er mich allein.

In Gedanken sehe ich meinen Vater. Ich sehe, wie er leidet. Hätte ich in Abwesenheit von der Schule wenigstens die Scheune eines Tierquälers in Brand gesteckt oder den Obstgarten eines Geizhalses geplündert oder den Stützpunkt einer feindlichen Bande verwüstet … Mein Gott, meine Alten haben doch schon Ärger genug mit sich selbst. Warum drängt ihnen die Schule auch noch meinen Schlamassel auf. Der geht sie doch gar nichts an! Ich habe ein Problem mit der Schule an der Backe, also soll die Schule das Problem gefälligst mit mir klären.

Ich starre - wer weiß, wie lange schon - auf die leeren Blätter, die vor mir liegen. Wo soll ich mit der Geschichte beginnen? Hat es den geringsten Sinn, überhaupt erst damit anzufangen? Wieder und wieder laufe ich in Gedanken durch die unglaublichen Begebenheiten. Es wird mir immer schwerer, den Entschluss am Leben zu erhalten, sie aufzuschreiben. Die, die mir ans Hemd wollen, wird die Geschichte nur noch mehr verbittern. Aber wenn ich nichts schreibe, dann bringe ich sie erst recht gegen mich auf. Und irgendwas zu schreiben, ist mir zu blöd.

Mit dem Rücken des gespitzten Bleistifts trommle ich den holprigen Rhythmus der Unentschlossenheit auf die Tischplatte. Ich merke nicht, wie die Zeit vergeht. Erst als Mittmann ins Zimmer tritt, wird mir die große Zeitspanne bewusst.

Mittmann sieht mich beinahe erschrocken an. „Pottmeier, es ist Feierabend. Du übertreibst. Was soll das nun wieder für eine Tour sein? - Nein, sag nichts. Ich will es gar nicht wissen.“

„Soll ich die Geschichte nun aufschreiben oder nicht?“

„Sicher. - Sicher. - Aber du sitzt bereits drei Stunden hier.“

„Die Geschichte schreibt sich nicht in ein paar Stunden. Ich brauche mehr Zeit und mehr Papier und einen Spitzer für den Stift“, erkläre ich gereizt.

Mittmann grinst unentschieden. „Du musst ja mächtigen Schiss vor deinem Vater haben. Ich hab mit ihm geredet. Er meint, ich soll dich sitzen lassen, bis du schwarz wirst. Soweit wollte ich es eigentlich nicht treiben. Aber wenn du willst. Mich provozierst du nicht! Du hast alle Zeit der Welt.“ Kopfschüttelnd schließt er den Schrank auf. Mit einem unangerissenen Fünfhundertseitenpaket und einem eingeschweißten Bleistiftmagazin tritt er an den Lehrertisch. Krachend fällt das Papier auf die Platte. „Hier, das sollte erst mal reichen“, sagt er mit sich verlierendem Grinsen. Sanft, beinahe zärtlich legt er die Stifte obenauf. „Aber bleib auf’m Teppich, Pottmeier. Das ist ein freundschaftlicher Rat.“

So fest, wie sich die Tür schließt, so fest steht mein Entschluss. Mein Alter soll seine Härte bereuen! Ich blicke auf den tropfenden Wasserhahn. Ich habe zweieinhalb volle Tage; den Schlaf abgerechnet, vierzig Stunden. Ich reibe die Hände an der Hose trocken. War ich bis jetzt noch unentschieden, die Geschichte aufzuschreiben, so bin ich nun durch nichts mehr davon abzubringen. Die pädagogischen Grundsätze meines Vaters sollen endlich Früchte tragen. Meine Mutter tut mir ein bisschen leid. Aber sie hätte ja einen anderen Mann freien können, dann würde sich jetzt eine andere Mutter über meine Abwesenheit ängstigen. Ich kenne meinen Vater nur zu gut. Er wird sich nicht in die Strafaktion der Schule mischen, nicht, solange sie seinen eigenen Vorstellungen einer harten Hand entgegenkommt.

Ich reiße das Paket auf und ziehe die erste Seite aus dem Stoß. Augenblicklich schlägt mir das Herz im Hals. Mir ist so, als säße ich in der wichtigsten Prüfung meines Lebens. Ich streiche das Blatt beinahe zärtlich mit dem Handrücken, als wenn ich mich schon jetzt für die anstehende Quälerei bei ihm entschuldigen wollte. Dann gräbt der spitze Bleistift den Weg der skurrilen Geschichte in den makellosen weißen Grund.

2

Um mit dem Unglaublichsten zu beginnen, der Anfang der Geschichte liegt furchtbar weit zurück, obwohl es noch keine zwölf Stunden her ist. Der sommerliche Morgen hätte so unbekümmert daherkommen können, hätte er nicht die Biologieabschlussarbeit mit sich gebracht und mit ihr die bereits geschilderte Kümmernis.

Ich schlenderte - nicht eben unternehmungslustig - auf dem eingetretenen Weg Richtung Schule. Es ist ein langer Schulweg. Manch einer hat mich deshalb schon bedauert, aber vollkommen grundlos. Ich liebe diesen Weg, entlang an alten Villen, dem unbebauten Flussufer, das einen weiten Blick über die Felder auf der anderen Seite freigibt, vorbei an Kleingärten und mehrgeschossigen Bürgerhäusern. Es ist der Weg aus einem verschlafenen Viertel in den quirlenden Strom der Großstadt. Wie oft bin ich diesen Weg gegangen? wie oft auch mit schmerzendem Magen oder Herzen?

Heute fiel es mir besonders schwer. Ich würde eines der schmerzlichsten Kapitel der letzten Schuljahre abschließen, für immer und unkorrigierbar. Bisher hatte ich mich ja noch jedes Mal mit der Aussicht trösten können, die verhauene Arbeit, ja selbst die ungerechte Zensur auf dem Zeugnis beim nächsten Mal zu verwinden. Nach der Abschlussarbeit würde es kein nächstes Mal mehr geben. Die Endgültigkeit des nun für alle Zeit festgeschriebenen Unrechts drückte mir schwer aufs Gemüt. Es war die Last der letzten, kümmerlichen Chance. Dabei war es vor allem ein unsichtbarer Kampf mit mir selbst, von dem andere keine Ahnung hatten. Wann immer ich versuchte, mich jemandem anzuvertrauen, schlug mir eisige Verständnislosigkeit entgegen. „Was willst du denn?“, hieß es dann immer. „Eine Drei ist doch okay.“ Es geht nicht wirklich um die Zensur, verdammt! Es geht um das Unrecht, für das sie nur ein fader Ausdruck ist.

Ich gebe zu, mir allerlei Hindernisse gewünscht zu haben; eine entgleisende Straßenbahn, ein einstürzendes Haus oder einen abstürzenden Hubschrauber zum Beispiel; irgendetwas, das mein Fernbleiben von der verhassten Arbeit entschuldigen würde. Die Umstände waren erbarmungslos friedlich. Der Verkehr rollte in stiller Gleichförmigkeit. Die Häuser ließen nicht einmal einen Dachziegel aus ihrer Krone fallen. Und der Himmel war blau und ohne das leiseste Brummen.

Eben nahm ich den Weg durch die Kleingärten, als ich glaubte, meinen Namen zu hören. Ich drehte mich um.

Nicht weit vom geöffneten Gartentor auf einem Hocker saß ein alter Mann, der mit zielsicherer und langsamer Hand Möhren schälte. „Wenn Sie einen Moment Zeit haben, Herr Pottmeier, dann kommen Sie doch näher“, sagte er ruhig, ohne aufzublicken.

Unsicher trat ich an den notdürftig aus einer Kiste und einer alten Tür gezimmerten Tisch.

„Setzen Sie sich bitte.“ Nun traf mich sein freundliches Lächeln.

„Woher kennen Sie mich?“, fragte ich nicht gerade schüchtern.

„Ja, wir kennen so allerlei Leute. Aber wenige sind Hoffnungsträger wie Sie.“

Ich hatte natürlich augenblicklich das Gefühl, an einen Typen geraten zu sein, der nicht ganz dicht ist.

„Herr Pottmeier, Sie sind uns schon seit geraumer Zeit aufgefallen.“

„Aufgefallen? - Warum?“

„Sie sind recht unzufrieden mit dem Zustand der Welt. Ungerechte oder oberflächliche Menschen würden Sie als Eigenbrötler bezeichnen. Aber das trifft nicht annähernd Ihr Wesen. Ich würde Sie eher als Kämpfernatur beschreiben, die nicht bereit ist, sich allen Moden zu unterwerfen; deren Individualität stark genug ist, sich selbst zu orientieren und daher nicht die festgetretenen Wege anderer braucht. Trifft das in etwa den Kern, junger Mann?“

Ich war verdutzt und irgendwie auch geschmeichelt. Wenn der Typ nicht ganz sauber war, dann war er es auf verblüffende Weise.

„Sie müssen nichts sagen. Ich weiß, dass Sie Mühe haben, mich zu den Normalen zu zählen. Sie haben nicht ganz unrecht. Wahrscheinlich bin ich nicht normal. Mein Job ist alles andere als erbaulich.“

„Ich habe nicht viel Zeit“, sagte ich mit lauem Magen. „Ich bin auf dem Weg …“

„… zur Biologieabschlussarbeit. Ich weiß.“

Bestürzt trat ich einen Schritt zurück.

„Erschrecken Sie nicht. Ich bin gut unterrichtet, ja. Und natürlich geht das nicht ohne Informationen anderer. Aber ich bin kein Spitzel oder Agent im herkömmlichen Sinn. Ich gehöre einer Gruppe an, die sich Rat der Weltweisen nennt. Kein besonders glücklicher Name, zugegeben. Warten Sie! Laufen Sie nicht weg! - Wenn Sie noch nie davon gehört haben, sagt das nicht unbedingt etwas über meinen geistigen Zustand, sondern über die gute konspirative Arbeit des Rates. - Uns geht es um die Verbesserung der Welt, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Ich verstehe - offen gestanden - gar nichts.“

„Klar. Wie sollte das auch jemand so aus der Kalten verstehen? Wir sind eine Art Geheimorganisation, die sich mit der Zukunft der menschlichen Spezies beschäftigt.“

„Arbeitet Mittmann für Sie?“

„Mittmann? - Nein, warum?“

„Weil auch er oft von der menschlichen Spezies redet.“

„Ach ja? - Nun, ich denke, geredet wird viel darüber. Leider fehlt es an Leuten, die auch bereit sind, etwas für sie zu tun. - Sie könnten eine rühmliche Ausnahme werden und uns ein entscheidendes Stück voranbringen.“

Mir sträubten sich die Haare. „Ich? - Wieso ausgerechnet ich?“

„Weil Sie der nötige Wille beherrscht und der entsprechende Kampfgeist“, rief er nun leidenschaftlich. „Sie haben nicht nur einmal daran gedacht, ohne all den Unfug der modernen Gesellschaft auszukommen. Wie oft sehnten Sie sich danach, auf einer einsamen Insel ganz ohne fremde Hilfe ohne all die zweifelhaften Früchte der Zivilisation zu leben, wie das Leben gelebt sein will.“

Ich nickte erstaunt. Von der Biologiearbeit konnte der Alte durch Zufall erfahren haben, von meinen Phantasien nicht. Die hatte ich bisher keinem anvertraut. Ich fror in der stechenden Sonne.

Wieder ganz sachlich fuhr der Alte fort: „Es ist für Sie natürlich nicht ganz einfach, solch ein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Eine einsame Insel würde sich vielleicht noch finden. Aber wie kommen Sie da hin? - Wir könnten den nötigen Rahmen schaffen. Mittels unserer physikalischen Erkenntnisse, die wir der Welt aus guten Gründen vorenthalten, ist es uns möglich, jeden beliebigen Raum zu schaffen, rein virtuell, versteht sich.“

„Aber was hat das für einen Sinn? In einer virtuellen Welt …“

„Für Sie hätte es den Wert, in eben jenem von uns begleiteten Experiment für das wirkliche Abenteuer, das heißt, für Ihr Vorhaben auf der einsamen Insel, vorbereitet zu werden. Für uns ist das Ergebnis des Experiments von entscheidender analytischer Bedeutung.“

„Was für ein Experiment?“ Kalt lief mir der Schweiß über den Rücken.

Der Alte ließ mich eine Weile zappeln. „Wir suchen Probanden für die Wiederholung eines Versuches. Er wurde vor siebzehn Jahren das letzte Mal durchgeführt, war aber - wie immer - gründlich gescheitert.“

Ich sah den Alten noch immer baff an.

„In diesem Versuch sollte der Beweis erbracht werden, dass der Mensch sehr wohl auch glücklich ohne die Früchte der Zivilisation zu leben vermag.“

Ich atmete schwer.

„Das Experiment ist durch den virtuellen Charakter der von uns geschaffenen Welt beinahe ungefährlich“, erklärte der Alte, ohne mich anzusehen. Versuchte er mit den fuchtelnden Armen meine Bedenken zu zerschlagen?

„Und wie lange dauert der Spaß?“

Beim letzten Wort fuhr der Alte zusammen, aber flugs hatte er sich wieder gefasst. „Der Versuch ist dann zu Ende, wenn der Proband den Beweis erbringt, in einer unzivilisierten Welt glücklich leben und überleben zu können; wenn er es also schafft, sich so einzurichten, dass er nicht mehr in die Wirklichkeit zurück will.“

„Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! …“

„So ungefähr. Nur dass ich nicht Mephisto bin; und dass es nicht Ihr Ende ist, sondern der glückliche Abschluss des Experiments.“

„Und wann soll der Versuch beginnen?“, fragte ich unsicher.

„Im Augenblick.“

„Jetzt gleich? - Aber ich …“ Ich dachte an die Biologiearbeit. Wenn der Alte kein Spinner war, und es sah ganz danach aus, so hatte ich einen, nein, den triftigsten Grund gefunden, die unliebsame Arbeit in den Wind schießen zu lassen.

„Wenn die Arbeit für Sie wichtiger ist, so müssen wir auch das akzeptieren, aber bitter wäre es schon, denn die Umstände werden nicht bald wieder so günstig sein.“

Ich nickte eifrig. „Gut“, sagte ich kleinlaut. „Ich bin bereit.“

Der Alte strahlte. Er ließ die angefangene Möhre fallen, stand auf und trat mit feuchten Augen auf mich zu. „Ich habe gewusst, dass ich auf Sie zählen kann, Herr Pottmeier. Sie glauben gar nicht, wie viel uns Ihre Zustimmung bedeutet. - Bitte kommen Sie.“ Er führte mich in die nahe Laube und bedeutete mir verlegen, alle Klamotten auszuziehen.

Ich stutzte.

„Keine Angst, ich bin nicht pervers. Aber wenn wir uns von den Früchten der Zivilisation trennen wollen, dann müssen wir schon genau sein. Selbstverständlich bekommen Sie nach dem Experiment alles unbeschädigt und gereinigt zurück.“

Die Laube sah im Innern aus wie eine beliebige Laube. Nichts an ihr verriet den Bezug zu einem so hoch angebundenen Versuch. Mir kamen Zweifel. Zögerlich zog ich das Hemd aus, dann die Hose, Schuhe und Strümpfe, zuletzt die Unterhose. Der Alte drehte mir diskret den Rücken zu. Nackt finde ich meinen Körper unerträglich. Die Hände vorm Geschlecht verschränkt, wartete ich auf den Fortgang der Sache. Nur kurz überkam mich der Gedanke, einem Betrüger auf den Leim gegangen zu sein, der augenblicklich mit der wahren Absicht seiner Lügengeschichte rausrücken wird. Ich war dem Alten an Kräften nicht so unterlegen, dass er mit mir seinen ungetrübten Spaß hätte haben können.

„Wenn es brenzlig wird“, sagte er indessen ruhig, „scheuen Sie sich nicht, nach mir zu rufen. Ich werde Sie durchs Experiment begleiten. - Wollen wir nicht Du sagen, so sehr, wie wir in der nächsten Zeit aufeinander angewiesen sein werden?“

Ich nickte mit verzogenem Mund.

„Bitte, hier geht’s lang.“ Er wies mir die Tür, durch die ich eben reingekommen war.

Ich zögerte.

„Du musst keine Angst vor fremden Augen haben. Hier beginnt die virtuelle Welt.“

Ich trat an die Tür. - Das war ja nicht möglich! Fasziniert starrte ich in die Weite. Vor mir erstreckte sich eine wilde Landschaft ohne den schüchternsten Hinweis auf Menschen. Magisch zog sie mich an.

„Halte die Gedanken im Zaum. Und vergiss nie, dass wir ohne die Früchte der Zivilisation auskommen wollen“, hallte es mir nach.

Als er mich gesiezt hatte, war mir wohler gewesen. Ich trat durch die Tür und wurde augenblicklich von einer ganz unheimlichen Stille empfangen. „Das ist ja gigantisch!“, rief ich begeistert aus. Als ich mich umdrehte, um dem Alten zu dieser Erfindung zu gratulieren, fand ich mich allein. Die Laube war weg! Mit ausgestreckten Händen lief ich wie ein Blinder bald hier- bald dorthin. Nichts von der alten Umgebung war auszumachen.

Auf was hatte ich mich eingelassen? In der Laube hatte ich bis zuletzt an der Durchführbarkeit des Experiments gezweifelt, also gedacht, noch immer einen Schritt zurückgehen oder ganz aussteigen zu können. Es gab kein Zurück! Der Eingang war verschwunden, also gab es auch keinen Ausgang mehr.

Ein weicher, warmer Wind wehte. Die Vögel sangen. Ein unbekannter Geruch nach Sommer lag schwer in der Luft. Die nackten, empfindlichen Fußsohlen spürten das feuchte Gras. Der Himmel über mir war offen. Die virtuelle Projektion des Raumes war nicht weniger vollkommen als die Wirklichkeit selbst! Ich muss zugeben, dass ich mich vor allem darum in das windige Unternehmen eingelassen hatte, um zu sehen, wie perfekt es dieser seltsamen, mir völlig unbekannten Organisation gelang, eine künstliche Welt zu erschaffen. Jetzt erschreckte mich, wie ähnlich sie der Wirklichkeit war.

3

Ich lief durch taunasses Gras. Im Kopf entwirrte sich langsam ein Fitz an Gedanken. Anfangs setzte ich die Füße ganz vorsichtig, aus Angst, unvermutet an einen falsch projizierten Gegenstand zu stoßen. Aber nichts war anders als meine fünf Sinne anzeigten. Dort, wo ich einen Baum sah, stieß ich auch wirklich an einen hölzernen Stamm; dort, wo eine sumpfige Pfütze glitzerte, trat mein Fuß in einen feuchten, weichen Untergrund; und wo dornige Zweige über den Weg rankten, trat ich mir die Füße blutig.

Wenn ich Weg schreibe, dann ist das irreführend. Der Weg war nur deshalb Weg, weil ich ihn zum Untergrund meiner Füße wählte. Ansonsten war er kein bisschen von der Umgebung zu unterscheiden. Wege, die uns das Gehen oder Fahren erleichtern, gab es hier natürlich nicht. Bald brannten die Augen vor Anstrengung. Jedes Hindernis mussten sie erkennen, bevor ich den Fuß auf den Boden setzte. Was den Augen entging, hatten die Füße zu büßen. Wie ein ungeschickter Tänzer sprang ich hin und her, bei vier Schritten höchstens zwei wirklich vorankommend. Je wunder die Füße wurden, umso sorgsamer wählten sie den Untergrund. Bald wurde mir jeder Kiefernzapfen, jedes Stöckchen zur Qual. Wenn ich auf einen - von wem oder was auch immer - ausgetretenen Wildpfad traf, jubelten die zerschundenen Füße. Oft kamen sie nicht dazu.

In einiger Entfernung sah ich grasende Hirsche. Ich setzte mich auf einen umgestürzten Baum und rieb die maladen, schmerzenden Füße. Der Wind wehte aus der Richtung der stolzen Tiere, also konnten sie mich nicht wittern. Der Anblick der äsenden Hirsche war beinahe wie ein Lohn für die zurückliegenden Strapazen. Die Hirsche haben offensichtlich keine Angst vor dem Morgen oder dem kommenden Augenblick. Sie fressen, wo sie Nahrung finden, und ziehen weiter, wenn das Futter knapp wird. Sie haben alles, was zum Überleben nötig ist, ein allen Wettern trotzendes Fell, starke Beine und harte Hufe. Ich untersuchte wehmütig die zarte Haut der wunden Füße, um mich gleich wieder dem idyllischen Bild zuzuwenden.

Wie vom Blitz getroffen stoben die Hirsche auseinander. Ich suchte nach der Ursache der Panik. Mir stockte der Atem. Ein Wolfsrudel war über die Großfamilie hergefallen. Ich stand auf und fand mich auf zitternden Beinen. Den vier Wölfen gelang es schnell, ein Jungtier von der Herde zu trennen. Es war ein ungleicher Kampf. Die vier Ungeheuer hatten ein leichtes Spiel. Ich hörte die Klagelaute des verendenden Opfers. Mir verkrampfte das rasende Herz. Das Kalb schrie erbärmlich vor Angst oder Schmerz. Endlich wurde es still.

Ängstlich schaute ich mich um. Wie unwirklich war diese Welt? War das Hirschkalb wirklich gestorben? Das Zittern in den Knien stieg in den Bauch. Mit einigen Schritten war ich bei einem im Unterholz glänzenden Knüppel. Beherzt schlug ich ihn an einen Baumstamm. Er hielt auch kräftigen Schlägen stand. Gegen ein Rudel Wölfe würde ich damit kaum etwas ausrichten können.

Jetzt erst, wirklich erst in diesem Moment wurde mir klar, worauf ich mich eingelassen hatte. Von einer Sekunde zur anderen war ich völlig unvorbereitet in eine mir ganz und gar unbekannte Welt geraten. Das war, auf den Punkt gebracht, Wahnsinn!

Ich gebe zu, mir oft ausgemalt zu haben, wie ich - ganz auf mich allein gestellt - durch die Weiten Kanadas streife, mir an einem stillen See eine Blockhütte baue und von der eigenen Hände Arbeit lebe, ohne das ewige Genörgel meines Alten ertragen zu müssen. Aber bei all den Träumen hatte ich nicht nackt begonnen, verdammt. Ich war mit einer ansehnlichen Ladung des Allernötigsten aufgebrochen. Wie oft habe ich in stillen Stunden mit geschlossenen Augen dieses Gepäck der unverzichtbaren Dinge zusammengestellt, die mal in einem Container Platz fanden, mal in einem Handwagen oder Schlitten, mal in einer Kraxe.

Jetzt stand ich - nur mit einem Knüppel bewaffnet - nackt in einer weglosen, erst recht ausweglosen Landschaft. Wildpfade waren bald die einzigen gangbaren Wege. Ohne Ziel lief ich weiter. Die malträtierten Füße erlaubten mir nicht mehr, den Pfad zu verlassen. Über mir hatten sich die hohen Kronen der alten Bäume längst zu einem dichten Dach geschlossen. In jedem uneinsehbaren Dickicht konnte ein Hinterhalt lauern. Alles war auf beängstigende Weise unbekannt. Fortwährend musste ich an die Wölfe denken. Wenn es sie gab, vielleicht gab es dann auch Bären oder andere Raubtiere. Aber noch wichtiger als diese Frage war die nach der Virtualität, also Künstlichkeit des Raumes. Konnten sich mir Dornen schmerzhaft in die Füße bohren, warum dann nicht auch die Zähne eines hungrigen Wolfes? Immer wieder hörte ich aus unterschiedlicher Nähe und Richtung unbekannte und daher umso unheimlichere Geräusche. Mit der Zeit geriet ich in einen panikartigen Zustand. Kam das Schnaufen oder Grunzen, Fauchen oder Zischen zu nahe, schlug ich mit dem Knüppel an den nächsten Baum. War es gut, zu schreien? Oder sollte ich mich besser ganz ruhig verhalten? Ich hatte keine Ahnung und entschied mich für den Lärm.

Nachdem mich die Panik, später der Zorn über den Alten eine ganze Weile gelähmt hatten, wurde mir klar, dass ich nicht ohne Ziel, ohne Aufgabe in diese Welt geschickt worden war. Ich sollte der Zivilisation entkommen. Aber war ich das nicht schon? - Waren die Umstände nicht bereits ganz und gar unzivilisiert? Aber leider wohl auch genauso lebensfeindlich. Was sollte ich machen, verdammt? Ich konnte mich noch ein bisschen über meine Situation aufregen, aber wen beeindruckte das? Wenn ich nicht ausprobieren wollte, wie echt die Wölfe waren, die ich in mörderischer Aktion gesehen hatte, dann musste ich mich erst einmal der Lebensfeindlichkeit der wie auch immer beschaffenen Umwelt entziehen. - Ich brauchte ein sicheres Lager!

Fortan hielt ich Ausschau nach einer passenden Stelle. Der Schmerz in den Füßen nahm nicht mehr zu. Im tiefen Schatten des Urwaldes war es kühl. Mich fröstelte. Der Wind trocknete den kalten Schweiß auf der blassen Haut. Angst und Ungewissheit trieben mich weiter. Ich ging mit meiner Dummheit oder Leichtgläubigkeit schwer ins Gericht. Einziger Trost, einzige Entschuldigung war die Unvorhersehbarkeit des Ganzen. Wer konnte denn wissen, dass dieser mysteriöse Rat der Weltweisen über derartige Möglichkeiten verfügt, also über die Macht, den Alltag eines x-Beliebigen von einem Augenblick auf den anderen so radikal zu verändern? So etwas passiert nicht mal in den phantastischsten Filmen.

Nach einigen Stunden quälender Latscherei meldete sich unüberhörbar der Magen. Das Glucksen wurde immer hohler und lauter. Ich musste essen! Zum ersten Mal betrachtete ich die Polster der Hüften wohlwollend. Aber wie lange würden die halten? Jetzt suchte ich, mehr noch als ein Lager, etwas zum Essen. Kümmerliche, unbekannte Beeren waren meine karge Beute. Ich aß in der Hoffnung, dass mich der Rat der Weisen nicht vergiften wird. Satt wurde ich nicht, soviel ich auch in meinen Mund stopfte. Wer hatte sich ausgedacht, die Äste der schmackhaftesten Beeren mit Dornen zu bewehren?

Der Urwald schien endlos. Rechts und links war trostlose Düsternis. An die Geräusche hatte ich mich einigermaßen gewöhnt. Wie lange war ich schon unterwegs in dieser angeblich unwirklichen Welt? Wie war es möglich, einen so riesigen Raum künstlich entstehen zu lassen? Oder erzeugten sie nur immer meine unmittelbare Umgebung? Ich rannte los, um die Grenze des Machbaren zu finden. Die Füße schrien auf. Ich lief immer schneller, um die Mauer der virtuellen Welt zu durchstoßen. Umsonst. Vollkommen atemlos sank ich zusammen. Alles blieb der Wirklichkeit zum Verwechseln ähnlich, selbst die Galle, die ich ausspuckte. Ich war fertig. Die Aufregung drückte mir die Lunge ab. Als ich wieder Luft bekam, fand ich mich auf einer Lichtung.

Ich hatte furchtbaren Hunger. In meinem Gedächtnis hing der Geruch von Brot. Der Platz war für ein Lager nicht ungeeignet. Die Sonne tat gut. Der ausgepumpte Körper verlangte nach Nahrung. Auf der Lichtung wuchs Gras mit hohen Samenständen, die man mit einigem Wohlwollen für kümmerliche Ähren halten konnte. Ich rieb die Ähren zwischen den Handflächen, blies die Spreu von den Körnern und warf mir den trockenen Rest in den noch trockneren Mund. Der Geschmack erinnerte mich schmerzlich an Brot.

Nach einigen Schritten trat mir eine mit einer naturfarbenen Toga dürftig bekleidete Gestalt entgegen. Ich schreckte zurück. Endlich erkannte ich den Alten aus der Gartenlaube.

„Nicht schlecht“, sagte er mit angenehm ruhiger Stimme.

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Also war doch alles Spiel! „Ich habe Hunger“, sagte ich kleinlaut.

Der Alte wies auf das Feld. „Hier findest du alles, was du brauchst. - Es ist Roggen, gutes Brotgetreide.“

„Getreide? - Dieses armselige Zeug?“

„Na, mein Lieber, wir wollen nicht unbescheiden sein. Du sollst nie erfahren, wie viel Mühe schon in diesem Feld steckt. Im Grunde ist es nicht ganz regelrecht. Aber wenn wir wirklich bei Null anfangen würden, wären unsere Helden schon nach kurzer Zeit verhungert.“ Mit zärtlicher Hand strich der Alte über die im Wind wogenden Ähren.

Mir gefiel nicht, wie ruhig er vom Verhungern sprach. Ich hatte den drängenden Gedanken, augenblicklich aus dem Experiment auszusteigen. Wie hatte ich gefürchtet, den Alten, ja die Welt, aus der ich kam, nie wiederzusehen!

Im Augenblick, da ich den Mund öffnete, sagte der Alte sehr ernst: „Ich bin froh, dass du nach einer Möglichkeit suchst, Brot zu backen. Die meisten Probanden steigen nach den ersten Stunden aus, die erfahrungsgemäß die härtesten sind. In dir habe ich mich offensichtlich nicht getäuscht. Du bist ein harter Bursche. Du kannst es schaffen. Auch der Rat hält große Stücke auf dich.“

Ich vergaß ganz schnell den Entschluss, aufzugeben. Woher wusste er, dass ich Brot will?

„Wir wissen schon einiges. Sonst wären wir nicht in der Lage, die Ergebnisse des Experiments sinnvoll auszuwerten. Ohne dieses Wissen könnten wir ja keine Regeln aufstellen und überwachen.“

„Welche Regeln?“

„Nun, alles, was du begehrst, erscheint in seiner elementaren Urform, aus der du es durch die Arbeit deiner Hände und dein Können befreien musst. Wo es nottut, werden sich entsprechende Lehrmeister einfinden, um das nötige Wissen zu vermitteln.“

„Urform“, maulte ich zerknirscht mit scheelem Blick auf die Ähren.

Noch immer streichelte der Alte das wogende Korn. „Immerhin hast du keinen Sack Saatgetreide vorgefunden, sondern ein erntereifes Feld. Sonst würdest du wohl kaum die nächsten Wochen überstehen.“

„Mit dem winzigen Zeug ja wohl auch kaum.“ Irgendwie beunruhigte mich schon, wie selbstverständlich der Alte von den nächsten Wochen sprach.

„Bei diesem - ‘winzigen Zeug’ handelt es sich um eine bereits relativ fortgeschrittene Kulturform eines ziemlich robusten Süßgrases, das erst vor dreitausend Jahren so richtig auf die Felder kam. Den Germanen war es das wichtigste Brotgetreide. Es steckt also nicht wenig Zivilisation in dem Zeug. Ja, ganz ohne Kompromisse geht es leider nicht. - Und wenn wir schon mal bei Kompromissen sind, hast du schon mal was vom Mutterkorn gehört?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Es ist ein Pilz, der sich gern gerade an Roggenähren bildet, kleine schwarze bis dunkelrote, gut zu erkennende Auswüchse, die außerordentlich giftig sind. Mit diesem Pilz verunreinigtes Mehl hat in früheren Jahrhunderten ganze Landstriche entvölkert. Sieh dir die Ähren also vorm Dreschen genau an.“

Ich starrte entgeistert auf das Feld. Wieso konnte ich mich in einer Welt vergiften, die ganz ungefährlich ist? Ich dachte an die Beeren, mit denen ich mir so sorglos den Bauch vollgeschlagen hatte.

„Lass dir von diesem Pilz nicht das Korn vermiesen. Es ist gut. Du solltest soviel wie möglich ernten und dir für unwirtlichere Jahreszeiten einen haltbaren Vorrat anlegen.“

Jetzt sprach er schon von Jahreszeiten. Die sind komplett verrückt! Ja, wie lange - denken die - soll das Experiment gehen?

„Der Versuch ist - wie ich bereits sagte - dann zu Ende, wenn der Proband den Beweis erbringt, in einer unzivilisierten Welt glücklich leben und überleben zu können; wenn er es also schafft, sich so einzurichten, dass er nicht mehr in die Wirklichkeit zurück will.“

Ich erinnerte mich. - Wie hatte ich mich auf so was einlassen können? - … nicht mehr zurück will? Ich dachte an meine Alten. Wenigstens meine Mutter würde schon bald vor Angst um mich verrückt werden. Und dann hatte ich vor, in ein paar Monaten mit meiner Lehre zu beginnen.

„Es ehrt dich, dass du deine Eltern nicht ganz aus den Augen verlierst, aber um die Zeit musst du dir keine Gedanken machen, wir haben auch auf sie einen gewissen Einfluss.“

Ich lächelte schräg. Will er damit sagen, Zeit spielt keine Rolle? Wie lange - glauben die - soll ich wie ein Vieh und dazu allein im Urwald leben? Unzivilisiert heißt doch nicht, vollkommen allein zu sein.

„Das wird nicht immer so bleiben. Du bist hier nicht allein, wie du vielleicht schon bald erfahren wirst.“ Der Alte lächelte beinahe eine Spur zu väterlich.

Woher wusste er, verdammt, was ich denke?

„Es ist nicht immer angenehm, glaub mir das, auch wenn es sich viele Menschen wünschen. Gedanken sind nicht viel ehrlicher als laute Worte.“ Mit dieser Bemerkung verschwand er im Korn.

Ich sah zur Sonne und aufs Feld. Dann griff ich in meine Speckseiten. Ich stand noch lange so da und schüttelte den Kopf.

4

Wieder bewegten mich zwei recht unterschiedliche Gefühle. Auf der einen Seite wollte ich die Herren des um die Menschen besorgten Rates nicht enttäuschen, auf der anderen Seite wackelte mein Glaube, ob es einen solchen Rat überhaupt gibt und wenn, ob er wirklich die Zukunft der menschlichen Spezies im Auge hat. Das eine Gefühl trieb mich an, das andere lähmte mich. Schließlich obsiegte der Antrieb.

Lange suchte ich einen passenden Stein, mit dem sich das Korn schneiden ließ. Mehr um mich selbst zu beflügeln, nannte ich es so. Die Sonne stach von oben, die Kornstoppeln gnadenlos von unten. Was hätte ich für ein paar schützende Sohlen gegeben? Ich griff, was in der Hand Platz fand, und schlug mit dem scharfkantigen Stein auf die Halme ein. Ich wütete wie im Rausch. Der Schweiß lief bald in Strömen. Mitunter machte mich ein Tropfen blind, der sich durch Augenbraue und Wimpern gekämpft hatte. Bei der Arbeit kreisten die Gedanken unaufhörlich ums verlockende Ziel. Wie sollte ich aus den Körnern Mehl mahlen und wie aus dem Mehl hernach einen Teig zubereiten, der sich zu einem wenigstens brotähnlichen Gebilde backen ließ? Ich hatte nicht den geringsten Dunst von all dem.

Als ich einen mannshohen Haufen geerntet und fein ausgerichtet hatte, verwahrte ich den scharfen Stein an sicherem Ort. Er war mir schon viel wertvoller als ein gewöhnlicher Stein. Schweiß und Blut hatten ihn dunkel gefärbt. Die Hände sahen schrecklich aus.

Ein Rauschen, das ich anfangs kaum wahrgenommen hatte, war mit dem Lauf der Sonne immer lauter aufgebraust. Ich stürzte ihm entgegen. Da war wirklich ein Bach! Wo ich ihn tief genug fand, warf ich mich ins kalte Wasser. In den Füßen öffneten sich brennend und beißend alle Verwundungen. Ich ertrug den Schmerz und trank das klare Wasser bis zum Überdruss. Mit aufgetriebenem Bauch stieg ich aus der wie zum Bad geschaffenen Senke. Die Sonne trocknete mich viel zu schnell.

Die Suche nach einem zum Korndreschen geeigneten Stein zog sich hin, denn entweder waren die Steine zu klein oder viel zu groß. Hatte ich endlich einen gefunden, von dem ich meinte, ihn bewegen zu können, so war er tief im Bachbett versandet. Ich grub schließlich einen gewaltigen Brocken aus dem Schlamm und rollte ihn aufs Feld. Im Abstand von zwei Schritten um den Stein riss ich die Stoppeln aus der lehmigen Erde. Zuletzt holte ich in den Händen Wasser aus dem Bach, um damit den aufgerissenen Boden zu glätten. Die Sonne trocknete schnell den Untergrund meiner dürftigen Tenne. Um auch keines der mühsam geernteten Körnchen zu verlieren, schichtete ich einen kleinen Steinwall um den Dreschplatz. Nun konnte es losgehen. Garbe um Garbe schlug ich auf den Stein. Die Körner flogen nach allen Seiten und bedeckten bald den Boden der Tenne. Ich geriet in Hochstimmung. So einfach hatte ich mir das nicht vorgestellt. Die ausgedroschenen Körner schob ich zu einem immer größer werdenden Häufchen.

Auch bei dieser Arbeit drehten sich meine Gedanken fortwährend um den nächsten Schritt. Wie und wo sollte ich die Körner mahlen und den Teig bereiten? Zwar hatte ich bald einen Stein gefunden, dessen Oberfläche einigermaßen eben war, auch hatte ich den Brocken mit gewaltiger Anstrengung gegen den Dreschstein getauscht, aber das Mahlen selbst war eine Viecherei. Die Körner flogen nach allen Seiten, ohne sich auch nur teilen zu lassen. Meine Laune fiel steil ab. Die Ausbeute des ersten Mahlganges war so kümmerlich, dass ich alle Hoffnung begrub, je genug Mehl oder, besser, Schrot für auch nur ein einziges Brot zu gewinnen. Zornig warf ich den runden, schweißnassen Stößel ins Korn. Das hatte doch alles überhaupt keinen Sinn! Wieder fiel der Hunger über mich her und mit ihm der Gedanke, aufzugeben.

Ich stand auf, um zum Bach zu gehen. Augenblicklich duckte ich mich hinter die geernteten Garben. Ein Mädchen kam direkt auf mich zu. Sie war ganz ähnlich gekleidet wie der Alte. Ihr offenes Haar wehte im Wind. Ich geriet in Panik. Das war doch … Wie hatten sie die ins Spiel gebracht? Grit, die stille Schöne aus der Parallelklasse. Sie lachte, und auch noch lachend trat sie zu meinem Versteck. Mein Herz raste. Erschrocken verbarg ich meine nicht eben große Blöße in den schmutzigen Händen.

Grit reichte mir den Stößel, den ich so schnöde weggeworfen hatte. „Den wirst du noch brauchen. Er ist ganz gut.“ Auch die Stimme passte absolut zu der von mir so heimlich Umschwärmten.

„Grit?“, stammelte ich hilflos. Jetzt sah ich, dass ihr Lächeln nicht ganz frei war. Sie wurde plötzlich auf schwerbeschreibliche Weise nervös, obwohl oder vielleicht gerade weil sie ganz ruhig wirken wollte. Meine Hände waren noch immer gefesselt. Ich kam mir vor wie ein Idiot. Grit ging zu den ausgedroschenen Halmen, flocht sie in Windeseile zu einem Schurz und reichte ihn mir.

„Kennst du mich?“, fragte ich ängstlich, ungeschickt in den provisorischen Schurz steigend.

„Nein“, hauchte sie nervös. „Ich weiß nur, dass du Hilfe brauchst, wenn du’s schaffen willst.“

„Wenn ich was schaffen will?“

Sie drehte sich um und lief ins Feld. Mit einer richtigen Sichel schnitt sie das Korn in atemberaubender Eile. Noch bevor ich mich in den stachligen Schurz gezwängt hatte, hatte sie bereits eine breite Schneise ins Feld geschnitten. Ihre Bewegungen waren so rund und anmutig, dass ich den Blick lange nicht von ihr fortreißen konnte. Sie raffte die erste gewaltige Garbe mit beiden Armen und schleppte sie zu mir. Jetzt erst verließ mich die Starre. Ich übernahm das geschnittene Korn aus ihren Armen. Sie sah nicht nur haargenau so aus wie Grit, sie roch auch so. Ich kannte den Geruch nur zu gut. Wie oft hatte ich mich in ihre Nähe geschlichen, um eine Nase voll zu nehmen. Es war doch das einzige, was ich von ihr haben konnte, und es tat ihr ja nicht weh. Diesen Geruch würde ich aus Tausenden wiedererkennen. Leider zog sie ihre Arme zu schnell zurück.

„Ich werde schneiden, du drischst“, sagte sie mit munterer Stimme. Ihre Stirn glänzte von unzähligen winzigen Schweißtröpfchen. Ich konnte mich nicht sattsehen. „Du solltest nicht so viel Kraft an deine Augen verschwenden“, sagte sie streng, bevor sie wieder aufs Feld ging.

Ich drosch wie ein Wahnsinniger. Während sich die Arme und der Rücken verausgabten, hatten die Füße Gelegenheit, sich ein bisschen zu erholen. Die Tenne füllte sich mit Korn. Auch das Stroh sammelte ich auf Grits Anraten. „Könnte sein, dass du mal ein Dach brauchst“, hatte sie gesagt. Hätte sie wir gesagt, wäre mir die Arbeit noch leichter von der Hand gegangen. Wann immer die Arme schwer wurden, ein Blick zu diesem wunderbaren Mädchen genügte, um wieder zu Kräften zu kommen.

Einmal kam Grit zu mir und strich mir mit sanfter Hand über den glühenden Rücken. „Du wirst verbrennen“, sagte sie fürsorglich. Für noch so eine zärtliche Berührung wäre ich gern ganz und gar verbrannt! Unglaublich geschickt flocht sie aus gedroschenem Stroh einen großen Sombrero, erst für mich, dann für sich selbst. Ich mache mir absolut nichts aus Partnerlook. Aber hier jubelte mein Herz über unsere erste Gemeinsamkeit. Grit genoss offensichtlich meine Begeisterung.

Beinahe ein Viertel des Feldes war abgeerntet. Grit schnitt die Garben rascher, als ich sie dreschen konnte. Mit den Ähren zur Mitte schichtete sie das geerntete Korn im Kreis auf eine Lage bereits ausgedroschener Garben, bis eine hohe, runde Miete entstand. „So kommen die Biester am schwersten an die wertvollen Ähren.“ Auch dies besorgte sie wie das Selbstverständlichste von der Welt.

Nur mit viel Überwindung konnte ich meine Augen von ihr reißen. „Und nun?“, fragte ich mit gesenktem Blick.

„Wir brauchen einen großen Stein.“

„Langt nicht der da?“ Ich zeigte auf den Dreschstein. „Einen größeren schaffe ich eh nicht.“

„Groß genug ist der schon, aber die Oberfläche ist zu glatt.“

Ich sprang zum Bach und kam schon bald mit einem nicht eben kleinen Stein zurück. Grit nahm ihn mir von der Schulter und schlug ihn kräftig auf den Stein im Zentrum der Tenne. „Mit Feuer geht’s besser“, erklärte sie keuchend. „Du machst die Oberfläche heiß und gießt kaltes Wasser drauf. Dann geht alles wie von selbst. - Aber Feuermachen würde zu lange dauern. - So geht’s auch.“ Die Worte verschlangen ihren letzten Atem.

„Lass mich das machen“, sagte ich männlich. Ohne Weiteres überließ sie mir den schweren Stein. Ich musste etwas tun, da ich nun ganz in ihren Dunstkreis getaucht war. Das war auf Dauer unerträglich. Der schwere Stein forderte all meine Kraft. Ich hob ihn so hoch, wie ich konnte, und schleuderte ihn mit solcher Wucht auf den anderen Stein, dass er wieder emporsprang. Nur widerwillig lösten sich Splitter bald von dem einen, bald vom anderen Stein. Mir tropfte der Schweiß aus dem Gesicht. Ein Blick zu Grit verlieh mir neue Kraft. Fasziniert sah sie zu. In Wahrheit war sie es, die den Stein bezwang. Ich war nur das willige Werkzeug.

Die Oberfläche war bald nicht nur rau, sondern zu einer flachen Schale eingedellt. „Das reicht“, sagte Grit mit weicher Stimme. Mit dem Stein, den ich im Zorn ins Feld geworfen hatte, glättete sie mit kleinen Schlägen den Mörserstein. Nachdem sie den Staub von der Oberfläche gepustete hatte, begann sie zu mahlen. Es ging nicht nur schneller als bei mir, es schien sie auch viel weniger anzustrengen, die kleinen Körner zu zerschroten. Da sie ihr umgeschlungenes Leibtuch oben nur nachlässig geschlossen hatte, war es eine Freude, ihr zuzusehen.

Wie hypnotisiert betrachtete ich die munter hüpfenden Brüste. „Bist du schon lange hier?“, fragte ich vorsichtig, als ich genug Mut gesammelt hatte.

„Wir brauchen eine Schüssel“, gab sie mit ängstlichem Seitenblick zurück.

„Ich habe keine Schüssel, verdammt.“

„Dann mach eine!“

„Wie denn?“

Nun traf mich ein ziemlich ungehaltener Blick. „So wirst du es nie schaffen“, sagte sie dann beinahe mitleidig. „Vielleicht versuchst du’s mal mit Holz.“

Ich rannte an jene Stelle, wo ich den scharfkantigen Stein verwahrt hatte. Im Wald fand ich nach kurzer Suche einen morschen Baumstamm, der mich nur knapp überragte. Viel war nicht mehr los mit ihm, aber eine Seitenwand hatte der Fäulnis standgehalten. Ich brach sie aus und schleppte sie zum Bach. Dort höhlte ich mit Stein und Wasser das unförmige Gebilde, das einem dicken, ausgewaschenen Brett noch ähnlicher war als einer Schüssel. Trotzdem war ich zufrieden.

Grit empfing mich mit sonnigem Lächeln. In die von mir ausgeschabte und geglättete Kuhle streute sie das geschrotete Korn, das mit Mehl nicht viel zu tun hatte.

Ihr Lächeln machte mir Mut. „Bist du auch ein - Proband?“

„Wir brauchen Wasser“, wich sie erneut aus. Als wenn sie nun auch noch meine Fragen zermalmen wollte, drehte und wiegte sie den Mahlstein im rauen Bett des flachen Mörsers.

Mit finsteren Gedanken lief ich zum Bach. Wer war dieses Mädchen? War sie wie ich ein Versuchskaninchen? Dann war es Grit! Warum tat sie dann so, als würde sie mich nicht kennen? Wenn sie aber nur eine virtuelle Projektion war, warum hatten sie ihr mit soviel Aufwand Aussehen, Stimme und auch noch den Geruch von Grit gegeben?

Ich nutzte den Gang zum Bach für ein kurzes Bad. Das frische Wasser vertrieb den größten Teil der finsteren Gedanken. Mit einem dürftigen Pfützchen in den Händen kam ich zurück. Grit hatte bereits eine ansehnliche Menge Schrot zu einem Häufchen geschoben. Eben als ich kam, drückte sie eine Kuhle in den Kegel. Ich musste nicht lange raten, wohin ich mit dem Wasser sollte.

„Wir brauchen mehr“, sagte sie ruhig.

Bald hatte sie mit Hilfe meiner Wasserträgerdienste einen zähen Teig gerührt. Mit verschwörerischer Miene zog sie aus ihrem Leibtuch einen kleinen Lederbeutel, drückte eine breiige Masse heraus und verrührte sie mit dem übrigen Teig. All das ging hurtiger als man Fliegen fängt.

„Was ist das?“, fragte ich unsicher.

„Sauerteig“, flüsterte sie kaum hörbar. „Bevor du das Brot morgen fertigmachst, lass einen Rest davon in der Schüssel, fürs nächste Mal. Ohne Sauerteig wird das Brot hart wie Stein. Du kannst es dann nur in ganz dünnen Fladen backen.“

Ich hörte vor allem ihr du, wo ich mir ein wir gewünscht hätte.

„Wenn der Teig gegangen ist, knete soviel Mehl drunter, bis sich der Teig von den Händen löst. Dann kannst du ihn backen.“

„Bist du morgen nicht mehr da?“, fragte ich besorgt.

„Wir müssen den Teig an einen sicheren Ort bringen, wo er bis morgen ungestört gehen kann. Zugluft verträgt er nicht.“ Sie stand auf und besah sich die Umgebung. „Wo schläfst du eigentlich?“

„Keine Ahnung. Ich bin erst seit heute hier.“

„Dann wird’s Zeit, dass du dich um ein sicheres Lager kümmerst“, sagte sie mütterlich.

Ich nickte in die aufkommende Dämmerung, obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie ich in der kurzen Zeit vorm Dunkelwerden zu einem Lager kommen sollte.

An einem Wall in der Nähe des Baches auf dem bereits abgeernteten Feld trugen wir Steine zusammen. Hier baute Grit für den Teig ein ziemlich massives Versteck, das ich zuletzt mit großen Feldsteinen verschloss.

„Und nun?“, fragte ich vertraulich.

„Jetzt musst du daran denken, wo du schläfst. Nachts schlafen nicht alle.“

„Und du?“