Das Waldhaus - Jost Bonner - E-Book

Das Waldhaus E-Book

Jost Bonner

0,0

Beschreibung

Olaf Biber - auf der Flucht vor seinem bisherigen Leben - verläuft sich in einer unbekannten Gegend. Am Ende seiner Kräfte, stößt er auf ein verfallenes Haus, zu dem nicht einmal ein befahrbarer Weg zu führen scheint und das sich bei näherer Betrachtung als ein Dreiseitenhof entpuppt, der bessere Tage erlebt haben muss. Zu seiner weit größeren Verwunderung ist das Haus sogar noch bewohnt. Biber bittet um ein Glas Wasser und bekommt dazu ein neues Leben. Doch dafür muss er Dinge tun, die er noch nie getan und die ihm wohl keiner zugetraut.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 401

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Titelbild

Bearbeitete Illustration von Erna Hübner

zu Das Waldhaus

Volk und Buch Verlag . Leipzig 1947

Buchrücken

Historische Fotografie Carneal Goldman 1885 (bearbeitet)

Inhaltsverzeichnis

Erste Überraschung

Waldhaus

Zweite Überraschung

Dritte Überraschung

Biber ist fertig, fix und fertig, wie man sagt, wenn man nicht weiß, was fertig wirklich bedeutet. Biber ist klar, dass er die Strapazen noch einmal bewältigen würde, wenn es denn sein muss, also bis zum Zeitpunkt, an dem er sich dem Tod ergibt. So weit ist er noch nicht. Aber er weiß auch, dass die Chance nur gering ist, selbst nach Wiederholung der Strapazen aus der aktuellen Situation herauszukommen, die ganz und gar unbefriedigend ist. Das Argument, der Versuch ist vernünftiger, als aufzugeben, zieht nicht mehr. Es hat an diesem Tag schon zu oft herhalten müssen. In welche Gegend war er hier geraten? Keine Wegzeichen, keine Wege, kein nichts. Biber geht weniger mit den Umständen ins Gericht, als mit sich selbst. Wie dumm muss man sein, in einer vollkommen unbekannten Gegend Ende Oktober nur mit einem dünnen Jackett bekleidet herumzulaufen; ohne Telefon, also auch ohne Navigationshilfe? Dümmer als ein Urmensch. Biber weiß, dass er in eine hinterhältige Falle getappt ist. Die moderne Zivilisation kennt solcherart Gefahren nur in großer Entfernung urbaner Siedlungsräume, das heißt, in Deutschland quasi nirgends. Mit dem Telefon hätte er wahrscheinlich ein Taxi herbeordern können. Aber mit Telefon hätte er sich gar nicht erst verlaufen. Ein Weg hat ihn ins Waldgebiet gelockt, der dann zunehmend mit der Heide verschmolzen ist oder, besser, sich in ihr aufgelöst hat. Am Anfang hatte er noch darüber gelacht. Aber als er dann zum vierten Mal an einem Seeufer stand, hatte ihn ein ungutes Gefühl beschlichen. Biber ist Anfang Sechzig und hält sich für nicht weniger beweglich und ausdauernd als ein Vierzigjähriger.

Vor sechs Stunden hatte er die Herberge verlassen, um sich die Beine zu vertreten. Er hat Durst und Hunger und eine Menge Wut im Bauch, nicht nur über die eigene Blödheit, aber zuletzt vor allem über sie. Am Anfang war es eine kaum spürbare Empörung gewesen. Goldhaus, der junge Bauleiter, hatte ihn hemdsärmlich beim Frühstück gefragt, warum er mit all dem Geld nie selber versucht habe, etwas zu gestalten, also den Bau nicht nur auszuführen, sondern selbst zu bestimmen, was gebaut wird. Die Frage hatte ihn getroffen, weil sie so simpel und naheliegend war. Er war ihr ausgewichen, um Zeit zu gewinnen, die richtigen Worte zu finden. Aber Goldhaus hatte unbarmherzig nachgebohrt und von Königen geschwätzt, die ihre Ideen auf ein Blatt Papier gekritzelt und hernach ein riesiges Untertanenheer in Bewegung gesetzt haben, diese Ideen zu verwirklichen, so dass noch heute Bauwerke Kunde von Fürsten geben, deren staatsmännischen und militärischen Leistungen längst vergessen sind oder nie wert waren, im gesellschaftlichen Gedächtnis bewahrt zu werden. Goldhaus, dieser junge Spund, was weiß der von den Widrigkeiten und Fallstricken, die den Weg erfolgreichen Unternehmertums kreuzen? vom Fluch verlorener Zeit, verlorener Aufträge, verlorener talentierter Kräfte, verlorener Sympathien, Freunde, Frauen? von Neid und Häme der Konkurrenz? der Verachtung der eigenen Kinder, die jede Annehmlichkeit des Wohlstands genießen und abfällig vom Wert des Geldes sprechen. Was weiß Goldhaus, wie grausam bisweilen Entscheidungen, Kompromisse, Niederlagen sein können? mit wie vielen schlaflosen Nächten er seinen Erfolg bezahlt hat und mit wie vielen begrabenen Leidenschaften? Die Wut gegen Goldhaus war der Wut gegen sich selbst gewichen. Dieser Prozess hatte sich nicht nur über sechs Stunden hingezogen, sondern über den ganzen Tag, vom Verlassen des Büros, über die Zugfahrt zu einem willkürlichen Ziel und die Wahl eines beliebigen Gasthofs bis zum Spaziergang in herbstlicher Sonne, der sich dann zu dieser Viecherei entwickelt hat; eine lange Zeit.

Biber steht auf einer lichten Stelle und dreht sich langsam im Kreis, wie so oft schon. Nichts. Kein Hinweis. Kein Weg. Kein Turm in der Ferne. Kein Laut. Kein Laut! Er schaut auf die Uhr, obwohl er sich vorgenommen hatte, es nicht mehr zu tun. Achtzehn Uhr zwanzig. Die Dämmerung lässt sich nicht mehr ignorieren. Biber hat das Gefühl, in einer Richtung mehr Licht auszumachen, einen Hauch nur. Als er darauf zu läuft, gerät er auf einen Pfad. Er bemerkt es erst, als er wieder am Seeufer steht, vor sich eine marode Anlegestelle. Er balanciert auf jener am weitesten in den See ragenden Planke. Wenn er sich vorbeugt, kann er links die ferne, in seinem Zustand unendlich ferne, abendliche Silhouette einer Stadt erkennen. Mühlfurt. Er muss die längste Zeit von diesem Ziel weggelaufen sein. Das sind wenigstens zehn Kilometer Luftlinie. Biber hat keine Erfahrung im Schätzen großer Entfernungen. Ihm ist klar, dass es auch viel weiter sein kann. Wenigstens kennt er nun die Richtung. Mit Hilfe des Nordsterns oder anderer auffälliger Sternbilder kann er die Richtung im Auge behalten. Natürlich erst, wenn es richtig dunkel ist und ... Der Himmel ist wolkenbehangen. Wie zum Hohn beginnt es zu nieseln. Biber friert eh schon. Er wendet sich um. Der Pfad. Der Trampelpfad, auf den er geraten war, muss irgendwo hinführen. Er läuft zurück. Der Pfad geht links in den Wald. Biber läuft in gerader Linie vom Steg weiter. Nicht lange, und der Pfad biegt scharf nach rechts.

Nach einigen Schritten, vorbei an Gestrüpp und Unterholz, trifft er auf ein gewaltiges Tor in einer unüberwindlichen Backsteinmauer. Linker Hand steht ein zweistöckiges Haus mit gedecktem Giebel vorn heraus. Die Fenster sind blind, alle Gardinen zugezogen. Immerhin sind die Scheiben heil, jedenfalls, soweit er das erkennen kann. Wie konnte er das Haus übersehen? Das Tor ist groß genug, um einen überladenen Heuwagen ohne Schwierigkeiten passieren zu lassen. Die gewaltigen Flügel sind verschlossen. Die kleine Tür im rechten Torflügel lässt sich bewegen. Dem Trampelpfad nach muss sie gelegentlich benutzt werden.

Er tritt vorsichtig ein. Ihm gegenüber, einen Steinwurf entfernt, Biber schätzt dreißig Meter, befindet sich ein Tor gleicher Bauart. Links erhebt sich der Giebel des Wohnhauses, zwei Geschosse, ein mäßig steiles Dach, rechts der Giebel eines kleinen Nebengebäudes, Garage oder Backhaus. Für eine Garage ist das Tor zu schmal, für ein Backhaus ist der Bau ein bisschen zu komfortabel. Die Tür ist verschlossen. Er geht auf das gegenüberliegende Tor zu, unter seinen schmerzenden Füßen altehrwürdiges Pflaster; gebrochener roter Granit, sorgsam gefügt und von unzähligen Tritten geglättet. Das Gras in den Fugen reicht bisweilen an die Hüfte. Über alles hat sich die Natur hergemacht. Wer sie sucht, kann Pfade auf dem Pflaster erkennen, vom Tor zum Wohnhaus und von da zum Verschlag in der Hofmitte, dessen Zweck Biber nicht gleich durchschaut.

Er dreht sich um und um, während die Füße nach Entlastung schreien. Obwohl er die Augen nur mit Mühe offenhalten kann, nimmt er - nahezu zwanghaft - den Hof in Augenschein. Mit versiertem Blick stellt er fest, dass das alte Gemäuer einmal bessere Tage erlebt haben muss. Was unterm und hinterm dichten Bewuchs erkennbar ist, wurde einst bemerkenswert zweckmäßig und wohl auch solide gebaut. Das quadratische Ensemble ist mit tausend Quadratmetern ungewöhnlich üppig.

Biber wendet sich - im Bogen dem Pfad folgend - nach links und steht nun genau vorm Eingang des Wohnhauses, das - vom Dach abgesehen - in einem wiederherstellbaren Zustand sein mag. Eine Mauer verbindet den äußeren Giebel des Wohnhauses mit einem Trümmerhaufen, ehemals Teil einer großen Scheune, die dem Wohnhaus gegenübersteht. Der Außengiebel und Teile der anschließenden Grundmauern sind eingefallen, die offenen Stellen notdürftig mit verschlissenen Planen gesichert. Dem beinahe heilen Teil der Scheune folgt das gewaltige Hintertor in einer nur schmalen Mauer, die bis zum geduckten Giebel des Stalles läuft, der die dritte Ecke des Hofs markiert, ein niedriger, langgezogener Bau mit drei Türen und schmalen Lüftungsschlitzen und einem genau in der Mitte eingedrückten Dachstuhl. Dem Stall folgt eine Mauer, die mal einen teils offenen, teils geschlossenen Schuppen gehalten hat und sich lang bis zum Außengiebel des schon erwähnten Backhauses erstreckt, das in der vierten Hofecke steht. Die Mauer zwischen Back- und Wohnhaus mit dem Tor, durch das Biber eingetreten ist, schließt das Geviert des Dreiseitenhofs.

Biber schlurft zur Eingangstreppe des Wohnhauses und setzt sich - ungeachtet der Hose - auf eine wenig bemooste Stelle der feuchten Stufen. Der Schmerz in Füßen und Beinen hält an. Biber glaubt, den Zweck des Verschlags in der Mitte zu erraten. Was soll das anderes sein als ein Taubenschlag? Er schließt die Augen und versucht, sich den Grundriss vorzustellen. Ein quadratisches Areal. Links, sich längsseitig gegenüberliegend, Wohnhaus und Scheune, beide nahezu gleichgroß, an den linken Giebeln durch eine Mauer verbunden; an den rechten Giebeln kurze Mauern mit den beiden Toren. Dem hinteren schließt sich der Stall an, der längs nach vorn läuft, dem Vordertor quer das Backhaus, das so lang ist, wie der Stall breit. Stall und Backhaus verbindet die lange Schuppenmauer.

Biber schaut zum Schuppen oder, besser, dem, was davon übriggeblieben ist. Er sieht einen Haufen maroder Gartenmöbel. Vielleicht wäre ein Stuhl noch zu gebrauchen. Die Entfernung scheint ihm unüberwindbar zu sein. Er legt den Kopf in den Nacken und die Ellbogen - ungeachtet des Jacketts - auf die nächsthöhere Treppenstufe. Obwohl ihm kalt ist, genießt er den feinen Nieselregen im Gesicht. Niesel ist von jeher sein Lieblingswetter, solange es nicht zu kalt ist. Ihm ist erbärmlich kalt. Schlimmer als die Kälte ist der Durst. Zwischen den Lippen klebt zäher, bitterer Speichel.

Bibers Gedanken kehren sich erneut gegen sich selbst. Er hat das Smartphone nicht im Gasthof vergessen, sondern im Büro; und auch nicht vergessen, sondern gelassen; vorsätzlich, damit sie merken, dass er für sie nicht mehr erreichbar ist. Soll Goldhaus zeigen, was er kann. Biber hat ihn angestellt, um ihn langsam in sein Ressort einzuarbeiten und sich dann ebenso langsam aus dem Geschäft zurückziehen zu können. Muss es jetzt halt ein bisschen schneller gehen. Goldhaus ist gut. Biber steht kurz vor der Rente, drei Jahre, genau gesagt. Seinen Arbeitsanteil an der Unternehmensleitung schätzt er auf mindestens zwei Drittel. Das hat er seinem Compagnon nie vorgerechnet oder gar unter die Nase gerieben. Mag Brandner sehen, wie er damit zurechtkommt. Biber will nicht daran denken. Er muss sich klar darüber werden, inwieweit Goldhaus recht hat.

Biber ist müde. Schon zwei Mal sind ihm die Ellbogen weggeknickt. Er kann unmöglich auf der Treppe schlafen. Die Augen öffnen sich nur widerwillig. Die Dämmerung hat sich verstärkt. Im Schuppen gäbe es vielleicht ein trockenes Plätzchen und ein paar Stühle, die sich zu einem brauchbaren Lager zusammenstellen lassen. Die Lider senken sich ohne Impuls. Biber merkt es erst, als die Ellbogen weich werden.

Goldhaus hat recht. Biber wird auf einmal klar, dass er nicht wirklich eine Antwort sucht, sondern Argumente, die ihm helfen, ihr auszuweichen, also nur Ausflüchte. Oder ist diese Einsicht nur Folge der Müdigkeit ...?

„Guten Abend. - Kann ich Ihnen helfen?“

Biber taucht panisch aus dem Schlaf. Er spürt das rasende Herz. Vor ihm steht ein Mädchen, besser, eine junge Frau, klein und zierlich, genaugenommen mager und kantig, wenigstens im blassen Gesicht, das ohne diese Makel durchaus schön sein könnte, burschikoses Haar, wache Augen, zierliche Nase, sinnlicher Mund, das Lächeln ein bisschen bemüht, aber nicht weniger reizend in diesem Anflug von Verlegenheit.

„Wo kommen Sie her?“, fragt Biber mit schläfriger Stimme.

„Das sollte eigentlich ich fragen. - Ich wohne hier.“

Biber dreht sich um, soweit das seinem steifen Rumpf zuzumuten ist. Die Haustür steht offen. „Allein?“

„Mit meiner Mutter.“

„Pardon, ich hätte nicht gedacht, dass hier ... Ich will nach - Mühlfurt.“ Biber ist erleichtert, dass ihn das Gedächtnis nicht im Stich gelassen hat.

„Sind Sie zu Fuß?“

„Ja.“

„Da haben Sie noch ein gutes Stück Weg vor sich.“

„Hätten Sie vielleicht ein Glas Wasser?“

„Oh, entschuldigen Sie.“ Das Mädchen läuft zum Verschlag, öffnet ihn beherzt und kehrt mit Krug und Glas zurück. Letzteres reicht sie Biber.

Er trinkt in einem Zug und hält ihr erneut das Glas hin.

Sie schenkt nach. „Sind Sie okay?“

„Wie heißen Sie?“

„Vanessa. Vanessa Schacht.“

„Ich heiße Olaf Biber. Kann ich mich ein bisschen bei Ihnen aufwärmen?“

Das Mädchen zögert. „Das ist keine Herberge mehr.“

„Das sieht man.“

„Ich sage das nur, damit Sie nicht enttäuscht sind.“

Biber reicht ihr das Glas und bemüht sich, aufzustehen. Er benötigt einen zweiten und dritten Versuch, um auf die Beine zu kommen. Von den Füßen bis in die Oberschenkel zieht sich ein heftiger Schmerz, der bei der Ersteigung der fünf Treppenstufen gehörig anschwillt.

Er folgt dem Mädchen ins Haus. Vom Flur aus führt eine Treppe ins Obergeschoss. Das Mädchen geht geradeaus, öffnet eine Tür und hält sie auf. Biber betritt einen saalartigen Raum, der anscheinend fast das gesamte Erdgeschoss einnimmt. Es riecht wie in einer Dorfschänke, obwohl der Raum offensichtlich schon eine Ewigkeit keine Gäste mehr beherbergt hat. Biber schaut auf einen beeindruckenden, leider kalten Kamin. Auf der linken, kleineren Saalseite türmen sich Tische und Stühle, Eckbänke und Zeitungsständer und drei leere Blumenbänke. Dazwischen läuft ein schmaler Gang wohl zu den Toiletten. Auf der rechten Saalseite steht der gewaltige, mit kunstvollem Schnitzwerk verzierte Tresen, dahinter ein raumhoher Einbauschrank, davor ein Tisch mit sechs Stühlen, an der gegenüberliegenden Wand zwei fürstliche Anrichten, ein altes weinrotes Sofa, zwei zugehörige Sessel, mehrere Beistelltische mit Kram bedeckt, eine olivgrüne Chaiselongue mit einer Unmenge an Kissen und Decken, zwei Kommoden, ein alter Ohrensessel und ein improvisiertes Himmelbett hinter einer halbgeschlossenen spanischen Wand. Dem Bett zufolge, ist das, was er sieht, wohl die ganze Wohnung.

Da das Mädchen hilflos im Raum stehenbleibt, erwählt sich Biber den Ohrensessel, obwohl ihm die Chaiselongue genehmer gewesen wäre. „Hätten Sie vielleicht auch eine Kleinigkeit zu essen?“

Das Mädchen lächelt nicht mehr. „Aber wirklich nur eine Kleinigkeit.“ Sie nimmt einen flachen Korb vom Tresen und läuft hinaus.

Biber schaut sich gründlicher um. Wenn man mit dem Rücken zur zugerümpelten Saalseite sitzt, sieht es sogar gemütlich aus. Die Möbel haben ein ehrwürdiges Alter - und Stil. Das meiste wurde wohl in ein und derselben Werkstatt gefertigt. Alles wirkt ein bisschen chaotisch, aber nicht liederlich, bis auf das Bett vielleicht, aber das wollte sich eigentlich den Blicken entziehen. Wahrscheinlich wurde die spanische Wand nur darum so nachlässig vorgeschoben, weil es außer dem Mädchen und der Mutter keinen gibt, der sich am Anblick hätte stoßen können.

Vanessa kehrt mit ein paar Eiern im Korb zurück und verschwindet hinterm Bett, wahrscheinlich in der Tür zu einem Nebenraum.

Biber genießt den Duft und zunehmend auch die Wärme, die seinen maladen Körper durchflutet. Wie kriegt sie den Saal warm ohne den Kamin? In Kürze ist er wieder eingenickt.

Vanessa stellt den Teller mit vier Spiegeleiern und den Korb mit einigen Scheiben Brot auf den Tisch zu Krug und Glas. „Es ist angerichtet.“

Biber drückt seinen unendlich schweren Leib aus dem Sessel und wankt zum Tisch. Er hätte vor dem Mädchen gern eine Idee beweglicher gewirkt. Der Schmerz unterdrückt schon den Versuch jeglicher Selbstbeherrschung. „Vielen Dank. Sieht köstlich aus.“

Vanessa bleibt unschlüssig stehen. „Mögen Sie ein heißes Fußbad?“

Biber kann sich nicht erinnern, je im Leben ein Fußbad genommen zu haben. Er geniert sich ein bisschen bei der Vorstellung, das Mädchen schon wieder herumzuscheuchen, mag aber auch nicht unhöflich sein. „Das wäre wahrscheinlich ein Labsal.“

Vanessa läuft hinaus und kommt wenig später mit einem Eimer Wasser zurück.

Sie ist viel zu mager. Biber schaut ihr nach und folgt all ihren Bewegungen, obwohl er sie kaum sehen kann hinterm Tresen.

Er ist noch über der Mahlzeit, als sie die Schüssel unter den Tisch schiebt, ihm Schuhe und Strümpfe von den Füßen zieht und sie vorsichtig in die Schüssel geleitet. „Die sind ja eiskalt. - Ist das Wasser gut so?“

„Hervorragend. Ähnlich stell ich mir das Paradies vor. - Setzen Sie sich doch.“ Beim Genuss des Bades muss er an Geschichten denken, die er in Kindertagen von der Kanzel gehört hat. Im arabischen Raum weiß man den Wert eines labenden Fußbades zu schätzen, wenn sie sich da wahrscheinlich auch eher über kühle Bäder freuen. Sollte er je im Leben ein Wirtshaus betreiben, dann unbedingt mit diesem Service.

Vanessa setzt sich ihm gegenüber.

Biber genießt die Stille und die Hoffnung, hier übernachten zu können. Letztere will er nicht mit unbeholfenen Fragen gefährden.

Auch Vanessa schweigt.

„Wohnen Sie schon lange hier?“, traut er sich dann doch.

„Ja, schon immer.“

Biber schaut überrascht auf. „Schon immer?“

„Meine Eltern haben den Hof in den Siebzigern gekauft und versucht, ihn in Schuss zu bringen.“

Biber nickt verständnisvoll.

Vanessa sieht, dass er sich verstellt. „Sie hätten es auch geschafft, wäre der Hof nicht in nur zwei Wochen erst von einem Blitz und dann von einem Baum getroffen worden.“

„Ach was.“

„Mein Vater ging nach Amerika, um bei Verwandten Geld zu leihen. - Das ist wohl schiefgegangen.“

„Ist ihm was passiert?“

„Keine Ahnung. Er ist nicht wieder zurückgekommen und hat sich später auch nicht mehr gemeldet.“

„Tut mir leid. - Sie sagten vorhin, Ihre Mutter wohnt noch hier.“

„Sie ist nicht da.“

„Warum ist Ihre Mutter nicht mit Ihnen fortgezogen in eine weniger ...“ Biber schaut sich um. „... abgelegene Gegend?“

„Die Gegend ist ganz hübsch. Ich gehe noch ein Jahr in Welkow aufs Gymnasium. Dann bin ich achtzehn und mach mich aus dem Staub.“

„Und Ihre Mutter?“

Vanessa mustert Biber. „Sieht so aus, als hätte sie sich schon aus dem Staub gemacht, wenigstens lebt sie jetzt bei ihrem Lover in Mühlfurt.“

„Dann sind Sie ... Haben Sie keine Angst hier so mutterseelenallein?“

„Ein bisschen schon, wenn ich ehrlich bin. Sie ist noch nicht lange fort.“

Biber hört und sieht den verhaltenen Groll.

„Und Sie? Was treibt Sie hierher?“

„Ich mach hier ein paar Tage frei.“

„Nur so?“

„Ja. Ich bin einfach mal losgefahren von Sachsen aus ins Brandenburgische.“

„Und warum ausgerechnet in diese gottverlassene Gegend?“

„Zufall. Ich bin nicht nur irgendwo hingefahren, sondern auch irgendwo ausgestiegen.“

„Da haben Sie sich ein schönes Irgendwo ausgesucht.“

„Wieso?“

„Hier gibt es rein gar nichts, das einen verleiten könnte, auch nur den Fuß auf den Bahnsteig zu setzen.“

„Immerhin hab ich diesen Hof gefunden.“

„Gratulation. - Wenn Sie wollen, schenk ich Ihnen den.“

„Gehört er Ihnen?“

„Der Hof, ja. - Wir sind nur Pächter.“

„Mit ein bisschen Geld und Elan könnte man was Hübsches daraus machen.“

„Ich hab weder das eine noch das andere.“

Biber überlegt, ob der Augenblick günstig genug ist, um mit der Frage herauszukommen, die ihm schon die ganze Zeit auf den Lippen liegt. „Ist es möglich ... Ich meine, könnte ich vielleicht eine Nacht hierbleiben?“

Vanessa erschrickt. „Nein! Sie sehen doch, dass hier kein Platz ist. Der Welkower Gasthof ist nur einen Kilometer weg.“ Erst jetzt bemerkt sie, dass der Alte für einen Irgendwo-Aussteiger und Querfeldein-Wanderer verdammt wenig Gepäck hat.

„Ich bezahl es natürlich.“

„Wofür denn? Es gibt hier nicht mal fließendes Wasser. In Welkow kriegen Sie alles, was das Herz begehrt.“

„Was wissen Sie denn, was mein Herz begehrt; von den Füßen nicht zu reden.“

„Was denn?“

„Von diesem Stuhl direkt ins Bett zu fallen.“

„Aber nicht in meins, falls Sie das denken.“

Biber hätte diese Vorlage gern für einen Scherz missbraucht, hält es aber für klüger, darüber hinwegzugehen. „Ich nehme auch mit einer Matratze in der Kammer vorlieb. - Haben Sie Erbarmen.“

„Wo ist Ihr Gepäck?“

„Ich hab kein Gepäck.“

„Herr ...“

„Biber“

„... wollen Sie mir erzählen, dass Sie einfach so losgefahren sind, ohne Mantel und Schal, ganz zu schweigen von irgendwelcher Wechselwäsche, um irgendwo auszusteigen und in der Welt herumzuziehen und in irgendwelchen Absteigen zu übernachten?“

„Das hier ist keine Absteige.“ ‘Es ist das Spannendste, was mir je begegnet ist.’ Die zweite Hälfte behält er für sich. „Sie können das kopflos nennen“, raunt er schüchtern. „Manchmal ist man halt so. Sind Sie noch nie kopflos gewesen?“

Vanessa schaut Biber nachdenklich an. „Duks“, sagt sie mit diesem hintergründigen, bezaubernden Lächeln.

Biber glaubt, dieses Duks schon mal gehört zu haben, vor Urzeiten, erinnert sich aber nicht, wo und wann. „Was heißt das?“

„Das soll heißen, wir sind es zufrieden.“

„Wir?“

„Pluralis majestatis. - Ich mach Ihnen das große Bett.“

„Nein, nein, um Gottes Willen, machen Sie sich keine Umstände. Ich schlafe auf dem Sofa.“

Als Biber am Morgen erwacht, scheint bereits die Sonne durchs Fenster. Er hat so wunderbar geschlafen, wie schon lange nicht mehr. Er dreht sich auf den Rücken, zieht die Beine an und stößt mit Schwung die Decke auf. Er kreist mit den Füßen und wundert sich, dass sie kaum noch schmerzen. Auf dem Tisch findet er einen Zettel mit Anweisungen, wo er was zu essen findet, wie er das Haus verlassen soll und auch noch, wie er ins nahe Welkow gelangt.

Er streckt sich, schält sich aus dem fremden Nachthemd, nimmt das zurechtgelegte Handtuch und marschiert ins Freie. Die Sonne ist noch immer darum bemüht, die Frühnebel zu heben. Biber genießt das Lichtspiel und die Stille und die Luft und die Frische des Morgens. Der Brunnenverschlag ist ein sehr rustikaler Waschraum. Der Brunnen selbst ist abgedeckt. In einer Ecke steht sogar eine Waschmaschine. Der Abflussschlauch liegt auf dem Boden und endet an einem Schleusenrost, über dem sich die Brause befindet. Mehr ist nicht nötig für eine spartanische Erfrischung. Wie auf dem Zettel beschrieben, setzt er die Pumpe in Gang, die das Wasser aus dem Brunnen hebt und in die Brause drückt, ein großes, altehrwürdiges, unerwartet ergiebiges Teil. Ein Kälteschock; ein paar Sekunden Beherrschung; dann kann er das Wasser genießen. Am Abend war er nur noch in das alte Nachthemd geschlüpft, das ihm Vanessa von oben geholt hatte.

Seine Sachen, die das Mädchen umsichtig auf die Stühle verteilt hat, sind trocken und zu Bibers Erstaunen weniger in Mittleidenschaft gezogen, als befürchtet.

Das Frühstück ähnelt sehr dem Abendbrot, nur dass die Eier gekocht sind, immerhin weichgekocht, in niedlichen Eierwärmern.

Neugierig steigt Biber im Hof umher. Er begutachtet alle Räume, soweit sie sich begutachten lassen, also nicht mit Kram und Müll, Ramsch und Gerätschaften mannshoch zugerümpelt sind. Nur im zweiräumigen Backhaus gelangt er auf schmalem Pfad zum rostgepeinigten Ofen am gegenüberliegenden Giebel. Immer wieder scheucht er Hühner auf, die laut gackernd an ihm vorbeirennen oder -flattern.

Biber inspiziert den Hof diesmal gegen den Urzeigersinn und macht sich Notizen in einen alten, im Tresen gefundenen Rechnungsblock. Das Backhaus misst sieben mal vier Meter und ist auch äußerlich weitgehend intakt. Der Schuppen zwischen Backhaus und Stallgiebel ist zwölf Meter lang und war mal an die zwei Meter fünfzig tief. Marode trägt Biber ein, das heißt nicht zu retten. Aber viel gibt es hier nicht abzureißen, nur die wenigen Bretter des Daches, die der Witterung getrotzt haben, und ein paar Segmente der teilweise geschlossenen Vorderfront. Die Hinterwand, also Mauer des Hofes, kann Biber kaum sehen. Ungeachtet des schlechten Zustands hat der Schuppen kaum ein leeres Plätzchen.

Am Stallgiebel rostet ein Aufzug vor sich hin, unbedingt erhaltenswert. Eine marode Treppe geht bis zur Bodentür. Vom zertrümmerten Dach abgesehen, ist der Zustand des Gebäudes insgesamt gesehen halb so schlimm. Es gibt drei Türen und nur schmale mit staubvollen Spinnweben dicht verhüllte Fenster. Alle marode. Biber öffnet die Türen, um sie rasch wieder zu schließen. Wann und wo hat sich nur all der Ramsch angesammelt? Er schreitet die kurze Mauer vom hinteren Giebel des Stalls zur Scheune ab. Vier Meter.

Das gewaltige Tor ist zwar nicht zu retten, gäbe aber immerhin noch eine gute Vorlage für eine Rekonstruktion. Drei mal drei Meter notiert Biber. Er dreht sich um und schaut von Tor zu Tor in eine Gasse, die da, wo er steht, linker Hand von der Seitenwand des Stalls und rechter Hand vom Giebel der Scheune gebildet wird, sich dann zwischen Schuppen und Innenhof erweitert, um am gegenüberliegenden Tor zwischen niedrigem Backhausgiebel und Wohnhausgiebel wieder beengt zu werden, eine vier Meter breite, kerzengerade Durchfahrt. Biber notiert zudem: gegenüberliegende Mauer und Tor gleiches Maß. Das Tor, vor dem er steht, lässt sich auch mit frischen Kräften nicht öffnen.

Biber schaut am rechten Giebel der Scheune empor: zwei Geschosse mit ausbautauglichem Dach. In der flach zulaufenden Dachspitze entdeckt er einen gewaltigen Aufzug. Marode, aber unbedingt zu restaurieren. Den vielen Fenstern zufolge, wurde dieses Gebäude zuletzt nicht mehr als Scheune genutzt. Für ein Altenteil ist es aber viel zu groß. Biber geht weiter. Mit geübten Schritten ermittelt er elf Meter für den Giebel. Da er die Wohnhausfront schon ganz am Anfang abgeschritten ist, notiert er achtzehn Meter für die Länge. Stattlich. Vom ziemlich im Zentrum des Hofes stehenden Brunnenverschlag aus kann Biber das ganze Gebäude überschauen, oder, besser, das halbe. Die rechte Haushälfte ist erstaunlich gut erhalten, die linke ist Schutt. Die schwarzen Ränder an der noch stehenden Front sind Spuren eines Brandes. Jemand hatte begonnen, die Trümmersteine vom Schuttberg aus zu einer Mauer aufzuschichten, damit das Areal ringsum wieder geschlossen ist. Die Behelfsmauer geht allmählich in die intakte Mauer über.

Biber drückt mit einiger Kraft gegen das kleinere Tor in dieser Mauer zwischen Scheunenruine und Wohnhaus. Er schaut in ein Gewächshaus, das zu betreten lebensgefährlich ist. Marode. Viele Scheiben sind zerborsten. Nicht wenige stehen so auf Kippe, dass ein Luftzug sie zu Fall bringen kann. Biber begutachtet die gusseisernen Säulen, die die Dachkonstruktion halten, wo die Streben noch nicht durchgerostet sind, und schreibt: Säulen, Gusseisen, vollzählig und weitgehend unversehrt.

Obwohl seine Beine und Füße noch von der Tortur des Vortages schmerzen, durchquert er schnellen Schrittes das halsbrecherische Gelände. Aus sicherem Abstand betrachtet er nun von außen atemlos die westlich gelegene Waldseite des Hofes, wie er sie nennt. Der Giebel des Wohnhauses rechter Hand ist fast makellos, auch der größte Teil der sich anschließenden Mauer mit dem kleinen Tor. Den Trümmerhaufen der Scheune links sieht sich Biber schon zurecht.

Er bricht sich Bahn durch das Dickicht rings um den Hof, den er jetzt im Uhrzeigersinn umkreist. Von der nördlich gelegenen Bergseite sieht die Ruine noch ärger aus. Biber konzentriert sich auf das, was da ist, und das scheint eine Menge zu sein: in der Mitte der noch stehende Teil der Scheune; links die Mauer mit der Durchfahrt und der Stallgiebel mit einem kunstvoll gemauerten Taubenschlag unterm Dach.

Biber kriecht weiter um die Ecke zur östlich gelegenen Flussseite. Auch der Stall sieht von außen weit schlimmer aus. Hier ist nicht nur das Dach, sondern auch die Mauer eingedrückt. Von außen kann er die Mauerrückwand des Schuppens erkennen, die gut erhalten ist.

Als er auch noch die letzte Ecke des Hofes, also die des Backhauses, passiert und wieder vor der Front des Wohnhauses auf der südlich gelegenen Dorfseite steht, ist unverkennbar, dass die Mauer, die den Hof einfriedet, immer auch noch eine andere Funktion erfüllt, mal Rückwand von Schuppen oder Glashaus, oft Hauswand, mal Halterung der schweren Torflügel. Er notiert weiter: Erdgeschoss und Mauern aus dunkelroten Klinkern im neuen Reichsformat, also hartgebrannten Ziegeln, acht Millimeter flacher als die heutigen. Obergeschoss von Wohnhaus und Scheune und alle Giebel, außer Stall, aus Fachwerk, das, neben vielen Fenstern, auch die Mauerbereiche ziert.

Biber schüttelt den Kopf. Das ist sinnlos und teuer. Er muss aber gestehen, dass es gut aussieht, weil es der Mauer überall da, wo sie auch Außenwand von Gebäuden ist, den strengen Mauercharakter nimmt. Je länger er sich umschaut, umso klarer wird ihm, dass die noch vorhandene Substanz gewaltig, der Bau in allem solide ausgeführt ist.

Wieder im Hof angelangt, begeistert ihn bereits der sorgsam mit Natursteinen gepflasterte Boden, der an nur wenigen Stellen schadhaft ist. Er schaut besorgt nach oben und schreibt dann: Größter Schwachpunkt sind wohl die Dächer, deren Zustand noch nicht zu ermitteln ist.

Nachdem er Stift und Rechnungsblock sicher im Jackett verwahrt hat, geht er ins Haus. Hier macht er Ordnung, das heißt, er räumt seine Sachen auf. Das Bettzeug legt er aufs Himmelbett, das er diesmal sehr ordentlich vorfindet.

Seine Gedanken kreisen fortwährend um den Hof und das Mädchen, das in seinen Gedanken schon Vanessa heißt.

Gegen Mittag verlässt Biber den Hof, wie von Vanessa gewünscht. Auf schmalem Pfad zwischen herbstlichen Feldern und Seeufer wandert er nach Welkow, einem wie es ausschaut - gut betuchten Dorf, vorbei am altehrwürdigen Gymnasium aus der Gründerzeit und dem zugehörigen Internat von nicht ungeschickt angepasster Architektur. Das also war Vanessas täglicher Schulweg. Er schaut nur kurz zur Fensterfront der begehrten Eliteschule, der Welkow einen Gutteil seines Wohlstands verdankt. Der von Kirche und Gasthof dominierte Dorfplatz hat beinahe etwas Kleinstädtisches. Biber schaut sich um und zählt acht Geschäfte: Bäcker, Fleischer, Tante-Emma-Laden, Schul- und Bürobedarf, Kunstschmiede, Dönerbude, Obst & Gemüse, Haushaltswaren & Elektrogeräte. Schwer vorstellbar, dass sich ein Haushaltsladen vor einer Apotheke oder einem Schuhgeschäft halten kann.

Er beschließt, im Welkower Gasthof einzukehren. Die Gaststube ist leer. Biber wählt den Tisch mit der besten Aussicht sowohl nach innen, wie nach außen. Er ertappt sich dabei, den Raum mit den Augen eines Konkurrenten zu betrachten. Die Bedienung ist freundlich, das Bier kühl und süffig, die Spaghetti sind gut, der Preis ist selbstbewusst, aber akzeptabel. Da er das Taxi mit dem Essen bestellt hat, muss er hernach nicht lange warten.

Der Taxifahrer ist redselig. Eigentlich mag Biber keine geschwätzigen Dienstleister, aber in diesem Fall kommt ihm der Redebedarf nicht ungelegen.

„Nach Mühlfurt wolln Se? - Warn Se schon da?“

„Kurz.“

„Länger lohnt sich ooch nich. Is ’n verfluchter Ort. Bis off de abjewirtschaftete Ziejelei is nüscht mehr los. Früher jab’s noch Arbeet off de Werft, aber die is schon lange tote Hose. Und janz früher hat de Dampfmühle ’n Haufen Leute in ’t Jeld jebracht. Mühlfurt is ne Stadt, wo se in alle Zeiten off de falschen Pferde jesetzt ham. - De Spitze vons Janze is der Jeisterhof. Der olle Ackermann, wat der Chef von de Ziejelei war, baut bei de ruinierte Dampfmühle ne Luxusabsteige, jedenfalls für damalige Verhältnisse, und kricht kurz vor de Eröffnung kalte Füße. Lässt allet liejen und haut ab. Det is jetzt hundert Jährchen her. Wat denken Se woll, wat aus ’m Hof jeworden is? - Nüscht. Steht immer noch am Mühlenberg rum, wie ihn der olle Ackermann verlassen hat. Und warum? - Weil hier nüscht los is. Ackermann hat det begriffen, wenn ooch erst kurz vor knapp. - Wat noch einigermaßen lief, wie de Werft, is spätestens seit de Wende ’n Bach runter. - Da fällt mir ne schöne Jeschichte von de Wende in. Wolln Se die hörn? - Müssen Se hörn. Da wollten de Stadtväter ’n Denkmal für de friedliche Revolution und bestellten dafür eigens ne Berühmtheit aus Berlin. Und wat macht er? ’n Esel, aber so, dat er dem Zeitjeist zu ähnlich is. ’n Esel! Det is typisch für Mühlfurt. Die berappen ’n ordentlichet Stück Jeld für ne Sehenswürdigkeit vorm Amtsjebäude. Und wat kriegen se? ’n Esel!“ Der Chauffeur schlägt sich lachend auf die Schenkel, erntet aber allein Bibers besorgten Blick aufs Lenkrad. „Na, Sie ham woll jar keen Humor. - Der Esel is nu aber erst recht ne Sehenswürdigkeit und ’n echter Spiegel für de meisten Zeitjenossen. - Wo wolln Se ’n eigentlich jenau hin? So kleen is det Nest nu ooch wieder nich.“

„In den Gasthof ... am Wald.“

„Hier jibs nur een Jasthof. Und da stehts ooch nich rosig. Sie wolln zu de juute Erika, wat de Frau Weller is. Bei der ham Se’s juut jetroffen. Der Kronenkrug liegt gleich am Ortseinjang. - Darf ick fragen, wat Sie hierher verschlagen hat?“

„Ich wollte ein paar Tage ausspannen.“

Der Chauffeur lacht ungehalten. „Nüscht für unjuut. Ick frag zuville. Jeht mich ja nüscht an, wat Se hier machen tun. - Grüßen Se mir de süße Erika recht schön, und sagen Se ihr, dat ick Sie det Lokal empfohlen hab, da krieg ick bei Jelegenheit ’n Essen gratis für. - Macht zweiundzwanzig siebzig.“

Biber gibt ihm dreißig und steigt aus.

„Vielen Dank, Herr Direktor. Hier, nehmen Se de Karte. Ick chauffier Se bei jedet Wetter.“

Frau Weller empfängt ihn angesäuert. „Jetzt bin ich sehr gespannt.“

„Entschuldigen Sie. - Bitte.“

„So nicht. - Vielleicht erzählen Sie mir noch, was ich entschuldigen soll.“

Biber lacht schon, bevor er die Antwort heraus hat. „Ich hab mich verlaufen.“

„Sie, das ist nicht witzig. Ich hab die halbe Nacht auf Sie gewartet und zuletzt erwogen, die Polizei zu rufen. Normalerweise buchen die Leute nicht bei mir und schlafen dann auswärts. Es hätte auch was passiert sein können. Immerhin wollten Sie sich nur mal kurz die Füße vertreten.“

Biber ist um Ernsthaftigkeit bemüht. Erstaunt stellt er fest, dass die Leidenschaft die Wirtin um einiges attraktiver macht. „Ich hab gelacht, weil mir klar war, dass Sie mir eh nicht glauben. Es war was passiert. Und es wäre nicht schlecht gewesen, Sie hätten die Polizei gerufen. Aber vermutlich hätte auch die mich nicht gefunden.“

„Wo waren Sie denn, zum Teufel?“

„Nachdem ich mir über sechs Stunden die Füße vertreten habe in Ihrem Wald ohne Wegzeichen und Wege, war ich froh, auf den Mühlenhof gestoßen zu sein. Andernfalls hätte ich wohl bei Nieselregen unter freiem Himmel übernachtet.“

Die Wirtin reagiert befangen. „Wollten Sie dahin?“

„Nein. Ich sagte doch, dass ich mich verlaufen hab.“

Frau Weller setzt sich. „Das ist schon seltsam.“

„Was ist seltsam?“, hakt Biber nach, da die Wirtin keine Anstalten macht, weiterzureden.

„Mein Mann, der vor zwei Jahren gestorben ist, hat sich zuletzt beinahe ausschließlich mit dem Gehöft und seiner wechselvollen Geschichte befasst. Er war regelrecht vernarrt in die Ruine. Ich hatte den Eindruck, dass es bei ihm zuletzt eine Art fixe Idee geworden war.“

Nun setzt sich auch Biber.

„Was haben Sie?“

„Glauben Sie an sowas wie Vorsehung?“

„Nein, Sie etwa?“

„Dass es mich hierher verschlagen hat, ist absoluter Zufall, erst recht, dass ich mich verlaufen hab. Da rettet mich der Hof. Im Taxi eben, ohne dass ich ihn darauf gebracht hätte, redet der Fahrer über den Hof. Und jetzt erzählen Sie mir, dass Ihr Mann sich leidenschaftlich mit dem Hof beschäftigt hat. Das ist für die kurze Zeit, die ich hier bin, ein bisschen viel Hof, finden Sie nicht?“

„Jetzt hören Sie auf. Es gibt doch noch ganz andere Zufälle.“

Biber antwortet nicht, hält es aber doch für einen Wink des Schicksals, an den Hof geraten zu sein, noch dazu in einer Situation, da er versucht, dem alten Leben zu entfliehen.

„Sind Sie den schrulligen Bewohnern des Hofes begegnet?“

Biber hält die Furcht zurück, die Wirtin könne ihm das Mädchen verleiden. „Nein.“

„Die lassen alles offenstehen.“

„Nicht alles. Zum Glück die Haustür.“

Die Wirtin sieht ihn lange nachdenklich an. „Mein Mann hat sich nicht nur mal so für den Hof interessiert. Sein Gewissen hat ihn drauf geworfen. - Als wir mit großen Plänen und noch größeren Illusionen den Gasthof vierundneunzig übernommen haben, gab es keine Konkurrenz; hier und da eine Dönerbude oder Pizzeria, aber nichts Richtiges, nichts Dauerhaftes, geschweige denn mit Herberge. Unsere Vorgänger hatten davon gut leben können, warum also nicht auch wir, die wir alles ja noch viel besser machen wollten. Wir hatten vom Elend des Mühlenhofs gehört. Das war aber nicht auf unserem Mist gewachsen. Für jeden, der den Hof sah, stand fest, dass es selbstgewähltes Elend war. 2005 änderte sich alles. August Fiedler machte eine beträchtliche Erbschaft und möbelte den Hof wieder auf. Sie hatten ein mieses Leben gehabt, von vielen verachtet und verspottet. Nun hatten sie die Möglichkeit, alle fühlen zu lassen, wie gut es ihnen geht. Er war nicht fies. Er nahm nur kein Blatt vor den Mund. Und er war hart gegen all die, die sich vor der neuen Konkurrenz ängstigten, die Golls in Welkow und wir. Ein Blitz und ein Baum haben Fiedlers Träume allesamt in Luft aufgelöst. Natürlich wurde viel getratscht, über uns und mehr noch über die Golls, die ja viel Schlimmeres zu befürchten hatten. Ihr Gasthof liegt nur einen Kilometer vom Mühlenhof, unser zehn. Alvin hat Godelinde und Vanessa besucht, als Fiedler schon ein Jahr in Amerika war und alle unkten, dass er nicht wiederkommt. Seitdem hat er gesucht wie ein Besessener. Bis nach Berlin hat er die Archive durchstöbert.“

„Godelinde? Die Mutter heißt wirklich Godelinde?“

„Schrulliger Name, nicht?“

Biber baut dem Gedächtnis Brücken, die geeignet sind, den Namen zu behalten. „Und hat er was gefunden?“

„Ich glaube nicht. Irgendwann hab ich ihn gebeten, mich mit all den Mutmaßungen über Unfälle und Verbrechen in Frieden zu lassen. Was sollte all das vergangene Zeug noch helfen? Den beiden im Mühlenhof ging es dadurch nicht besser. Er hat sie zuletzt oft besucht.“

„Warum?“

„Er glaubte, dass wir einer der letzten Sargnägel des Mühlenhofs gewesen sind.“

„Stimmt das?“

„Möglicherweise. Aber wenn, dann gilt das für unsere Vorgänger. Wir haben dem Mühlenhof ja nie geschadet. Wie auch? Die hatten ja überhaupt erst eine Chance nach der Erbschaft. Und da ging es uns auch schon schlecht genug.“

„Den Kronenkrug gibt’s heute noch.“

„Ja. - Wenn ich die Witwenrente nicht hätte ... Das ist alles mehr Hobby als Broterwerb.“

„Aber am Anfang hat es doch noch gereicht.“

„Ja, damals, als ich meinem Mann mit großen Träumen in dieses Nest gefolgt bin. Wir hätten alles so lassen sollen, wie es war. Stattdessen haben wir alles Geld in die Sanierung gesteckt und dann natürlich auch die Preise angehoben, um die Kredite bedienen zu können. Es dauerte nicht lange, da ging es nur noch darum, den Kronenkrug ohne Sinn und Verstand am Leben zu erhalten, um der Häme zu entgehen.“ Die Wirtin erhebt sich.

„Können Sie mir ein Rad leihen?“

„Im Keller steht Alvins Rad. Der Schlüssel hängt vorn am Brett. - Wenn Sie nicht wieder in die Irre gehen wollen, dann folgen Sie dem Weg immer gerade. Erst nach vielleicht vier Kilometern macht er einen leichten Bogen nach links.“

„Danke.“

„Wollen Sie nicht gleich in den Welkower Gasthof ziehen? Da sind Sie näher dran.“

„Nein. Den Mühlenhof hab ich ja nun gesehen. Ich brauche das Rad für die Stadt.“

„Aber kommen Sie nicht zu spät zum Essen.“

Am frühen Nachmittag begibt sich Biber auf Erkundungsfahrt in den Ort. Es sind kaum Leute unterwegs, und es gibt kaum Gelegenheit für die Augen, mal ein paar Sekunden auf einer überraschenden Entdeckung zu verweilen. Selbst das Stadtzentrum ist wie leergefegt. Was sollen die Leute auch auf der Straße? Gehen ja eh alle ihrer Wege. Der Markt ist sauber. Alle Fassaden sind renoviert. Es sieht aus wie auf einer Ansichtskarte. Nur Menschen fehlen. Schnell hat Biber das Zentrum weit hinter sich gelassen. Die Ziegelei erkennt er schon von weitem, ein imposanter Industriebau, ambitioniert, auch gehobenen architektonischen Ansprüchen zu genügen. Wer genauer hinschaut, sieht, dass es dem Werk nicht besonders gut geht. Biber denkt an den Taxifahrer. Nein, Mühlfurt ist nicht gerade reich an Sehenswertem. Der angrenzende Klare See, eine weite Ausbuchtung der Havel, die sich zehn Kilometer bis Welkow zieht, ist noch das Beste. Im See liegt auch die überflutete Furt, die dem Ort ihren Namen gab.

Biber fragt sich zur Werft durch. Sie liegt an einem Seitenarm der Havel, der wahrscheinlich eigens für die Werft gegraben wurde. Auch die Werft macht eher einen deprimierenden Eindruck. Biber schlendert übers verlassene Gelände. Alle Gebäude sind unansehnlich. Im Wasser rostet eine kleine Fähre vor sich hin, wie beinahe alles Metallische weit und breit. Der Werkhof ist leer, Slipanlage und Kräne sehen nicht so aus, als wenn sie in den letzten Jahren benutzt worden wären. In der Halle verlieren sich ein paar kleine Holzboote unterschiedlicher Verfallsgrade. Nach Arbeit sieht das alles nicht aus.

„Hallo! - Das ist hier Betriebsgelände.“ Ein stämmiger Mittvierziger schlurft - die Hände in den Taschen - auf Biber zu.

Der wartet geduldig, bis der andere nah genug vor ihm steht. „Sagen wir, Gelände. Wie Betrieb sieht das nicht aus.“

„Wollen Sie daran was ändern?“

Das war schlagfertig wie originell und reizt Biber, nicht weniger geistvoll zu antworten. „Möglicherweise“ ist das Beste, was ihm auf die Schnelle einfällt.

„Lassen Sie hören.“

„Sind Sie der Chef?“

„Sozusagen. Jakobi.“

„Haben Sie sonst noch was gelernt?“

Jakobi lachte laut heraus. „Sie sind ein Spaßvogel, Herr ... Sehen Sie, ich hab Ihren Namen schon wieder vergessen.“

„Biber.“

„Was kann ich für Sie tun, Herr Biber?“

„Meine Frage beantworten.“

„Frage? - Ach ja. Haben Sie Zeit?“

Biber nickt.

„Ist es nicht zu kalt nur im Jackett? Wir können auch reingehen.“

„Machen Sie sich um mich keine Sorgen.“

„Ja also. Gelernt hab ich Zimmermann. Später sind dann fast alle Bauhandwerke dazugekommen, Maurer, Fliesenleger, Klempner, Trockenbauer, Elektriker, Tapezierer und Anstreicher, Dachdecker. Reicht das? Als mit all dem keine Kohle zu verdienen war, hab ich zuletzt auch noch Schiffbau studiert. Aber wie Sie sehen, hat auch das nicht geholfen, auf sichere Füße zu kommen.“

„Ist die Fähre in Betrieb?“

„Nee, die haben sie vor drei Jahren stillgelegt. Unrentabel. Hier wurden mal solche Teile gebaut. Die da ist bestimmt nicht mehr fahrtüchtig, könnte aber wieder flottgemacht werden.“

„Klingt gut.“

„Ja.“ Jakobi wird verlegen wie jemand, der nur mit einem Ohr zugehört und das Wichtigste verpasst hat.

Biber braucht ein Weilchen, um ganz mit der Sprache herauszurücken. Der Mann, der vor ihm steht, gefällt ihm. Aber gerade das macht ihn unsicher, was vor allem daran liegen mag, dass er diese Art Sympathie auf den ersten Blick noch nicht oft erlebt hat. „Ich hätte da vielleicht eine große Sache, für den Fall, dass Sie an so einer Sache interessiert sind.“

„Kommt drauf an.“

„Ich beschäftige mich mit dem Gedanken, ein Ufergrundstück zu sanieren, das nur übers Wasser beliefert werden kann.“

„Mit der Fähre da?“ Jakobi verzieht das Gesicht. „Das kann keine so große Sache sein. - Wo gibt’s noch Grundstücke ohne Zufahrt? - Oder wollen Sie drüben in Neudorf bauen?“

Biber zögert erneut. „Am Mühlenberg.“

Jetzt entgleist Jakobi das Gesicht vollends. „Sie meinen nicht etwa den Mühlenhof?“

„Groß genug?“

„Sie sind verrückt. Was wollen Sie denn damit? Sie sind verrückt. Ich hatte schon geglaubt, dass Sie ein Typ sind, der Nägel mit Köpfen macht. Sie haben ja nicht alle Tassen im Schrank.“

„Ich hab Sie nicht gebeten, meinen Geisteszustand zu beurteilen.“ Die Sympathie für Jakobi verstärkt sich.

Der nickt lange unschlüssig. „Gut. - Drei Fragen: Wann soll es losgehen? Wie lange soll es dauern? Was soll es kosten?“

Das geht nun selbst Biber etwas zu schnell, der von sich denkt, ein Meister schneller Entscheidungen zu sein. Er muss sich entscheiden. Also kommt er mit sich überein, es in der Schwebe zu halten: den Hof vorerst nur in Ordnung zu bringen und erst dann zu renovieren, wenn es wenigstens einen vernünftigen Grund gibt, der dafür spricht, auch mehr Geld in die Hand zu nehmen. „Baubeginn schnellstmöglich. - Bauzeit variabel bis zu einem Jahr. - Wenn Sie annehmen, zahle ich einen Vorschuss von Hunderttausend und jede Rechnung prompt.“ Biber kann regelrecht sehen, wie die Zahl alle Bedenken niederreißt.

„Wie viele Leute stellen Sie sich vor?“

„So viele kompetente Leute, wie Sie auftreiben können. - Wir werden sacht beginnen und vorerst nur das Gelände und die Gebäude in Ordnung bringen, den baulichen Zustand eruieren, vermessen, die Dächer schließen und dicht machen, Schäden an den Grundmauern beheben.“

Jakobi nickt wieder lange. „Kriegen wir hin.“

„Wir brauchen die Fähre.“

„Mach ich zurecht.“

„Es gibt da noch eine Bedingung.“

Jakobi zieht ein schmerzvolles Gesicht. „Ich höre.“

„Absolute Verschwiegenheit was den Ort und das Projekt betrifft. - Bei Verletzung der Bedingung endet die Zusammenarbeit prompt.“

Jakobi atmet tief durch. „Bei sowas mach ich nicht mit. Faule Dinger dreh ich nur in kleiner Form.“

„Das ist kein faules Ding!“

„Warum dann die Heimlichtuerei?“

„Um Füchse und Geier fernzuhalten.“

„Welche Garantie hab ich, dass das ...“

„Mein Wort. Mehr hab ich von Ihnen auch nicht, Herr Jakobi.“

„Aber ich kann nur für mich bürgen. Wie soll ich garantieren, dass die Leute ...“

„Stellen Sie Leute an, auf die Sie sich verlassen können. Und nehmen Sie nur solche, die ihr Handwerk verstehen. Ich werde täglich auf der Baustelle sein. Sie kommen nicht vor acht und verschwinden vor zwei.“

Jakobi schaut drein wie einer, der die Pointe eines schlechten Witzes nicht finden kann.

„Ich brauche noch Ihren Handschlag und Ihre Bankverbindung.“

„Und was, wenn die Sache doch faul ist?“

„Wenn Sie glauben, den kleinsten Beweis dafür zu haben, sprechen Sie mich an. Sollte ich Ihre Bedenken nicht zerstreuen können, sind Sie aller Pflichten ledig. Die Anzahlung gehört in diesem Fall Ihnen.“

Jakobi reicht ihm zögerlich die Hand.

„Absolute Verschwiegenheit. Das heißt gegen jeder Mann und Frau. Ist das klar?“

Jakobi nickt.

„Lassen Sie mich wissen, wenn die Fähre startklar ist. Sie erreichen mich im Kronenkrug.“

Biber wird von einer Unruhe heimgesucht. Die ist ihm vertraut und wird ihn nun nicht mehr loslassen, bis er alles zusammen hat. Was er so noch nicht kennt, ist das Gefühl, etwas ganz und gar Unsinniges zu tun.

Er fährt zurück ins Stadtzentrum und sucht eine Art Kaufhaus. Man verweist ihn auf die grüne Wiese am Rand der Stadt. Der Neubau liegt nicht weit von der Werft. Biber zieht es in den Beinen, als er vom Rad steigt. Der Warentempel ist menschenleer, also ideal für das, was er vorhat.

„Sind Sie allein?“

Die Frau an der Kasse betrachtet ihn skeptisch mit einem Schuss Ängstlichkeit. „Nein. - Helga! Kommst du mal?!“

„Ich brauche ...“

„Die Kollegin kümmert sich gleich um Sie.“

„Wäre gut, wenn Sie ihr dabei helfen.“

„Pardon, was kann ich für Sie tun?“

„Ich brauche zwei große, wasserdichte Fahrradtaschen und eine Reisetasche, wenn’s geht, Leder.“

„Wir führen Bekleidung. Taschen gibt es ...“

„Ich brauche die Taschen für das, was ich bei Ihnen kaufe.“

„Ach so.“ Sie wählt eine Nummer und gibt den Auftrag weiter. „Wenn Sie so freundlich wären, mir zu folgen.“

Sie gehen ein paar Läden weiter. Biber wählt unter den bereitgestellten schnell die passenden Taschen aus und bezahlt.

Als sie ins Bekleidungsgeschäft zurückkehren, hat die andere Kollegin die Kasse übernommen. Die beiden Frauen verständigen sich mit Blicken.

Biber sieht im Augenwinkel, dass es vor allem um seinen Geisteszustand geht. „Ich brauche fünf karierte Hemden, drei Hosen, sechs unbedruckte T-Shirts, sechs Unterwäschegarnituren, zehn Paar Socken, zwei ...“

Die Frauen lachen. „Moment. Wollen Sie nicht selber auswählen?“

„Nein. Bringen Sie das, was Sie auch Ihren Männern anziehen würden.“

„In welcher Preislage?“

„Egal, solange es was taugt. Wenn’s überhaupt nicht geht, sag ich Bescheid.“

Sie schwirren ab und kommen schon bald mit vollen Armen wieder.

Biber schiebt die Haufen auf der Ladentafel auseinander und sondert zwei Hemden aus. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie Ihre Männer mit solchen Hemden rumlaufen lassen. - Den Rest können Sie in die Kasse geben.“ Biber beginnt, die gebongten Sachen auszupacken. Er nimmt sogar die Pappen und Klammern aus den Hemden. Es tut nicht not, die Frauen anzusehen, um zu erraten, was sie denken.

„Wollen Sie nicht wenigstens die Hosen anprobieren?“

„Passt schon. - Sie haben die Unterwäschegarnituren vergessen, sechs, dazu noch zwei Nachthemden.“

„Ich würde meinem Mann kein Nachthemd anziehen.“

„Dann probieren Sie’s mal. Er wird’s Ihnen danken. Zwei warme Pullover, eine lange, warme Jacke, Hausschuhe in der zweiundvierzig, Wanderschuhe, Arbeitsschuhe, Winterstiefel ...“

„Aber die müssen Sie anprobieren.“

„Mach ich. Wenn Sie einen Stuhl für mich hätten.“

Sie bringen die Sachen und den Stuhl.

Biber setzt sich nah an die Ladentafel und wechselt die Schuhe in der Reihenfolge, in der sie ihm gereicht werden. Nebenbei begutachtet er die anderen Sachen, die er bis auf ein paar wenige abnickt.

Die Frauen haben jetzt beide Hände voll zu tun, alles aus- und in die Taschen einzupacken. Sie lachen nicht mehr.

„Mütze, Handschuhe, Schal. - Haben Sie auch Arbeitssachen?“

„Ja.“

„Strauss?“

„Nein, können Sie nur direkt bestellen. Die Schuhe, die Sie gerade anziehen, sind aber auch nicht übel.“

„Stellen Sie noch was zusammen; für die Gartenarbeit“, ergänzt Biber, als er die fragenden Gesichter sieht.

„Auch lange Unterwäsche?“

„Ja, sehr aufmerksam. Und vergessen Sie die Handschuhe nicht. Und Atemmasken. Und drei Zollstöcke.“

„Die gibt’s hier nicht. - Noch was?“

Biber überlegt.

„Wollen Sie ’n Kaffee?“

„Danke, ich hab noch ein bisschen was zu tun. - Fällt Ihnen noch was ein?“

„Handtücher?“

„Hab ich. - Taschentücher.“

„Trainingsanzug?“

„Seh ich so aus? - Kann nicht schaden.“

Die beiden Fachverkäuferinnen haben noch ein Weilchen mit dem Packen zu tun. „Sie sollten aber alles erst noch mal waschen. - War das dann alles?“

Biber nickt.

„Mehr geht auch nicht mehr rein. - Macht tausendachthundert achtzehn, und siebenunddreißig Cent.“

Biber zahlt mit Karte. „Guten Tag.“ Er legt sich den Riemen der Reisetasche über die Schulter und zieht die beiden Fahrradtaschen mit Schwung vom Warentisch.

„Gern wieder.“

Biber braucht ein bisschen, bis er raushat, wie sich die beiden Taschen am Gepäckträger anhängen lassen. Die Reisetasche passt wie angegossen obenauf. Er schaut auf die Uhr. Der Einkauf hat kaum länger als eine halbe Stunde gedauert. Der Beinschwung über die Herrenradstange gelingt erst beim zweiten Mal. Da er kein versierter Fahrer ist, hat er anfangs mit der Hecklastigkeit Probleme.

Unterwegs kauft er noch Wasch-, Rasier- und Zahnputzzeug und ein paar Lebensmittel, die er in zwei Beuteln am Lenker verteilt. Er fährt Richtung Kronenkrug, biegt aber davor ab, um ihm in gehörigem Abstand auszuweichen.



Tausende von E-Books und Hörbücher

Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.