Taipa - Jost Bonner - E-Book

Taipa E-Book

Jost Bonner

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Beschreibung

Nach einem halben Jahrhundert und hochbetagt findet er den Mut, die phantastische Geschichte seines Lebens aufzuzeichnen, die 1936 ihren Anfang nahm, als der zwanzigjährige, vor der Enge des Elternhauses und dem Wahnsinn eines zu nationalem Fanatismus erwachenden Volkes fliehende Aussteiger im Ballon einer Forschungsstation auf Kamtschatka von einem Schneesturm in ein atemberaubendes Abenteuer geweht wird. In einer riesigen Caldera, einem verwitterten, eingebrochenen Vulkankegel, trifft er auf das ganz und gar von der restlichen Welt abgeschirmte, unter Inzucht leidende Volk der Tai-Pa, das ihn als einen von Gott gesandten Retter begrüßt. Als der unerfahrene Held versucht, die archaische, quasi steinzeitliche Gemeinschaft zu erforschen und in ihr heimisch zu werden, stößt er auf manches Rätsel und eine unglaubliche Besonderheit. Schon bald quält er sich durch ein schwer entwirrbares Gespinst von Eros, Liebe, Eifersucht und Verantwortung.

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Seitenzahl: 415

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Geleit

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Geleit

Ich habe lange gezögert, diesen Bericht zu veröffentlichen. Scham hielt mich ab und Rücksicht gegen die, die sich bisher nicht schämten, mich zu kennen. (Seit Adam ist es wohl die Scham, die den Menschen aus dem Paradies vertreibt.)

Nun lebt keiner der Meinen mehr, und das Alter hat mir alle Scheu genommen, oder hat es mich gelehrt ... Aber wen interessiert, was das Alter mich gelehrt hat?

Dem Tode näher als irgendetwas übergab ich das Manuskript einem mir unbekannten Autor mit nur einer Bitte, meinen Namen aus der Geschichte zu lassen. Man mag sie glauben oder nicht. Man mag sie verwerfen oder gut finden. Vielleicht hilft sie dem einen oder anderen, das zu verstehen, was wir Mensch und Menschengemeinschaft und das Leben schlechthin nennen.

Ich bin ein alter Mann, der sein Leben vor einem halben Jahrhundert im wahrsten Wortsinn verloren hat; so vollständig verloren, dass er darüber nicht einmal mit seinen Freunden hat reden können. So blieb mir nichts als das Gedächtnis, das auf diese Weise so frisch und wahrhaftig geblieben ist, wie es das vor beinahe sechs Jahrzehnten war, als diese Geschichte ihren Anfang nahm.

Möge der Leser Nachsicht haben, wenn das Erzählte mitunter sein Feingefühl verletzt. Ich habe, was dies betrifft, alles Maß verloren, leider oder zum Glück. Er sei durch die Versicherung getröstet, dass alles so war oder, besser, dass ich all das, was im Folgenden geschrieben steht, erlebt und gefühlt habe.

Keine Sorge, ich behellige niemanden mit meiner engbrüstigen Kindheit, die im großen Völkerwahnsinn 1916 begann, oder gar mit meiner irrsinnigen Jugend in Zeiten eines nicht minder wahnsinnigen Aufbruches. Die Geschichte beginnt in meinem zwanzigsten Lebensjahr am Ende der Welt.

Schaffhausen 1992

1

Die Sturmfront traf den Ballon wie der Hieb einer Bärenpranke und riss ihn samt Haken aus der Verankerung. Vergessen war augenblicklich das faszinierende Schauspiel des berstenden Vulkans und der rotglühend aus einem Seitenspalt fließenden Lava. Ich trieb mit dem Ballon in einem Schneesturm, wie ich ihn in den beiden Jahren, die ich nun schon auf Kamtschatka war, nicht erlebt hatte. Noch ehe ich einen Gedanken fassen konnte, ja, noch ehe mir klar wurde, in welch gefährlicher Situation ich mich befand, war ich wohl bereits einige Kilometer abgetrieben. Ganz langsam begriff ich, dass meine Lage mit jeder Sekunde, da ich mich von der Forschungsstation entfernte, hoffnungsloser wurde. Im Schneetreiben verlor ich jede Orientierung. Ich hatte keine Ahnung von den Flugeigenschaften eines Ballons. Die Situation, in der ich mich befand, war ja gar nicht vorgesehen. Wie viele Wochen war ich beinahe täglich - wann immer es das Wetter erlaubte - aufgestiegen, um nach vulkanischen Ereignissen Ausschau zu halten? Nun trieb ich mit der Geschwindigkeit des tobenden Sturmes in eine menschenleere Eiswüste und - wenn es mir nicht schnell gelänge, den Ballon auf die Erde zu bringen - vollkommen hoffnungslos aufs offene Meer hinaus. Im allerschlimmsten Fall, für den allerdings eine gehörige Portion Pech vonnöten war, würde mich der entfesselte Ballon in den Dunst- oder Feuerkreis des - noch soeben mit Begeisterung beobachteten - eruptierenden Vulkans treiben. Ich hatte keine Ahnung, in welche Richtung und wie viele Meter überm Boden ich flog, denn ich war faktisch blind.

Panisch riss ich an der Leine, um die Entlüftungsklappe zu öffnen und so schnell wie möglich an Höhe zu verlieren. Die gerissene Leine fiel schlaff und Unheil verkündend herab, ohne dass ich sehen konnte, ob sie wenigstens noch ihren Zweck erfüllt hatte. Der Schneesturm war dicht und undurchdringlich. Ich war nicht sicher, ob die Konturen, die sich mitunter durch das Schneetreiben zeigten, Einbildung waren.

Was sollte ich tun? - Lehnte ich mich zu weit aus dem Korb, konnte mir das beim unvorhersehbaren Aufprall zum Verhängnis werden; verkroch ich mich in den Korb, beraubte ich mich der letzten Möglichkeit, irgend etwas zu sehen, also auf irgendeine Weise - worauf auch immer - zu reagieren. Was ich auch tat, es konnte falsch sein. Ich lehnte mich so weit wie möglich aus der Gondel und starrte mit aufgerissenen, brennenden Augen ins graue Treiben. Ich sah nichts.

Ich dachte an den Ölbrenner. Der Sturm hatte ihn längst ausgeblasen. Konnte er mir beim Aufschlag gefährlich werden? Ich hatte keine Zeit, über die kommende Situation nachzudenken. Ich nahm die kleine Axt und kappte - bis auf drei - alle Taue, die die Gondel hielten. Die Blicke gebannt nach unten gerichtet, hoffte ich, einen winzigen Fetzen Erde zu entdecken. Der Sturm musste den Ballon schnell abkühlen und sinken lassen, aber erst einmal hatte ihn die Kaltfront nach oben gedrückt, wie weit, war nicht auszumachen. Ich stand und starrte und verfluchte jede Sekunde, die verging und mich weiter und weiter von der Station verschlug. Die Hilflosigkeit machte das Herz rasen. Ich verlor jedes Zeitgefühl und jede Vorstellung über mögliche Geschwindigkeiten. Wie weit flog der Ballon in jeder Minute? Konnte er schon das Festland hinter sich gelassen haben? Dann sollte ich mir nicht so sehnlich wünschen zu sinken …

Der Aufschlag kam ganz unvermittelt. Der Korb zerbarst und drehte sich, so dass ich das Gleichgewicht verlor und nicht rechtzeitig die restlichen Seile kappen konnte. Der Korb schleifte über Gestrüpp und felsigen Boden. Wo waren die Seile? Ich spürte einen heftigen Schmerz in der linken Hand. Handschuh und Hand waren an einer Felskante aufgerissen. Als ich mich gefangen hatte, hob sich der Ballon in einer Böe. Hektisch schlug ich auf die Seile ein. Mit jedem gekappten Seil schleuderte der Korb ruckartig in eine andere Position. Immer wieder schlug er auf, um sich gleich darauf wieder zu heben. Unterm letzten Seil drehte er sich wie ein schiefes, aus der Bahn geratenes Karussell. Ich wartete auf den nächsten Bodenkontakt und hieb ins Seil. Der Korb setzte unsanft auf und wirbelte über den Boden. Der erleichterte Ballon wurde von der nächsten Böe erfasst und aus dem Blickfeld getrieben.

Das Herz raste. Ich fasste den Korb oder, besser, das, was von ihm übrig geblieben war. Erst jetzt spürte ich die ganze Kraft des Sturmes. Im Ballon treibend, war er nicht gar so erbarmungslos erschienen. Nur mit aller Mühe gelang es mir, den Korbrest an den Boden zu drücken und so in den Wind zu drehen, dass er von ihm nicht wieder erfasst und hochgerissen werden konnte. Die verletzte Hand umkrampfte die Axt; mit der anderen kämpfte ich gegen den Sturm wie der alberne Ritter mit der Windmühle. Warum klammerte ich mich so an diesen kläglichen Korbrest, der vom Sturm mehr und mehr zerrissen wurde? Er zerrte wie ein Segel an mir und zog mich über den schrundigen Boden. Die Kälte schnitt scharf ins Gesicht und die blutende Hand. Ich fasste den Korbrest wie einen Schild und warf mich unter ihn auf den Boden. Atemlos und zitternd lag ich unter dem leichten Dach. Der Sturm vermochte nicht, den Korb samt mir hochzureißen. Ich rollte mich zusammen und blies und leckte die schmerzende Hand. Der Sturm zerrte unbarmherzig an den Trümmern des Korbes. Ich hielt das letzte zusammenhängende Stück mit aller der Verzweiflung eigenen Kraft.

Wo war der Öltank gewesen? War er bei einer der Karambolagen aus der Verankerung gerissen? Es hatte ja keinen Sinn, ihn zu suchen. Alle Kraft und Aufmerksamkeit galten der Rettung des Korbes. Der angewehte Schnee heftete ihn bald so fest an die Erde, dass die Kraft meines Armes nicht mehr vonnöten war. Herz und Atem beruhigten sich nur langsam.

Nun hatte ich also mein Abenteuer. Wie lange hatte ich darauf gewartet? Wie oft hatte ich den Geschichten der einheimischen Korjaken gelauscht, neidisch, nicht auch über solche Kämpfe mit den Naturgewalten erzählen zu können? Dass die meisten der Helden dabei gestorben waren, hatte mich nicht gekümmert. Jetzt, da ich mich in der Situation befand, die ich mir sehnlich gewünscht hatte, dachte ich mit Schrecken an all die im Schneesturm erfrorenen oder erstickten Männer.

Nach Ansicht der alten Korjaken gab es nur eine Möglichkeit, allein im Schneesturm zu überleben. Man musste sich augenblicklich einschneien lassen und ab und an die Stärke der Schneedecke prüfen, um nicht unter der Schneelast begraben zu werden. Alles andere sei nutzlos und verschwende nur sinnlos Kraft und Wärme. Ich lauschte auf den Sturm. Es dauerte nicht lange, und ich war eingeschneit. Vorsichtig rollte ich mich von einer Seite auf die andere, so lange, bis der Schnee unter mir nicht mehr nachgab. Mit der Kleidung war ich nicht nachlässig gewesen. Dennoch fror ich. In Gedanken sah ich den glühenden Vulkan. Dort verliefen sich riesige Lavaströme sinnlos im Schnee, mit deren Wärme man alle Winter eines langen Lebens in angenehmster Weise hätte überstehen können; und nicht weit davon erfror ein Idiot, weil er das bisschen Wärme nicht aufbringen konnte, eine einzige Nacht unterm Schnee auszuharren.

Wie lange hatten wir auf einen Ausbruch gewartet? Fast zwei Jahre. Eruptionen hatte es wohl immer wieder gegeben, aber entweder ereigneten sie sich in unerreichbarer Ferne, oder aber, wir kamen zu spät. - Wie hatten sie gejubelt, Werner und Paul und vor allem Gustav. Sie würden aufbrechen, sobald sich der Schneesturm gelegt hatte. Bis zum speienden Krater waren es nicht mehr als zwanzig Kilometer. Ich dachte an ihren Aufbruch, als wäre der Ballon nie aus der Verankerung gerissen. Warum verwarf ich die Möglichkeit, dass sie mich suchen, dass sie mir entgegenkommen werden? So naiv war ich nicht. Die ganze Expedition zielte ja auf die Dokumentation eines Ausbruches und seiner geologischen und biologischen Folgen. Die drei hatten ein Vermögen verbraucht und beinahe alles riskiert. Sie würden nicht aufgeben, nur um einen wie mich zu suchen, einen zwanzigjährigen, dummen Draufgänger, der sie lange genug genervt hatte, der nur fortkommen wollte aus dem zum Tollhaus werdenden Deutschland, aus den Klauen der besorgten, ekelhaft angepassten Alten. Nein, das Ziel war zu ehrgeizig. Sie würden sich sagen, entweder ist er nicht allzu weit abgetrieben worden, dann schafft er es auch ohne fremde Hilfe, oder er ist sonst wo, dann wird auch jeder Versuch, ihn zu finden, erfolglos sein. Zuletzt werden sie sich damit trösten, dass ja das eine mit dem anderen vereinbar ist; und sie werden mit dem Vorsatz zum Vulkan aufbrechen, mich zu finden. Nein, es sind keine schlechten Kerle. Sie sind rau und jeder auf eine andere Weise verrückt oder besessen. Aber schlecht sind sie nicht. Solchermaßen schätzte ich meine Lage ein, fühlte also, dass ich gut beraten war, die drei Männer aus allen Überlegungen herauszulassen. Wenn die Sache nicht allein zu schaffen war, dann war sie hoffnungslos …

Dieser Gedanke war kaum ein geeignetes Mittel gegen die Kälte. Der winzige Raum unter den Korbresten erwärmte sich nur langsam durch den heißen Atem. Die Schneedecke über mir wuchs schnell und mit ihr die Stille.

Wie lange war ich getrieben? Wie weit?

Immer wieder streckte ich den Fuß in den Rand der wachsenden Schneewehe. Ich steckte ihn nicht ganz durch, um nicht unnötig kalte Luft in den Bau zu lassen. Noch war kein Grund zur Sorge. Der Schnee gab leicht nach. Liebevoll betastete ich die kleine Notaxt, die ich aus dem Ballon gerettet hatte. Mit panischem Schrecken schob ich die unverletzte Hand in die Jackentasche. Die Zündhölzer waren nicht verlorengegangen! Ich beschloss, nach dem Schneesturm als erstes den Öltank zu suchen, wenn die Suche dann freilich auch kaum mehr Erfolg haben würde. Mit ihm wäre eine Menge anzufangen. Selbst leergelaufen würde er mir als Kochgefäß unschätzbare Dienste leisten.

Ich hörte nur noch ganz leise den jaulenden Sturm.

Die verletzte Hand schmerzte. Ich wusch und kühlte die Wunde mit Schnee.

Es war nicht später als früher Nachmittag. Bis zum Abend würde sich der Sturm kaum gelegt haben. Blieben mir also siebzehn oder achtzehn Stunden bis zum Hellwerden. Eine Ewigkeit. Ich überlegte, ob es nicht doch vernünftiger wäre, die flache Schneehöhle zu verlassen und das spärliche Licht zu nutzen, das mir vor der langen Finsternis blieb. Vielleicht war der Tank jetzt noch nicht zugeweht. Ich könnte ja jederzeit in die Höhle zurückkehren, - wenn ich sie fände. Ich blieb, wo ich war. Ich versuchte zu schlafen. Auf der Reise nach Kamtschatka und zur Station hatte ich in den ungewöhnlichsten Stellungen schlafen müssen und es am Ende auch gekonnt. Aber die Gedanken ließen mir keine Ruhe. Wie weit war ich mit dem Ballon getrieben? Raste der Sturm sechzig, achtzig oder gar hundert Kilometer in der Stunde? Wie lange war ich oben gewesen? Zehn Minuten? Eine halbe, eine ganze Stunde? Ich versuchte, mich zu erinnern, und versteifte mich darauf, keinesfalls länger als eine halbe Stunde im Ballon getrieben zu sein. Also war ich nicht weiter als dreißig, allerhöchstens fünfzig Kilometer von der Station entfernt. Aber in welcher Richtung?

Eilig wühlte ich mich aus der Höhle. Der Wind blies unvermindert scharf. Hier draußen merkte ich, wie gemütlich es in der Höhle war. Es war nicht schwer, die Windrichtung zu bestimmen. Mit glühendem Gesicht kroch ich in den engen Bau zurück und legte den Axtstiel in die Richtung, in der ich das verlorene Lager zu suchen hatte. Ich überlegte angespannt, ob ich nicht noch einen wichtigen Umstand außer Acht gelassen hatte, der mir zur Rettung dienlich sein konnte. Die Gedanken trieben sich zur Eile, ohne ein Ziel oder eine Richtung zu haben.

In der Hand pulste der Schmerz.

Nach langer Grübelei fiel ich immer wieder in oberflächlichen, kurzen, von Träumen und Gedanken und Ängsten durchflochtenen Schlaf. - Lag der auslaufende Vulkan ganz nah? - Fühlte ich schon die Wärme der sich langsam voranschiebenden Lavazunge? - Drückte die Schneelast den Korb zusammen? - Spürte ich sie bereits auf der Schulter? - Hatten meine Füße noch Gefühl oder war ich drauf und dran zu erfrieren? - War die Axt bereits tief und unrettbar im Schnee versunken? - Wühlte da etwas? - Ein Bär? - Ein Wolf? - War da im Nacken ein heißer Atem?

2

Hungerkrank, steifgefroren und zerschlagen wachte ich auf. Die Luft war dick. Der Schädel brummte. Die nässende, schorfige Hand brannte bei jeder Bewegung. In die dunstige Höhle schien das schüchternste Licht. Ich lauschte auf den Sturm. Es war grabesstill. So müssen Scheintote zu sich gekommen sein. Ich drückte mit dem Fuß gegen den Schnee. Er war fest. Je stärker ich drückte, je fester wurde er.

Augenblicklich geriet ich in Panik. Hellwach vermeinte ich zu ersticken. Ich stemmte den Rücken gegen den Korb. Die Panik verstärkte sich. Ich hatte keinen viertel Meter Raum über mir, und der Kreis, in dem ich lag, gestattete mir nicht einmal, die Beine auszustrecken. Ich stampfte hektisch mit den Füßen um mich, bis ich der Gefahr gewahr wurde, mit den Tritten den Einsturz der Höhle zu riskieren.

Als alle Bemühungen zur Befreiung fehlgeschlagen waren, überlegte ich nüchtern. Mit der Axt schlug ich eine kleine Nische. Den Schnee stopfte ich in den gegenüberliegenden Winkel der Höhle. Ich kam gut voran. Aus der Nische wurde ein kleiner Gang. Wenn der Schnee jetzt nachgeben und mir den winzigen Spielraum nehmen würde, den ich noch hatte, wäre alles schnell vorbei. Jeden Moment war ich auf diese Katastrophe gefasst. Ich grub nach oben, um das Risiko so gering wie möglich zu halten. Das zunehmende Licht war mir Ansporn genug.

Vollkommen erschöpft und nassgeschwitzt durchstieß ich den letzten Rest der Verwehung. Ich atmete lange in tiefen Zügen. Winzige Schneeflocken trieben in kaum bewegter Luft. Am Horizont brannte ein heller Kloß in einer trüben Suppe. Alles war tief verschneit. Ich sah weder Baum noch Strauch noch sonst eine markante Erhebung. Ringsum erstreckte sich eine weiße Fläche, die zum Horizont hin unterschiedlich aufstieg. Nirgends zeigte sich eine Rauchsäule. Ich zerschlug die Hoffnung, dem speienden Vulkan nahe zu sein und dort vielleicht auf die Männer von der Station zu stoßen. Hier war kein Vulkan. Hier war kein Mensch. Hier war schlicht nichts, das einer Hoffnung auch nur den kleinsten Raum oder der Phantasie den winzigsten Funken gelassen hätte.

Noch immer stand ich keuchend bis zum Hals im Schnee. Ich atmete die klare Luft und bekam doch kein freieres Gefühl in die Lunge. Mühsam kroch ich aus dem Loch. Hatte sich gerade noch das Herz in der verzweifelten Erkenntnis verkrampft, durch den hektischen Gebrauch der Axt die Richtung des Rückweges verloren zu haben, so brach nach einigen Schritten eine weit lähmendere Verzweiflung über mich. Wohin ich den Fuß auch setzte, er versank mindestens bis zum Knie im schweren Schnee. Nach einigen hundert Schritten drehte ich mich um. Ich war mit den Kräften bereits völlig am Ende. So fühlte ich mich jedenfalls. Noch wusste ich nicht, was ‘völlig am Ende’ wirklich bedeutet. Noch wusste ich nicht, dass ich mich gerade erst am Anfang einer langen, quälenden Schinderei hin zu diesem Punkt der absoluten Selbstaufgabe befand.

Ohne Ziel war jeder Schritt eine Torheit. Wieder ging mein Blick zur Sonne. Ich versuchte mich an die Position des aktiven Vulkans zum Lager zu erinnern, um die ungefähre Richtung der Ballondrift zu ermitteln. Die Sonne stand jetzt im Südosten. Ich lief zur Schneehöhle zurück. Als ich den Eingang mit den Händen freigeschaufelt hatte, war die Sonne bereits nach Süden gewandert. Ich legte mich in die Höhle und trieb mein Gedächtnis zu einem Ergebnis. Wo war ich gestern Abend aus dem Bau gekrochen? - Wie hatte der Wind zum Eingang geweht? - Wie hatte die Axt gelegen? - Ich weiß nicht, ob das Resultat meiner Überlegungen erzwungen war oder den Tatsachen entsprach. Wenigstens hatte ich jetzt ein Ziel, dem ich entgegenstreben konnte, ohne den Willen durch Zweifel zu lähmen.

Lange grub ich nach dem Korbrest, der mir bisher so gute Dienste geleistet hatte. Unmöglich konnte ich ihn zurücklassen. Ich schlug mit der Axt Teile aus dem Korb, die ich mir mit Stücken der Reißleine unter die Stiefel band. Der Erfolg belebte die Kräfte. Die improvisierten Schneeschuhe machten sich gut. Den Korbrest auf den Rücken geschnallt, lief ich nach Nordosten, die Sonne also mehr und mehr in den Rücken nehmend.

Die Tritte gruben sich in die unberührte Schneedecke, deren Ende in unendlicher Weite zu liegen schien. Mit ziemlicher Sicherheit hatte vor mir noch nie ein Mensch seinen Fuß hierher gesetzt. Der Gedanke war nicht sonderlich beruhigend oder beflügelnd. Die einzigen Wege auf Kamtschatka waren Bärenpfade. Aber was hatten Bären in dieser Gegend zu suchen, die wohl selbst im Sommer nicht mehr als eine trostlose Steinwüste war? Obwohl ich anfangs gut vorankam, wechselten nur immer die Ebenen; und nach jedem erreichten Pass öffnete sich ein neues trostloses Tal. Ich dachte unentwegt an die kommende Nacht. War es vernünftig, die Kräfte zu verbrauchen, ohne zu wissen, wie viele Tage bis zur Rettung durchzustehen sind? War es klüger, in einem festen Lager darauf zu vertrauen, gefunden zu werden? Oder sollte ich solange laufen, bis ich auf Menschen stieß?

Noch hatte ich gar keine Wahl, denn da, wo ich lief, konnte ich unmöglich bleiben. Hier gab es weder Gräser noch andere Pflanzen, mit denen sich ein Feuer hätte unterhalten lassen. Ich lief weiter in die vorgegebene Richtung, aber von nun an mit dem Vorsatz, ins nächste bewaldete Tal hinabzusteigen, in welcher Richtung es sich auch immer zeigen mochte. Aber da war nichts als ebenes Gelände und tiefer Schnee.

Keuchend hielt ich inne.

Langsam ließ ich den Gedanken laut werden, in eine aussichtslose, also hoffnungslose Situation geraten zu sein. Ich suchte nach Zeichen und Hinweisen menschlicher Anwesenheit. Der leichte Schneefall nahm mir den Blick in die Weite. Mechanisch schritt ich vorwärts. Immerhin war die Kälte erträglich. Jetzt erst verstand ich all die Warnungen der Einheimischen.

Viele Monate hatte ich in der einsamen Station zugebracht, die sich schon in einiger Entfernung zum nächsten Ostrog befand, wie die ärmlichen Siedlungen der Korjaken heißen. Aber fast täglich waren die Eingeborenen zu uns gekommen, um uns mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Bis auf kleine Ausflüge hatte sich meine Tätigkeit auf die Beobachtungsflüge mit dem Ballon und die Stabilisierung des Ballons am Boden beschränkt. An den langen Abenden hatte ich in botanischen oder geologischen Lehrbüchern gelesen und tagsüber immer zielsicherer von meinen Ausflügen Pflanzen und Steine mitgebracht. Werner und Paul hatten schließlich unwillig zugeben müssen, dass ich doch nicht nur der faule Aussteiger war, der Abenteuer mit Müßiggang verwechselt. Mitunter war da sogar ein anerkennendes Lächeln gewesen. Das hatte mich solchermaßen angespornt, dass ich fortan mit den wertvollen Büchern in den Ballon gestiegen war, wenn es das Wetter zugelassen hatte.

Nach Monaten war mir aber alles schon wieder zu normal gewesen, zu eintönig, zu sicher, zu eingefahren, zu alltäglich. Und nun? In nur einer halben Stunde hatte sich alles verändert; war ich von der sicheren Station in die menschenfeindliche Eiswüste getrieben; aus der Sicherheit in die Hoffnungslosigkeit? Hatte ich hier, was ich mir unter einem Abenteuer vorgestellt hatte? Hier gab es ja endlich keinen mehr, der mir sagen konnte, was ich zu tun und zu lassen habe; hier gab es keine Wege, keine Wirtshäuser oder Berghütten für den verirrten Wanderer. Hier gab es nichts. Dieses Nichts war erschreckend wenig, zu wenig, um auch nur wenige Tage überleben zu können. Wie verhängnisvoll würde mir der verlassene Weg werden? Der ich vor den Menschen und ihrem unmenschlichen Umgang geflohen war, suchte nun verzweifelt nach dem winzigsten Zeichen ihrer Anwesenheit.

Müde stapfte ich vorwärts in den unberührten Schnee. Als Knabe war ich gern in aller Frühe aufgestanden, um als erster meine Tritte in den Neuschnee zu graben. Hier beängstigte mich bald die ewig unbeschädigte Schneedecke. Nicht einmal Fährten verirrter Tiere kreuzten meinen Weg. Am kalten Schweiß klebte die untere Hülle meiner wenigstens zweckmäßigen Kleidung. Immer öfter musste ich die verrutschten Schneeschuhe richten. Wie lange würden sie noch halten? Die Halbinsel ist zwölfhundert Kilometer lang und über dreihundert breit. Wo war ich? Wo fanden sich Menschen in dieser beinahe menschenleeren Welt der Größe Italiens?

Jede Richtung war gleich gut und gleich schlecht. Alles war ein Spiel des Zufalls. Immer deutlicher wurde mir die Situation. Ich brauchte ein gehöriges Maß Glück, um die nächsten Tage zu überstehen. An eine Überwinterung oder gar eine Rückkehr nach Deutschland mochte ich nicht denken. Zu vage war jeder Gedanke daran und also zu entmutigend, wenn nicht gar beängstigend, als dass ich ihn mir gerade jetzt hätte leisten können. Ich sah nicht viele Möglichkeiten, meine Situation zu bessern, im Grunde nur eine einzige: Ich musste laufen, um aus der Eiswüste herauszukommen. Laufen. Laufen.

Immer wieder sah ich besorgt zum Himmel. Ein Schneesturm wie der gestrige würde alle Überlegungen durchkreuzen und mein eh nur noch flackerndes Lebenslicht ausblasen wie einen rußenden Docht. Die Sonne war lange hinter dunklen Wolken verschwunden und mit ihr der einzige auch nur einigermaßen verlässliche Wegweiser. Ich orientierte mich am wieder stärker aufkommenden Wind, hoffend, dass er aus der gleichen Richtung weht wie am Vortag. Die müden, tränenden Augen suchten nach einem Hoffnungszeichen. - Nichts. Gar nichts. Bis zum Horizont unberührter Schnee. Das flaue Gefühl im Magen kam nicht nur vom Hunger. Nur noch mechanisch löste ein Fuß den anderen ab. Die Schneeschuhe waren ausgefledert. Lange würden sie nicht mehr zu gebrauchen sein. Gedankenlos, beinahe apathisch schlich ich vorwärts.

Es dämmerte schon, als ich von der Kante eines Plateaus aus in ein Tal blickte, in dem ein zu Eis erstarrter Fluss lag. Die Knie zitterten vor Anstrengung. Der Atem ging schwer. Der Fluss lag zum Greifen nahe und war doch schier unerreichbar. Das Land erstreckte sich kilometerweit vor meinen Augen, aber nicht der geringste Hinweis auf Menschen oder menschliche Behausungen war auszumachen. Ich hatte in eisiger Landschaft einen Tag lang bis auf den gelegentlich in den Mund geschobenen Schnee nichts gegessen. Die entzündeten Augen starrten lange auf das bewaldete Tal.

Ich löste die Schneeschuhe von den Stiefeln und stieg in stoischer Gleichgültigkeit über den steilen und felsigen Hang talwärts. Dort unten wuchsen Bäume. Und wenn es auch nur kümmerliche Lärchen und Erlensträucher und bizarre Steinbirken und Weiden waren, immerhin war es Holz. Hier gab es mannshohes, trockenes Gras, um ein Feuer leicht in Gang bringen zu können. Und mit etwas Glück würde sich am Flussufer auch noch ein gefrorener Lachs vom vergangenen Herbst aus dem Eis schlagen lassen. Der Gedanke überdröhnte die Schmerzen in Brust und Magen und Hand und …

Ich rutschte mehr, als ich stieg. Leicht hätte ich mich totstürzen können. Die Knie waren kalt und kraftlos. Sie hatten sich auf die gleichförmige Gangart eingestellt. Jetzt, da sie verschiedene Schrittlängen und Stauchungen zu bewältigen hatten, zeigte sich, wie müde und steif sie waren. Solange ich lief oder rutschte, ließ sich die Kälte ertragen; kaum stand ich einen Moment, um zu verschnaufen und das Stechen in der Brust und das Zittern in den Beinen abklingen zu lassen, schnitt der eisige Wind in die leeren Eingeweide. Die vom Schnee geblendeten Augen brannten vor Kälte und Anstrengung. Der Knochen wie Därme stauchende Abstieg war der strapaziöseste Teil der bisherigen Wahnsinnstour. Immer wieder schlug ich hin und rutschte lange Strecken auf dem Rücken, der wohl kaum heil geblieben wäre, wenn der umgeschnallte Korb nicht die härtesten Schläge und schärfsten Kanten abgefangen hätte.

In Dunkelheit und vollkommen erschlagen erreichte ich das Flussufer. Das Ziel war erreicht, aber ich hatte mich maßlos und aller Vernunft spottend übernommen. Der Magen erbrach gelben Schleim. Er würgte mich so hartnäckig, als wollte er noch etwas Brauchbares zum Vorschein bringen. Er mühte sich vergeblich. Als er sich endlich beruhigt hatte, fiel ich auf die Seite. Alles in mir war leer, nicht nur der Magen. Ich gab auf. Ohne ein wärmendes Feuer, ohne einen wenigstens mit heißem Wasser gefüllten Magen, konnte ich diese zweite Nacht nicht überstehen.

Ich hatte mich bisher nie ernsthaft mit dem Tod beschäftigt. Nun griff er mit eisiger Hand und erschreckend selbstverständlich nach mir. Ich fühlte kein Quäntchen Kraft mehr, mit dem ich ihm hätte widerstehen können. Nur bruchstückhaft durchzitterten mich einzelne Gedanken. Ich würde von der Welt scheiden, ohne das geringste Zeichen, die kleinste Spur auf ihr zu hinterlassen, geschweige denn ein Kind oder eine Tat, die es verdient hätte, noch nach dem Tod gewürdigt zu werden. Das Weib war mir bisher ein ganz und gar geheimnisvolles Wesen geblieben. In jugendlichem Trotz hatte ich in Deutschland ein warmes Nest verlassen, um auf der anderen Seite der Welt in einer Eiswüste in nicht zu steigernder Einsamkeit zu verrecken wie die erbärmlichste Kreatur. Mich befiel eine grabestiefe Traurigkeit und eine seltsam wohltuende Apathie. Ich gab auf. Ich hörte auf zu kämpfen. Ich war fertig. Ich ließ los. Alles. Alles.

Ich kann nicht sagen, wie lange ich bewusstlos gelegen habe. Ein heftiges Rütteln weckte mich. Die Kälte schüttelte meinen Körper, ohne dass ich ihn beherrschen konnte. Sie warf mich, bis sich die Starre in den Gliedern löste. Erstaunt sah ich dem schlotternden Körper zu, als gehöre er nicht zu mir. Woher nahm er die Kraft, alle Glieder so schnell und ausdauernd zu bewegen? - Ich erhob mich träge und klemmte den Korbschild zwischen zwei dickastige Erlensträucher gegen den Wind. Die geringe Anstrengung warf mich sogleich nieder. Ich saß zitternd im Schnee und heulte, blöde lachend, über meine erbärmliche Schwäche. Sitzend wühlte ich mich in den Schnee, indem ich mich wie ein träger Kreisel drehte und die Füße wie ein Trockenschwimmer nach außen stemmte. Noch immer von der Kälte geschüttelt, versuchte ich abermals aufzustehen. Diesmal gelang es besser. Im Schüttelfrost schlotternd sammelte ich ganze Garben trockenen Grases und warf sie in das bis auf die Grasnabe ausgewühlte Loch vor den Schild. Übers Gras schichtete ich morsche Äste. Obwohl sie sich leicht ausbrechen ließen, musste ich vor Erschöpfung immer wieder innehalten. Alle das Lager störenden Äste, die sich nicht brechen ließen, beseitigte ich mühevoll mit der kleinen Axt.

Langsam kehrten die Gedanken in den stumpf handelnden, von wem auch immer geschüttelten und geleiteten Körper zurück. Als die zittrigen Finger die Zündholzschachtel öffneten, war da schon wieder eine Angst um das Fünkchen Leben, das noch einmal aufgeglimmt war. Der erste Versuch gelang. Das Gras lohte gewaltig auf. Noch bevor sich die Flamme beruhigt hatte, knisterte das morsche Holz. Im Licht des Feuers und durch den schnellen Erfolg belebt, erweiterte ich meinen Wirkungskreis. Zwischen den gebrochenen Schollen am Flussufer stakte bleiches Treibholz, das leicht zu brechen und herbeizuschaffen war. Hinter einem windgeschützten Hang entdeckte ich eine riesige Wollgraswiese, aus der ich die Bodendecke meines Nachtlagers zusammentrug, das ich mit einem krummen wie dicken Ast vom Feuer trennte.

Ich legte mich ins warme Nest und zog den Korbschild soweit darüber, wie es das sicher brennende Feuer zuließ. War das von mir geschaffene Lager auch kaum der Rede wert, ich wurde von einer tiefen Zufriedenheit beseelt. Wenn kein Schneesturm alle Mühe zunichtemachte, würde ich die Nacht nicht erfrieren. Angesichts des brennenden Feuers erhielten die Strapazen des Tages ihren Sinn. Hatte ich mich vielleicht auch keinen Meter der verlorenen Station genähert, so war ich doch aus einem ganz und gar lebensfeindlichen Raum in eine Gegend gezogen, in der es eine, wenn auch nicht sehr viel größere Aussicht gab, zu überleben.

Bald war die Glut stark genug, dass ich es wagen konnte, dicke, lange Äste darüberzulegen, die ich in der Nacht dann nur nachzuschieben hatte. Außerdem rollte ich einen großen Bruchstubben ins Feuer, der mir die Glut auch dann erhalten würde, wenn ich zu lange schlafen sollte.

Mit der Wärme kamen die Gedanken zurück und mit ihnen die Unternehmungslust. Ich grübelte über Möglichkeiten, Wasser zu erwärmen. Schließlich versuchte ich es in einer grob gehauenen Holzschale. Ich geriet in eine Art Hochstimmung, als es tatsächlich gelang. Zwar brannte bald auch das Holz, aber ich musste die Schale nur herausheben und in den Schnee stellen, bevor ich trank. Da das verkohlte und feuchte Holz nicht so schnell brannte, wie das Wasser warm wurde, ließ sich der Vorgang beliebig oft wiederholen. Schon nach einigen Schlückchen warmen Wassers hatte ich beinahe das Gefühl, eine richtige Mahlzeit gegessen zu haben. Dann kam der Schlaf unvermittelt über mich.

3

Der Morgen dämmerte rot. Ich kroch steif und kalt zum Feuer und brachte es hoch. Ich musste essen. Vorerst begnügte ich mich mit warmem Wasser. Die Gedanken suchten aber unaufhörlich nach Wegen, Essbares zu beschaffen. Der leichteste, allerdings am wenigsten ergiebige war das Sammeln von Früchten, die es in großer Menge auf Kamtschatka gibt. Im zeitigen Frost gefroren, hingen sie an den verschneiten Sträuchern: Heidelbeeren, Moltebeeren, Krähenbeeren, Trunkelbeeren. Die Samen der Zirbelkiefer ließen sich auch gut essen. Ich bedachte Werner mit warmer Dankbarkeit. Hätte er mich nicht so geduldig in die Grundlagen der Botanik eingewiesen, ich wäre nicht so zuversichtlich gewesen, etwas Essbares zu finden. Aber nur mit Beeren würde ich den langen Winter nicht überstehen. Außerdem verlöre ich beim Sammeln zu viel der kostbaren Zeit, die ich für das Heranschaffen von Brennmaterial und den Ausbau der Unterkunft benötigte. Ich durfte nicht zögern, die Behausung schneesturmsicher zu machen.

Der Hunger drängte die Gedanken unbezwingbar in eine Richtung.

Am Ufer stritten Raben um einen Lachskadaver. Um an frisches Fleisch zu kommen, musste ich entweder Fallen bauen oder eine zur Jagd taugliche Waffe. Nach dem Warmwasserfrühstück erhob ich mich wenig unternehmungslustig. Ich suchte einen geeigneten Ast und spannte ihn mit dem Rest der Reißleine, den ich, sorgsam zusammengerollt, in der Tasche verwahrt hatte. Die Pfeile würden sich nicht so schnell herstellen lassen. Ich spaltete einen geraden Ast und schliff die gesplissenen Teile mit der Axt, bis sie einigermaßen zu gebrauchen waren. Die Wilden benutzten seit Urzeiten Federn, um den Pfeilen zweckmäßige Flugeigenschaften zu geben. Wo sollte ich Federn herkriegen? Ich suchte an der Stelle am Ufer, wo sich die Raben gebalgt hatten. Tatsächlich fanden sich dort ein paar, wenn auch mickrige Exemplare. Es war nicht leicht, die Federn am Ende der Pfeilrohlinge zu befestigen. Eine am Feuer zischend auslaufende Harzblase lieferte mir den nötigen Klebstoff. Die ersten Schießübungen mit der urzeitlichen Waffe waren eher ernüchternd als ermutigend. Immerhin gestattete der gut gespannte Bogen einen weiten Schuss. Der Pfeil flog einigermaßen gerade. Aber war damit ein Tier zu treffen oder gar zu verwunden? Wenn, dann aus nächster Nähe. Ich schnitzte noch lange an den vorerst drei Pfeilen, ehe ich mit den Flugeigenschaften leidlich zufrieden war. Zuletzt härtete ich die Pfeilspitzen überm Feuer. Die Zielübungen nahmen weitere Stunden in Anspruch. Ich musste noch die Unterkunft für die Nacht sichern. Also durfte ich nicht allzu viel Zeit mit der Vorbereitung und der Jagd selber zubringen. Die Sonne stand hoch, aber die Helligkeit war trügerisch.

Die Raben am Ufer hatten sich an meine Gegenwart gewöhnt. Wieder und wieder ging ich mit geschultertem Bogen und griffbereiten Pfeilen in ihrer Nähe an den Fluss, um lange, gerade Äste für den Bau der Unterkunft zu suchen, die ich wie die Gestänge eines großen Zeltes im Kreis ums Feuer stellte und mit Gras durchflocht. Die Raben sahen mir aus sicherer Entfernung neugierig zu. Ab und zu legte ich den Bogen an, um ihn unverrichteter Dinge wieder zu schultern. Anfangs flogen die scheuen Vögel auf. Mit der Zeit aber wurden sie immer träger, der sich als ungefährlich erweisenden Situation auszuweichen.

Endlich fand ich sie unvorsichtig genug. Mit klopfendem Herzen zielte ich auf den nur langsam davontapsenden Vogel. Rasch trat ich einen Schritt vor. Noch in der Bewegung schnellte der Pfeil von der Sehne. Der getroffene Rabe flog nach kurzem Schrecken auf. Eben dieser Schreck war sein Verhängnis. Mehr als an die Beute, dachte ich an den mühsam gearbeiteten Pfeil. Gleich nach dem Schuss war ich dem verwundeten Vogel nachgesprungen. Ich fing ihn in der Luft, warf mich mit ihm zu Boden und brach ihm im nächsten Augenblick das Genick.

Meine Hand schmerzte. Wieder waren alle Wunden aufgerissen.

Noch nie hatte ich getötet. Der in meiner Hand zuckende Vogel ließ mich unangenehm erschauern. Am Lager hieb ich ihm mit der Axt den Kopf ab. Das Blut lief mir warm über die Hand. Ich kostete schüchtern. Der Ekel ließ sich unterdrücken. Ich trank. Der Magen füllte sich wohlig warm.

Der Pfeil steckte tief im Rücken des toten Vogels. Am Ende hätte ich ihn nicht unbedingt fangen müssen. Mit dieser ermunternden Illusion rupfte ich den noch warmen schwarzen Vogel. Nun würde es mir nicht mehr an Federn mangeln. Die Flügel trennte ich mit zwei beherzten Schlägen vom Rumpf. Sie ließen sich gut als Luftwedel fürs Feuer gebrauchen. Ich hatte keine Erfahrung in der Zubereitung von Wildbret. Immerhin wusste ich, dass man es vorm Braten ausweiden muss. Mit der geschliffenen Axt schnitt ich dem gerupften Raben ziemlich ungeschickt den Bauch auf und entfernte die dampfenden Eingeweide, die ich als - wofür auch immer geeignete - Köder im Schnee vergrub. Ich teilte das Feuer und legte den auf einen Ast gespießten nackten Raben auf zwei mit viel Mühe in die gefrorene Erde geschlagene Astgabeln.

Ohne den Blick zu lange vom Braten zu nehmen, stach ich tief unterm pulvrigen Neuschnee verharschte Schneeblöcke aus, um sie um das mit Gras abgedichtete Gerüst zu schichten. Bald ragte ein stattliches Schneezelt aus der Landschaft, das so leicht kein Sturm würde zerstören können. Das Korbfragment band ich an die Rauchöffnung, um sie bei starkem Sturm und Schneefall schließen zu können.

Aus der offenen Spitze meiner Behausung stieg der Rauch meines Feuers. Mit Genugtuung betrachtete ich alle Nase lang das Werk meiner Hände. Ich hatte den Vorsprung des Todes aufgeholt. Ich befand mich mit ihm wenigstens wieder auf gleicher Höhe. An den beiden vergangenen Tagen war mir bitter klar geworden, wie schnell dieser Vorsprung verloren gehen kann. Ich verharrte also nicht lange bei den Erfolgen. In den letzten Stunden hatte ich ziemlich viel Glück gehabt. Das Feuer war beim ersten Versuch angegangen; den Raben hatte ich mit dem ersten Pfeil erlegt. Ich war gut beraten, mich nicht allzu leichtsinnig auf dieses Glück zu verlassen. Und was war ein überstandener Tag gegen einen zu überstehenden Winter, der noch viele Monate dauern konnte? Andersherum war der Gedanke erträglicher. Setzte sich nicht auch der längste Winter aus einzelnen überstandenen Tagen zusammen?

Ich schleppte große Mengen Holz zusammen, die ich um die Schneepyramide herum zwischen die beinahe am Boden kriechenden Weiden schichtete. Alle handlichen Stücken legte ich ans Feuer der dürftigen Behausung.

Die Hand machte mir Sorgen. Sie heilte nicht. So sehr ich sie auch zu schonen versuchte, schon bei der kleinsten Bewegung riss der sich nur langsam bildende Grind. Die Wundränder verhärteten sich und trennten die Wunde immer tiefer vom gesunden Gewebe.

Der Einstieg meiner Behausung war nicht größer, als dass ich mich mit einiger Mühe kriechend hindurchzwängen konnte. Im Dämmerlicht flocht ich eine feste Grasmatte, die ich, mit Knüppeln bewährt, ins Eingangsloch klemmte. In der Behausung wurde es bald so warm, dass ich wagen konnte, die schweißnassen, stinkenden Sachen auszuziehen. Ich band ein paar verkrunkelte Äste zu einem Herrendiener und hing, so gut es ging, die Sachen auf.

Zwischen all den Verrichtungen galt mein Hauptaugenmerk natürlich dem leise über der Glut bratenden Raben. Da die Selbstbeherrschung bei jeder Annäherung aufs Härteste gefordert war, drehte ich den Braten nur ab und an in den Astgabeln.

Im aufflammenden Abendrot sprang ich wie ein Verrückter nackt durch den Schnee. Ich wälzte mich, bis ich glühte. Mit trockenem Gras rieb ich den dampfenden Leib. Als die Kälte langsam die Oberhand gewann, zwängte ich mich in die warme Behausung und verschloss sie hinter mir sogleich wieder mit der Grasmatte. Am heißen Glutberg bewegte ich mich, bis ich trocken war. Ermattet, aber glücklich warf ich mich auf die weiche Schlafstelle. Der Körper glühte. Wehmütig rieb ich mir den wachsenden Ausdruck meiner bisher an keinem Weib erprobten Männlichkeit. Gern hätte ich mich ein Weilchen mit dem Kitzel über die Einsamkeit getröstet. Doch ich glaubte, mir in dieser Situation den Verlust des wertvollen Saftes nicht leisten zu können.

Die Anziehungskraft des Bratens war bald stärker als alle Selbstbeherrschung. Ich packte den Spieß und grub die Zähne in die weiche Brust. Lange kaute ich am ersten Bissen. Ich durfte ja nicht riskieren, dass der erschreckte Magen gleich alles wieder von sich stieß. Während ich kaute, legte ich den Spieß in die Astgabeln zurück. Der Rabe war trotz aller Salz- und Gewürzlosigkeit, und obwohl er nicht ganz gar war, der köstlichste Braten, den ich bis auf den heutigen Tag gegessen habe. Nach einigen Schlückchen warmen Wassers zogen mich die bleischweren Glieder in den Schlaf.

Das Wichtigste, das ich an diesem Tag zurückgewonnen hatte, war die Hoffnung.

4

Mein Schlafrhythmus passte sich langsam dem Verhalten des Feuers an. Beim Nachlegen des Holzes liefen meine Gedanken immer wieder zu Werner, Paul und Gustav. Vielleicht suchten sie mich ja doch. Vielleicht hatten sie die mit den Gewalten der Natur ihrer Insel am besten vertrauten Korjaken in alle Richtungen ausgeschickt, mich zu retten. Ich musste ihnen entgegenkommen, und wenn schon nicht selber, dann mit einem weithin sichtbaren Hinweis auf meinen Aufenthaltsort. Im Licht des flackernden Feuers fiel mein Blick auf die Rabenflügel. An ein Korbstück gebunden und in eine Baumspitze gehängt, würden sie unübersehbar auf die Anwesenheit eines Menschen verweisen.

Im ersten Licht der aufgehenden Sonne band ich das Korbstück mit den gespreizten Rabenflügeln an einen langen, rindenlosen, hellgrauen Ast und befestigte ihn quer an der Spitze der im weiten Umkreis höchsten Lärche. Es war nicht allzu schwer, die Lärche zu erklimmen, denn sie wuchsen nicht sehr hoch auf Kamtschatka. Alle Äste unterhalb des flatternden Fetischs schlug ich ab. Der Korbrabe schaukelte unnatürlich im Wind. Genau das sollte er. Hoffentlich würde er nicht alle Raben der Umgebung verschrecken.

Mit geschultertem Bogen ging ich auf Nahrungssuche, die ich mich nicht traute, Jagd zu nennen. Je vertrauter mir die Gegend werden würde, je zweckmäßiger konnte ich mich in ihr bewegen. Der aufgehängte Korbrabe würde mich ja auch dann ins Lager zurücklotsen, wenn ich mich verlaufen sollte. Trotzdem entfernte ich mich nicht allzu weit, um nicht von einem Schneesturm überrascht zu werden, aus dem mich auch der Kunstrabe nicht hätte retten können. Das Wetter war mir hold. Ich durchstreifte die Gegend, um Nahrung zu finden. Wo ich sie fand, riss ich Beeren gefroren vom Strauch und taute sie im Mund. Ich sann darauf, eines größeren Tieres habhaft zu werden. Einmal sah ich in einiger Entfernung ein Hermelin. Ein anderes Mal sprang mir ein Schneehase über den Weg. Mit einem erlegten Argali würde ich schon ein Weilchen sorglos hinkommen. Aber wo waren diese Wildschafe zu finden? und wie zu erlegen? Das einzige, was ich sicher erinnern konnte, war der Wohlgeschmack ihres Fleisches, das des Öfteren auf der Tafel der Station zu finden gewesen war.

Allenthalben sah ich Spuren im Schnee. Wenn auch kein Wild in meine Nähe kam, so probierte ich wieder und wieder meine Schießkünste an sich darbietenden Zielen: Astlöchern, kleinen Schneehäubchen in Astgabeln oder im Wind zitternden einsamen Blättern. Die Suche der verschossenen Pfeile forderte zuweilen viel Zeit und noch mehr Geduld. Der Bogen wurde mir immer vertrauter. Mit Fallen zu jagen, war sicher erfolgversprechender. Aber wie sollte ich sie bauen? Erdfallen hätte ich bewerkstelligt, aber der Boden war steinhart gefroren. Für alle anderen Fallen brauchte man entweder sehr viel Zeit, Erfahrung und Geschicklichkeit oder entsprechendes Gerät. Beides besaß ich nicht.

Als ich in eine hohe Schneewehe trat, kam mir die Idee, Fallgruben im Schnee zu bauen. Ich grub bis zum Boden, verfestigte den Grubenrand mit armdicken Ästen und legte obenauf ein Grasgeflecht, das ich mit Neuschnee bedeckte. In die Mitte der schneegetarnten Fallendecke legte ich grüne Kräuterbüschel, die ich auf dem Boden der Schneewehe fand. Vom Ergebnis begeistert, baute ich vier weitere Fallen nach gleichem Muster. Ich war davon überzeugt, in diesen Gruben Hasen fangen zu können. Und mit Glück würden vielleicht auch andere Braten in die Falle stürzen.

Es begann zu schneien. Mit Gedanken an Hasenbraten machte ich mich auf den Rückweg. Ich fand das Lager, wie ich es verlassen hatte. Im Schneezelt war es trotz niedergebrannten Feuers warm. Ich wühlte die Innereien des Raben aus dem Schnee und legte sie gemeinsam mit den sorgsam abgelutschten Knochen in die Nähe des Einganges, hinter dem ich mich mit Pfeil und Bogen auf die Lauer legte.

Langsam bedeckte der Schnee all meine Spuren. Würde er am Ende auch die Fallgruben zum Einsturz bringen, noch ehe sie mir den kleinsten Hasen gefangen hatten? Ich tröstete mich mit der Zuversicht, dass die Fallendecken halten und durch den Schnee nur besser getarnt würden. Ein ordentlicher Hase findet so leckere Kräuter, wie ich sie ausgelegt hatte, auch unterm Schnee. Mit einem Ast langte ich den zugeschneiten Köder in meinen Unterschlupf. Ich band die Teile zusammen an einen Stock und erwärmte sie über der Glut. Als das unappetitliche Geschlinge verführerisch zu duften begann, brachte ich es, am Stock hängend, an die alte Stelle zurück. Nun würde es nicht so schnell zuschneien.

Ich wartete geduldig, ohne recht zu wissen, worauf. Das Herumstreifen hatte mich müde gemacht. Ich dachte an Werner und Paul und Gustav. Ich fürchtete die Einsamkeit. Auf meiner Pirsch hatte ich bemerkt, dass die sonst stummen Selbstgespräche immer lauter geworden waren. Das hatte mich noch mehr beunruhigt als beschämt. Konnten Menschen Monate allein mit sich selbst überstehen? War das ‘allein’ am Ende weniger schwer zu ertragen als das ‘mit sich selbst’? Irgendwo hatte ich gelesen, dass die menschliche Seele ein Sumpf ist und es schlecht um den bestellt sei, der sich in ihm verliefe. Ich kannte mich selbst nicht sonderlich gut. Ich verstand mich in dieser Welt am ehesten als einen Fremdkörper, der stets und überall anstößt, wo immer er landen will. Auch Werner, Paul und erst recht Gustav hatten mich am liebsten allein im Ballon gesehen. War ich deshalb geflohen? Vor den Eltern? Aus Deutschland? Europa? War ich am Ende vor mir selbst geflohen? Vor allen Spiegeln? Vor allen, die mich kannten oder wenigstens einen Zipfel von mir oder meiner Vergangenheit? Wollte ich all jene hinter mir lassen, die da mit Fingern auf mich weisen und sagen konnten: Du bist doch der und der. - Du hast doch. - Und: Du wolltest doch. - Und: Du hast doch am Ende doch nicht. - Und: Ist es wahr, was der und die sagen? - Hatte ich sie alle hinter mir gelassen, um mit dem einen, der mich am besten kennt, allein zu sein? - Mich schauderte bei diesem Gedanken.

Stier starrte ich auf den im Wind schaukelnden Köder.

Ein riesiger Kopf erschien vor meinem Schlupfloch. Der Schreck nahm mir den Atem. Ein Bär schnüffelte argwöhnisch am Köder. Ich spannte den Bogen bis zum Äußersten und schoss. Der Bär sprang brüllend zurück, ohne die Richtung der Unbill ausmachen zu können. Der Pfeil war tief in seine Schulter gedrungen. Ich legte den zweiten Pfeil ein und schoss abermals. Wieder reagierte der Bär mit einem unkontrollierten Sprung. Der zweite Pfeil stak ihm in der Brust. Hatte ich den ersten Pfeil mit dem Instinkt der Angst verschossen, so folgte der zweite wieder der nüchternen Überlegung. Mir war sofort klar, wie dumm es gewesen war, den Kampf aufzunehmen. Die hiesigen Bären, die nach Werners Meinung an Größe sogar noch die nordamerikanischen Grizzlys übertreffen, gehen dem Menschen in aller Regel aus dem Weg. Ich hätte also nur in meinem Versteck ausharren brauchen, bis sich der Koloss zurückzog. Nun, da ich den Kampf einmal begonnen hatte, musste ich ihn unbedingt erfolgreich zu Ende führen. Gelänge es mir, wäre der Winter überstanden. An die andere Möglichkeit dachte ich auch. Der Gedanke brauchte nicht viele Worte. Ich spannte den Bogen mit dem letzten Pfeil. Jetzt hatte mich die brüllende Bestie ausgemacht. Der Bär nickte gewichtig mit dem Kopf, als wollte er mir zu verstehen geben, den Urheber der Schmerzen erkannt zu haben. Der gewaltige Hauch aus seinem Rachen umnebelte ihn. Er schwenkte den riesigen Schädel im Kreis, als verwunderte er sich über meine Torheit. Er senkte den Kopf, legte die Ohren an, spitzte das Maul zu einem stummen, wie Unheil verkündenden O und sprang galoppierend auf meine Behausung zu. Mir war klar, dass sie dem Ansturm dieses Riesen nicht einen Moment standhalten kann. Ich zielte auf das geöffnete Maul und schoss. Der Pfeil traf den heranstürmenden Bären am Hals. Noch einmal sprang er zurück.

In panischer Angst durchstieß ich die Rückwand meiner Behausung. Als ich mich nach hundert Metern umdrehte, sah ich den Bären in den Trümmern meines Lagers. Allein die Qualen, die meine Pfeile bewirkten, hatten mir diesen winzigen Vorsprung vor der Bestie verschafft. Ich lief um mein Leben. Der Bär setzte mir nun mit großen Sprüngen nach. Ich hastete in Richtung der von mir ausgehobenen Fallgruben. Die Schneedecke hielt mich besser als den verletzten Bären, der immer wieder im Rhythmus seiner Sprünge unterbrochen wurde. Ich drängte mich durch einen nur flach verschneiten Steinbirkenwald, hoffend, dass die bis zum Boden miteinander verzweigten Äste dem wutschnaubenden Koloss mehr zu schaffen machen würden als mir.

Der Bär brüllte auf. Darauf gefasst, im nächsten Moment von ihm erreicht zu werden, drehte ich mich hektisch um, um seinem Angriff mit der kleinen Axt zu begegnen. Er war noch zwanzig Schritte hinter mir. Mit der linken Vordertatze steckte er in einer der von mir ausgehobenen Gruben. Vermutlich hatte sich durch diesen unvermittelten Einbruch einer der Pfeile tiefer in die Wunde gebohrt. Der Bär richtete sich auf und schlug wutschnaubend oder verzweifelt mit den Pranken auf die Pfeile ein, die wie Streichhölzer wegknickten. Ich sah die messerlangen Krallen und stürzte weiter. Das Schnauben wurde leiser. Ich hatte richtig vermutet. Die Steinbirken waren dem Bären ein wirksames Hindernis, aber durchaus kein unüberwindliches. Ich hetzte kurzatmig durch den Schnee. Immer wieder drehte ich mich um. Der Bär folgte mir langsam, aber unaufhaltsam. Ich hoffte auf die Wirkung der Verwundung. Lange würde mein Atem nicht mehr reichen. Als ich auf einen Hügel kam, breitete sich vor mir ein Felsmassiv bis in schwindelnde Höhe. Die Hoffnung, einen Einstieg zu finden, den der Bär nicht erklettern kann, schwand jäh. Die Wand war steil und weder von mir noch dem Bären zu besteigen. Verzweifelt drehte ich mich um. Mein Verfolger war vom Galopp in eine gemächlichere Gangart übergegangen. Dennoch näherte er sich unaufhörlich. Ich lief an der Felswand entlang. Der Weg war kaum verschneit und eben. Hier würde mich der Bär mit wenigen Sätzen erreichen und …

Mit stechender Brust hastete ich weiter am unbarmherzigen Massiv entlang. Es versperrte mir jeden rettenden Weg. Am Felshang angekommen lief der Bär in gleicher Gangart weiter. Hatte ihn die Verletzung geschwächt, oder genoss der Angreifer nur die Angst und Verzweiflung des sicheren Opfers? War es klüger, einige Atemzüge zu verschnaufen und alle Reserven für den Kampf mit der Axt aufzusparen oder bis zur völligen Erschöpfung weiter zu fliehen, hoffend, dass die Zeit gegen den Bären läuft? Das Fell seiner Schulter glänzte unterhalb des abgebrochenen Pfeiles rot. War der Bär am Ende, oder war er nur klüger als ich? Schonte er sich für den anstehenden Kampf? Ich rang verzweifelt nach Luft und stürzte weiter.

Je näher er kam, je deutlicher wurde mir, dass ich nicht die geringste Aussicht hatte, den Kampf zu überstehen. Wenn überhaupt, dann würde ich höchstens einen Schlag mit der lächerlichen Axt ausführen können. Und selbst wenn der Bär durch die Verwundung geschwächt wäre und es mir gelänge, ihn im Zweikampf zu töten, meine Verwundungen würden mich noch ganz in seiner Nähe sterben lassen. Schon ein einziger Schlag der krallenbewährten Pranke würde mir Wunden zufügen, von denen ich mich kaum erholen konnte. Meine Waden wurden immer träger. Die Bewegung zog alle Reserven aus dem ohnehin von den Strapazen der letzten Tage geschwächten Körper. Ich fühlte, in eine Ohnmacht zu laufen. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb lief ich weiter.