Einzigartig - Jost Bonner - E-Book

Einzigartig E-Book

Jost Bonner

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Beschreibung

Er ist vor dem Großen Sterben geflohen, um in Ruhe zu sterben. Nun schreibt er das möglicherweise letzte Kapitel der Menschheits-Chronik. In abenteuerlicher Weise sucht er nach Überlebenden einer verheerenden Krankheit. Es geht um nicht weniger als den Fortbestand unserer Art. Bei seinen Streifzügen durch menschenleere Städte und Dörfer kommen dem Chronisten die merkwürdigsten Gedanken über unsere Einzigartigkeit ...

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Seitenzahl: 358

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Jedes unserer Kinder muss wissen,

dass es ein Held sein muss,

wenn die Welt überleben soll.

Ohne wirkliche Opfer ist die Welt

nicht zu retten.

Peter de Rosa

Inhaltsverzeichnis

60 Jahre meines Lebens sind vergangen. 23. Juli

9 Tage sind vergangen. 1. August

2 Tage sind vergangen. 3. August

29 Tage sind vergangen. 1. September

5 Tage sind vergangen. 6. September

1 Tag ist vergangen. 7. September

10 Tage sind vergangen. 17. September

12 Tage sind vergangen. 29. September

1 Tag ist vergangen. 30. September

34 Tage sind vergangen. 3. November

4 Tage sind vergangen. 7. November

1 Tag ist vergangen. 8. November

24 Tage sind vergangen. 22. November

33 Tage sind vergangen. 25. Dezember

2 Tage sind vergangen. 27. Dezember

6 Tage sind vergangen. 2. Januar

19 Tage sind vergangen. 21. Januar

10 Tage sind vergangen. 31. Januar

1 Tag ist vergangen. 1. Februar

1 Tag ist vergangen. 2. Februar

19 Tage sind vergangen. 21. Februar

5 Tage sind vergangen. 26. Februar

10 Tage sind vergangen. 8. März

26 Tage sind vergangen. 3. April

1 Tag ist vergangen. 4. April

2 Tage sind vergangen. 6. April

34 Tage sind vergangen. 10. Mai

Kein Tag ist vergangen. 11. Mai

60 Jahre meines Lebens sind vergangen. 23. Juli

Auch wenn man vom Leben absolut nichts mehr zu erwarten hat, hat es keinen Sinn, auf den Tod zu warten. Man ist versucht, an diese Art Ampeln zu denken, die umso rascher auf Rot schalten, je schneller man sich ihnen nähert …

Weiß, wer diese Zeilen liest, was Ampeln sind? - Wer weiß? - Wer liest?

Ich habe lange auf den Tod gewartet, ein halbes Jahr, oder schon ein ganzes? Dabei ist Warten die törichteste Beschäftigung, wenn man vergessen will. Ich bin nicht der Typ, der verwegen genug ist, aus angemessener Höhe auf einen angemessen harten Untergrund zu springen. Aber vielleicht hält mich auch nur die Neugier, die letztlich noch immer stärker ist als die Verzweiflung. Möglicherweise ist einfach der Reiz zu groß, Zeuge einer einzigartigen Geschichte zu sein, auch wenn diese Geschichte ein noch so trauriges Ende nimmt.

Ich sitze in einem fremden Haus auf einem fremden Stuhl vor einem fremden Schreibtisch an einem fremden Rechner und schreibe. Schreiben ist vermutlich das einzige, was ich einigermaßen befriedigend vermag; befriedigend allein nach meinen Maßstäben. Ich habe ein Leben lang geschrieben, ohne mich zu scheren, ob das Geschriebene einen Leser findet oder einen Heller einbringt. Also muss ich auch jetzt nicht damit anfangen, nach dem Sinn zu fragen. Vermutlich hat es keinen Sinn. Aber noch weniger Sinn hat es, auf den Tod zu warten vor einer Ampel, die Wartende mit ihrem grellen Rot verhöhnt. Das Gleichnis ist ungenau. Wartende gibt es nicht. Bezogen auf den Tod sind wir alle wenigstens Kriechende. Aber es gibt Situationen, da ist auch dieses Schneckentempo eine Viecherei. Lassen wir es dabei bewenden.

Heut ist ein ausnehmend angenehmer, sonniger, aber nicht zu heißer Tag. Der Ausblick durch das große Fenster vorm Schreibtisch ist wundervoll. Von Wald gesäumt erstreckt sich ein See. Auf kräuselnden Wellen, in denen das Sonnenlicht flimmert, ziehen fünf Schwäne gelassen ihre Bahn, zwei Altvögel mit ihren halbwüchsigen Jungen. Vor Urzeiten habe ich ein solches Motiv fotografiert im Glauben, damit meine Lebenssituation sinnbildlich festhalten zu können …

Ich heiße Hartmut Schubert. Ich könnte mir auch jeden anderen Namen geben. Es gab wohl nie eine Zeit, in der Namen derart bedeutungslos waren; noch bedeutungsloser als Schall und Rauch. Der Ort, in dem diese Chronik wahrscheinlich gefunden wird, heißt Dresden. Das Land heißt Deutschland. Die Landfläche, also der Kontinent, wird Europa genannt.

Nein, das kann ich so nicht machen. Um alles zu beschreiben oder zu erklären, müsste ich eine Enzyklopädie schreiben. Ich hab keine Ahnung, ob die Zeit wenigstens für eine nicht allzu ausführliche Chronik reicht.

Angefangen hat es ganz unspektakulär vor vier Jahren. (Es gibt gute Gründe, von da an eine neue Zeitrechnung zu beginnen, darum verzichte ich auf Jahreszahlen herkömmlicher Art.) Die Meldung hatte es in kaum eine Zeitung oder Nachrichtensendung der Dritten, geschweige denn Ersten Welt gebracht. (Die Dritte ist die arme, die Erste die reiche, und die Zweite irgendeine Welt dazwischen.) Man erinnerte sich erst später daran, als auch andernorts Menschen auf mysteriöse Weise starben. Eigenartig war nicht der Tod an sich. Bei Untersuchungen der Todesumstände ergab sich immer der gleiche Befund: Gefäßverschluss durch Thromben, also Blutgerinnsel. Die Folge waren: Infarkt, Embolie, Thrombose, vor allem Herzinfarkt und Schlaganfall. Das wäre kaum jemandem aufgefallen in einer Welt, in der man sich längst daran gewöhnt hatte, vorwiegend an diesen Symptomen zu sterben. Merkwürdig war allein der Umstand, dass mitunter ganze Familien in zeitlicher Nähe und ganz und gar altersunabhängig starben.

Es begann in Afrika, dem Kontinent, der jahrzehntelang unter Ebola-Epidemien zu leiden hatte. Die Welt war müde all der Schreckensmeldungen und Opferzahlen. Gerade als man Dank koordinierter, weltweiter Hilfe den furchtbaren Erreger niedergekämpft hatte, traten die ersten Fälle dieses neuen Sterbens auf, für das man nicht einmal einen befriedigenden Namen hatte. Es war ein plötzlicher Tod, also nannte man ihn auch so. Sicher traf das Attribut plötzlich auch auf viele andere Arten zu sterben zu, aber da gab es noch spezifische Besonderheiten, die zur Benennung taugten. Hier war plötzlich das Alleinstellungmerkmal, weil es beinahe das einzige war, was man über diesen Tod sagen konnte. Solange nur südlich der Sahara gestorben wurde, war das öffentliche Interesse eher beschränkt, auch noch, als ganze Dörfer vom Plötzlichen Tod betroffen waren.

Die Weltgesundheitsorganisation schickte ein paar Ärzteteams, um die Todesumstände genauer zu untersuchen. Allein, es wurden keine beunruhigenden Hinweise auf eine Beteiligung unbekannter Erreger gefunden. Die Todesursache schien natürlich zu sein. Nur wenige Ärzte waren besorgt über die rapide Zunahme derartiger Todesfälle, die in Afrika bisher eher selten gewesen waren. Die Tatsache, dass auch Kinder starben, die gar nicht zur Risikogruppe dieser Krankheiten gehören, wurde als eine Merkwürdigkeit abgetan, die es noch aufzuklären galt. Zu emsig war man nicht damit. Die wissenschaftliche Kapazität Zentralafrikas war eher beschränkt. Labore, die sich einer eingehenderen Untersuchung hätten widmen können, gab es nicht. Im Nachhinein erinnerte man sich ähnlich mysteriöser Fälle auch in anderen Weltgegenden, in Nord- und Mittelamerika und selbst in Europa. Aber auch hier waren ausnahmslos Menschen schwarzer Hautfarbe betroffen.

Meldungen aus Saudi Arabien und Indien ließen aufhorchen und fanden einen Weg in die Medien. Sicher hätten es die Meldungen schwerer gehabt, wenn die Weltgesundheitsorganisation nicht zeitgleich vorsichtige Schätzungen der unspezifischen Todesfälle auf dem afrikanischen Kontinent veröffentlicht hätte. Sie bezifferte die Opfer mittlerweile auf einige Zehntausend.

Das Interesse der Labore mit exzellentem Ruf und noch exzellenterem Budget wurde jedoch erst geweckt, als auch in nördlicheren Gegenden der Welt immer mehr Menschen fast zeitgleich und altersunabhängig vom Tod heimgesucht wurden, namentlich in Nordamerika. Das war ein Jahr später zu Beginn des Jahres Zwei. Es kamen zudem Berichte aus dem Mittelmeerraum, dem Balkan und Georgien. In den Vereinigten Staaten nahm man sich nun sehr resolut und entschlossen der Sache an. Allerorts, wo der Verdacht einer Häufung des Plötzlichen Todes bestand, vor allem nach dem Tod von Kindern, wurden nahestehende Personen in eigens freigelenkte Kliniken eingewiesen und intensivmedizinisch betreut. Drei Erkenntnisse konnten schnell gewonnen werden: Die Gerinnsel bilden sich ungewöhnlich schnell, haben immer die gleiche Struktur und sind mit bekannten Mitteln weder zu verhindern noch aufzulösen. Trotz fieberhafter Suche konnte auch hier kein Hinweis auf eine Ansteckung gefunden werden. Fazit: Die Sache war rätselhaft und ernst. Ein Vierteljahr später, Anfang Mai, ging diese Meldung um die Welt und traf auf beunruhigende Berichte aus Japan, China und allen Teilen Europas. Nun arbeiteten die wissenschaftlichen Labore aller betroffenen Staaten, die es sich leisten konnten, an der Suche nach Ursachen und möglichen Therapien dieser Krankheit.

Auch wenn die Opferzahlen außerhalb Afrikas kaum ins Gewicht fielen, wurden nun auch Politiker nervös. Einige riefen laut nach einer Aktivierung nationaler Notfallpläne. Immer mehr Staaten schlossen erst Flughäfen und Häfen, dann die Grenzübergänge und dann so hermetisch wie möglich die Grenze überhaupt, um auch alle illegalen Übertritte zu verhindern. Deutschland hielt sich weise zurück. Diese Maßnahmen hatten in der Vergangenheit kaum Erfolg. Hier waren sie ganz und gar nutzlos, was freilich manche Politiker erst einsahen, nachdem auch gut geschützte Territorien, die bisher vom Plötzlichen Tod verschont geblieben waren, heimgesucht wurden.

Ein Dreivierteljahr später, Mitte Dezember, beruhigte sich die Hysterie ein wenig. Die Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen begnügte sich damit, Zahlen zu sammeln und für die Nachrichten möglichst unaufgeregt aufzubereiten. Nachdem sie - vermeintlich der geringen Zunahme der Opfer wegen - eine Weile keine neuen Zahlen mehr veröffentlicht hatte, platzte sie mit einer Meldung, die mancherorts schon auf inoffiziellen Wegen das Ohr der misstrauischen Masse gefunden hatte, in die weihnachtliche Stimmung. Afrika wurde schon seit Wochen von einer regelrechten Sterbewelle heimgesucht. Gesprochen wurde nun von Millionen Opfern. Scheinbar wusste gar keiner mehr zu sagen, wie viele es sind. Waren sie nicht mehr zählbar? Fehlten selbst die, die noch zählen können? Warum hatte die Weltgesundheitsorganisation so lange geschwiegen?

Verschwörungstheorien schossen aus einem lauen Sumpf aus Angst, Misstrauen und Ohnmacht. Politiker, Wissenschaftler, Ärzte und Ökonomen vieler Nationen kamen in unterschiedlichen Konstellationen zusammen, um über die Zukunft der Menschheit zu beraten, freilich meist unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Farbige wurden erst gemieden, dann beschuldigt, dann gemobbt. Später kam es zu schweren Übergriffen. Einige beschuldigten sie, durch ihr unzüchtiges, kulturloses wie unzivilisiertes Verhalten das Sterben ausgelöst zu haben, andere hielten sie für Opfer einer imperialistischen Verschwörung, die darauf zielt, die schwarze und nachher möglicherweise auch alle anderen nicht-weißen Rassen auszurotten. War es mit dem HI-Virus noch nicht gelungen, so hatten die Geheimlabore des Pentagon vielleicht doch noch ein teuflisches Instrumentarium ausgeheckt, das am Ende ausversehen die ganze Menschheit vernichtet …

Religionen bekamen unverhofften Zulauf. Obwohl alle großen Religionsgemeinschaften gleichermaßen betroffen waren - die Christen südlich der Sahara, die Muslime in Nordafrika und die Hindus - brachen bald alte Ressentiments auf, und sie fanden Futter. Noch hielt man sich zurück und den ausgestreckten Zeigefinger in der Tasche. Unterdrückte Häme auf allen Seiten war dennoch spürbar. Selbst in säkularen Gesellschaften gewann religiöse Zugehörigkeit wieder an Bedeutung. Atheisten, Agnostiker und Gläubige gingen sich aus dem Weg.

Auch Familien separierten sich, erst recht, wenn sie ein erstes Opfer zu beklagen hatten. Das Bewusstsein für Abstammung wurde geschärft und zunehmend für überlebenswichtig befunden. Starb ein Elternteil, trennte sich oft das andere von den Vor- und Nachfahren des Verstorbenen, also nicht selten auch von den eigenen Kindern. Misstrauen durchzog bald alle Bereiche des privaten wie öffentlichen Lebens. Noch waren es wenige, die in mehr oder minder verlassene Gegenden flohen und daselbst unter recht unterschiedlichen Bedingungen und bisweilen in bedenklichster Lebensqualität hausten. Hamsterkäufe nahmen zu. Geld wurde gehortet. Die Börsen reagierten nervös.

Von Schwarzafrika, das offensichtlich apokalyptisch verheert wurde, zog sich der Gürtel des Todes vom Mittelmeer über Saudi Arabien, Iran, Pakistan, Indien, Indonesien bis Australien. Aus China wurden kaum verlässliche Zahlen gemeldet. Berichte aus Japan und Korea waren besorgniserregend. Bis hin zu den kleinsten Stadtstaaten gab es kein einziges Land mehr, das von der seltsamen Krankheit verschont blieb.

In Deutschland war - so man sich fern aller Medien hielt - von all dem kaum etwas zu spüren. Die merkwürdigen Todesfälle wurden eher wie Kuriositäten behandelt. Man brüstete sich, von wenigstens einem Fall authentisch erzählen zu können. Trotz dieser verhaltenen Ruhe brannte innerlich ein unangenehmes Feuer. Das Gefühl war vergleichbar mit der Hilflosigkeit beim Anflug einer Granate: Man hört das Surren und weiß, dass etwas im nächsten Augenblick geschehen wird, etwas Lebensentscheidendes. In diesem Moment überlässt man sich tatenlos dem Schicksal, wissend, dass man in der nächsten Sekunde tot oder lebendig sein wird. Nur dass die Sekunde halt viel länger dauerte.

Längst war nicht nur in Deutschland eine Zensur über alle Berichte aus Afrika verhängt worden, die sich sogar auf das Internet erstreckte. Nötig war das nicht. Wer unvorsichtig genug war, einen dieser Berichte auf illegalem Weg zu beschaffen, tat dies kein zweites Mal. Die Bilder waren grauenvoll. Leichenberge waren zu sehen, brennend oder von Insektenwolken umschwärmt und von Aasfressern umschlichen und umkämpft. Besonders verstörend waren Bilder aus Städten, insbesondere aus den dichtbesiedelten Slums der Vorstädte, die ich hier nicht näher beschreiben will. Opferzahlen schwankten inzwischen je nach Schätzung zwischen fünfhundert und achthundert Millionen, also vierzig und siebzig Prozent der afrikanischen Gesamtbevölkerung.

Prozent sollte bald eines der gebräuchlichsten Wörter werden. In den Vereinigten Staaten starben dreiundsiebzig Komma acht Prozent der afroamerikanischen Bevölkerung. Wenigstens hatte man hier eine verlässliche Zahl, die wohl für das weltweite Sterben der afrikanischstämmigen Bevölkerung herangezogen werden konnte. Diese Zahl war kräftiges Futter für die hartnäckigste Verschwörungstheorie, der allerdings der Umstand widersprach, dass der Plötzliche Tod scheinbar einen Bogen um die amerikanischen Indianer machte, wohingegen die Sterberate bei den indigenen Völkern Afrikas, Europas, Asiens und Australiens auffällig hoch war. Ich hatte vordem keine Ahnung, wer alles zu diesen gehört: fünfunddreißig Millionen Berber in Nordafrika, vierzig Millionen Kurden in und südlich der Türkei, siebzig Millionen Adivasi in Indien, fünfzehn Millionen Miao in und südlich von China.

Natürlich wurde bald auch interessierten Laien klar, dass der Tod einen zumindest ähnlichen Weg nimmt, wie ihn die Menschheit bei der Ausbreitung über die Erde in den letzten zweihunderttausend Jahren gegangen ist. Aber erst als dieser Umstand von wissenschaftlichen Koryphäen bestätigt wurde, verstärkten sich Angst und Unruhe vor allem in bisher weniger betroffenen Gebieten. Der wissenschaftlichen Theorie zufolge wären Australien und Europa als nächstes an der Reihe, gefolgt von den indigenen Völkern und Gruppen Finnlands und dem Osten Russlands, Nord- und Südamerikas und schließlich von den Eingeborenen im nördlichen Polargebiet, in Neuseeland und Madagaskar.

Die sich daraus ergebende trübe Aussicht ließ schnell all die verstummen, die die Dezimierung der afrikanischen Bevölkerung noch als eine Art globale Katharsis begrüßt hatten.

Beinahe jeden Tag wurden neue Theorien laut, wobei nur schwer auszumachen war, ob es sich dabei um bloße Vermutungen oder gar Spinnereien handelte, oder ob dahinter eine wissenschaftlich profunde Analyse stand. Merkwürdig wenig war aus den Laboratorien zu hören.

Vermutet wurde eine Beteiligung von Prionen. Das sind Eiweiße, die im tierischen Organismus in normalen, aber auch gesundheitsschädigenden Anordnungen vorkommen können. Diese Eiweiße haben die Fähigkeit, ihre Struktur auf andere Prionen zu übertragen. Da sie - anders als Viren, Bakterien oder Pilze - keine Erbinformationen enthalten, sind es keine Lebewesen, sondern organische Gifte mit virusähnlichen Eigenschaften. Schädliche Prionen können von außen in den Körper gelangen, sie können aber auch - und das war besonders besorgniserregend - durch spontane Umfaltung körpereigener Prionen entstehen. Letztere kommen vermehrt im Hirngewebe vor. Krankhafte Veränderungen haben dort rasch schwerwiegende Folgen für den Organismus. Von außen eindringende, schädigende Prionen waren bisher vor allem bei der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit und bei BSE oder Rinderwahn ins Blickfeld geraten. Bis jetzt war man davon ausgegangen, dass sie am wahrscheinlichsten durch kontaminierte Nahrung in den Körper gelangen. Andere Infektionswege, wie etwa über Körperkontakt oder die Luft, konnten jedoch nie ganz ausgeschlossen werden.

Oft war von Amyloidose die Rede. Auch dieser Erkrankung liegt eine Störung der Faltung von Eiweißen zugrunde, die normalerweise im Blutplasma gelöst sind. Werden diese Eiweiße übermäßig auf- oder vermindert abgebaut oder nicht hinreichend ausgeschieden, steigt ihre Konzentration. Dadurch gelangen sie auch in angrenzendes Gewebe, wo Enzyme sie angreifen. In Folge dieser Abwehrreaktion entstehen Aminosäureketten, die sich zusammenballen und unlösliche, mikroskopisch kleine Fasern bilden, die nicht mehr entfernt werden können, da sie gegenüber den Abwehrmechanismen des Körpers resistent sind. Die Fasern zerstören die Architektur der Organe und führen dadurch zu Funktionsstörungen. Es gab Hinweise darauf, dass sie auch einen direkten toxischen Effekt auf Zellen ausüben. Bei Befall der Herzkranzgefäße kann schnell die Durchblutung gestört werden.

Andere vermuteten eine Beteiligung von Viren, speziell von Lentiviren. Lenti heißt langsam. Die Viren haben den Namenszusatz, weil sie oft langsam fortschreitende, chronisch degenerative Krankheiten auslösen. Diese Erreger sind sehr artspezifisch und wurden bisher nur in wenigen Säugetierarten gefunden. Sie verbleiben lebenslang im Wirt, da sie die Abwehr des Immunsystems umgehen können. Bekanntester Vertreter der Lentiviren ist das Humane Immundefizienz-Virus, das ursächlich ist für AIDS.

Ich habe keinerlei Vorkenntnis auf medizinischem Gebiet. Was ich schreibe, entstammt einem weltumspannenden, enzyklopädischen Netzwerk, das im Verlauf des Großen Sterbens noch zu enormer Bedeutung gelangen sollte.

Natürlich haben alle halbwegs interessierten und gebildeten Leute versucht, die Nachrichten zu sondieren, zu diskutieren und nach bestem Vermögen zu verifizieren, also auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Man wollte weder leichtgläubig sein noch eine Überlebenschance verspielen, nur weil man nicht auf dem Laufenden war. Also wurde in allen Schlagzeilen nach verwertbarem Potential gesucht. Es war eh nicht mehr als der Griff nach einem Strohhalm.

Ich hatte es mir zur Regel gemacht, alle wichtigen und aus meiner Sicht brauchbaren Meldungen in ein kleines Notizbuch zu schreiben. Hier zitiere ich es so ausführlich, um zu zeigen, mit welcher Art Nachrichten man es im besten Fall zu tun hatte. Viel anfangen konnte man damit freilich nicht. Je tiefer man in ein Wissensgebiet der Medizin eintauchte, umso faszinierter war man von der filigranen Struktur des Wissens, das schon lange kein Mensch allein mehr überschauen konnte; kein Mediziner; auch kein Mikrobiologe. All das Wissen reichte aber offensichtlich nicht, dem Plötzlichen Tod etwas Wirksames entgegenzusetzen. Ironie ist hier das falsche Wort. Wer möchte von Ironie der Phylogenese oder Stammesgeschichte sprechen?

Die Menschheit hatte sicher auf schändlichste Weise eine Menge Zeit vergeigt, und das nicht so sehr in früherer, sondern vielmehr in moderner Zeit. Um das zu verdeutlichen, genügt ein beschämendes Beispiel. Der Hersteller eines Computerspiels warb mit den Zeilen: Pro Tag verbringen die Leute weltweit zusammengerechnet eine halbe Milliarde Spielstunden damit, liebenswerte Vögel auf fiese Schweine zu schießen. Das war nur ein Spiel von vielen. Allein von den zehn bedeutendsten Spielserien sollen über Zweimilliarden verkauft worden sein. Der Jahresumsatz der Branche schwankte zuletzt um einhundert Milliarden Dollar.

Gerade in jener historischen Situation, als die Menschheit glaubte, mit den biologischen Bedrohungen gleichauf zu sein und quasi jede Herausforderung annehmen zu können, wurde sie mit einer Krankheit konfrontiert, die in allem rätselhaft war. Aber was hätte es genützt, das Sterben in allen Facetten erklären zu können? Nicht jede Gefahr, die sich erklären, ja voraussagen lässt, ist abwendbar. Man denke an einen gewaltigen Asteroiden oder auch nur an einen erneuten Ausbruch der Phlegräischen Felder. Auch wenn unzählige Filme und Bücher die Hoffnung weckten, ja Gewissheit suggerierten über die Abwendbarkeit jeglicher Bedrohung, Wissenschaftler mochten mitunter ziemlich erschrocken gewesen sein über das Potential einer entdeckten Gefahr, auch wenn die Wahrscheinlichkeit als verschwindend gering eingeschätzt wurde, dass die Befürchtung eintritt.

Es war daher mehr als eine Sensation, als sich eine in Forscherkreisen altbekannte Dame zu Wort meldete. Selma Lundquist hatte sich schon in der Prionforschung einen Namen gemacht. Die Schwedin, die in einem der exzellentesten Labore der Vereinigten Staaten arbeitete, ließ die Welt schon im Vorfeld einer mit viel Spannung und großen Hoffnungen erwarteten Konferenz in New York wissen, dass sie glaubt, die Zusammenhänge um den Plötzlichen Tod erklären zu können. Das mediale Interesse konnte nicht größer sein zu Beginn des Frühlings im Jahr Drei. Die Konferenz wurde mit Bild und Ton in alle Gegenden der Welt übertragen. Der Saal konnte die Schar hochkarätiger Wissenschaftler vieler Fachgebiete kaum fassen.

Es war ein großer Auftritt, der in der Wissenschaftsgeschichte wohl beispiellos bleiben wird. Die große Dame trat ans Mikrofon, legte das umfangreiche Dossier ihrer Rede aufs Pult, schaute in den Saal und - schwieg. Im Raum herrschte bedrückende, wenn nicht gar unheimliche Stille. Da das Kamerateam allein das Gesicht der schweigenden Wissenschaftlerin einfing, sahen unzählige Menschen eine dramatische Veränderung in den sympathischen Zügen. Nachdem sich Frau Lundquist ohne Hast den Schweiß aus dem Gesicht getupft hatte, gab sie den Anwesenden kund, dass sie es für vernünftiger hält, ihr Wissen für sich zu behalten, sie der Menschengemeinschaft nur raten kann, sich auf den schlimmsten aller Fälle vorzubereiten.

Allgemeiner Tumult war die Folge. Laute, ja hysterische Rufe flogen ihr aus dem Saal entgegen. Nachdem die Empörung in immer gewaltigeren Wellen gestenreich herausgeschrien war, trat beinahe Ruhe ein. Über den verhaltenen Lärm tönte die Frage, welcher denn ihrer Meinung nach der schlimmste Fall sei? - Eine globale Mortalität von fünfzig, sechzig, siebzig Prozent?

Die bedrängte Rednerin hatte es aufgegeben, das überschwemmte Gesicht zu trocknen. Mit leiser Stimme erwiderte sie, dass man sich auf die Zahl der Überlebenden konzentrieren mag, und wenn man partout eine Prozentzahl haben muss, dann solle man sich auf eine Null vorm Komma einstellen. Da es nun ganz ruhig geworden war, setzte sie noch hinzu, dass sie über die Zahl der Nullen hinterm Komma nicht spekulieren mag, zwei hätte ihr Team statistisch für den günstigsten Fall ermittelt.

Ohne auf den erneuten Tumult zu reagieren, hatte sie den Saal, die Stadt und das Land verlassen. Zwei Wochen später war sie im Haus ihrer Eltern in der Nähe Stockholms gestorben.

Natürlich war man versucht, diesen Auftritt zu werten wie alle Ankündigungen bisher, die vorgaben, die Todesumstände aufklären zu können und sich wenig später als heiße Luft erwiesen. Die apokalyptischen Ausmaße des Sterbens in Afrika waren allgegenwärtig. Hier hatte die kühle Statistik bereits eine Zahl jenseits der Milliarde geschätzt. Noch beeindruckender aber war die Tatsache, dass eine gestandene Wissenschaftlerin geschwiegen hatte, obgleich ihr die Erhellung der Krankheitsursachen ohne Zweifel den Nobelpreis und damit einen Platz in der Gedächtnisliste der verdienstvollsten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller Zeiten eingebracht hätte. Dieser Umstand wog schwer und sprach für sich. Eingeweihte waren sich zudem einig in der Einschätzung, dass Selma Lundquist nicht die Frau ist, die so kurz vor Veröffentlichung von Forschungsergebnissen Zweifel über den Wert ihrer Arbeit zum Schweigen bringen.

Selbstverständlich drangen Details der beabsichtigten Rede in die Öffentlichkeit. Anders, als bei allen bisherigen Einlassungen über die Krankheit, wurden die nun bekannt werdenden Fakten zwar kritisch reflektiert, aber nicht wirklich widerlegt. Demnach hatte das Team um Frau Lundquist das Zusammenwirken von Darmbakterien und körpereigenen Prionen nachgewiesen, das mit einer sehr alten, circa zweihunderttausend Jahre zurückliegenden Mutation im menschlichen Genom korrelieren muss. Das genaue Zusammenspiel habe ich weder verstanden noch bin ich in der Lage, es verständlich zu machen.

Alle mit dem Großen Sterben befassten Labore gingen nun daran, die durchsickernden Details zu überprüfen. Auf den Umstand, dass dem Tod eine dramatische Veränderung der Darmflora, namentlich die Reduktion auf einen einzigen Bakterienstamm vorausgeht, hatten russische Kliniken schon vor geraumer Zeit aufmerksam gemacht, ohne besonderen Widerhall zu wecken. Eine genetische Disposition lag nahe. Alle Faktoren waren mehr oder weniger bekannt und konnten für sich allein oder im Zusammenspiel mit einem weiteren Symptom erklärt werden, nicht aber die plötzliche und massenhafte Anfälligkeit so vieler Individuen einer Spezies für eine stets zum Tode führende Erkrankung.

Lange wurde darüber gestritten oder spekuliert, ob Frau Lundquist die an der Erkrankung beteiligten Gensequenzen wirklich gefunden hatte. Wenn, dann war das Wissen darum wohl mit ihr begraben worden. Wenigstens gab es in ihrem Team niemanden, der diese Erkenntnis mit ihr teilte und bereit war, sie zu veröffentlichen. Also gingen die meisten Labore daran, ihre Datenbanken auszutauschen und später gar zusammenzuschließen. Die Untersuchung beziehungsweise der Vergleich von Abermillionen Datensätzen brachte kein Ergebnis. Die Lokalisation der beteiligten Gene war deshalb so schwer, weil die entsprechenden Sequenzen nicht bei einer Minderheit, sondern bei fast allen Menschen vorhanden waren. Aber selbst wenn es gelungen wäre, die an der Erkrankung beteiligten Allele ausfindig zu machen, es hätte nur den einen Nutzen gehabt, nämlich eine Aussage darüber treffen zu können, wer eine Chance hat, dem Plötzlichen Tod zu entgehen, und wer nicht. Möglicherweise hatte Selma Lundquist die genetische Stigmatisierung mit ihrem Schweigen verhindern wollen. Schwer zu sagen, ob sie der Menschheit damit einen Dienst erwiesen hat. Eine schwierigere Entscheidung lässt sich kaum konstruieren.

Immerhin hatte der kurze Auftritt der schwedischen Wissenschaftlerin zur Folge, dass sich Regierungen und untergeordnete administrative Ebenen erneut mit sinnvollen Notfallplänen beschäftigten. Dabei stand eine Frage über allen anderen: Worauf sollten sich die Anstrengungen konzentrieren? Hier war nicht nur Verstand gefragt, sondern Einfühlungsvermögen und noch mehr Phantasie; Tugenden also, die bei Politikern nicht eben häufig anzutreffen sind. Nachdem die Beteiligung von Bakterien zur Sprache gekommen war, wurden alte Muster aktiviert, also Grenzen so hermetisch wie möglich geschlossen. Und natürlich manifestierten sich erneut - unkontrolliert und ohne verordnet werden zu müssen - jene diffus verlaufenden Grenzen zwischen Rassen, Ethnien und Familien. Über eine schnelle Abschaltung von Kernkraftwerken wurde debattiert und über Notfalldossiers zur Stilllegung von Chemieanlagen mit erheblichem Gefahrenpotential. Auch über die möglichst nachhaltige Endlagerung von Nuklearsprengköpfen mochte hinter sehr dicken Türen nachgedacht worden sein.

Ansonsten war man schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen. Die Toten wurden in altvertrauter Weise bestattet; die entstandenen Lücken geschlossen; das Produktionsvolumen jenem der möglichen Konsumtion angepasst. Weltweit starben nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation am Plötzlichen Tod etwa eine Million Menschen pro Tag. Betroffen waren vor allem Nordafrika, der Balkan, Indien und China. Auch an diese mehr als besorgniserregende Zahl gewöhnte man sich.

Im folgenden Sommer kam aus beständig heiterem Himmel der Schock. Beinahe weltweit geschah nun das, was Afrika bereits hinter sich hatte. Aus Rücksicht auf diese Tatsache wurde der Schock späterhin der zweite genannt. In nur wenigen Tagen stieg die weltweite Sterberate auf fünfzig Millionen täglich. Das waren - um die Zahl fasslicher zu machen - nahezu ein Prozent der noch lebenden Menschen. Demnach hätte die Menschheit keine hundert Tage mehr. In Deutschland starben täglich über siebenhunderttausend, in Dresden über viereinhalbtausend.

Es fällt mir noch immer schwer, diese Phase des Sterbens zu schildern, obgleich ich die Geschehnisse gedanklich wieder und wieder versachlichend durchgegangen bin. Der Schock wirkte recht unterschiedlich auf die Menschen. Im großen Ganzen kann man von zwei Strategien, also zwei Gruppen sprechen. Die eine versuchte, die nackte Haut zu retten, die andere mühte sich, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, oder - einfacher gesagt - das Nötige zu tun. Ich gehörte damals noch der zweiten Gruppe an. Die anderen flohen entweder körperlich in abgeschlossene Räume, Häuser oder festungsähnliche Komplexe oder einfach ins freie Feld. Das Klima im Schwarzen September war beständig mild. Oder sie flohen in bisweilen hanebüchene Hoffnungen und traktierten Körper und Seele mit allen nur möglichen Drogen oder peinigten sie mit Hitze und Kälte, Hunger und Durst oder maßloser Nahrungsaufnahme oder Schlafentzug oder endlosem Gebet oder Geißelung, um nur einige zu nennen. Jene, die der Tatsache ins Auge sahen, nun eh zeitnah sterben zu müssen, ergingen sich in Orgien und Exzessen aller Art, wie sie aus Zeiten der Pest überliefert sind. Der enge und tiefe körperliche Kontakt wurde zum bevorzugten Narkotikum gegen die beständige, stetig wachsende Angst. Auch ich nutzte schon bald dieses Mittel.

Gesellschaftlich herrschte während des Sterbens eine Art Agonie. Die einen flohen oder flippten aus, die anderen funktionierten rein pragmatisch. Immer wieder kam es zu furchtbaren Unfällen, weil Zugführer, Piloten oder Schiffsmannschaften die Kontrolle über das ihnen anvertraute Fahrzeug verloren. Auf den Autobahnen ereigneten sich Massenkarambolagen. Auch dort, wo es bisher noch nicht geschehen war, sahen sich die Regierungen veranlasst, den Notstand auszurufen und unpopuläre Regelungen einzuführen. Fahrverbote wurden verhängt; Tempolimits erlassen. Nur noch lebenswichtige Güter durften bewegt werden. Vielerorts musste die motorisierte Mobilität ganz eingestellt werden.

In Zeiten allgemeiner Flucht vor dem Tod sind Verbote nicht allzu wirksam, erst recht, wenn man nicht mehr über das nötige Personal verfügt, diese Verbote durchzusetzen. Auf den nun kaum weniger befahrenen Autobahnen kam es zu regelrechten Wettfahrten auf Leben und Tod. Zum Glück wird man nie erfahren, wie viele Menschen bei all den sinnlosen Unfällen ums Leben gekommen sind, die das Große Sterben möglicherweise überlebt hätten.

Nach einem Monat gingen die Opferzahlen auf das alte weltweite Niveau von einer Million täglich zurück. Keiner traute sich, von einem überstandenen Höhepunkt der Pandemie zu reden. Die Weltgesundheitsorganisation tröstete die Überlebenden mit der Nachricht, dass die gemeldeten Zahlen eine proportionale Mortalität ausweisen, also alle Gegenden gleichermaßen betroffen waren und sind. Das erschütternde Fazit des Schwarzen Septembers lautete: Weit über die Hälfte der Weltbevölkerung war dem Plötzlichen Tod zum Opfer gefallen. Manche sprachen gar schon vom Ende der Spezies Mensch …

Meine Familie hatte wunderbarerweise ganz und gar überlebt. Es gab gute Gründe, mit dieser Freude zurückhaltend zu sein.

Alle Grenzkontrollen oder -schließungen hatten sich als sinnlos oder offensichtlich unwirksam erwiesen. Die Börsen hatten längst jegliche Art Handel eingestellt. Die Nachfrage fast aller Waren und Dienstleistungen war drastisch zurückgegangen, bei manchen Gütern gar auf null gesunken. Viele Immobilien samt Einrichtung und unzählige Fahrzeuge aller Couleur waren ohne Besitzer. Oft gab es noch nicht einmal Leute, die Besitzansprüche erhoben. Es war keine Fledderei, wenn man sich derartige Leerstände zunutze machte.

9 Tage sind vergangen. 1. August

Wenn ich das bisher Geschriebene lese, vermittelt sich mir nicht ansatzweise, was wirklich passiert ist. Das liegt möglicherweise daran, dass das Geschehen weit weniger horribel war, als man es bei Betrachtung der Opferzahl vermuten wird. Es starben viele, unglaublich viele im Schwarzen September. Aber selbst da war es täglich nur einer von hundertzwanzig. Wie viele Leute kennt man? Und wie viele so gut, dass man sich um deren Gesundheit sorgt oder von deren Ableben schmerzlich betroffen ist? Selbst in der schlimmsten Phase des Großen Sterbens ging das Leben ohne dramatische Veränderungen des Alltags weiter. Man verhielt sich ruhig und war froh, auch an diesem Tag am Leben geblieben zu sein. Und wenn es nahe Angehörige traf, dann … Was soll’s, dann war es schon eine Viecherei. Aber auch hier ertappte man sich beim Gedanken, dass die eigenen Lebenschancen mit jedem familiären Abgang möglicherweise steigen. Keiner hatte vergessen, dass Selma Lundquist genetische Ursachen für die Erkrankung ausfindig gemacht hatte.

Von Genetik war ja seit dem Auftritt der Schwedin unentwegt die Rede gewesen. Großlabore hatten unablässig und eindringlich dazu aufgefordert, das eigene Genom analysieren zu lassen. Niemand sollte bestattet werden, solange nicht genetisch auswertbares Material sichergestellt wurde. Daraus entwickelte sich vielenorts ein Automatismus.

Ich hatte mein Genom schon vor Jahren auslesen lassen und erfahren, dass meine Vorfahren bis auf einen winzigen nordostafrikanischen Anteil Europäer waren, Osteuropäer zumeist neben Deutschen und Franzosen. Auch Vorfahren aus Griechenland und dem Balkan waren darunter und ein geringer skandinavischer, britischer und italienischer Anteil. Selbst ein Vorfahre aschkenasisch jüdischer Herkunft konnte im Genom ausgemacht werden. Zudem erfuhr ich, dass meine Mutter und all meine weiblichen Vorfahren auf einen mit hohen Ehren in voller Kampfausrüstung bestatteten Wickingerkrieger zurückgehen, der sich erst nach genauerer Analyse als Kriegerin erwiesen hatte. Mein Vater stammt wie alle meine männlichen Vorfahren von einem bedeutsamen Volk ab, das Pferde domestiziert und möglicherweise auch das Rad erfunden hat. Zudem war es Urheber vieler europäischer Sprachen. Das Labor bescheinigte mir, dass ich mit nahezu vier Prozent über einen vergleichsweise hohen Anteil von Neandertaler-Genen verfüge. Viel hatte ich, zugegeben, nicht erfahren. Mein Motiv, das Genom bestimmen zu lassen, war aber auch weniger die Neugier gewesen, als vielmehr die Absicht, der Wissenschaft auf diesem faszinierenden Feld dienstbar zu sein.

Welche Erkenntnisse die Labore endlich aus den gigantischen Datensätzen gewonnen haben, ist mir nie zu Ohren gekommen, wahrscheinlich nur eine Bestätigung der Lundquistschen Behauptung, dass der Tod den gleichen Weg nimmt wie die Menschheit bei ihrer letzten weltumspannenden Wanderung.

Wanderung? - Wer hat diesen Unsinn von einer Wanderung in die Welt gesetzt, die nach neugierigem Ausflug oder forscher Entdeckung neuer Siedlungsräume klingt? Was da so harmlos Wanderung genannt wird, ist meiner Überzeugung nach eine Mischung aus Flucht und Raubzug vor und gegen seinesgleichen gewesen. Welches Tier, erst recht, wenn es einigermaßen vernunftbegabt ist, verlässt seinen angestammten Lebensraum ohne Not und zieht in Regionen, in denen der Überlebenskampf zunehmend härter wird?

Ich schweife ab.

Nachdem der große Schock überwunden war, geschah etwas äußerst Bemerkenswertes. Das Bewusstsein jener, die das zweifelhafte Glück hatten, den Schwarzen September überlebt zu haben, wandelte sich in unglaublich kurzer Zeit. Der lebensspezifische wie -notwendige Egoismus und all seine für den Menschen arttypischen Ableger, die sich in nationalistischen, patriotischen und religiösen Gesinnungen manifestieren, wandelte sich aus allein egoistischen Beweggründen zu einem allumfassenden Altruismus oder, besser, zu einer Homosophie, die weit über philanthropische Neigungen oder Gesinnungen hinausging. Der Selbsterhaltungstrieb, der bisher alles Handeln bestimmt hatte, brachte den Einzelnen dahin, sich selbst, ja sein Leben in den Dienst der Arterhaltung zu stellen. Das klingt nur pathetisch, wenn man überlesen oder schon vergessen hat, dass dies allein aus egoistischen Gründen geschah, genauer, aus einer bedrückenden Angst heraus: Wenn die menschliche Art zugrundegeht, wird auch das Gedächtnis der Menschheit ausgelöscht. Es wird sein, als hätte es den Menschen nicht gegeben.

Ist schon der Tod an sich für jedes vernunftbegabte Wesen eine Zumutung, so erst recht die Aussicht, dass vom eigenen Wirken nicht einmal eine Spur im Sand zurückbleiben wird. Als ich in Kindertagen von der atomaren Bedrohung erfuhr, hatte das vor allem dramatische Auswirkungen auf meinen Schlaf. Beim Klang eines Flugzeuges befiel mich schweißtreibende Panik, aber nicht so sehr darum, weil die möglicherweise schon ausgeklinkte Bombe mich in einem Feuerball verdampfen wird, sondern vielmehr deshalb, weil sie auch all jene auslöschen wird, die mich kennen. Der zweite Teil dieses Gedankens war der unerträglichere. Das mag töricht sein, und möglicherweise ist es die letzte aller Kardinaltorheiten der Menschheit. Wir wissen um das Ende unserer Sonne, dem das Stadium eines roten Riesen vorausgehen wird, in dem unsere Erde verbrennt. Nichts bleibt. Am Ende bleibt nichts. Kein Artefakt, kein Dokument einer noch so bedeutenden historischen Begebenheit, kein Buch, kein Film, kein noch so ehrenvoller Name, ja nicht einmal eine unstoffliche Erinnerung.

In meiner glücklicherweise friedlichen Militärzeit begegnete mir ein herzensguter, baumstarker Kerl von schlichtem Gemüt und ebensolcher Bildung, der sich für seine Familie, erst recht seine Freunde geopfert hätte. Ich habe kaum einen aufrichtigeren, zuverlässigeren Menschen kennengelernt. Er war nicht nur todesmutig, er hatte offensichtlich und ohne sich ein religiöses Hintertürchen offenzuhalten, seinen Frieden mit dem Tod gemacht. In einer ruhigen Stunde bat er mich, ihm die Welt zu erklären, aber ohne kluges Gelaber, sondern so, dass er es auch versteht. Ich holte weit aus und kam schließlich auf den makrokosmischen Zyklus eines sich in gewaltigen Zeitabständen ausdehnenden und zusammenziehenden Weltalls zu sprechen, auf jene Zeitspanne also, die sich vom Urknall bis zur Verschmelzung aller existierenden Materie in einem superdichten Gebilde vollzieht. Er hatte mir, nur ab und an mit dem Kopf nickend, geduldig zugehört. Als ich ihm die Eigenschaften Schwarzer Löcher zu erklären versuchte und davon sprach, dass in diesen Gebilden selbst die Atome ihre Struktur verlieren, also noch nicht einmal die kleinsten Bausteine des alten Universums unverändert in die neue Welt übergehen, packte er mich unvermittelt mit seinen starken Händen. „Das war alles sehr interessant“, meinte er gefasst ruhig. „Und jetzt sagst du mir, dass das alles Unsinn ist, den sich ein paar Spinner ausgedacht haben.“

Ich kam seiner Bitte nach, aber nicht aus Angst, sondern aus Mitleid. Dieses Gespräch war eine der wichtigsten Lehren meines Lebens. Ich erinnere mich mühelos an das verzweifelte Gesicht mit den tieftraurigen, tränenfeuchten Augen. Was bleibt einem interessierten, aufrichtigen Kerl, der Gott und allen religiösen Kram als zu leicht und dusslig befunden hat, anderes übrig, als die Wahrheit in ihre Schranken zu weisen?

Muss ein vernunftbegabtes Wesen, um vernünftig zu werden, die Scheu vor jeder Art Erkenntnis überwinden? vor allem vor der Einsicht, dass sowohl unser Dasein als auch die Existenz der Welt von begrenzter Dauer ist? War mir hier die schmerzlichste, am schwersten verdauliche Erkenntnis über den Weg gelaufen?

Religionen, die aus der Verzweiflung über unsere Endlichkeit geboren werden, haben längst das erforderliche Zaumzeug und Halluzinogen zur Hand. Aber selbst unter den eifrigsten Kirchgängern habe ich kaum jemanden im Zusammenhang mit dem Plötzlichen Tod vom Jüngsten Gericht oder dergleichen schwätzen hören, obwohl es doch eine brauchbare Variante war, dem drohenden Wahnsinn zu entgehen. Nein, die Realität hatte kaum Ähnlichkeit mit der biblischen1 Schilderung der letzten Dinge. Sende deine Sichel aus und halte Ernte, denn die Stunde zum Ernten ist da, weil die Ernte der Erde überreif geworden ist. Da warf der Engel seine scharfe Sichel auf die Erde und erntete den Weinstock der Erde ab und warf die Trauben in die große Zornkelter Gottes. Und die Kelter wurde getreten außerhalb der Stadt, und Blut quoll aus der Kelter bis an die Zügel der Pferde, sechzehnhundert Stadien weit. - Nimmt man die Zahl wörtlich, ergibt sich ein Volumen von fünfzig Milliarden Litern. Das wäre - gut gepresst, was bei göttlichen Gerichten vorausgesetzt werden kann - das Blut von zehn Milliarden Menschen gewesen und entspräche dem Fünfzigfachen der vermuteten Weltbevölkerung jener Zeit. Da das Gericht in mehr oder weniger ferner Zeit erwartet wurde, ließe sich der früheste Zeitpunkt statistisch bestimmen. Wir rechneten noch vor 2050 mit der Überschreitung der Zehnmilliarden-Grenze. Für eine zweitausend Jahre alte Prophezeiung wäre das nicht weniger als eine Punktlandung. Leider hieße das aber, dass sich der Prophet in einem nicht ganz unwichtigen Detail geirrt haben muss. Er vergaß zu schreiben, dass dem Gericht, also dem Todesurteil, keiner entkommen wird.

Oder hab ich da etwas falsch verstanden? Der Erleuchtete schreibt weiter: Und ich sah einen Engel in der Sonne stehen. Der schrie mit mächtiger Stimme und rief allen Vögeln zu, die hoch am Himmel fliegen: „Kommt her, versammelt euch zum großen Mahle Gottes, um Fleisch von Königen zu fressen und Fleisch von Heerführern und Fleisch von Starken, Fleisch von Leuten aller Art, von Freien und von Knechten, von Kleinen und von Großen.“ Solche Bilder hat man aus Afrika gesehen …

Es ist schwer, nicht abzuschweifen. Wo war ich? Beim Erwachen der Verantwortung für die Erhaltung unserer Art.

China erklärte gegenüber den Atommächten, sofort und bedingungslos alle Nuklearsprengköpfe zu entsorgen. Nur wenige Tage später folgten Indien, Russland, Frankreich und Pakistan dieser Selbstverpflichtung. Die Vereinigten Staaten bestanden auf ein internationales Abkommen aller Atommächte. Israel und Großbritannien schlossen sich dieser Forderung an. Merkwürdig, dass ich es beinahe kleinlich finde, dieser Sache so viel Raum zu geben. Aber die nukleare Rüstung war über Jahrzehnte die schlimmste Bedrohung der Menschheit gewesen. Angesichts der aktuellen Situation mochte manchem Politiker oder Militärstrategen die Schamröte ins Gesicht gestiegen sein in Erinnerung einstiger Pläne, die bei einem dem Gegner zuvorkommenden Erstschlag den Tod vieler Millionen Menschen in Kauf genommen haben.

Da der Tod in den zurückliegenden Wochen auch die Zahl der Politiker, Staatsbeamten und anderen Bediensteten halbiert hatte, war es nicht leicht, in gebotener Eile, aber nicht übereilt, eine Konferenz einzuberufen. Täglich sah man neue Gesichter in wichtigen Ämtern. Auch die Wahl eines Ortes fiel nicht leicht. Europa sollte es sein, um möglichst vielen die Fahrt per Bahn zu ermöglichen, die noch das sicherste Fortbewegungsmittel war.

In Wien trafen sich dann aber nicht nur Militär- und Rüstungsexperten. Unübersichtlich viel musste bedacht werden. Wichtigste Frage aber war nach wie vor, in welche Richtung gedacht und also geplant werden soll. Es gab ja nicht einmal einen vertrauten Ist-Zustand. Noch immer wurde auf allen Feldern gegen die Folgen der nahezu explosiven Halbierung der Bevölkerung gekämpft und um Stabilität gerungen. Auch nach deutlichem Rückgang der Sterbezahlen war die demografische Dynamik hoch. Bliebe die Todesrate stabil, dann schrumpfte die Erdbevölkerung alle drei Jahre um eine Milliarde. In diesem Fall blieben den Laboren und Forschungskliniken immerhin noch zehn bis allerhöchstens fünfzehn Jahre Zeit, um der Krankheit wirkungsvoll entgegenzutreten. Es wäre aber töricht gewesen, die Möglichkeit außer Acht zu lassen, dass den beiden überstandenen Schocks noch weitere folgen.

Wie man es auch betrachtete, Eile war geboten und mehr noch der vorausschauende, vernünftige Einsatz der noch Lebenden. Über allem stand der von Selma Lundquist beschriebene wahrscheinlichste Ausgang; stand nüchtern dieser Prozentsatz mit einer Null vor und zwei Nullen hinterm Komma, der einen Prozentwert von weltweit weniger als einer Million Überlebenden ergäbe. Wem das viel erscheint, der hat möglicherweise eine Millionenstadt vor Augen. Aber so komfortabel wird die Situation nicht sein, denn die Überlebenden sind fast gleichmäßig über den gesamten Planeten verteilt.

Im lexikalischen Netzwerk hatte ich gelesen, dass etwa achtzig Millionen Quadratkilometer der Landmasse urban genutzt werden. Demzufolge kamen einmal einhundert Menschen auf einen Quadratkilometer. Sollte Frau Lundquist Recht behalten, wird es am Ende ein Überlebender auf hundert Quadratkilometern sein. Da wird es schwer werden, sich zu finden. Rutscht noch eine Null hinters Komma, hat jeder eine urbane Fläche von tausend Quadratkilometern für sich - allein. In einer Halbmillionenstadt wie Dresden wäre mit einem halben bis fünfeinhalb Überlebenden zu rechnen. Ich glaube nicht, dass es viele Politiker gegeben hat, die sich die Situation solchermaßen klar vor Augen geführt haben.

Der Wiener Kongress im November des Jahres Drei kann wohl als eine Sternstunde der Vernunft bezeichnet werden. Höhepunkt war zweifellos die Rede des Vertreters der zentralafrikanischen Community, die in Mombasa, einer Hafenstadt im ehemaligen Kenia lebt. Lange war darüber gestritten worden, ob es sinnvoll ist, den afrikanischen Vertreter sprechen zu lassen, da die Situation auf diesem Kontinent eine ganz andere war als in den übrigen Teilen der Welt.

Ali Kabundu, ein ergrauter Herr, der sicher ein Vielfaches dessen erlebt hatte, was normale Menschen zu ertragen im Stande sind, und trotz allem einen weisen, warmherzigen und nicht ganz hoffnungslosen Ausdruck im Gesicht bewahrt hatte, sprach ruhig, gefasst und zum Erstaunen der Zuhörer pragmatisch. Je länger er sprach, je klarer wurde den Abgesandten der restlichen Welt, was für ein Glück es war, diesen Mann auf der Konferenz zu haben. Hatten viele Leute vorm Auftritt Kabundus geglaubt, dass Afrika ein verwüsteter mit Leichenbergen übersäter Kontinent ist, über dem ein satter Verwesungsgeruch hängt und in dem Anarchie herrscht, so erfuhren sie nun, dass Dank frühzeitiger Verständigung auf sehr einfache Regeln die Überlebenden nicht nur in immer kleineren Räumen zusammengezogen wurden, sondern auch, wie es gelungen war, die schlimmsten Gefahrenquellen systematisch zu erfassen und zu beseitigen. Kabundus Ausführungen zufolge gab es in Afrika noch drei von Menschen bewohnte Gebiete. In Südafrika, dem einzigen Land des Kontinents, das eine staatliche Struktur bewahren konnte, lebten über Zweimillionen Europastämmige zumeist weißer Hautfarbe, im Kairoer Raum hielten sich über zweihunderttausend Überlebende aus der nordafrikanischen Region auf, hier in der Hauptsache Araber und Berber, im Raum Mombasa versuchten 13.583 Überlebende aus dem riesigen Gebiet südlich der Sahara sich neu und möglichst nachhaltig zu organisieren.

Bei Nennung der letzten Zahl ging ein verzweifeltes Raunen durch den Saal. 13.583 von 1,4 Milliarden? Hatte wenigstens die schwarze Bevölkerung Afrikas das Schlimmste überstanden? Mancher Anwesende griff nach dem Tablet, um die Nullen hinterm Komma zu ermitteln. Noch waren es zwei.

Kabundu beschrieb den Kraftakt sachlich und wie ein Mann, der den Wert der Zeit in bitterster Weise zu schätzen gelernt hat. Nicht alle Gefahrenpotentiale hätten beseitigt werden können, wenigstens aber sei es gelungen, alle offenen Gefahrenherde zu erfassen. Abschließend bat er die Anwesenden um Mithilfe bei der Abarbeitung dieser nicht sehr umfänglichen Liste. „Afrika“, so sagte er beinahe schamhaft, „ist ja nicht nur das Land des schwarzen Mannes. Alle sollten ein Interesse haben, den Überlebenden eine Welt zu hinterlassen, die zum Leben einlädt.“ Er schaute ins weite Rund des Saales und sprach bedacht: „In Kürze wird es sehr wahrscheinlich keine Staaten mehr geben, sondern nur noch kleine Gemeinschaften verschreckter Wesen, die alle Kraft daran setzen müssen, dem entsetzlich um sich greifenden Vergessen zu trotzen, damit die menschliche Art in ihrer Entwicklung nicht weiter als tausend Jahre zurückgeworfen wird. In Afrika geschah vieles übereilt. Möglicherweise hat die restliche Welt ein bisschen mehr Zeit. Verpassen Sie nicht den Zeitpunkt, um das Nötige zu tun. Nutzen Sie die Gnadenfrist und seien Sie auf das Schlimmste gefasst.“ - Noch lange, nachdem Kabundu das Pult verlassen hatte, herrschte Schweigen. Möglicherweise sind es gerade jene in dieser Stille geborenen Gedanken, denen am Ende unsere Art ihre Rettung zu danken hat.