Seepferdchen weinen nicht - Jost Bonner - E-Book

Seepferdchen weinen nicht E-Book

Jost Bonner

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Beschreibung

Meissner ist sofort verliebt in dieses entzückende Spielzeug, mehr noch, als er bisher kaum ein sinnvolles Spiel für seinen dreijährigen Sohn hat ausmachen können. Doch bald schon soll das schaukelnde Seepferdchen das Leben der Familie auf dramatische Weise verändern. Zum Entzücken des Sohnes, zum Entsetzen der Frau kann es angeblich lachen und weinen. Beim Versuch, hinter das Geheimnis des Seepferdchens zu kommen, gerät Meissner in eine grausame Geschichte, die kein Ende nehmen will, es sei denn, ihm gelingt es, Eingang zu finden in ein gebrochenes Herz. Es ist eine Geschichte um Leben und Tod, eine Geschichte, die zeigt, wie schwer es ist, mit dem einen wie mit dem anderen fertig zu werden. Und es ist die alte, sich immer wieder verjüngende Geschichte um Verletzungen der Kindheit, die ein Leben lang spürbar bleiben.

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Seitenzahl: 407

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

1

Es war gewissermaßen Liebe auf den ersten Blick. Andere mögen sagen, dass der Ausdruck Fetisch zutreffender ist, wenn leblose Gegenstände derart intensive Gefühle erregen. Mag sein.

Wie gebannt stand ich vor dem kleinen Schaufenster. Erst jetzt, da es ganz von diesem entzückenden Spielzeug eingenommen war, war mir überhaupt aufgefallen, dass sich hinter dem ansonsten unscheinbaren Wohnungsfenster ein Laden verbirgt, was umso merkwürdiger ist, als ich in der Vergangenheit unzählige Male an diesem Fenster vorbeigelaufen bin.

Um in den Laden sehen zu können, musste ich so nah an die Scheibe herantreten, bis die Nase das kalte Glas berührt. Den Blick mit beiden Händen beschirmt, beschaute ich den Innenraum, der einem Trödelladen noch am ähnlichsten war. Das meiste von dem, was ich sah, war Plunder. Die gegenüberliegende Wand schien ganz von Plüschtieren ausgefüllt, wie sie mittlerweile alle Zimmer unseres Nachwuchses überschwemmen.

Sofort erinnerte ich mich jenes Gespräches mit Evelin vor einigen Wochen, das sich zunehmend zum handfesten Streit entwickelt hatte, in dem letztendlich gar Prinzipielles zu Tage getreten und mit ungewohnter Verbissenheit verfochten worden war. Auslöser der Auseinandersetzung war eben eines dieser possierlichen wuschelweichen Tierchen gewesen, wie ich sie in tausenderlei Gestalt durch die unsaubere Scheibe betrachten konnte.

Mein Sohn hatte seinen dritten Geburtstag gefeiert. Nein, natürlich feierten wir den Geburtstag, oder besser, Evelin, die die Feier wie immer mit - wenigstens aus meiner Sicht - vollkommen überzogenem Aufwand betrieb. Ja, ‘betrieb’ ist der richtige Ausdruck. Die Kaffeetafel war beinahe unter all den Köstlichkeiten gebrochen, die vom Geburtstagskind selbst natürlich kaum beachtet worden waren. Alle Verwandten und Freunde, die greifbar und bereit gewesen waren, das große Ereignis zu feiern, hatte Evelin genötigt zu erscheinen, um Karlchen mit Plüsch und Plunder zu beschenken.

Ich hatte wie stets gute Miene gemacht und allenthalben zur Uhr gestarrt, die an solchen Tagen besonders träge ihre Runden zog. Evelin kennt meine Pein, und mitunter hatte sie auch ein mitfühlendes Lächeln, das aber weniger meine Unbill mildern, als mir vielmehr helfen sollte, meine Selbstkontrolle zu bewahren, was denn auch leidlich gelungen war.

Als wirklich alle Fortschritte meines Sohnes von allen in allen gebührlichen Formen gewürdigt worden waren und alle völlig unerwartet auf einen Schlag das Haus verlassen hatten, um dem kleinen Kerl noch ein paar Augenblicke des Friedens zu gönnen, hatte ich mich erlöst mit einem unvorsichtigen Seufzer in den Sessel fallen lassen.

Daraufhin war Evelin herumgefahren, als hätte sie nur auf diesen Laut gelauert. „Ist es so schwer, sich wenigstens einmal im Jahr für ein paar Stunden zusammenzureißen?“

Nach dieser Eröffnung des Gespräches war mir sofort klar gewesen, dass es eine jener Auseinandersetzungen werden würde, die bis ins Mark deprimieren, ohne wirklich etwas oder jemanden wozu auch immer zu bewegen.

„Ich habe mich bemüht“, hatte ich versucht, einzulenken.

„Ich weiß. Du hast es ja alle deutlich genug spüren lassen.“

„Ich habe diesmal kein Wort über die Geschenke verloren.“

„Das wäre auch noch schöner.“

Ich hatte sie verständnislos angesehen, aber nicht einmal mit diesem Blick war es mir gelungen, ihre Angriffslust zu dämpfen.

„Darf ich fragen, welches Geschenk Karlchen von dir bekommen hat?“

„Reicht all das - nicht?“ ‘Zeug’ hatte ich mir im letzten Moment verkniffen, wodurch eine umso beredtere Zäsur entstanden war. „Wenn diese Menge der Maßstab ist und bleibt, dann braucht Karlchen spätestens zur Schuleinführung ein zweites Zimmer.“

„Siehst du nicht, dass all das Zeug, wie du es nennst, kleine Liebesgaben sind, die sie schenken, um ihm etwas Gutes zu tun?“

„Und um sich ins Herz zu schleichen.“

„Spinnst du? Du bist doch wohl nicht eifersüchtig?“

„Das hat doch nichts mit mir zu tun. Sage bitte nicht, dass du die alberne Konkurrenz nicht siehst. Sie giepern doch schon dem Augenblick entgegen, in dem sie den Lerncomputer und den ferngesteuerten Hubschrauber schenken können.“

„Es sind auch Bücher dabei“, hatte sie schnippisch erwidert. Und sie weiß, dass sie mich mit solcherart Spitzfindigkeiten zur Raserei treibt.

„Bücher. Hast du sie dir mal angesehen? Vor allem teuer müssen sie sein.“

Ich weiß natürlich, dass ich in einem verbalen Schlagabtausch prinzipieller Positionen das Wesentliche bisweilen solcherart herausarbeite, dass am Ende die Wahrheit auf der Strecke bleibt. Dieses Dilemma macht mich in Momenten derartiger Auseinandersetzungen alles andere als sympathisch, was aber nichts darüber sagt, ob ich recht habe oder nicht. Und hier hatte ich recht, verdammt!

„Wenn du dir mal die Mühe gemacht hättest, nach Geschenken Ausschau zu halten, dann wäre dir aufgefallen, dass es sehr schwer ist, vernünftiges Spielzeug zu finden.“

„Bingo! - Da ich mir die Mühe durchaus gemacht habe und mit deiner Einsicht ganz und gar übereinstimme, lass ich den Plunder dort, wo er ist, und bezahle für die Phantasielosigkeit des Gewerbes nicht auch noch einen Haufen Geld.“

Daraufhin hatte mich Evelin mit gespitztem Mund angesehen und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass ich in diesem kleinlichen Geiz unerträglich bin. So sehr ich ihren gespitzten Mund auch mag, in Momenten der Positionsbestimmung ist er mir verhasst.

Dieser Streit lag Wochen zurück, und wir haben sogar schon wieder miteinander geschlafen.

Wieder und wieder glitt mein Blick über das grün schillernde Schaukelpferd. Die Idee, es einem Seepferdchen nachzuformen, ist schlicht genial. Der runde Bauch macht diesen kleinen, exotisch geformten Fisch besonders tauglich, denn er erspart den unbefriedigenden Kompromiss der einem Pferd untergeschobenen artfremden Kufen, durch die dieses Spielzeug erst seinen Zweck erfüllen kann. Das Seepferdchen war ein Kleinod, so liebevoll und kindgerecht gearbeitet, dass es noch das Kind im ältesten Knaben anlachen muss, und wenn er neunzig wäre.

Die Oberfläche des merkwürdigen Fisches war phantasievoll strukturiert. Die typischen vertieften Trapeze des Hautknochen-Panzers, deren Ecken in der Realität in hornige Stacheln auslaufen, spannten sich aus fingerdicken Seilen. Den Rücken, der sich unter dem Sitzbrett krümmte, begrenzte ein starkes Tau. Im geringelten Schwanz hing die Miniatur einer Schiffsglocke. Netz, Tau und Glocke waren dem Alltag der Fischer entliehen, eine wunderbare Zusammenstellung. Der Kopf war nicht weniger liebevoll gestaltet. Die beiden Halbkugeln der Augen dominierten das Gesicht. Die großen schwarzen Pupillen in makellosem Weiß ließen die Augen auf liebenswerte Weise staunen. Darunter, die ebenso großen, hellbraunen Kiemen, sahen aus wie runde Bäckchen. Das lange Schnäuzchen endete in einer Schnute mit aufgeworfenen Lippen, die man hätte knutschen mögen. Handgriffe, Fußstützen und Steigbügel setzten sich aus dunkel gebeizten, wallnussgroßen Holzkugeln und Zwischenringen aus Seil zusammen. Bis auf das Braun der Holzkugeln, der Kiemen und der breiten Striche, die dem Gesicht Kontur verliehen, und das Weiß und Schwarz der großen Augen und das Gelb der gerundeten Stirndornen gab es nur Grüntöne. Allein die Sitzfläche war farblos lackiert, also in ihrer hölzernen Natur belassen, was sie auf einfache Weise als Fremdkörper abhob, also gewissermaßen als Bestandteil des Geschirrs auswies, zu dem auch das grobe Netz und der aus gleichem Seil gearbeitete Zügel gehörten. Schaukelwangen, Sitz, Kopf und Schwanz - aus daumenstarkem Sperrholz gesägt oder gefräst - gaben dem Spielzeug seinen rustikalen, unverwüstlichen Charakter.

Ich schätzte den Preis, der - was ich an mir bisher nur selten beobachten konnte - nicht nur sofort mit meiner Zahlungsbereitschaft übereinstimmte, sondern mit der Dauer der Betrachtung auch wie selbstverständlich stieg.

Mir wurde warm, und eine Beklemmung erfasste mich, wie sie wohl sehr reiche Leute empfinden, wenn sie bei exklusiven Kunstauktionen über die Hundertmillionengrenze bieten. Es geht hier nicht um Millionen, aber ich verfüge auch nur über ein bescheidenes Einkommen. Zudem kann man nicht vorsichtig genug sein, wenn man nicht stoisch oder abgebrüht genug ist, die Meinung lieber Freunde und mehr noch die verhasster Kollegen und Nachbarn zu ignorieren. Wenn man - wie ich - erst mit Vierzig in den Stand der Vaterschaft gerät, und das vor allem, weil man sich den Luxus einer zehn Jahre jüngeren Frau glaubt leisten zu können, muss man sich erst recht in Acht nehmen. Evelin wird den Preis schwerlich für sich behalten. Eben als meine Wertschätzung Hand in Hand mit der Zahlungsbereitschaft die Zweihundert-Euro-Hürde nahm, sah ich ihren gespitzten Mund, der umso spitzer wurde, als mir einleuchtete, dass das Seepferdchen für sie auch eine Anfechtung sein wird. Ich gebe zu, dass gerade der Gedanke an meinen Triumph darüber, ihr unterm Weihnachtsbaum das sinnvollste, köstlichste, entzückendste, kindgerechteste Spielzeug der Welt präsentieren zu können, den Preis oder meine Zahlungsbereitschaft - beide sind nun untrennbar miteinander verschmolzen - in die Höhe trieb. Kein Wunder also, dass mir der gespitzte Mund meiner Holden einheizte. Ich sah sie vor mir, wie sie - nachdem alle Ohs und Ahs verhallt sein würden - ironisch lächelnd verkündet: „Er hat es gebraucht gekauft. Und mit dreihundert Euro ist es auch gar nicht teuer bezahlt.“ Ich sah, wie sich die Mienen der Bewunderung in Masken aus Distanz und Abscheu verwandeln, wie sie Snobs und Angebern zu Recht begegnen. Als Außenstehender hätte ich vermutlich sogar energisch mit dem Finger an die Stirn getippt.

Ich fand mich in einem Gewissenskonflikt und fasste eben den wohlüberlegten Vorsatz, den Preis für mich zu behalten und bei zu erwartender Nachfrage nur großmütig lächelnd die Schultern zu heben. Damit würde ich Evelin auch noch die Verdächtigung heimzahlen, meine Prinzipien könnten auf Geiz gegründet sein. Sollte sie zu arg in mich dringen, werde ich die Verschwiegenheit mit meiner Angst vor der Gefahr erklären, der Preis könne ihren Verdacht bestätigen. Das konnte mich mit dem Nimbus des Geheimnisvollen veredeln.

Der feine Nieselregen kühlte meine Stirn. Als ich - den Kragen aufschlagend - zur Seite schaute, sah ich, kaum zehn Schritte von mir entfernt, das Gesicht eines Verrückten. So jedenfalls war mein erster Eindruck, der sich auch mit eingehender Betrachtung nicht veränderte. Der Fremde, der etwas jünger als ich sein mochte, starrte mich unverblümt an. Die Haare, die die fortgeschrittene Glatze säumten, hingen in langen Strähnen nass ins kantige Gesicht. Die weichen, sinnlichen Lippen erhoben sich aus einem düsteren Areal welker Haut mit einem auch von der gründlichsten Rasur nicht zu bezähmenden Bartansatz, wie man ihn von steckbrieflichen Darstellungen kennt. Die grauen, wässrigen Augen über den feingeäderten, bläulichen Tränensäcken blinzelten nicht, ließen aber auch nicht ab von mir. Wie lange starrte er mich schon an?

Ich wendete den Kopf zur anderen Seite, um mich zu vergewissern, tatsächlich der Adressat dieses wie versteinerten, irren Blickes zu sein. Als ich mich zurückdrehte, war der Mann verschwunden. Ich löste mich rasch ein paar Schritte von der Hauswand. Der Unbekannte war auch nicht hinter einen Vorsprung geschlüpft. Es war geradeso, als hätte er sich aufgelöst.

2

Der Laden war größer, als sich von außen erahnen ließ. Dabei waren nicht alle Räume einsehbar. Wahrscheinlich ist der Ausdruck ‘Laden’ irreführend. Es war eine mit nur wenigen Handgriffen zum Laden umgestaltete Wohnung. Der Laden war mir ja deshalb nicht aufgefallen, weil es keine Schaufenster gab, sondern nur gewöhnliche Fenster in der Fassade eines unscheinbaren Wohnhauses. Ich hatte einen Hausflur passieren müssen, um durch eine Wohnungstür in den Korridor und ein Stück weiter in den Laden zu gelangen, der - anders als erwartet - warm und trocken war. Man hatte zwei Türen ausgehängt, um weiteren Raum für die Ausstellung der dargebotenen Waren zu gewinnen, die sich in primitiven Kellerregalen drängten. Fast alles war eingestaubt. Einige Böden der Regale bogen sich unter der Last der Exponate. Unübersehbar wurden in diesem Laden allein Waren aus zweiter Hand verkauft. Vieles war Plunder, ja, nach etwas strengerer Auslegung sogar Müll. Manches mochten aber auch Antiquitäten sein, für die Liebhaber ein Vermögen bezahlen. Selbst mein Großvater - lebte er noch - hätte wohl eine stattliche Zahl von Spielzeugen ausmachen können, die geeignet waren, ihn in die Kinderzeit zurückzuzaubern und Bilder von dereinst auferstehen zu lassen.

Während ich allein mit Blicken in den Regalen stöberte, hörte ich Wortfetzen aus dem Nebenraum. Nicht so sehr die Angst, mich in der Betrachtung all der ausgestellten Dinge zu verlieren, sondern die Furcht, dass mir ein anderer zuvorkommen könnte, trieb mich zur Eile.

Der eigentliche Verkaufsraum war um einiges größer als die beiden anderen Zimmer. Hinter einer die ganze Breite des Zimmers zerschneidenden Theke stand ein stattlicher Mann. Fast hätte ich geschrieben: ‘Alter’, aber wenn man selbst die Vierzig überschritten hat, wird man vorsichtiger im Gebrauch dieses Wortes. Der Mann hinter der Theke war bestimmt in den Sechzigern; alt war er aber nicht, im Gegenteil, die stattliche Erscheinung schien von unverwüstlicher Lebenskraft. Er trug das Kostüm eines Schäfers; eine Lammfellweste über einem rötlich gehaltenen, karierten Hemd und eine speckig glänzende Lederhose, die eine derbe Schnur unterm kaum auffälligen Bauchansatz zusammenhielt. Am auffälligsten war die Kopfbedeckung, eine aus grünen und ockerfarbenen Lederflicken zusammengesetzte Kappe mit einem Nackenschutz, der aber nur halb heruntergeklappt war und so - wenigstens von vorn - aussah wie Schlappohren eines traurigen Hundes. Dennoch hielt sich der Eindruck des Schrulligen nur kurz. Der Mann passte in den Laden. Die Kappe passte auf den Mann, der im Übrigen kein bisschen affektiert oder verrückt wirkte. Klare Augen schauten gütig, gemütlich, aber wach unter angegrauten, buschigen Brauen.

Mit verschmitztem Lächeln knetete er den weichen Balg einer alten, kopflosen Puppe. Schließlich schaute er - ohne den Kopf zu heben - über den Brillenrand. „Habt ihr eine Katze oder einen Hund?“

„Eine Katze“, gab das Mädchen kleinlaut zurück.

„Dann sag doch einfach, dass sie es war.“

Das Mädchen starrte ihn fassungslos an.

„Manchmal muss man ein bisschen schwindeln.“

„Aber dann kriegt Cäsar den ganzen Ärger ab. Er hat es so schon schwer genug.“

„Ach ja“, sagte nun der Schäfer betreten. „Dann geht es natürlich nicht.“ Verlegen oder ratlos knetete er wieder den Rumpf der Puppe.

„Können Sie es nicht kleben?“

Der Schäfer besah sich lange die Scherben in der kleinen Tüte. „Schon. - Aber man wird es sehen. Da kann ich noch so behutsam arbeiten. Ein Sprung bleibt immer ein Sprung, weißt du?“

Das Mädchen nickte. „Meine Mutter erschlägt mich.“

„Na, hör mal. Wegen so einer Puppe ist noch keiner erschlagen worden“, sagte er lachend mit einem tiefen Blick über den Brillenrand.

„Sie kennen meine Mutter nicht. Die Puppe ist von ihrer Großmutter. Die wird mal ganz wertvoll, sagt sie immer.“

Der Schäfer nickte. Dann verschwand er mit der Scherbentüte hinter dem schweren Vorhang, der den Laden von der Werkstatt, vielleicht auch von seiner Wohnung trennte.

Ich sah mich um. Die Fenster waren mit Gardinen verhangen; nur eines nicht. Hier war das Fensterbrett sehr rustikal verbreitert worden. Ein grobes Brett, mit einem nicht weniger groben Pfosten gestützt, lag auf der schmalen Fensterbank. Im Licht des Ladens wirkte das Schaukelpferd noch imposanter. Es war wie neu. Auch bei penibler Betrachtung fand sich kein Makel. Beinahe zärtlich fuhr ich mit der Hand über die liebevoll gerundeten Kanten.

„Wenn wir ihr die Kleider der alten anziehen, sieht sie der doch zum Verwechseln ähnlich, oder?“

Das Mädchen zog einen Flunsch. Zögerlich nahm sie die Ersatzpuppe mit dem glänzenden Porzellankopf. Der Flunsch wölbte sich an den Rändern ein bisschen nach oben. Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Die sieht ja viel lieber aus. Und sie ist auch nicht so furchtbar blass. Das fällt sogar Cäsar auf.“

„Ach was. Wir ziehn den Hut ein bisschen ins Gesicht.“ Schnell nahm er dem Mädchen die Puppe aus der Hand, um sie mit geschickten Griffen anzuziehen. „Und wer sagt denn, dass Puppen nicht auch mal anders gucken können, nachdem sie doch hundert Jahre ein und denselben dussligen Ausdruck haben mussten. Wenigstens kann sie dir nicht vorwerfen, du hättest sie kaputt gemacht, denn sie ist ja ganz. Und dass du sie umgetauscht hast, darauf wird sie gar nicht kommen. Wo kann man denn so schnell einen Ersatz auftreiben? - Da.“ Er schaute zufrieden über den Brillenrand und reichte dem Mädchen lächelnd die verwandelte Puppe, die für eine Porzellanpuppe tatsächlich sehr anziehend war.

Das Mädchen besah sich lange die Puppe. Vorsichtig legte sie das Kleinod auf die Ladentafel zurück. „Die kann ich ja nicht bezahlen“, sagte sie nüchtern.

„Ach, die ist nicht teuer, so alt wie die ist. Hat ja nur immer da hinten rumgelegen. Und dann haben wir doch gewissermaßen nur getauscht. Wenn ich den Kopf klebe, zahlen mir Verrückte immer noch genug dafür. Gib mir fünf Euro, und wir sind quitt.“

Das Mädchen entfaltete einen Zehn-Euro-Schein und strich ihn - als wenn sie ihn dort ankleben wollte - mit flachen Händen auf die Theke.

Der Schäfer kramte in der alten Kasse.

„Nein, das müssen Sie schon nehmen. Ich bin nämlich nicht doof.“

Der Schäfer nickte.

An der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Vielen Dank! - Eigentlich ist sie zu schade.“ Ihre Augen sprangen zwischen dem niedlichen Gesicht der Puppe und dem gütigen Gesicht des Schäfers hin und her. Dann huschte sie aus den Laden.

Ich hatte mir Mühe gegeben, so diskret wie möglich am Fenster zu verharren. Zögerlich näherte ich mich der Ladentafel. „Guten Tag.“

„Guten Tag“, sagte er, ohne mich anzusehen. „Wie viel wollen Sie denn dafür bezahlen?“, zielte er ohne Umschweife auf mein nicht schwer zu erratendes Begehren.

„Was es kostet“, sagte ich freundlich.

„Oh.“ Es war ein leiser, verhalten wie erschreckt wirkender Laut. „Das werden Sie nicht bezahlen wollen.“

Mir wurde wärmer, als mir lieb war. War er eine Art Robin Hood; ein Räuber, der den Reichen nahm, um damit die Armen zu beglücken? Sollte ich nun auch noch die Puppe bezahlen, die sicher nicht billig war?

„Es ist fast hundertzwanzig Jahre alt; mein liebstes Stück.“ Der Alte wusste, wie man Besessenen das Geld aus der Tasche zieht.

Mir rann der Schweiß die Wirbelsäule entlang. „Vierhundert Euro?“, stammelte ich stimmlos.

Der Schäfer nickte mit hintergründigem Lächeln. Nachdem er die Brille auf die Nasenwurzel geschoben hatte, sah er mich zum ersten Mal an. „Rekord“, sagte er bestimmt. „Das ist absoluter Rekord. - Wie alt ist das Kind, das sich freuen darf?“ Er legte die Hände ineinander; ruhige, starke, saubere, schöne Hände.

„Karl ist vor einem Vierteljahr drei geworden.“

„Das beste Alter.“

„Mit Karte kann man bei Ihnen wohl nicht …“

„Leider nicht“, sagte er wie nebenbei.

„Ich hab nicht so viel Bargeld bei mir. Wenn Sie so freundlich wären, mir das Pferdchen zehn Minuten zurückzustellen.“

„Selbstverständlich.“

Als ich den Flur betrat, hörte ich ihn rufen: „Wollen Sie das Seepferdchen nicht mitnehmen?“

Irritiert kehrte ich in den Laden zurück.

Der Schäfer war eben dabei, einen flauschigen, gelben Bezug über das Schaukelpferd zu stülpen. „Es war nur ein Spiel. - Ich verkaufe es nicht.“

Ich fühlte eine Explosion in der Magengrube.

Der Alte lachte. Ich hätte den Kerl erschlagen mögen. Genüsslich zog er den Reißverschluss zu, den letzten Zipfel meines Herzenswunsches bedeckend. „Sie können es so mitnehmen. Wenn Karlchen keine Verwendung mehr dafür hat, bringen Sie es wieder. Die Kinder sind ja heuer schnell fertig mit so einem primitiven Gerät.“

Ich schluckte. „Darf ich Ihnen nicht wenigstens …“

„Nein, das dürfen Sie nicht“, sagte er bestimmt, ohne das Lächeln zu beschädigen.

Behutsam drückte ich den Schatz an die Brust. „So können Sie unmöglich reich werden.“

„Liegt etwas daran?“, nuschelte er leise. Geradeso, als sei die Kraft verbraucht, die nötig war, das Lächeln aufrechtzuerhalten, verlor sich jede Spannung aus dem Gesicht. Nun sah er müde aus und alt.

„Ich bring es bestimmt zurück“, sagte ich verlegen. „Haben Sie vielen Dank!“

Als ich mich erneut anschickte, in den Flur zu tauchen, rief mir der Schäfer nach: „Unterm Sitz finden Sie ein Büchlein. Vergessen Sie nicht, Karlchen einzutragen.“

3

Der gelbe Überzug war nicht weniger liebevoll gearbeitet, als das, was er schützen sollte. Er passte hauteng, und er gab vor, etwas sehr Wertvolles zu bemänteln. Vorm Haus drehte ich mich noch einmal um. Allein ein kleines Schild an der Tür machte auf den Laden aufmerksam. Ich hätte noch Jahrzehnte hier leben können, ohne auch nur zu ahnen, dass es diesen Laden gibt. Das Fenster war ohne das kostbare Exponat nun wieder ein Fenster wie unzählige andere geworden. Wäre mir vor nur zehn Minuten jemand zuvorgekommen, so hätten meine Augen nichts gehabt, woran sie sich hätten heften können, und ich wäre nun nicht stolzer Besitzer eines Kleinods.

Der Niesel war heftiger geworden. Mit eiligen Schritten lief ich heim, um den Bezug nicht allzu nass werden zu lassen. Mein Herz, nein, alles in mir frohlockte. Weihnachten, eben noch scheußlich nahe, war in grausame Ferne gerückt. Fortan würde ich die Stunden zählen. Ich hatte einen Schatz erworben und vierhundert Euro gespart. Gerade, da mir diese Einsicht ins Bewusstsein sprang, passierte ich einen Juwelier. Mit dem Rücken stieß ich die Tür auf, um nur zehn Minuten später mit einer wundervollen Silberkette durch eine freundlich aufgehaltene Tür den Laden wieder zu verlassen. Das Leben war ein Fest! Natürlich hatte der Juwelier wissen wollen, was ich da so behutsam an meine Brust drücke, und natürlich war er von dem Spielzeug nicht weniger entzückt gewesen als ich.

Je näher ich der Wohnung kam, je öfter sah ich mich besorgt um, um nicht etwa meiner Frau oder einem der lieben Anverwandten in die Arme zu laufen. Erleichtert schob ich den Schlüssel in die Haustür.

Ich sah ihn im Augenwinkel. Natürlich kann ich nicht mit Sicherheit sagen, dass er es war. Ich sah ihn nur den Bruchteil einer Sekunde. Dennoch glaubte ich damals, dass er es ist, der Verrückte mit dem starren Blick. War er mir gefolgt? - Warum? Oder hatte ich mich doch getäuscht? Machte mich der Besitz des Schatzes so misstrauisch, dass ich allenthalben Strolche ausmachte, die seiner habhaft werden wollen? Auch das war möglich.

Ich hatte Mühe, die beiden Kostbarkeiten so zu verstauen, dass sie bis zur Bescherung unentdeckt bleiben würden. Für das Silberkettchen war leicht ein Versteck gefunden. Das Schaukelpferd verwahrte ich auf dem Dachboden. Hier stand es, unter Kleidersäcken begraben, die seit dem Umzug vor zehn Jahren keiner auch nur angefasst hatte. Trotzdem verließ ich den Boden mit unsicherem Gefühl.

Schwerer als die Geschenke war meine Stimmung zu verbergen, die Evelin zu mancher Spekulation verleitete.

„Bist du verliebt?“

Verborgene Leidenschaft macht attraktiv. Ich schwieg mit unentschiedenem Lächeln. Solch eine Steilvorlage bekommt man nicht oft; wenigstens ich nicht. Entsprechend genoss ich den Nimbus des auch außerhalb dieser Wände Begehrten.

Nun glühte auch Evelin, was sie nicht minder begehrenswert machte. „Du lügst!“, rief sie ziemlich ernst.

„Wenn dein Zorn nicht nur Ausdruck der verletzten Eitelkeit ist, sondern deiner Liebe zu mir entspringt, dann sollte ich mein Glück nicht außerhalb des ehelichen Heimes suchen“, sagte ich unernst.

„Du weichst aus. - Wir sind nicht verheiratet.“

„Die Ehe wird nicht durch Gott oder den Standesbeamten geschlossen. Allein durch den Akt der Begattung werden die Gatten, was sie sind. Und dieser Akt muss so oft wie möglich vollzogen werden“, deklarierte ich in pastoralem Ton, die Widerborstige kraftvoll an mich ziehend.

„Das könnte dir so gefallen. In einer halben Stunde muss ich Karlchen abholen.“

„Sollte eine halbe Stunden nicht ausreichen?“ Ich nahm ihren Kopf in beide Hände und neigte mich nieder, sie zu küssen.

„Du sollst mich nicht nötigen!“

„Prüderie ist eine besondere Art von Geiz, und zwar die schlimmste, die es geben kann.“, sagte ich in zornigem Ton.

Sie funkelte mich gefährlich an.

„Das sagte Mark Twain, glaube ich zumindest.“

„Es war Stendhal. - Was ist los mit dir?“

„Nichts.“

„Eine Gehaltserhöhung?“

Ich war versucht, „Ja“ zu sagen. Aber diese Ankündigung hätte gerade jetzt, in der Adventszeit, dramatische Auswirkungen auf Evelins Kaufverhalten und damit auch auf unseren Haushaltsetat gehabt. Die Folgen würden sich auch mit allen Tricks nur schwer ausgleichen lassen. Die letzte Gehaltserhöhung lag etliche Jahre zurück. Sie wäre also, wenn sie denn den Regeln der Gerechtigkeit folgen würde, längst fällig gewesen.

Ich kam nicht weiter in meinen menschlichen Betrachtungen, da mich Evelin sehr resolut aus dem Anzug stieß, und mir durch die Auferstehung anderer Regionen jedwedes Konzentrationsvermögen abhandenkam.

So bescherte mir das süße Seepferdchen - noch bevor es selbst optisch in Erscheinung getreten war - einen der so wunderbaren, weil immer seltener werdenden spontanen Augenblicke der Leidenschaft. Ja, auch noch nach zehn Jahren überraschte mich Evelin mit unbekannten Seiten ihres Wesens. Dieses Feuer hätte ich nicht für möglich gehalten. Entsprang es wirklich der Eifersucht? Oder hatte mich der Besitz des sorgsam versteckten Gegenstandes so verwandelt?

Ich hatte den Kopf frei. Mich bedrückte nicht die Last der Tradition, die das Leben besonders im Dezember zu einer Farce verkommen lässt, weil man von jedermann und auf jedem Schritt zu irgendwelchen Handlungen gezwungen wird; und nicht nur zu Handlungen, sondern - was weitaus bedrückender ist - auch zu Stimmungen. Dieser Dauerdruck von außen macht es gerade allen Individualisten schwer, ehrlich zu sein, ohne als Muffel oder Prinzipienreiter verdächtigt zu werden.

Meine erste Liebe ist wahrhaftig an meiner Verweigerung gescheitert, alle traditionellen Albernheiten mitzuspielen. Am ersten Dezember hatte ich an meinem Schreibtisch einen mit unsäglichem Aufwand gefertigten Adventskalender gefunden, der zudem mit ausgewählten Leckereien und neckischen Geschenken und Nippes gefüllt war. Es war mir keine Freude, sondern eine Anfechtung gewesen. Jeder Morgen hatte nun mit einem verkrampften Magen begonnen, denn ich wusste sicher, dass meine Angebetete gern auch so einen Liebesbeweis gehabt hätte. In der Nacht zum sechsten Dezember war ich in den Flur geschlichen, um die sorgsam geputzten Stiefel meiner Geliebten zu füllen. Was fand ich wohl? Meine Stiefel - wenn auch nicht von mir, so doch nicht weniger sorgsam geputzt - quollen über. Um all die phantasievollen Aufmerksamkeiten fassen zu können, waren sie mit einem Trichter aus kostbarem Weihnachtspapier ausgeschlagen worden. Ich resignierte. Meine Gaben fielen gegen die ihren geradezu kümmerlich aus. Bis zum Morgen hatte ich keinen Schlaf gefunden, und also war ich vollkommen übermüdet in die Auseinandersetzung geschlittert, in der es - wie erwartet - um Prinzipielles ging. Mein Versuch, das Defizit in den Stiefeln durch den besonderen Einsatz im Bett auszugleichen, war ganz besonders zu meinen Ungunsten ausgefallen. An diesem Morgen, da meine Liebe unter abstrusesten Vorwürfen begraben wurde, lernte ich auch die Namen der Hersteller für Leckereien, mit denen man in der Minne bestehen kann. Freilich war es Zufall gewesen, aber nicht eine meiner Gaben wies ein solches Firmensiegel auf.

Heute ist die Angebetete von einst mit meinem besten Freund von einst verheiratet. Sie hat ihm bereits drei Kinder geschenkt. Meine Erfahrungen und mehr noch meine selbstlose Art, andere an ihnen teilhaben zu lassen, haben keinen geringen Anteil am beständigen Glück der beiden. Freilich ist Werner, der beste Freund von einst, im November der Welt für zwei Wochen verloren, in denen er mit dem Entwurf und der Herstellung von mittlerweile vier Adventskalendern in Anspruch genommen ist.

Auch wenn ich weiß, welch katastrophale Folgen die Missachtung traditioneller Erwartungen haben kann, wird mir nicht leichter ums Herz, im Gegenteil. Sich dabei zu ertappen - der Nötigung nachgebend - gegen alle Vernunft im Strom der Masse zu schwimmen, ist entwürdigend und nur bei Menschen überdurchschnittlicher Selbstachtung nicht mit einer Beschädigung derselben verbunden. Zudem ist es wahnsinnig schwer, wenn nicht unmöglich, bei der missmutigen Teilnahme an diesem Spiel nicht bemüht zu wirken, was die Sache noch alberner macht.

Eingedenk dieser alljährlich empfundenen Bedrückungen ist es verständlich, wie befreit ich mich fühlte. Ich hatte für meine beiden Liebsten Geschenke für den großen Abend. Meine Seele war von einer Leichtigkeit, dass sie hätte zum Himmel fliegen mögen.

Evelin hatte aber auch keinen Grund, an meiner körperlichen Verfassung zu mäkeln. Von meiner Hochstimmung angesteckt, machte sie sich auf den Weg in den Kindergarten.

4

In den folgenden Tagen hörte ich noch oft die Frage, was mit mir los sei, und sie führte mir wieder und wieder vor Augen, dass ich mich ganz offensichtlich optisch und auch im Wesen auffällig verändert hatte.

Selbst Kollegen machten Andeutungen. Einige Kolleginnen sahen mich an, als ob ich ihnen zum ersten Mal begegnete, mit dieser Verklärung im Blick, die man am besten übersieht oder sofort wieder vergisst, was nicht immer hilft, da einen diese kühle Unnahbarkeit oft noch anziehender macht und also dem gefährlichen Spiel zusätzliche Energie zuführt.

Glücklicherweise ermüden Rezeptoren unter fortwährendem Reiz, und irgendwann hatten sich alle an meine neue Aura gewöhnt; alle, außer Evelin. Sie sah mich immer mal wieder so an, als wenn ich ausgetauscht worden wäre oder Zeus in meine Hülle geschlüpft sei, mein Weib zu verführen. Das tat unglaublich gut.

Hatte mich Evelin in den vergangenen Jahren aus Angst, ich könnte den Einkauf der Geschenke vergessen, durch alle möglichen Andeutungen oft vergeblich gedrängt, auszugehen, so erschrak sie nun beinahe, als ich mich an einem verkaufsoffenen Sonntag anschickte, die Wohnung ohne sie zu verlassen. Dabei hatte ich nur den Baum kaufen wollen, ein Akt, den ich trotz Hochstimmung lieber allein vollzog. Ich muss wohl kaum noch erwähnen, dass ich bei meiner Rückkehr mit forschenden Blicken empfangen wurde.

Höhepunkt der Irritation meiner nicht amtlich Angetrauten war ein Gespräch, das sich ganz zwanglos in einer besinnlichen Stunde bei Kerzenlicht und heißem Kaffee ergab. Karlchen saß in seiner Bude, die wir mit Decken aus seinem Ställchen gebaut hatten, und spielte recht ausdauernd mit den Holzklammern der Großmutter. Wahrscheinlich war es einfach nur dieser Anblick, der mir die Frage auf die Lippen brachte. „Für wann hast du eigentlich die Eltern eingeladen?“

„Noch gar nicht“, sagte Evelin, halb erstaunt, halb zurückhaltend.

„Willst du sie dieses Jahr nicht …“

„Siegfried.“

Irgendwann musste der Name ja fallen. Ja, ich heiße Siegfried. Weiß der Teufel, wer oder was meine Alten geritten hat, mich so zu nennen. Ich kann nicht sagen, ob sie den Nimbus des Helden, meine Manneskraft oder meinen frühen Tod durch weibliche Intrige vor Augen hatten oder nur einer dümmlichen Neigung zum Deutschtum gefolgt waren.

Evelin hatte nun den Ausdruck der Verzweiflung angenommen. Ich wusste, warum, aber ich war gar nicht in Stimmung, darauf einzugehen. Was wogen Befindlichkeiten vergangener Jahre? War ich nicht ein anderer geworden?

„Ich hatte dieses Jahr ein ganz ruhiges Fest haben wollen. - Für dich.“

Ich erinnerte mich der Auseinandersetzung vor einem Jahr. Mir schoss die Schamröte ins Gesicht. Wie kleinlich ich sein kann; wie egoistisch. Dabei ist es doch nicht so schwer, sich mit ein wenig Phantasie in die Gemüter der Alten zu versetzen. „Du musst mir nicht nachgeben, wenn ich egoistisch bin“, sagte ich verhalten.

Evelin zog die Knie an und hielt sie mit den Armen fest. Wie reizend sie auch in dieser kindlichen, hilflosen Haltung aussah, ich war gut beraten, mich von diesem Eindruck nicht täuschen zu lassen. Evelin konnte sich mühelos in ein kleines Mädchen verwandeln, ohne dabei ihren Biss zu verlieren. In unserer Anfangszeit bin ich oft in diese Falle getappt, weil ich dem kleinen Mädchen hilflos ausgeliefert war. Wann immer ich mich dieser Erscheinung beugte, übernahm der Fürsorgeinstinkt die Herrschaft über alle anderen Hirnareale. Später habe ich gerade diese Zwielichtigkeit an ihr lieben gelernt.

Mit ihren großen, braunen Augen sah sie mich an, als wenn sie sich jeden Augenblick in ein scheues Reh verwandeln wollte. Das kastanienbraune Haar umwallte das etwas spitznasige Gesicht wie die Kapuze mittelalterlicher Gewänder. Wie ihre Mutter, gehört sie zu den Frauen, die ihre körperlichen Reize lange und scheinbar mühelos bewahren. Auch nach zehn Jahren war bei meiner Begierde noch keine Ermüdung eingetreten. Wie gern hätte ich sie jetzt … Von den kostbaren, weil seltenen spontanen Ausbrüchen der Leidenschaft nach zehnjähriger Bekanntschaft sprach ich schon.

Es verunsicherte mich, Evelin so lange wortlos zu sehen. Sie war keine Freundin der Verschwiegenheit. In der Regel machte sie viel mehr Worte als nötig waren. Da, wo ich ein Ja oder Nein als vollkommen hinreichend empfinde, kommt sonst meist erst einmal eine Mutmaßung, eine Verdächtigung, ein Vorwurf, eine Verteidigung, ein guter Rat oder ein Gegenvorschlag.

„Hast du Angst, das Fest allein mit mir und Karlchen zu verbringen?“, fragte sie körperlos.

Ihre Ängstlichkeit war unerträglich. „Wie kommst Du denn darauf? - Evelin, das ist … Wieso spielst du meinen Part?“

„Weil es unheimlich ist, wie du dich verändert hast!“, rief sie gereizt.

„Das bildest du dir ein. - Was ist Schlimmes daran, wenn man hier und da ein bisschen einsichtiger wird?“

„Das sagt gerade einer, der nicht daran glaubt, dass sich Menschen ändern können.“

„Jetzt machst du mich dogmatischer, als ich es je war.“ Das war nicht kokett; das war - genaugenommen - gelogen; faustdick gelogen. Ich bin mitunter absolut dogmatisch, namentlich dann, wenn ich glaube, im Recht zu sein. Das konnte ich ihr natürlich so nicht sagen, weil es so immer nur falsch zu verstehen ist. Was meine Zweifel an der Veränderbarkeit der Menschen betrifft, habe ich leider ernüchternde Erfahrungen machen müssen. Meine erste Frau hatte in mir den Wahn erregt, sich in vielerlei Hinsicht zum Guten, zum Vernünftigen zu wandeln, was meist nichts anderes hieß, als meinen Grundsätzen zu folgen. Nach unserer Trennung hatte ich dann aber mit Bestürzung erleben müssen, wie sie in alle, ausnahmslos alle früheren Gewohnheiten zurückfiel und sich ausnahmslos alle Wünsche erfüllte, von deren Unsinnigkeit ich sie glaubte überzeugt zu haben. Sogar einen Hund hatte sie sich zugelegt.

Evelin war anders. Sie änderte sich erst gar nicht. Nicht einmal die Unart, das Klo als Lesekabinett zu missbrauchen, hatte ich ihr abgewöhnen können; ein Laster, das in einer Wohnung mit nur einem Klo für alle anderen sehr bedrückend sein kann, und das nicht etwa nur vor der Tür. In der engen Kammer selbst stapeln sich mitunter solche Mengen von Zeitschriften, Büchern und Katalogen, dass man sich bei jedem Abtritt der Gefahr aussetzt, zu stolpern und sich am Beckenrand oder an der Tür die Stirn blutig zu schlagen. Seit einigen Tagen zum Beispiel lag eine dünne Broschüre über den Vogel des Jahres 2003 obenauf, die mir nun Gelegenheit bot, mich bei jedem Besuch der Örtlichkeit über den Mauersegler zu belesen.

Evelin spitzte ihren Mund. „Ich hatte mir beim letzten Mal deine Worte zu Herzen genommen. Du hast ja wirklich ein Recht darauf, das Fest einmal so zu erleben, wie es dir angenehm ist.“

Ich lächelte einseitig. Natürlich ist es angenehm, des zarten Grüns ansichtig zu werden, das die Saat der eigenen Worte in fruchtbarem Boden hat aufgehen lassen. Hier war es beschämend. „Recht“, sagte ich betreten. „Und wenn schon. Es ist kleinlich.“

„Siegfried! - Ist das wieder so eine blöde Tour, die sie euch in einer dieser idiotischen Schulungen beibringen?“, rief sie unbeherrscht. Sie hatte die Hände von den Beinen gelöst und war so schnell aufgesprungen, dass ich befürchtete, Opfer des nächsten Sprunges zu werden. „Für wann, bitte schön, soll ich sie einladen?“

Augenblicklich wurde mir der Fehler bewusst. Evelin war zu klug, um meinen plötzlichen Sinneswandel nicht mit dem Geschenk in Verbindung zu bringen, das heißt, mit der Absicht, zu beschämen. Das war zwar nicht wahr, aber es war zu logisch, als dass es sich würde bestreiten lassen. Also versuchte ich, zurückzurudern. „Aber wenn du auch mal ein ruhiges Fest …“

„Um mich geht es nicht. Du weißt, dass ich Weihnachten am schönsten finde, wenn ganz viele beisammen sind“, rief sie aufgebracht.

„Dann mach es wie immer so, wie du es willst. Ich will mich schon dreinschicken.“

Evelin war durch nichts stärker reizbar als durch den Gebrauch veralteter Redewendungen. Das ‘dreinschicken’ war mir auch nur so rausgerutscht, was umso undiplomatischer war, als dieses Thema in der Vergangenheit mit großer Verbissenheit ausgefochten wurde.

„Da soll einer schlau aus euch werden. Erst willst du deine Ruhe, dann willst du sie nicht. Erst soll ich einladen, dann wirfst du mir vor, immer zu tun, was ich will.“

„Das habe ich dir bestimmt nicht vorgeworfen.“

„Nicht direkt vielleicht. Aber so gut kenne ich dich.“

Hier hatte sie - unvoreingenommen betrachtet - recht. Bei aller Liebenswürdigkeit dieser Frau gab es ein paar Schrullen, die ich nur schwer oder gar nicht ertragen konnte. Das heißt, unerträglich war allein die Unart, dass sie ihre Eltern über Weihnachten ohne Unterbrechung bei sich haben musste. Ist dieser Wunsch für sich genommen schon einigermaßen grenzwertig, so wird er durch die Tatsache geradezu blödsinnig oder infantil, dass die Eltern keine halbe Stunde zu Fuß entfernt wohnen, mit dem Auto also kaum fünf Minuten unterwegs sind. Es war Tradition, und das leider schon lange, bevor ich in ihr Leben getreten bin und wir beide beschlossen haben, ein gemeinsames Leben zu führen. Dabei nervt mich nicht so sehr die Anwesenheit der beiden - sie schlafen im Gästezimmer - sondern die Unumstößlichkeit der Tradition und meine Ohnmacht, gegen sie anzukommen.

Ja, das Thema war vergiftet. Gelang es mir, alle Argumente zu entkräften, spielte sie mit absoluter Verlässlichkeit den letzten Trumpf: Du kannst das nicht verstehen, weil du keine Eltern hast.

„Evelin, nein, hör auf. Ich will einfach, dass du glücklich bist.“ Ich kann doch nichts dafür, dass diese Sätze so dämlich klingen. Aber das war ganz ehrlich gemeint.

Evelin prustete los. Karlchen fiel in ihr helles Lachen ein, was sie noch mehr aus der Fassung brachte. „Da muss selbst Karlchen lachen.“

„Warum kränkst du mich?“ Es muss mir gelungen sein, eine bekümmerte Miene zu machen.

Evelin sprang mir auf den Schoß und legte meine Hände auf den Rücken. „Die bleiben, wo sie sind!“ Sie küsste mich, wie sie es schon lange nicht mehr außerhalb des Bettes getan hatte.

„Und jetzt quälst du mich sogar.“

Karlchen bemühte sich energisch, Mittelpunkt unserer Beziehung zu werden. Ja, manchmal kann ich verstehen, dass die Männchen bestimmter Tierarten ihren Nachwuchs totbeißen. Wenigstens hatte ich das Gefühl, das Rudermanöver ganz gut zu Ende gebracht zu haben.

5

Ich war aufgeregt, keine Frage. Evelin hatte nicht nur ihre Eltern eingeladen, sondern auch noch Juliane, eine Freundin, die sich die beiden Kinder mit ihrem geschiedenen Mann teilte, und dieses Weihnachten ganz allein verbracht hätte, weil die Kinder bei ihm und der neuen Familie waren. Auf Julianes Bitte hin hatte ich Steffen, einen Freund, geladen, der ein rechtes Einsiedlerleben führte und damit - ausgenommen bestimmte Zeiten im Jahr - ganz gut zurechtkam. Meine Alten hatten schon ein Weilchen das Räumliche oder Zeitliche gesegnet, wenn man das so salopp sagen kann. Eigentlich sollten auch noch Evelins Schwester mit Mann und den beiden Töchtern die Runde bereichern, aber die hatten es vorgezogen, bis in den Januar hinein nach Teneriffa zu fliegen, was mir nicht unrecht war, denn sowohl die Mutter als auch die Mädchen sind sehr anstrengend, und noch anstrengender ist es, den Mann und Vater in all seinen Bedrückungen erleben zu müssen.

So saßen denn fünf Erwachsene in der Runde und unser Karlchen, der sich über den riesigen, von Evelin wundervoll geschmückten Baum nicht genug wundern konnte. Allenthalben formte er den Mund zu einer ganz süßen Schnute, um die erreichbaren Kerzen auszublasen. So niedlich das auch war, es hatte etwas von einem Nervenbelastbarkeitstest, und je nach Status der Testanten wurde bald diese, bald jene Belehrung laut, und jede dieser Bemerkungen drohte in eine Debatte über Prinzipielles zu münden. Evelin hielt sich großartig.

Noch konnte ich alles nur vom Balkon aus beobachten, wo ich - in ein tadelloses Kostüm gezwängt - auf meinen Auftritt wartete. Es war zwar recht zugig, aber nicht allzu kalt. Auch der Niesel war mehr belebend als unangenehm.

Endlich entzündete Evelin die Wunderkerzen, mein Zeichen. Ich hämmerte an die Balkontür. Alle fuhren zusammen, selbst Evelin, die sich doch gut auf meinen Auftritt hatte einstellen können. Karlchen erstarrte, als ich in feucht glitzernder Soutane mit derbem Sack und imposanter Rute ins Zimmer trat. Steffen und Juliane wendeten sich grinsend zueinander. Evelin starrte auf den nach ihren Schätzungen viel zu großen Sack. Frank und Irene spielten züchtig mit.

Als die Wunderkerzen heruntergebrannt waren, blendete Evelin mit zarter Hand einfühlsam die Musik aus. Karlchen starrte mich an. Ich ließ ihn - bei allem, was ich tat - nicht aus den Augen. Ich wusste, dass mein Spiel eine Gradwanderung war, denn ich hatte nicht nur eine Bescherung erlebt, die vom sirenenhaften, unstillbaren Geschrei eines Kindes überschattet, nein, besser, überlärmt gewesen war. Noch hielt sich Karlchen wacker. In den letzten Wochen hatte er sich bisweilen recht respektlos über den Alten mit dem weißen Bart geäußert. Jetzt schien es so, als wenn er die Folgen dieser Respektlosigkeit abwägen würde. Der Alte, der vor ihm stand, wirkte gemeingefährlich, denn ich kostete meinen Spielraum aus.

Die Geschenke hatte ich in wohldurchdachter Reihenfolge geschichtet. Evelin kam als erste an die Reihe, um Karlchens Ehrfurcht ein bisschen aufzuweichen. Sie spielte wundervoll. Für das weiche Geschenk ihrer Eltern sang sie Schneeflöckchen, Weißröckchen. Auf meine strenge Frage, ob sie denn auch manchmal böse gewesen wäre und also die Rute verdient hätte, rief Frank bestimmt „Ja!“ Irene setzte den Ellbogen ein und schüttelte den Kopf, in dem zu allem Überfluss auch noch zwei giftige Augen blitzten. Karlchen hatte leider für all das gar keinen Sinn. Auch er schüttelte stumm den Kopf, aber mit ganz flehentlichen Augen, also bekam Evelin nicht mit der Rute, worauf sie sich mit einem ganz zärtlichen Kuss bei mir, also dem Weihnachtsmann, bedankte.

Auch der widerlichste Kerl verliert seine abstoßende Wirkung, wenn er von einem so zauberhaften Wesen geküsst wird. Karlchen sprach und sang ein halbes Dutzend Gedichte und Lieder, und er bekam ausnahmslos pädagogisch vertretbare Geschenke; alles aus Holz, und alles sehr teuer. Auch Karlchen zuliebe, oder, besser, um unliebsamen Quengeleien zu entgehen, hatten wir es zur Regel gemacht, die Geschenke sofort auszupacken. Evelin spannte eben ein weißes, langärmeliges Nachthemd vor die Brust, das sie von mir aus gleich hätte anziehen und mit mir ausprobieren können. Frank hielt nach missratenem Gedicht und einigen nicht gedämpften Schlägen mit der imposanten Rute eine weinrote Schleife und einen ebensolchen Kummerbund in Händen. Das brachte mir den ersten sehr verliebten Blick von Evelin ein, die geglaubt hatte, ihren Vater mit einer Unterwäschekollektion beglücken zu können.

Ein Geschenk pro Mann oder Frau war ungeschriebenes Gesetz, um dem Weihnachtsmann einen Rest der Stimme zu bewahren und die Adventszeit nicht ausschließlich mit dem Auswendiglernen von Gedichten zubringen zu müssen. Da Frank bereits das zweite Geschenk enthüllte, machte sich Unruhe breit. Irene hatte schon einen neuen Band von Mankell ausgepackt. Nun stand sie stammelnd vor mir, um sich mit einem künstlerischen Beitrag das zweite Geschenk zu verdienen. Sie haspelte ein paar Zeilen vom Handschuh und errötete. Ich stellte sie vor die Wahl, entweder Schläge zu ertragen oder das Geschenk sofort anzuziehen und den ganzen Abend lang zu tragen.

Wer das Glück hatte, meine Schwiegermutter kennenzulernen, wird nie mehr behaupten, dass eine Frau nach einem halben Jahrhundert keine Reize mehr hat. Da ich sie in wenig betuchtem Zustand gesehen habe, kann ich versichern, dass sie sogar noch sehr anziehend war. Ja, sie war schlank und dennoch an den nötigen Stellen rund. Der lange, blonde, nur wenig angegraute Zopf gab ihr etwas Mädchenhaftes, das sich auch noch in ihrem Gesicht fortsetzte, das - nach meinem Empfinden - immer neugierig und lebenshungrig dreinschaute.

Sie wurde erst sehr blass, dann rot, dann suchte sie Hilfe bei Evelin, die Mühe hatte, ihren giftigen Blick so rasch in einen ermutigenden zu verwandeln. Ja, was traute sie mir denn zu? Dachte sie, ich zwinge die Mutter, einen Abend lang mit Strapsen um den Lichterbaum zu hopsen? Auch Franks Gesicht leuchtete in dunklem Rot.

„Ich kann eure Ängste zerstreuen, obwohl sie Irene kränken müssen. Es sind keine Strapse oder anderen Dessous. - Also: Rute oder …“

„Dann zieh ich es an“, sagte Irene, die mir schon ihr - wie gesagt, nicht reizloses - Hinterteil dargeboten hatte. Karlchen war wohl ein bisschen enttäuscht. Die Stille im Raum zeigte ihm jedoch an, dass etwas Unerhörtes vor sich gehen musste. Irene verschwand mit dem Päckchen im Flur. Ich schwätzte mit den Zurückbleibenden, um ihr Zeit für die Verwandlung zu geben.

„Evelin!“ Das war kein Hilferuf. Dennoch lief die Angesprochene Richtung Tür. „Du bist ja verrückt!“

Ich war gerettet. Meine Pein, die den roten Mantel in Schweiß getränkt hatte, war zu Ende. Der zweite Ausruf war ganz zweifellos ein Schrei des Entzückens. Ich kramte im Sack, um die Szene weiter unauffällig über den Brillenrand beobachten zu können. Irene betrat mit einem olivgrün schillernden Strechkleid die Stube. Die Verkäuferin hatte es für mich angezogen und mir nachher versichert, dass es bei schlanken Frauen immer gleich gut aussieht. Sie hatte gelogen. Bei Irene sah es viel besser aus.

„Du siehst aus wie eine Prinzessin“, stammelte Karlchen.

Frank starrte die Angetraute mit offenem Mund an. Deutlicher konnte er nicht zeigen, dass er nicht der Absender des Geschenkes war.

Steffen und Juliane unterbrachen ihr Geturtel.

Evelin bedachte mich mit einem in mehrere Richtungen deutbaren Blick, der sie unwiderstehlich machte, obwohl ich nicht wusste, in welche Richtung er zu deuten war, oder vielleicht gerade deshalb. Sah ich da etwa Neid? - Nein, ich will keine Vermutungen anstellen.

„Toll“, sagte Steffen endlich.

„Super“, ergänzte Juliane.

Evelin war noch immer sprachlos.

Irene drehte sich entzückt hin und her. „Da muss ich mich aber mit den Kerzen in Acht nehmen“, wisperte sie kokett.

Ich zog den nächsten Trumpf. Karlchen lauschte auf, als er den Namen der Mutter vernahm. Evelin starrte auf das kleine Päckchen. Ohne sich lange drängen zu lassen, sang sie mein Lieblingslied Ach bittrer Winter, wie bist du kalt. Es klang allerliebst mit dieser seltsam belegten Stimme. Sie küsste mich viel zu lange. Ich meine, so küsst man keinen Weihnachtsmann. Ich fühlte die Träne und erschrak.

„Das Lied macht mich immer so traurig“, sagte sie zu Karlchen gewandt.

Den beiden Einsamen hatten wir offenbar mit der Einladung des jeweils anderen das schönste Geschenk gemacht. Sie hatten kaum Sinn für die Bescherung, was nicht heißen soll, dass sie sich um das künstlerische Opfer mogelten.

Ich erkundigte mich indessen nach dem Verbleib des Vaters, für den auch ein Geschenk von den Heinzelmännern mitgegeben worden war, obwohl er vor allem kräftige Schläge auf den Allerwertesten verdient hatte.

Hier widersprach keiner, nicht einmal Karlchen. Er sah mich lange an und sagte dann: „Der Papa sucht dich. Er hatte Angst, dass du uns vergessen hast.“

Ich empörte mich ob dieser Unverschämtheit und riet dem Unverschämten, mir bis zum nächsten Jahr nicht mehr über den Weg zu laufen.

Wenigstens bot sich Karlchen an, das Geschenk des Vaters singend auszulösen. Ich war gerührt.

Evelin betrachtete mit noch immer feuchten Augen die matt glänzende Kette. Ich kramte indessen ungeduldig im Sack, um endlich die Katze aus demselben zu lassen. Irene half Evelin dabei, die Kette umzulegen. Frank hatte unauffällig den Binder gelöst, um ihn durch die weinrote Fliege zu ersetzen. Steffen und Juliane tuschelten sich wohl ihr bisheriges Leben zu. Mein Herz frohlockte.

Ich ließ den Sacksaum fallen, ein gelbes Futteral freilegend, das augenblicklich alle Blicke auf sich vereinte. Selbst die beiden Turteltauben verstummten.

„Das ist für mich“, sagte Karlchen bestimmt.

Ich lehnte mich - den Dingen ihren Lauf lassend - zurück.

Karlchen zog den Reißverschluss auf und enthüllte das Schaukelpferd. Das Glöckchen am Schwanz klingelte schüchtern.

„Ba!“, fand Steffen auch diesmal als erster die Sprache wieder. Er stand auf, lief eilig auf den Schnittpunkt der Blicke zu und kniete sich vor das Spielzeug.

Karlchen wiegte es sacht, mit großen Augen das schaukelnde Glöckchen bestaunend.

„Das hast du ja absolut toll gebaut, Alter“, vergaß sich Steffen.

„Meine Heinzelmännchen bauen alles toll“, raunzte ich zurück, die Worte mit einem Tritt vors Schienbein unterstreichend.

Nun kamen auch die anderen näher, um das Kunstwerk zu bestaunen. In den Gesichtern stand vor allem die Frage nach dem Ursprung; gekauft oder selbstgebaut. Ich konnte mich nicht erklären, ohne das Inkognito des Weihnachtsmannes zu gefährden. Ein ‘selbstgebaut’ wäre Evelin eh nicht zuzumuten gewesen; nicht von mir, der ich mich bei allen Gelegenheiten über die Heimwerker lustig machte, die ihre Nutzlosigkeit im Großen Ganzen kaschieren, in dem sie die Welt mit ihren infantilen oder dilettantischen Ergüssen beglücken. Eine solche Verwandlung meiner Person hätte sie überfordert. Abgesehen davon hätten Heimwerker dieses Kleinod nie im Leben zustande gebracht.

Karlchen nahm den Zügel, zog das Pferdchen aus Sack und Futteral auf eine noch nicht von zerrissenem Geschenkpapier belegte Stelle des Teppichs, schwang sich auf, als wenn er auf dem Rücken eines Pferdes geboren worden wäre, und schaukelte mit den vergnüglichsten Lauten, so dass er eins schien mit dem erst vor wenigen Augenblicken enthüllten Geschenk.

Ich nahm den leeren Sack und verabschiedete mich unter guten Ratschlägen fürs nächste Jahr und rauen Grüßen für den Vater und verließ die Wohnung. Im Keller hatte ich meine Feiertagsgarderobe zurechtgelegt und vorsorglich auch ein Handtuch, mit dem ich mich leidlich trockenrieb.

Als ich das rote Kostüm im Sack verstaute, hörte ich Schritte im düsteren Kellergang. Da lief jemand, ohne sich Licht zu machen. Das leise Knirschen auf dem Betonfußboden war kaum vernehmbar. Jetzt hielten die Schritte inne.

Ich griff nach einem schweren Kantholz.

Oben öffnete jemand die Tür, die zu den Kellern führt. Das Licht ging an. Die leichtfüßigen Schritte auf der Treppe waren andere als die von vorhin.

Ich verhielt den Atem, um besser hören zu können.

Die Schritte näherten sich. Quietschend ging die Kellertür.

„Evelin!“

„Hat du jemand anderes erwartet?“

Mein neuer Anzug war nicht weniger schweißgetränkt als der alte.