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Eine junge Frau mit ruiniertem Ruf trifft in einer Schutzhütte, die nach beinahe hundert Jahren noch immer darauf wartet, ihrer Bestimmung gerecht zu werden, auf einen entkräfteten Mann. Nach der zunehmend lebensbedrohlichen Begegnung macht sie einen sensationellen Fund, der sie und ihr Leben grandios verändern könnte. Die Geschichte erzählt humorvoll und tiefsinnig davon, wie schwer es ist, sich gut oder richtig, wenigstens aber sinnvoll zu verhalten in einer Welt der Vorurteile, der Geschwätzigkeit und Oberflächlichkeit.
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Seitenzahl: 308
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Sie hatte genug, genug von allen und allem - vom Leben nicht, nein - aber sonst von beinahe allem und allen; von den heuchlerischen, mitleidigen, besorgten Gesichtern; vom Getratsche hinterm Rücken noch mehr als von offener Feindseligkeit und Gehässigkeit; von den Winkelzügen der Leute, um ihr aus dem Weg gehen zu können; von all dem Unsinn, der über sie im Umlauf und offenbar durch nichts aus der Welt zu schaffen war; ja, genug hatte sie von der kantigen Weigerung der Leute, sie kennenzulernen; also in Erfahrung zu bringen, wer sie wirklich ist, wie sie wirklich ist. Das Maß war in einem Maße voll, dass es nicht einmal eines besonderen Anlasses, eines leidenschaftlichen Aufbegehrens bedurfte, um Hof und Mutter den Rücken zu kehren und sich zu verkriechen im abwegigsten, verlassensten Winkel der Welt.
Heute gibt es kaum mehr wirklich abwegige und verlassene, also einsame Flecken auf der Landkarte, geschweige denn im Gelände; Schlupfwinkel, die so komfortabel sind, dass sich darin leben oder auch nur überleben ließe, und die lange genug unter Beweis gestellt haben, wirklich abwegig und verlassen zu sein. Auch im gewaltigen Massiv der Alpen liegen die Gemeinden dicht bei dicht, und wo sie nicht mit ihren oft abgelegenen Berghöfen hinreichen, stehen Hütten, einst zum Schutz für bedrängte Hirten, Wanderer und Kletterer aufgestellt, mittlerweile aber bis auf einige wenige zu Wirtschaften und Herbergen ausgebaut. Selbst wer sein Lager auf den Spitzen der Berge aufschlüge, bekäme Besuch von verwegenen Kletterern, deren Leidenschaft es ist, das Leben zu wagen für Ausblicke oder Einblicke der besonderen Art.
Eine Hütte aber gibt es, die all die gesuchten Eigenschaften vereint; die anders ist als alle anderen, und die gerade deshalb kaum jemand kennt. Zur Zeit ihrer Entstehung vor beinahe hundert Jahren war sie die wohl komfortabelste, zumindest aber zweckmäßigste Schutzhütte im Alpenraum, und auch heute noch könnte sie dieses Attribut für sich in Anspruch nehmen, wenn sie in all den Jahren nachweislich irgendwann irgendjemandem Schutz geboten hätte. Eine Schutzhütte wird gebaut, um zu schützen. Eine Schutzhütte, die niemand aufsucht, ist eine unsinnige, verrückte Hütte.
Hanne, die den dreiundzwanzig Kilometer weiten Weg durch Tiefschnee auf Skiern auf sich nahm, um den Leuten nicht länger mit ihrer Erscheinung Unbill zu bereiten, mochte diese Hütte gerade ihres Rufes wegen, verschroben und absonderlich zu sein. Nicht nur den Leumund teilte sie mit ihr, auch das Schicksal, von den Leuten als anstößig, also als Zumutung empfunden zu werden.
Gemächlich, aber kraftvoll stieß sie die Beine nach vorn, den gewonnenen Schwung mit den stockbewährten Armen nicht weniger kraftvoll verlängernd. Im olivgrünen, steifen Lodenmantel war sie noch eher einem dahingleitenden Räuchermann ähnlich als einer Skiläuferin, noch dazu mit dem altertümlichen Rucksack, der in Kombination mit dem aufgebundenen Kopfkissen von fern aussah wie Engelsflügel. Viel war es nicht, was sie mitgenommen hatte, um ein anderes Leben zu beginnen …
Für die Strecke vom Hof zur Hütte brauchte sie mit hohem Einsatz zwei Stunden, für den Rückweg mit gleichem Einsatz noch nicht einmal die Hälfte. An markanten Punkten im Gelände ging ihr Blick unwillkürlich zur Uhr, obwohl sie wusste, in welcher Stellung sie die Zeiger finden wird. Die goldene Uhr mit dem ledernen Armband, der einzige Wertgegenstand in ihrem Besitz, hatte - soweit ihre Erinnerung zurückreichte - das rechte Handgelenk des Großvaters geziert.
Sie dachte an das Ziel, an die Hütte, die sie nun nicht mehr nur besuchen wird, wie so oft mit dem Großvater. Diesmal wird sie für immer bleiben, ohne sich von wem auch immer vertreiben zu lassen. Der Gedanke war verrückt, das wusste sie, sogar sehr verrückt.
Wie so vieles in der Welt verdankt auch diese Hütte ihr Dasein einem Zufall. In den Wintern 1919/20 und 1922/23 waren beinahe an gleicher Stelle zwei junge Paare erfroren, die die Weite des Schneefeldes und mehr noch seine plötzliche Begrenztheit unterschätzt hatten, genaugenommen aber allein ihrer Sorglosigkeit oder Unerfahrenheit oder fehlenden Ausdauer zum Opfer gefallen waren.
August Stadler, der Vater der jungen Frau des zweiten Paares, hatte beim ersten Besuch des Unglücksortes das noch frische Kreuz vorgefunden, das den Tod der beiden zwei Jahre zuvor Erfrorenen im Gedächtnis bewahren sollte. Augenblicklich war in ihm der Entschluss gereift, den Bau einer Schutzhütte zu finanzieren, um die Menschheit vor ähnlichen Schicksalsschlägen und vergleichbarem Schmerz zu bewahren.
Sepp Lachner, Bürgermeister von Elsetal, der nächstgelegenen Gemeinde, hatte dem noblen Bauherren nicht nachstehen wollen und für den Fall, dass das Vorhaben verwirklicht wird, im Namen der Bürgerschaft die Bürgschaft übernommen, auf alle Zeit die Hütte zu erhalten und Jahr um Jahr mit dem nötigen Vorrat zu versorgen. Der Bau war dann trotz oder gerade wegen der galoppierenden Inflation rasch ins Werk gesetzt worden.
Torsten Faber, der Tischler, und Joseph Selb, Schmied seines Zeichens, hatten die Hütte nicht nur in großer Zweckmäßigkeit entworfen, sondern auch aufopfernd den Bau vorangetrieben, ohne sich eine Menge überzähliger Stunden bezahlen zu lassen. Unter feierlicher Anteilnahme der Bürger von Elsetal und der Hinterbliebenen der vier Opfer hatten die beiden Handwerksmeister die bronzenen Gedenktafeln an den gegenüberliegenden Wänden der Hütte angebracht und damit den mit viel Lob bedachten Bau seiner Bestimmung übergeben.
Lob und Stolz hielten nicht lange an. Da man parallel zum Hüttenbau an allen wichtigen Zuwegen emaillierte, also witterungsbeständige Warnschilder aufgestellt und sich zudem das bittere Schicksal der vier Unglücklichen herumgesprochen hatte, war in der Folgezeit kein Wanderer mehr in lebensbedrohliche Not geraten, was die Gemeinde zwangsläufig mehr und mehr ins Gerede gebracht und zunehmend dem allgemeinen Spott ausgesetzt hatte, der in der einfallsreichen Umbenennung Elsetals in Eseltal gipfelte.
Es stellte sich nämlich heraus, dass der Standort der Hütte so abwegig war, dass sie nicht einmal Wanderer locken konnte, den Rast- und Schlafplatz gezielt auch ohne Not aufzusuchen. Die Hütte stand in einer dreiundzwanzig Kilometer tiefen, also beachtlichen Sackgasse, die man nicht anders verlassen konnte, als man gekommen war. Das noble Bauwerk blieb also ungenutzt, musste aber wegen der auf alle Zeit gegebenen verbindlichen Zusage dennoch erhalten und alljährlich für Notfälle ausgestattet werden.
Bald begannen die Leute auch noch zu munkeln, dass wohl die beiden engagierten Handwerker die eifrigsten, wenn auch heimlichen Nutzer der Hütte seien, die hier untertauchten, um ihren widernatürlichen Neigungen nachzugehen. Seither war die Hütte eine Art Brandmal im Antlitz der ohnehin nicht allzu bekannten und noch weniger geschätzten Gemeinde, und mancher Hitzkopf hatte schon erwogen, einem Blitzschlag oder Gemeinderatsbeschluss mit einem Brandsatz zuvorzukommen.
Ja, Gemeinderäte hatten immer wieder hitzig darüber beraten, wie man sich der leidigen Problematik entledigen kann. Radikale Gemüter plädierten für den Abriss des Schildbürgerbaus, gemäßigtere stimmten dafür, wenigstens die Ausstattung desselben einzustellen, also aufzuhören, weiterhin sinnlos Geld in die verwünschte Hütte zu versenken. Einerlei, wie weit man zu gehen bereit war, alle blieben sie am Ende regelmäßig hängen am Gelübde auf alle Zeit, einer Formulierung, an der nicht zu deuteln war. Irgendwann hatten die Ortsvertreter begriffen, dass es am klügsten ist, nicht weiter mit dem Schicksal zu hadern und einen Schleier des Schweigens und der Ignoranz über das Ärgernis zu breiten.
Seither schlief die Schneefeldhütte einen Dornröschenschlaf, und sie bedurfte nicht einmal einer Hecke, um sich den Blicken und dem Gedächtnis zu entziehen. Gut, hin und wieder war die Hütte Herberge diverser Geselligkeiten gewesen. Die Chronik erzählt von beinahe regelmäßigen Besuchen der Jägergilde, die auf den sechs Schlafplätzen und dem Dachboden im Heu auch ihren Rausch hatte ausschlafen können. Auch berichtet sie von Zeremonien der Hitlerjugend, die hier nach Gewaltmärschen Sonnenwendfeste und geheime Feierstunden und Gerichte abhielt. Zuletzt beschreibt sie auch das Leben einer Schar Mädchen und Frauen, die sich bei nahender Front zu verbergen suchte vor den Kämpfern der Roten Armee, die dann glücklich nach schweren Gefechten um Wien und den Wienerwald bis zur Kapitulation in den erreichten Stellungen, also fernab verharrten. Nein, auch hier war die Hütte nicht zu Ruhm gelangt, hatte sie ihrem Zweck keine Ehre machen können, auch wenn das Abenteuer für die Mädchen und Frauen unvergesslich blieb.
Nach dem Krieg war die Hütte mehr und mehr in Vergessenheit geraten, ohne freilich das Privileg zu verlieren, auf Gemeindekosten alljährlich mit Holz und Lebensmitteln ausgestattet zu werden. Und selbst der aufblühende Fremdenverkehr der letzten Jahrzehnte hatte einen Bogen um Elsetal und seine verrückte Hütte gemacht.
Hanne Berggruber verharrte nach dem ersten und steilsten Anstieg. Schwer atmend und tief gebeugt auf die Stöcke gestützt stand sie am Rand eines scharfgeschnittenen Tals. Ihr war warm. Nur selten fror sie in ihrer altfraulichen, manche möchten sagen, schrulligen oder gar närrischen Kluft: die alte Skihose, der verblichene, formlose Pullover, die lange, entfärbte und verfilzte Strickjacke, der grüne Lodenmantel des Großvaters, der ihr zu groß war, obschon sie mehrmals versucht hatte, ihn mit Nadel und Faden in die rechte Form zu zwingen. Die weiße Wollmütze mit der viel zu großen hellblauen Bommel war gewissermaßen der Punkt auf dem I. Sie empfand es als schweren Fehler, den Mantel nicht wie sonst auf den Rucksack gebunden zu haben. Nun war sie zu sehr in Schweiß geraten, um es noch korrigieren zu können. Aus dem geöffneten Kragen hob sich ein warmer Dunst menschlicher, genauer, weiblicher Aromen. Sie mochte ihren Geruch.
Mit geschirmten Augen suchte sie die Hänge ab und wieder und wieder die schmale Talsohle. Alles war weiß und unberührt und friedlich; kein Riss in der Schneedecke, erst recht kein Spalt oder gar Abgang. Da, wo die Talsohle ins Schneefeld übergeht, blieb Hanne noch einmal stehen, um den Blick durch die Länge des Tals auf den verschlafenen Heimatort zu genießen, diesen magischen Blick, der für Unkundige so verhängnisvoll werden kann.
Von der Verballhornung des Namens war schon die Rede, dabei wäre die Umbenennung Elsetals in Eseltal gar nicht so schlimm gewesen, hätte man dadurch nur eine Last weniger zu tragen gehabt. Die kleine Ortschaft drückte ja neben der Hütte eine weitaus größere Bürde, eben dieses namengebende Tal, das von allen nur Gräberschlucht genannt wird. Keiner hat gezählt, wie viele leichtsinnige Wanderer in diesem Tal ihr Ende gefunden haben oder fürs Leben gezeichnet wurden. Schuld oder, nüchterner gesprochen, Ursache dieser traurigen Schicksale war die Warme Else, die dem Tal und mit ihm dem Ort ihren Namen gab; ein kleiner Bach, am Eingang des Tals aus dem Massiv springend, um sich nach ein paarhundert Metern im Geröll zu verlieren; oft nicht mehr als ein Rinnsal, das aus unerfindlichen Gründen im Winter nur bei klirrendem Frost gefror, also warm genug war, um den Boden weich und glitschig zu halten und den Schnee zu zwingen, eine Brücke zu bauen. Das Tal am Eingang des Schneefeldes birgt außer der Warmen Else noch eine andere Gefahr: die steilen Hänge, die wie geschaffen sind für abgehende Schneebretter, Wanderer wie Skifahrer aber ermutigen, den Weg in den anscheinend nahen Ort um Kilometer abzukürzen. Leider ist es dann mitunter nur eine Abkürzung direkt in den Tod. Wenn die Unglücklichen nicht unter Lawinen begraben werden, die sie selbst abgestoßen haben, dann verletzen sie sich tödlich oder schwer an den vielen Zähnen, schroffen Schuttkegeln, die - unterm Schnee fast unsichtbar - aus den Talhängen ragen,. Wer nicht über die Hänge ins Tal steigt, sondern den ungefährlicheren Weg über den Eingang des Tales zu nehmen glaubt, stürzt unvermutet im Schlickbett der Warmen Else, rutscht weiter, zerreißt die Schneebrücke und findet sich nicht selten unter einem nachrutschenden Schneebrett wieder, verschüttet und also langsam erstickend oder erfrierend. Ein mörderisches Tal, das selbst nach Aufstellung vieler Warntafeln von Zeit zu Zeit seinem Beinamen alle Ehre macht.
Hanne hatte oft darüber nachgedacht, warum dieser verhängnisvolle Bach, der Tal und Heimatort benannte, einen Mädchen- oder Frauennamen trägt. Der Bach, der Fluss, der Teich, der See, der Ozean, sie alle sind männlich, warum also hatte man den Bach weiblich benannt? Weil alles Unheil aus dem Weiblichen wächst oder dem Weiblichen zugeschrieben wird? Lange hatte sie mit dem Großvater über diese Frage beraten. Aber auch er hatte keine befriedigende Antwort gewusst. So war das Problem wie viele andere mit dem Stempel Menschenkram versehen worden, was so viel bedeutet wie unsinnig, töricht, unausgegoren, und das Gegenteil ist von verlässlich, berechenbar, zweckmäßig, Eigenschaften, die aus ihrer Sicht nur der Natur zukommen, die allein in allem mit Sinn und Gesetzmäßigkeit durchdrungen ist. Und wenn Hanne auch ab und an in der Natur auf Dinge stieß, die ihr absurd und unnütz erschienen, erklärte sie diesen Widerspruch mit der eigenen Beschränktheit. Wann immer sie vermeintlichen Ungereimtheiten begegnete, fand sie Trost in der Überzeugung, nur den verborgenen Sinn nicht zu verstehen, noch nicht zu verstehen. An der Natur war nicht zu zweifeln, und dass sie den Menschen hervorgebracht hat, ja … ja, das war so etwas, das sie nicht verstand. Was war da schiefgegangen? Warum hatte sie sich diese miese Laus in den Pelz gesetzt, diesen Schmutzfink und Gernegroß?
Sie dachte an die Leute, die da in der Ferne unter den Dächern des kleinen Ortes, unter all den rauchenden Schornsteinen umherwuselten, um einen Vorteil, das Glück, einen Nervenkitzel oder was auch immer zu erhaschen.
Schlich sich da Wehmut in ihre Gedanken? Was verlor sie, wenn sie all denen den Rücken kehrt? - Wo immer sie auftauchte, kam Verlegenheit auf. Sie war peinlich. Allen war sie peinlich, auch der Mutter, die ihr nach dem Tod des Großvaters geblieben war. Mütter können ihren Kindern nicht einfach den Rücken kehren, sonst hätte sie es wohl längst getan. Dabei sollte die Mutter doch am besten nachfühlen können, wie es ist, im Fadenkreuz der Vorurteile zu stehen. Der Vater hatte sie vor zwanzig Jahren aus der Stadt hier auf den Hof geholt und noch vor der Entbindung verlassen, ohne anzudeuten, warum und wohin; ohne je wieder ein Lebenszeichen von sich gegeben zu haben, sodass man nicht einmal sicher hätte sagen können, ob er überhaupt noch lebt. Selbst der Großvater hatte den einzigen Sohn für tot erklärt, einerlei, ob er es ist oder nicht. Er war damals ersatzweise an die Stelle des Flüchtigen getreten als Arbeiter auf dem Hof. Aber die Leute wollten schon bald ausgemacht haben, dass er auch die Stelle des Mannes, also des Bettgenossen der Mutter eingenommen hat. Hier mochten sie recht haben. Gewünscht hat sie es der Mutter, die nun schon über zwanzig Jahre in einer Art unterdrücktem oder überspieltem Schockzustand verharrte.
Mit kräftigen Schritten und Stößen strebte Hanne der schon in der Ferne als kleiner Punkt wahrnehmbaren Hütte zu. Wie oft war sie den Weg mit dem Großvater gegangen oder mit dem Gespann gefahren? Sie wusste, wie weit es noch ist, trotz des sichtbaren Ziels. Das zur Hütte leicht ansteigende Schneefeld wurde linker Hand, also südlich, von einem steilen, fast achtzig Meter tiefen Abgrund begrenzt. Rechter Hand erhob sich steil und majestätisch das Massiv. Hier war der Mensch ein Nichts, gefangen in den Grenzen der Natur; die Tiefe des Abgrunds, die Weite der Ebene, die Höhe des Massivs. Und am Horizont, da, wo Schneefeld, Abgrund und Berg augenscheinlich ineinanderflossen, stand eine Hütte, klein und erbärmlich, aus dieser Perspektive nicht mehr als ein Fliegendreck.
Mit dem Großvater im Bunde war alles leichter, also noch erträglich gewesen. Aber seit seinem Tod vor einem halben Jahr … Mit ihm war die wichtigste und nahezu einzige Person gestorben, die sich bisher freiwillig mit ihr abgegeben hatte. Er war ihr in so vielem mitunter erschreckend ähnlich gewesen. Aber in einem wohl besonders: er war, wie sie, bedachtsam, das heißt, er ergründete und erwog alles ebenso lange wie sie, ehe er darüber sprach. Nur in Gesprächen war er schneller. Im Umgang mit Menschen ist es wichtig, mit der Zunge schnell genug zu sein, hatte er ihr einmal geduldig erklärt, nachdem er durch Zufall ihrem Geheimnis auf die Spur gekommen war. Von klein auf war sie alle Tage in seiner Nähe gewesen, im Grunde ohne nennenswerte Zeiten der Trennung, von den widerlichen Zwängen des Lebens einmal abgesehen. Da sie sich ähnlich waren, verstanden sie sich meist wortlos, und das Mädchen hatte die Stille zwischen ihnen nie als peinlich empfunden, im Gegenteil, gemeinsames Schweigen war für sie der Glanz einer besonderen Vertrautheit.
Nie wird sie die Episode vergessen, die ihr Verhältnis zum Großvater und im Grunde ihr ganzes Leben verändert hat. Bis dahin hatte auch der Großvater sie für wunderlich oder verschlossen gehalten und den geflüchteten Vater für Hannes vermeintliche Trübsal verantwortlich gemacht. Ja, auch der Großvater hatte ihr bisweilen Fragen gestellt, ohne Antwort zu erhalten. Er wusste nicht, dass das Mädchen an seiner Seite bei jeder Frage in einen Kosmos möglicher Antworten geschleudert wurde und auch noch bizarrste Welten durchmaß, um zu einer sinnvollen Erwiderung zu gelangen, die ihrer Ehrfurcht vor dem Fragenden entsprach. Da sie keinen höher schätzte als den Großvater, war sie nur selten erfolgreich von ihrer Suche in fernen Gedankenwelten zurückgekehrt. Der Großvater wiederum konnte nicht wissen, dass sich die Enkelin bei ihm besonders viel Zeit nahm, um ihn und damit auch sich selbst nicht zu enttäuschen. Am Pferdeschlitten werkelnd, hatte er wie nebenher gefragt, ob sie sich auf den Weihnachtsmann freut. Das war keine ganz unverfängliche Frage gewesen, denn der Weihnachtmann hatte schon ein Weilchen als Ersatz für das Christkind herhalten müssen, das hier landläufig als Gabenbringer verehrt wird, von Hanne aber mit unbezwingbarer Sturheit verworfen worden war. Vielleicht hatte der Großvater deshalb so lange gezögert, tiefer in sie zu dringen. Also war nach der Frage viel Zeit verstrichen, ohne dass Hanne sich aus der Starre der inneren Einkehr gelöst hatte. Und als längst nicht mehr mit einer Antwort zu rechnen war, hatte sie dem Alten schüchtern zu verstehen gegeben, dass sie sich freut aber auch traurig ist. Der Großvater hatte sich zu ihr gehockt, sie angesehen und gemutmaßt, dass der fehlende Vater Ursache der Traurigkeit ist. Sie war nah an ihn herangetreten, um ihm mit bangem Herzen anzuvertrauen, dass sie traurig ist, weil sie - um die anderen nicht traurig zu machen - so tun muss, als wenn es den Weihnachtsmann wirklich gibt. Der Großvater hatte sie weinend an sich gedrückt und in ihr das Gefühl geweckt, eben einen unzertrennlichen Bund besiegelt zu haben.
Auffallender Beweis dieses Bundes war sein Vertrauen in ihr handwerkliches Geschick, dessen Wert er über alles stellte. Von nun an durfte sie ihm zur Hand gehen, und nach kurzer Zeit war sie mit einer Aufmerksamkeit und Ausdauer bei der Sache, wie man sie bei Kindern nur selten erlebt. Oft hatte der Großvater Grund, laut herauszulachen, wenn sie ihm ein Werkzeug reichte, noch ehe er gedachte, danach zu greifen.
Nein, sie war nicht taub oder verstockt oder unhöflich oder abweisend, sie brauchte nur zu lange, um - mitunter auch auf anscheinend banale Fragen - zu antworten. Das konnte nur bemerken, wer ihr ein einziges Mal genügend Zeit ließ. Aber dazu kam es nur selten. Beinahe immer gingen weitere Wortschwalle über sie hinweg, noch ehe sie eine Frage ernsthaft hätte erwägen können. Bevor sie eine zumutbare Antwort fand, hörte sie nicht selten abfällige Bemerkungen oder Mutmaßungen über ihren geistigen Zustand. Die Mutter hatte immerhin eine Ahnung. Ihre Gedanken verfliegen sich mal wieder, pflegte sie zu sagen.
Die wichtigste Folge der eindrücklichen vorweihnachtlichen Begebenheit war das Erstarken ihres Selbstwertgefühls. Seit dem kurzen Wortwechsel mit dem Großvater und dem langen Gespräch danach hatte Hanne zunehmend das Gefühl, dass es den anderen nicht wirklich um eine Antwort geht. Es genügt ihnen zu schwätzen, zu plappern, zu albern, zu klatschen, zu lästern, zu prahlen, zu schimpfen, zu jammern. Ja, diese Geschwätzigkeit hatte sie als das Gegenteil der Bedachtsamkeit ausgemacht und als den Hauptgrund ihrer Unverträglichkeit mit der Mehrheit der Leute. Folglich war es ihr zur Gewohnheit geworden, die Menschen in diese zwei Lager zu teilen. Geschwätzige gab es zuhauf. Die Bedächtigen in ihrem Umfeld ließen sich an einer Hand abzählen: der Großvater, der Doktor, der Kunstlehrer. Die Mutter befand sich mit einigen vor allem Gleichaltrigen in einer grauen Zwischenzone all jener, die sich unstet mal der einen, mal der anderen Seite zuneigten. Jörg vom Fremdenverkehrsamt gehörte dazu und natürlich Theresa, die sie in der Stadt kennen- und später lieben gelernt hatte. Wie kein anderer hatte ihr Theresa geholfen, mit der Geschichte vor vier Jahren fertigzuwerden. Sie war nicht gerade bedacht, aber von einer geradezu rührenden Ehrlichkeit, auch sich selbst gegenüber. Obwohl sie kaum älter war als Hanne, hatte sie schon eine Menge Männer ausprobiert und allesamt für zu leicht befunden. Entsprechend war ihr Ruf. Vielleicht hatten sie darum so schnell zueinandergefunden. Beinahe alles, was Hanne über Männer und den zweckmäßigen Umgang mit ihnen wusste, hatte sie von Theresa gelernt, die schon als Kellnerin gearbeitet und da - wie sie es nannte - gute Jagdbedingungen vorgefunden hatte.
Seit der Begegnung mit Theresa betrachtete Hanne die Welt immer öfter von einer erhöhten, neutralen Warte aus. Und sie kam zu dem Schluss, dass die meisten Kontakte unter Menschen nur auf Eigennutz gegründet sind. Wenn dem aber so ist, was wollte sie dann mit all den Leuten, die ihr allesamt nicht wirklich nützlich sind und es auch nicht sein können?
Alles, was sie auf dem Hof gehalten hatte, waren der Großvater und Ginger und Fred, die beiden Haflinger, gewesen. Der Großvater hatte sie vor vier Jahren gekauft, um die Trennung von Hanne leichter zu ertragen nach dieser unseligen Geschichte …
Die Mutter tat ihr leid. Aber Mitleid ist kein taugliches Substrat einer Bindung. Daher hatte Hanne beschlossen, ihrem alten Wunsch nachzugehen, die Schutzhütte hinterm Schneefeld zu betreuen.
Das Ziel war erreicht.
Die Hütte empfing sie wie immer halb unter den Felsvorsprung geduckt. Es schaute beinahe so aus, als hätte sich vormals ein Lavastrom, vom Massiv herabstürzend, übers flache Dach der bereits stehenden Hütte ergossen, sowohl oberhalb der Hütte als auch bis in die Talsohle des Abgrunds hinein einen weit vorspringenden, scharfen Grat hinterlassend.
Der kellerlose Bau teilte sich in ein aus Bruchsteinen gesetztes ebenerdiges Geschoss und einen aus gewaltigen Holzbohlen gezimmerten niedrigen Heuboden, der trotz Dachschräge nur im letzten Drittel aufrecht begehbar war.
Die Steinfassade des Erdgeschosses zierten links, also dem Abgrund zu, vier geschlossene Fensterläden. In der Mitte stieg eine fest mit dem Mauerwerk verbundene rostige Leiter zum Heuboden. Ihr schloss sich die blechbeschlagene schwere Eingangstür an. Ganz rechts, am Massiv, unterbrach der Laden des kleinen Klofensters die sorgsam gesetzte Bruchsteinwand.
Die zum Abgrund hin beinahe spitz zulaufende Holzbohlenfassade des Heubodens wurde von der Doppeltür oberhalb der rostigen Leiter beherrscht. Es gab noch drei Bullaugen, zwei links, eines rechts der Bodentür, der Schräge des Daches folgend von innen betrachtet in Knie-, Bauch- und Brusthöhe.
Nah dem Abgrund und vor diesem mit einer Bruchsteinmauer geschützt lief ein schmaler Weg um die Hütte herum vorbei an zwei weiteren Fenstern zur Rückseite der Hütte. Hier ging es nicht weiter. Die Hütte stand am Ende des sich abrupt verengenden Schneefeldes.
Der schon erwähnte Grat, der sich vom Gipfel des Massivs nur ein paar Schritte hinter der Hütte und diese zum Teil überdeckend bis ins Tal zog, bildete eine Barriere, die nur von erfahrenen, gut ausgerüsteten Kletterern zu überwinden war.
Hanne rang nach Luft, um zu sich zu kommen. Mit der noch immer gleichen Erregung wie einst betrachtete sie die bronzene Tafel rechts zwischen Tür und Felswand. Hier erfroren in der ‘ Silvesternacht 1921 ‘ Lothar Mumm ‘ 13.09.1897 ‘ Anne Minne Mumm ‘ 26.05.1902 ‘ So endete ihre ‘ Hochzeitsreise.
Hanne kannte die acht Zeilen auswendig, auch die sieben Zeilen der Gedenktafel auf der gegenüberliegenden Seite der Hütte, die zwar mit 115 zu 105 Zeichen etwas länger waren, aber weniger erhellend. Am 22. Jänner 1920 ‘ endete an dieser Stelle ‘ der Weg von ‘ Alma und Josef Ehrenfried ‘ in eiskalter Nacht. ‘ Ihr Leben hatte gerade erst ‘ begonnen. Viele Geschichten hatte Hanne um die kargen Hinweise herum erfunden und nach allen Seiten ausgeschmückt. Anne Minne war so alt gewesen, wie sie jetzt. Mumm. Mumm hatten wohl beide nicht, andernfalls hätten sie sich nicht der Kälte und damit dem traurigen Schicksal ergeben. Aber wer weiß, was war? Man soll nicht richten, wenn man nicht alles weiß. Und was heißt alles? Und wem ist mit dem, was da auf den Tafeln steht, gedient oder geholfen?
Hanne löste die Skier und stellte sie samt Stöcken zwischen Hauswand und Leiter. Mit müden Beinen stapfte sie zur Gedenktafel, um den Fensterladen des Klofensters zu öffnen, das sich in Scheitelhöhe über der Tafel befand. Nachdem sie sich den Schnee von den selbstgestrickten Gamaschen geklopft hatte, öffnete sie behutsam die nicht abschließbare Außentür, mit der Unterkante einen Viertelkreis in den angewehten Schnee schiebend. Während sie die trockene Innentür aufdrückte, zog sie die schwere Außentür hinter sich zu.
Im Windfang war es düster. Noch stand sie vorm schweren, moosgrünen Vorhang. Links hoben sich allmählich die grünen Kacheln der Seitenwand des Stubenkamins aus dem Dunkel, der auf diese Weise, gut beheizt, auch den Windfang und das Klo dürftig mit Wärme versorgen konnte. Vor der Kaminwand stand ein flacher Schuhschrank mit aufgestelltem Spiegel. Das Licht schien spärlich rechts durchs Klofenster über die beiden fast bis zur Decke aufstrebenden Flügeltüren des Trockenklos, die sich nur nach innen öffnen und bei Benutzung mit den Füßen sperren ließen.
Hanne erinnerte sich der Hüttenbesuche mit dem Großvater. Nie hatte sie die Räume vor ihm betreten dürfen. Immer war er vorausgegangen, um sie nach eingehender Untersuchung nachkommen zu lassen. Es war ja stets möglich, auf Dinge zu stoßen, die man besser nicht gesehen hätte. Der Gedanke, der Großvater opfere womöglich seinen Seelenfrieden für sie, hatte sie jedes Mal erschauern lassen in den langen, bangen Momenten, da sie allein vorm Haus hatte zurückbleiben müssen. Sie bewunderte ihn für seinen Mut und seine Ritterlichkeit.
Durch den schweren, spinnbewebten Vorhang trat sie in den Vorraum, der wie der Windfang nur zwei Schritte tief, aber um den Kloverschlag breiter war. Auch hier war der Boden mit gebrannten Fliesen versiegelt.
Geradezu, hinter hölzernen Trennwänden, die in der Mitte durch eine eisenbeschlagene, brusthohe Schiebetür verbunden waren, lagen - bis knapp unter die Decke gestapelt - etliche Festmeter Kaminholz, sodass das Licht vom schmalen Fenster an der gegenüberliegenden Wand durch unzählige Spinnennetze kaum zu ihr drang.
Rechter Hand, zwischen der Seitenwand des Klosetts und der Trennwand zum Holzlager, stand ein massiver, mannshoher Vorratsschrank. Vorsichtig zog Hanne die beiden schweren Türen auf. Das Knarren war schauderhaft. Aber kein Tier, kein Gespenst sprang ihr entgegen. Den mittlerweile auf die Düsternis eingestellten Augen bot sich ein gewohntes Bild. Hannes Blick streifte die hohen, dicht verschlossenen Vorratsgläser für Mehl, Zucker, Reis, Gries, Nudeln, Salz, Semmelmehl, Erbsen und Stärke. Ein zehntes Glas war mit vielen kleinen Tüten gefüllt, Gewürze zumeist, aber auch Puddingpulver und Vanillezucker und Kakao. Das meiste davon hatten sie selbst bei ihren Besuchen mitgebracht. Da sich wohl noch nie jemand die Mühe gemacht hatte, alte Konserven auszusondern, verwahrte der Schrank wohl noch Dosen, die nicht weniger alt sein mochten als die Hütte selbst. Im untersten Fach lagen Seile, Stricke, Lederriemen, Ketten, eine Ölkanne und eine Fettspritze. Das Fach darüber barg rostiges Werkzeug und in drei Setzkästen ebensolche Schrauben, Nägel, Haken, Scharniere und dergleichen. Die beiden mittleren noch leeren Fächer waren der Lagerung frischer Lebensmittel vorbehalten. Die sollten in den nächsten Tagen schnell gefüllt werden. Mit diesem Vorsatz schloss Hanne die Türen mit den fetthungrigen Scharnieren.
Dem Vorratsschrank gegenüber und ebenso breit ging die Tür zur Stube. Hier war es stockdunkel. Hanne tastete sich durch den Raum. Sie war weniger kaltblütig, als sie gehofft hatte. Dem Geruch zufolge konnte wenigstens kein Toter im Weg liegen. Nachdem es ihr gelungen war, das erste Fenster zu öffnen und die ausgehakten Läden nach außen zu stoßen, vertrieb das Licht den Schauder des Ungewissen. Hanne blickte sich um und fand alles vertraut und unbeschädigt. Sie öffnete auch noch die Läden des zweiten Fensters zum Schneefeld zu und die der beiden Fenster Richtung Abgrund. Gleißendes Licht drang nun selbst in die abgelegenen Winkel der Stube.
Es zog kalt durch den Raum. Hanne schloss die Tür. Ihre Hand glitt übers vertraute Inventar, den großen, kalten Kamin, weiter an den beiden Ostfenstern vorbei über den gusseisernen Herd und die kleine Küche mit dem nötigen Kleinkram und Geschirr, zur Eckbank mit Tisch und drei Stühlen, sprang dann an den beiden Südfenstern und der Garderobe vorbei zum gewaltigen Schrank an der gegenüberliegenden fensterlosen Wand. Durch einen Vorhang, gleich dem im Windfang, trat sie in den engen Verschlag zwischen die beiden Betten. Auf den kniehohen Bettkästen lagen drei Matratzen. Jeweils zwei davon konnten auf den Fußboden vorm Schrank und auf die mit wenigen Handgriffen herzurichtende Sitzecke gelegt werden, um bei Bedarf zwei zusätzliche Doppelschlafplätze zu gewinnen. Im linken Bett - an der groben, kühlen Rückwand des Hauses - hatte der Großvater geschlafen; sie rechts an der hölzernen Trennwand, deren Oberkante zugleich Treppengeländer zum Heuboden war. Hanne setzte sich aufs Bett des Großvaters und strich sanft über die verwaiste Matratze. Vorhang und Trennwand schirmten die Schlafstätte vom Licht der vier Fenster. Nur zum Vorhang zu hatte die Trennwand eine Öffnung, direkt vor der Treppe nämlich, bevor der Handlauf und mit ihm die Wand nach oben strebte. Wie oft hatte Hanne an den langen Abenden in ihrem Bett gekniet und heimlich über den Handlauf hinweg den lesenden oder schreibenden Großvater beobachtet, der bis spät in die Nacht am Tisch bei der Funzel saß. Hanne verließ den Verschlag und ging um die Trennwand herum Richtung Tür der steilen, wie auf Schiffen üblichen Treppe zum Heuboden zu, unter der kleingehacktes Holz und Papier in ausreichender Menge zur Hand waren, um rasch ein Feuer in Gang zu bringen. Vom gestapelten Holz zum Kamin oder Herd war es nur ein Katzensprung. Hier schloss sich die Stubenrunde.
Die Hütte bot Hanne in allem ein Willkommen und war doch nicht für sie hergerichtet. Sie konnte bleiben, bis sich der erste im Ort an ihrer Anwesenheit stieß. Alle wurmt es, wenn die Hütte leer steht, hatte der Großvater geklagt, aber wenn jemand sie aufsucht, um ein paar gute Tage in ihr zu verleben, dann stoßen sie sich erst recht daran.
Hanne ließ den Rucksack auf den Tisch gleiten, band das Kissen ab und drückte ihr Gesicht in den kühlen Stoff mit dem vertrauten Duft. Dieses Kissen hatte sie schon auf die Hüttengänge mit dem Großvater begleitet. Es fühlte sich an wie ein Stück Zuhause, was dieses Wort auch immer bedeuten mag.
Auch den schweren Mantel warf sie ab, um ihn an die helle Garderobe zwischen die Südfenster zu hängen. Wieder bewunderte sie die Arbeiten des Schmieds. Zweifellos waren sie die Zierde der Hütte: der elegant geschwungene, fünfbeinige Ständer für die blauemaillierte Waschschüssel und den zugehörigen Krug, aber auch die dichten Verzierungen des Herds, das schwere Kaminbesteck, das verspielte Schutzgitter vorm Kamin und eben diese beeindruckende Garderobe. Alle Formen waren weich und kamen ohne scharfe Kanten oder Spitzen aus. Das rostige Eisen zierten vor allem an den Verbindungsstellen und Endpunkten schwarze Kugeln, die vormals golden geglänzt hatten. Nur an Türen und Schränken, wo ähnliche Messingkugeln als Klinken und Griffe dienten, hatten die am häufigsten gebrauchten noch einen güldenen Hauch bewahrt.
Hanne legte ihre glühende Hand um eine der kalten Kugeln. Bald werden alle wieder glänzen wie einst. Wie oft hatte sie diese Kugeln gezählt? immer wieder, bis sich ein Ergebnis als das am häufigsten wiederkehrende herausgestellt hatte. Sechsundvierzig. Wahrscheinlichkeit ist kein Indiz der Wahrheit, hatte der Großvater sie gerügt. Von da an hatte es ihr keinen Spaß mehr gemacht, zu zählen, weil es ja doch vergeblich war. Dem Großvater war es wohl ein Vergnügen gewesen, sie solchermaßen über das Wesen der Wahrheit aufzuklären. Auch Glaubhaftigkeit war kein Indiz, und Verständlichkeit war keins, auch Einfachheit nicht, Erträglichkeit erst recht nicht. Die Antwort auf ihre Frage, was denn nun aber ein Indiz der Wahrheit sei, war ihr der Großvater bis zuletzt schuldiggeblieben …
Hanne strich zärtlich über die schon etwas angewärmte Kugel. Nicht weniger bewundernswert als die handwerkliche Kunst des Schmieds war der Umstand, dass all die Gegenstände nach so langer Zeit - ganz und gar ungeschützt - noch immer vorhanden waren. Das ging ihr erst jetzt durch den Sinn.
Für Hanne hatte es keine schöneren Tage und Wochen gegeben, als jene mit dem Großvater in dieser Hütte. Alles erinnerte an ihn. Jeder Gegenstand, jeder Geruch, jede Lichtstimmung, jedes Geräusch war mit Geschichten und Erlebnissen verwoben. Das meiste, was sie gelernt hatte, hatte sie hier und von ihm gelernt; wie man Feuer macht, zum Beispiel. Bald knisterte es schüchtern im Kamin. Hanne legte einige gewaltige Kloben nach, verstaute die mitgebrachten Sachen im Vorratsschrank und ging daran, alle Winkel und Flächen der Hütte zu kehren, die Fenster zu putzen und alle Scharniere zu fetten, alles so, wie es ihr der Großvater beigebracht hatte.
Er und hernach auch sie hatten zum kleinen Kreis der heimlichen Nutzer der Hütte gehört. Zu allen Jahreszeiten waren sie die dreiundzwanzig Kilometer bis zur
Hütte gewandert oder per Ski oder mit dem Schlittengespann unterwegs gewesen. Sie hatten prächtige Tage erlebt, und dem Großvater war es ein Vergnügen gewesen, die von der Gemeinde gestellten Lebensmittel genussvoll zu verzehren, damit es wenigstens gelegentlich so aussah, als wenn die Hütte einen Sinn erfüllt. Leider wussten viel zu viele von diesem Missbrauch. Rudolph Berggruber war allen Vorwürfen mit dem Argument begegnet, dass sich ja ein jeder den Spaß gönnen kann, der nicht lieber träge seinen Arsch breitsitzt. Natürlich hatte er noch immer die Spesen hernach bezahlt.
Als es dem Kaminfeuer gelang, die Kühle aus der Stube zu drängen, war Hanne fertig mit der Grobreinigung. Sie zog die schweißnassen Sachen aus und verteilte sie im Vorraum auf alten Bügeln. Das ergab kein besonders ergötzliches Bild. Vor allem die ausgebattelte, lange Unterwäsche bot einen traurigen Anblick. Hanne ging nach draußen, rieb mit Schnee den nackten Leib ab, bis er glühte, hüllte sich in eine der alten Decken, legte sich auf ihr vertrautes Bett an der Wand zur Treppe, schob sich das Kissen unter den Kopf und betrachtete die dunklen, rissigen Balken der Stubendecke.
Sie dachte an die Mutter, die sie zurückgelassen hatte und die nun ebenso allein war wie sie. Nur - anders als sie - hatte die Mutter die Einsamkeit nicht gewählt. Ganz allein ist sie ja nicht. Sie hat Ginger und Fred. Hanne wusste, dass die Mutter keine Pferde mag. Wie kann man Pferde nicht mögen? Allein sein wollen und allein sein müssen sind zwei verdammt unterschiedliche Dinge, hatte der Großvater gesagt, damals, vor vier Jahren, als sie ihn alleingelassen hatte nach der Geschichte. Daran mochte sie jetzt nicht denken; nicht an die Geschichte und auch nicht an die Flucht in die Stadt zu Tante Vroni. Es ging ja nicht anders. Sie sah das traurige Gesicht des Großvaters. Vergeblich versuchte sie, die Gedanken in eine andere Richtung zu zwingen. Die Mutter hatte ihr damals geraten, vorübergehend zu ihrer Schwester zu ziehen, weit weg vom Getratsche und Gehechel. Aus dem vorübergehend waren dann drei Jahre geworden. Ein wenig Ruhe hatte sie gefunden, damals, als die Geschichte in aller Munde war.
Auch der Gedanke an die Mutter machte sie schwermütig. Trotzdem fühlte sie sich erleichtert und befreit. Wie konnte sie diesen verlassenen Winkel dem vertrauten Hof vorziehen? War sie verrückt? Haben die Leute doch recht? War die Geschichte damals passiert, weil sie war, wie sie war? War sie die einzige, der solche Geschichten passieren können?
Als sie erwachte, dämmerte es schon. Die Glut im Kamin warf ein mattes Licht. Nur widerwillig wand sie sich aus der Decke. Ihre Sachen waren fast trocken. Sie hängte die Bügel mit der Unterwäsche vor den Kamin und genoss die Wärme. Der wabernde Widerschein der Glut spiegelte sich auf ihrem nackten Leib. An die warmen Kacheln gestützt, beugte sie sich immer weiter nach vorn Richtung Glut, bis die Hitze nicht mehr zu ertragen war. Sie zog die Unterwäsche an und auch noch eine leichte Hose und den Pullover. Mit einem Teil der Kaminglut heizte sie den Herd. Sie befeuerte den Kamin aufs Neue und stellte den Wassertopf mit einem Berg Schnee auf den Herd.
Dann machte sie sich daran, das Holz aus dem Vorraum zu räumen und hinterm Haus zu stapeln, um Platz für Ginger und Fred zu schaffen, die sie so bald als möglich nachholen wollte. Sie grub sich durch staubschwere Spinnweben dem Licht entgegen und warf die Scheite - die sie griff, wo immer sie zu fassen waren durchs geöffnete Fenster. Auf diese Weise sparte sie viele Wege ums Haus. Die Kälte nahm sie in Kauf. Sie geriet schnell in Schweiß, kam aber gut voran. Als sie in meist liegender Haltung eine schmale Spur abgetragen hatte, konnte sie sich in der Mitte schon im Entengang auf den kantigen Scheiten bewegen. Selbst das zuletzt gelieferte Holz mochte Jahrzehnte alt sein. Anfangs hatte man sich wohl noch die Mühe gemacht, vor der Anlieferung der Jahresvorräte zu schauen, was vonnöten ist. Später war man, den Weg sparend, ohne Bestandsaufnahme losgefahren mit Lebensmitteln, Stroh und Heu und einem Viertel Klafter Holz. Irgendwann hatte man Stroh und Heu und Holz aus Platzmangel oder zu geringen Verbrauches wegen einfach weggelassen. Hanne arbeitete wohl bereits in einer Region des Holzdiemens, die ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel haben mochte.