Der Zwischenmann - Sabine Wolf - E-Book
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Sabine Wolf

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Beschreibung

Abgeschlossene romantische Komödie

 

Sie kennen den Homo Sympaticus nicht? Wissen nicht, wie das mit dem Sterben eigentlich geht? Haben keine Ahnung, wie man wieder auf die Beine kommt, wenn einem gerade das eigene Leben, in dem man sich eingerichtet hatte, um die Ohren fliegt? Begleiten Sie Carola auf ihr größtes Abenteuer, auf das sie sich widerwillig einlassen muss!!

 

Carola steht unerwartet mit ihrer sechsjährigen Tochter Jolie alleine da.

Als wäre das nicht schlimm genug, mischt sich ihre Mutter sowohl bei der Wohnungs- als auch der Jobsuche in ihr Leben ein. Übergangsweise -damit ihre Mutter nicht länger nervt- lässt sie sich darauf ein.

 

Ihre Freundin empfieht als Flirtübung einen 'Zwischenmann', jemanden, an dem Carola eh nichts liegt und an dem sie ihre 'Flirtskills' auffrischen kann. Da bietet sich der neue Nachbar doch vielleicht an ...?

 

 

 

 

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Sabine Wolf

Der Zwischenmann

Für meine drei Testleser :-) Übrigens ... Wenn Ihnen das Buch gefallen hat, wäre es sehr nett, wenn Sie es fünf Freund:innen empfehlen würden (da ich kein Social Media nutze, ist meine Reichweite nämlich verschwindend gering). Sollte es Ihnen nicht gefallen haben, empfehlen Sie das Buch einfach fünf Leuten, die Sie nicht leiden können ;-) In beiden Fällen vielen Dank, dass Sie es überhaupt gelesen haben!BookRix GmbH & Co. KG81371 München

1

 

„Soll ich dir denn schnell noch beim Auspacken helfen?“

„Ach, ähm, ich mach das später, Mama.“

„Ich könnte schon mal das Geschirr kurz durchspülen oder dir die Wäsche zum Lüften auf den Balkon hängen.“

Hatte sie Carola überhaupt zugehört? Hatte sie ihr überhaupt jemals zugehört?

Die ganze Situation ging ihr sowieso schon genug auf den Zeiger, da brauchte ihre Mutter Brigitte sich jetzt nicht noch als Samariterin aufzuspielen.

Carola zog allen Ernstes in das Haus zurück, in dem ihre Mutter seit Menschengedenken lebte. Dabei war sie dermaßen froh gewesen, diesen Stadtteil, der mit den Jahren immer schäbiger geworden war, und die damit verbundene Nachbarschaft hinter sich zu lassen. Jedes Haus, jeder Einwohner und jedes hier geparkte Auto (wenn es denn Autos waren und nicht Mofas) schrie billig, billiger, noch billiger.... Die Arbeitslosenquote war trotz bester Konjunkturbedingungen noch immer höher als in allen anderen Stadtteilen ringsherum, von weiter weg ganz zu schweigen. Es gab mindestens drei wilde Müllhalden, die die Stadt trotz regelmäßiger Säuberungsaktionen nicht ausgerottet bekam, und es gab nicht eine Häuserwand, die frei von hingeschmierten Graffitis war - und wir sprechen hier nicht von kunstvoll gestalteten Bildern sondern von schlecht gemachten Schriftzügen, sogenannten tags.

Dabei war ihre Nachbarschaft noch vor kurzem eine ganz andere gewesen. Sie hatte mit ihrem Mann Michael und der gemeinsamen Tochter Jolie, die mittlerweile schon 6 Jahre alt war, in einem wunderschönen Einfamilienhaus mit 24 Quadratmeter großer Terrasse und fast 200 Quadratmeter großem Garten gelebt. Dieses Haus hatte in einem beschaulichen, gepflegten Vorort gelegen, der zwar rein geografisch nur wenige Kilometer entfernt lag, gesellschaftlich lagen allerdings Welten dazwischen: ihre Nachbarn waren allesamt Ärzte, Anwälte oder andere Akademiker gewesen, im gehobenen Beamtendienst oder mindestens mal Abteilungsleiter mit nur noch sehr wenigen Vorgesetzten bis in die absoluten Spitzenetagen.

Doch diese Zeiten waren vorbei.

Michael hatte sie betrogen. Mit einer Arzthelferin, über die er noch kurz nach deren Arbeitsbeginn gemeint hatte, dass sie wohl andere Qualitäten als rein fachliche haben müsse, wenn sie mit einem derart guten Zeugnis von ihrem alten Arbeitgeber zu ihm wechselte. Bei diesen Worten hatte er die Handflächen so geöffnet, als hielte er zwei große Pampelmusen gegen seinen Brustkorb gedrückt.

Damals hatten sie beide darüber gelacht.

Er meinte, er hätte ja noch bis Ende der Probezeit, um sich ein Bild zu machen...

Doch dann, am Freitag vor drei Wochen...

Carola hatte die beiden gesehen. Bei ihrem Lieblingsitaliener. Zwischen den Rotweingläsern hatte seine Hand auf ihrer gelegen. Dabei hatte er sie angelächelt und sie hatte lachend den Kopf in den Nacken geworfen, wodurch ihre langen Haare und das pralle Dekolleté hervorragend in Szene gesetzt wurden.

Und ihr hatte er erzählt, er müsse noch Patientenberichte schreiben ...

Den Glauben an die große, ewige, treue und hingebungsvolle Liebe hatte sie schon begraben, bevor sie Michael überhaupt kennen gelernt hatte. Das war doch nur eine utopische Vorstellung, die kleinen Mädchen hübsch verpackt in Prinzessinnen-Geschichten eingetrichtert wurde.

Wahrscheinlich, damit genau die Männer, die die Geschichten in die Welt setzten, Jahre später jemanden hatten, der ihnen den Haushalt schmiss. Gegen diese Vorstellung hatte Carola sich schon immer gewehrt.

Sie verglich die Menge an glücklichen Ehen immer mit der Anzahl an bösen Witzen über unglückliche Ehepaare. Ehepaare, die sich gegenseitig das Leben zur Hölle machten und einander wohl eher schadeten als nützten. Und dann die Menge an Scheidungen!! Jede dritte Ehe wurde heutzutage geschieden. Und von den zwei Dritteln, die verheiratet blieben, waren garantiert die wenigsten richtig glücklich miteinander. Sie hätte gern mal Mäuschen gespielt in einigen Beziehungen, um zu sehen, ob hinter der idyllischen Vorstadtehe überhaupt etwas stand, das man Beziehung nennen konnte. Sie tippte höchstens die Hälfte. Das Wort Wohngemeinschaft traf wohl weit häufiger zu. Bei einer Chance von nur 33 Prozent auf eine gute Ehe schien ihr das Risiko, ihr Leben zu verwetten, zu groß.

Genau das war der Grund gewesen, weshalb sie den Heiratsantrag, den Michael ihr gemacht hatte, abgelehnt hatte. Wenn man das Gemurkse überhaupt Heiratsantrag hatte nennen können: er hatte - als sie mit Jolie im fünften Monat schwanger war - während der zweiten Werbeunterbrechung von Pretty Woman, den sie zum x-ten Mal sahen, gefragt, ob es nicht an der Zeit sei zu heiraten. Nein, Antrag konnte man das nicht nennen, maximal ging es als Vorschlag durch.

Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass die Phase der wirklichen Verliebtheit bei den meisten Paaren nach etwa zwei Jahren nachließ. Da bildeten nur ganz wenige die Ausnahme und freuten sich immer noch wie Teenager, wenn der Partner endlich von der Arbeit nach Hause kam. Dass also nach mehreren Jahren Wolke sieben sich reduziert hatte, war eher normal als merkwürdig. Es lief sogar ein Lied im Radio, bei dem jemand zugab, lieber auf Wolke vier mit dem aktuellen Partner zu sein. Carola fühlte sich hierdurch in ihrer Ansicht bestärkt. Obwohl sie natürlich das Klischee des Liedes voll erfüllte: unten ganz allein...

Anfangs lief sie mit Michael tatsächlich händchenhaltend und dauergrinsend durch die Gegend. Trotzdem hatte sie nie das Gefühl gehabt, richtig verliebt zu sein.

Dieses Gefühl kannte sie nur aus Spielfilmen: wenn der Held die Heldin lange schmachtend ansah, sie seinen Blick erwiderte und beide ihre Köpfe neigten, um sich kameratauglich zu küssen, in einem Meer von Menschen, in dem sie scheinbar nur noch sich selbst wahrnahmen, dazu romantische Musik und teintfreundliche Beleuchtung - perfekt. Oder wenn beide sich nach zig Missverständnissen endlich gegenüberstanden und gleichzeitig erkannten, dass der jeweils andere die Liebe des Lebens war. Dann bekam sie für den Bruchteil einer Sekunde so ein wehmütiges Ziehen in der Magengegend, das für sie das ultimative Liebesglück darstellte. Ungefähr so, als hätte man einen fünf Kugeln Eis umfassenden Eisbecher mit Sahnehaube und einem übergroßen Schuss Eierlikör vor sich und der wäre auch noch gänzlich kalorienfrei!! Dieses Gefühl stellte sie sich als wahre Liebe vor. Einzigartig. Kurz. Vor allem aber: völlig unrealistisch, utopisch, Film halt.

Daher hatte sie Michael unmissverständlich klar gemacht, dass sie niemals durch eine Hochzeit zu einem Heimchen am Herd verkommen wollte. Auf den kurzen Moment des Prinzessinnen-Gefühls in einem weißen Baiser-Albtraum verzichtete sie gerne, wenn sie dafür auch von Streitereien, Eintönigkeit und Lethargie verschont blieb. Gleichzeitig kam sie sich mit dieser Ablehnung des Heiratsantrages vor wie die absolut unabhängige, selbstbewusste und moderne Frau. Sie hatte es gar nicht nötig, zu heiraten!

Klar konnte sie ihn gut leiden. Und auch die Vorteile des gemeinsamen Lebens waren nicht von der Hand zu weisen: sie hatte jemanden, der den Lebensunterhalt für sie drei verdiente, einmal im Monat etwas mit ihr unternahm (Jolie blieb dann manchmal bei ihren Schwiegereltern oder schlief bei einer Freundin, für diese Übernachtung musste sie dann aber meist ein entsprechendes Gegenangebot machen) und sie musste auch nicht alleine in dem freistehenden Haus schlafen, was ihr immer ein wenig unheimlich war. Michael war keine Ausgeburt an Ideenreichtum (den hob er sich wohl für die Arbeit auf) oder Fröhlichkeit, er war aber immer zuverlässig und vertrauenswürdig - durchschnittlich in jeder erdenklichen Hinsicht.

Nun ja, das mit dem vertrauenswürdig musste sie rückblickend wohl doch streichen.

Sie fühlte sich eigentlich auch wie auf Wolke vier. Aber lag nicht gerade da auch der Unterschied zwischen „Verliebtsein“ und „sich lieben“?? Möglicherweise war das ja mit dem Lied gemeint. Nach dem Motto: wenn man sich auf Dauer auf Wolke vier halten konnte, wäre ja schon mal viel geschafft.

Wolke vier war nun passé. Sie hatte ihn, als er nach dreiundzwanzig Uhr nach Hause kam, angesprochen (leider liefen ihr doch Tränen, als sie die Worte formulierte, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, nicht zu weinen) und er hatte noch nicht einmal versucht, die Affäre zu leugnen. Geschweige denn, sie durch Liebesbeteuerungen und Bitten um Verzeihung zurückzugewinnen.

Und hatte dann noch die Dreistigkeit, ihr die Schuld zu geben!! Sie sei langweilig geworden, habe sich ja auch körperlich etwas gehen lassen (hey, sie war doch schon seit zwei Wochen wieder auf Diät und hatte schon 600 Gramm abgenommen) und die Beziehung sei halt nicht mehr wie früher. Er wolle jemanden, der ihm eine unbeschwerte Freizeit ermögliche und ihn auch körperlich reize.

Sie hätte ihm sooo gerne widersprochen...! Ihm an den Kopf geworfen, dass er weder das Aussehen von Brad Pitt, den Geist von Einstein noch die Mittel eines saudischen Prinzen hatte. Doch vor lauter Weinen, Verzweiflung und Hilflosigkeit kriegte sie kein Wort raus. Sie konnte nur in einer Tour heulen.

Er hatte angeboten, für ein bis zwei Wochen in ein Hotel zu ziehen, damit sie sich in Ruhe eine Wohnung suchen könnte.

Das Fatale wurde ihr schlagartig bewusst: Da die beiden nicht verheiratet waren und das Haus von Michael gekauft wurde, hatte sie kein Anrecht, dort wohnen zu bleiben! Sie würde das große Badezimmer, die schöne Einbauküche mit Kochinsel und den so liebevoll angelegten Garten abgeben müssen!!

So also fühlte sich das an, wenn die Menschen davon sprachen, vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens zu stehen.

Rumms: Absturz von Wolke vier auf den überaus harten Boden der Realität. Sie fühlte sich platt wie eine Zeichentrickfigur, die gerade von einem Auto überfahren worden war. Nur würde sie nicht in der nächsten Szene wieder topfit und grinsend durch die Gegend flitzen.

Die ersten beiden Tage hatte sie noch gehofft, dass er sich schon wieder einkriegen würde, sie um Verzeihung bitten würde, seinen Fehler bemerken würde. Sie hatte versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen, aber er hatte beim ersten Anruf nur gesagt, er brauche jetzt Abstand, und sie später immer weggedrückt. Sie hatte mehrere Nachrichten geschrieben, jedoch nur eine mit dem Inhalt, wenn mit Jolie was sei oder sie sonst Hilfe bräuchte, sollte sie ihn per SMS kontaktieren, zurückerhalten.

Giftig hatte sie zurückgeschrieben: „Bevor ich dich um Hilfe bitte schlafe ich unter der nächsten Rheinbrücke! Ich bin schließlich nicht doof und brauche bestimmt keine Hilfe von einem Lügner und Betrüger. Ich sch... auf deine Hilfe.“

Michael hatte sich nicht die Mühe gemacht, zu antworten.

Sie hatte sogar versucht, ihn bei seinen Eltern zu erreichen. So verzweifelt war sie!! Insbesondere seine Mutter Henriette würde kein gutes Haar an ihr lassen, da war Carola sich sicher. Sie gab Carola immer das Gefühl, nicht gut genug für ihren Michael zu sein (Henriette sprach nie von „Michael“ sondern ausschließlich von „ihrem“ oder „unserem“ (wenn Karl, Michaels Vater, dabei war) Michael).

Karl war da anders: ein Quäntchen gelassener, ein Quäntchen neutraler und ein Quäntchen sympathischer. Allerdings hielt er sich aus Henriettes ungerechtfertigten Anklagen meistens raus. Wenn man ihn zu seiner Meinung fragte, kam höchstens ein verständnisvolles Brummen zu Tage, meist jedoch beschränkte er sich auf ein Schulterzucken, als sei er ohnehin machtlos gegen Henriette, die alte Giftspritze. Auch so eine Ehe, die eher wie eine Verurteilung auf Lebenszeit wirkte!

Carola hatte eigentlich keinen Grund gehabt, zu klagen, schließlich hatte sie es geschafft, dem Leben, dass ihre eigene Mutter führte, zu entkommen. Sie hatte ihren Job in einem Fotolabor, den sie sowieso nie gemocht hatte, hingeschmissen, als Jolie geboren wurde, weil sie es nicht nötig hatte, zu arbeiten und gab quasi das Geld aus, das Michael verdiente. Was sollte sie sich denn da beschweren? Viele Frauen hätten gerne getauscht.

Hier und da überkam sie mal eine gewisse Unzufriedenheit: sie dachte an die großartigen Träume, die sie zur Schulzeit gehabt hatte und die von Tierschützerin über Ärztin in der dritten Welt bis zur Erfinderin und Bundeskanzlerin reichten (Bundeskanzlerin war damals noch eine Wortschöpfung von ihr, die sie erfunden hatte, nachdem Helmut Kohl abgewählt worden war. Bis dahin dachte sie, es sei ein Erbposten, den er sein Leben lang inne hatte, wie ein König... Ob es den Kindern heute mit Frau Merkel genauso ging??).

Sie war halt dann und wann etwas unterfordert. Sich NUR um Haushalt und Kind zu kümmern war aufgrund der Größe des Hauses zwar zeitlich aufwendig, aber intellektuell verlangten ihr Gartenarbeit, Bügelwäsche und Kinderbetreuung nicht gerade viel ab. Und ab und an beneidete sie sogar die Frauen, die halbtags arbeiten gingen. Ihr zumindest verschaffte es einfach keine große Befriedigung, den Staub vertrieben, das Wohnzimmer aufgeräumt oder das Geschirr weggespült zu haben.

Bei einem Besuch bei Dr. Hausmann, dem Kinderarzt ihrer Tochter Jolie, vor einem guten Jahr hatte sie mit einer Mutter von Zwillingen gesprochen, die zusätzlich noch halbtags in einer Kanzlei arbeitete. Diese gab zwar zu, dass es eine ordentliche Kraftanstrengung war, Familie und Beruf zu haben, aber betonte auch, dass sie manchmal geradezu froh war, sich nicht nur über Kinderkrankheiten und Entwicklungsfortschritte zu unterhalten, sondern auch mal ganz „erwachsene“ Gespräche zu führen. Carola hatte damals genau gewusst, was gemeint war. Wie oft beneidete sie auch Michael um die Gespräche, die er mit Fachkollegen führte, um die Weiterbildungen, die er besuchte und bei denen er andere Menschen kennenlernte, und um die wichtigen Entscheidungen, die er für die Praxis traf. Was entschied Carola? Welche Blumen im Vorgarten standen, welche Farbe das Esszimmer bekam und in welche Musikschule Jolie gehen sollte ... Super ...

Dabei hatte Michael sie durchaus öfters ermutigt, selbst arbeiten zu gehen, aber sie hatte nie den richtigen Dreh gefunden. Mal schob sie es auf die Kindergarten-, später Schulzeiten von Jolie, mal auf die falsche Jahreszeit (im Herbst: „nächsten Sommer werde ich....“, im Sommer: „jetzt im Sommer nicht, aber wenn es kühler wird...“) und später hatte sie sich so in ihren Trott aus Taxi für Jolie oder Henriette und Haushalt eingefunden, dass auch nichts mehr daraus wurde ...

Sie hatte ihr Gejammer ihrer Freundin Sandra gegenüber immer als Luxusgejammer abgetan, der schon wieder vergehen würde.

Jetzt fand sie ihre Bestandsaufnahme leider mehr als ernüchternd: sie war 38, hatte eine 6-jährige Tochter, keine Ausbildung (sie hatte nur ein abgebrochenes Studium und die Tätigkeit in dem Fotostudio vorzuweisen) und kein eigenes Einkommen.

Und ihre kostenlose Unterkunft hatte sie nun auch noch verloren...

Natürlich hatte sie auch ein paar ihrer Freundinnen angerufen, in der Hoffnung, dass von denen eine mal etwas von einem Jobangebot gehört hätte. Wenn sie wüsste, mit welchen Einkommen sie rechnen könnte, wäre es viel einfacher gewesen, sich auch eine adäquate Wohnung zu suchen.

Ellen aus dem Yoga-Kurs hatte herumgedruckst als hätte sie plötzlich angefangen zu stottern, so dass Carola noch mit einigem Stolz das Gespräch beendete.

Sonja (ebenfalls Yoga) konnte gar nicht glauben, dass Carola und Michael sich trennten, bedauerte Carola zwar, gab sich sonst aber plötzlich sehr distanziert.

Margret von der Walking-Truppe sagte Carola knallhart, dass sie einen weiteren Umgang mit Carola aufgrund der Position, die ihr Mann bei der örtlichen Sparkasse innehatte, nicht wünschte. Hallo? Was hatte denn das eine mit dem anderen zu tun? Carola konnte gar nicht glauben, was hier gerade passierte. Sie war doch schließlich keine Geächtete, die irgendeinen schlechten Einfluss nehmen konnte.

Judith, mit der sie immer einen Latte Macchiato trinken ging, wenn Jolie und Judiths Tochter Natalia zum Klavierunterricht gingen, sagte, dass ihre Kontakte „soo gut auch nicht seien“ und sie ja eh nicht so gut befreundet waren wie ihre Männer. Untreue Verräterin!!

Selbst die pummelige Kristin, die noch mehr auf die Waage brachte als Carola und sich von Carola immer schön hatte abholen lassen, um zum Schwimmbad kutschiert zu werden (Aquafitness), ließ durchblicken, dass sie jetzt „so leid es ihr auch täte“ etwas auf Abstand gehen müsse, da sonst der ganze Ort noch Michaels bzw. Carolas Situation auf sie übertragen würde! Hä?? War fremdgehen ansteckend?? Außerdem wäre dann ja wohl Michael der, den man meiden müsste! Was fiel der dummen Kuh nur ein...? Carola war fassungslos.

Wie waren denn alle so schnell informiert? Waren die überhaupt informiert? Hatten ihre „Freundinnen“ Angst, dass deren Männer sauer sein könnten, wenn sie ihr einen Gefallen täten? Waren die abhängig von ihren Männern und trauten sich nicht, den Mund aufzumachen? Das konnte doch alles nicht wahr sein. Carola fühlte sich, als hätte die ganze Welt sich gegen sie verschworen. Michael war doch kein Mafiosi, der den ganzen Bekanntenkreis bedrohen würde, wenn sich einer von denen mit Carola abgab!

Vielleicht hatte Michael sich ja bei allen Nachbarn über seine unglückliche Ehe beklagt und so Rückendeckung erhalten...

Oder hatten sie gar Angst um die eigenen Ehemänner? Die Sorge könnte Carola ihnen nehmen, von denen wollte sie garantiert keinen! Kristins Mann war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, wenn er am Laptop „arbeitete“ und Margrets Mann Gerd schob mit Mitte vierzig eine Wampe vor sich her, die schon die Haustür berührte, wenn er noch am Gartentor stand. Nein, danke.

Nachbarin Vanessa von gegenüber hatte sogar die Frechheit, gar nicht erst ans Telefon zu gehen, als sie Carolas Nummer im Display sah. Carola schimpfte daraufhin auf den Anrufbeantworter, dass sie genau SEHEN könnte, dass Vanessa zu Hause sei, weil sie freien Blick ins Nachbar-Wohnzimmer hatte.

Wenigstens war Vanessa so ehrlich, zurückzurufen. Leider nur, um Carola mitzuteilen, dass sie selbst nicht nur freien Blick in Carolas Wohnzimmer hatte, sondern auch auf die Schlafzimmertür .... Hatte Michael es etwa auch hier zu Hause mit der Arzthelferin getrieben? Vanessa hätte Carola in diesem Fall doch warnen müssen! Die blöde Ziege!! Wusste Bescheid und hatte Carola als gehörnte Ehefrau herumlaufen lassen! Das waren keine Freundinnen, das waren hinterhältige Ratten! Ach was, jede Ratte hatte mehr Anstand als dieses Pack!!

Sandra war in Urlaub, und auf dem Handy wollte sie sie nicht anrufen. Urlaub musste Urlaub bleiben, an diesem Grundsatz wollte sie nicht rücken.

Was blieb einem da schon übrig, als Mama anzurufen?

Ihre Mutter war zunächst geschockt von der Neuigkeit, kam aber wie immer sehr pragmatisch schnell zum Kern des Problems: Wohnungssuche. Da traf es sich doch hervorragend, dass in „ihrem“ Haus diese Drei-Zimmer-Wohnung in der ersten Etage schon länger leer stand, weil der Vermieter altersbedingt nicht mehr viel Lust hatte, sich um eine Neuvermietung zu kümmern. Sie war aber sicher, dass er unbürokratisch helfen würde, wenn sie ihm die Situation erklären würde. Außerdem waren hier die Mieten um etliches günstiger als in Carolas Einfamilienhaus-Vorort, in dem es a) keine Mietwohnungen gab, b) selbst wenn, hätte sie sich niemals die Miete leisten können und c) sie offensichtlich eh nicht mehr gut gelitten war. Gut war außerdem, dass Jolie von hier aus sogar eine prima Verbindung zu ihrer Grundschule hätte, die im Gegensatz zum restlichen Stadtteil einen sehr guten Ruf genoss. Und wenn Carola arbeiten müsste, hätte sie mit Brigitte jemanden, der mal ein Auge auf Jolie werfen könnte.

Es war keine einfache Entscheidung gewesen, aber die einzig logische. Sie hatte einfach keine Alternativen. Carola beruhigte sich selber, dass es ja nur vorübergehend war und sie bestimmt bald eine bessere Lösung (guter Job, zurück zu Michael oder anderweitiger „Sponsor“ für ihr Leben) finden würde.

Erstaunlicherweise hielt sich das Vermissen von Michael noch in Grenzen. Allerdings war sie in der letzten Zeit auch viel zu sehr mit Telefonaten, Mietvertrag, Ummeldungen und Umzug beschäftigt gewesen, als dass sie hätte zur Ruhe kommen können, um die Trennung zu verarbeiten.

Aber dass ihre Mutter hier jetzt auf Ober-Samariter-Kümmerer machte, war Carola im Moment echt zu viel. Und dann immer diese Betonung, alles nur „eben mal schnell“ zu machen. Ihre Mutter machte Dinge „mal eben schnell“, die Carola sich erst auf eine lange To-Do-Liste schrieb, um diese dann zu verlegen und später alles noch einmal aufzuschieben.

„Nein, Mama, jetzt ist echt gut. Den Rest mache ich alleine.“

„Aber ich helfe dir wirklich gerne!“

„Nein, echt, Mama. Du hast genug getan. Jetzt mach’ ich alleine weiter.“

„Wie nimmt Jolie es denn auf?“, flüsterte ihre Mutter gerade.

Was hieß denn hier „es“? War doch komisch, dass manche Leute dazu neigten, unangenehme Dinge oder Situationen zu umschreiben. Brigitte Seiffert war so eine Person. „Es“ war doch die Trennung, der Bankrott oder der Auszug. Und dann der Flüsterton!! War eine Trennung weniger schlimm, wenn man das Wort „Trennung“ flüsterte? Dann wäre ein Tumor vielleicht auch weniger tödlich, wenn man das Wort „Tumor“ flüsterte...

Ihre Mutter hatte das Gleiche bei dem Tod von Carolas Vater gemacht. Sie hätte nie gesagt: „Nach Gerds Tod.“ Sie sprach immer davon, „dass Gerd nicht mehr da war“. Er war Alkoholiker gewesen und seine Leber hatte die Sauferei eines Tages nicht mehr mit gemacht. Das war jedenfalls die harte Wahrheit und Carola machte sich keine Mühe, sie irgendwie zu beschönigen.

Und warum überhaupt flüstern, wo sie doch völlig allein im Wohnzimmer waren? Jolie hörte in ihrem neuen Zimmer eine Bibi-Blocksberg-CD.

„Die Trennung meinst du?“, konnte Carola sich nicht verkneifen, wobei sie das Wort Trennung ganz besonders betonte. „Bislang soweit ganz gut. Ich bin selbst erstaunt, wie entspannt sie damit umgeht. Vielleicht ist das der Vorteil, wenn es schon üblich war, dass so manches Kind bei nur noch einem Elternteil wohnt“, dachte Carola laut nach. „Patchwork ist doch eher die Regel als die Ausnahme.“

Vor etwa vierzehn Tagen hatte die kleine Mathilda, deren Mutter neu verheiratet war, Jolie nach einem kleinen Streit mit Michael (er wollte doch tatsächlich, dass sie ihre Regenjacke anzog, weil es regnete) zugeraunt: „Nur der erste Papa ist so doof, beim zweiten wird das besser.“ So normal war es heute, den ersten Papa durch den zweiten zu ersetzen.

Carolas Mutter war entsetzt: „Sind es denn wirklich so viele? Man hört ja immer wieder so Statistiken, aber schade ist es ja schon, vor allem für die Kinder.“

Carola verbiss sich besser jeden Kommentar, sonst hätte sie ihre Mutter gefragt, ob sie sich nicht tausend Mal gewünscht hatte, ihren allzeit nach billigem Fusel riechenden Ehemann zu verlassen. Stattdessen hatte sie stillschweigend seine Launen hingenommen und immer wieder neue Krankheiten und Termine erfunden, warum er an Familiengeburtstagen oder ähnlichem nicht teilnehmen konnte, obwohl er saufend vor dem Fernseher lag. Aber sie wollte zum einen nicht in Wunden ihrer Mutter rühren, zum anderen hatte sie selbst gerade genug Probleme.

Tatsächlich hatte Carola sogar befürchtet, Jolie hätte sich entscheiden können, bei Michael zu bleiben. Doch Michael hatte gar keine Anstalten gemacht, Jolie „mitzunehmen“, kam ja auch beruflich gar nicht in Frage. Und die Abende im Kerzenschein beim Italiener waren ja auch weit romantischer als zum Beispiel eine Sechsjährige, der man aufgrund des hohen Fiebers Wadenwickel machen musste.

Gott sei Dank!

Es war schon hart gewesen, Jolie über die Trennung zu informieren. Carola hatte sich vorab ein paar Tipps im Internet angelesen (u. a. sollten Eltern ihren Kindern am besten gemeinsam von der bevorstehenden Trennung berichten) und das Gespräch zur Sicherheit immer und immer wieder im Geiste durchgespielt. Natürlich hatte Michael sie damit völlig allein gelassen.

Jolie hatte ihr aufmerksam zugehört. Ein paar Tränchen hatte sie schon geweint, aber mit dem Versprechen, dass sie beide weiterhin sehen würde, und der Aussicht auf einen großen Eisbecher hatte Carola sie vorübergehend aufmuntern können. Carola hatte ihr auch erklärt, dass Mathilda ja schließlich auch nicht mehr bei ihrem Papa wohnte und trotzdem ein ganz glückliches Mädchen war. Mathilda war eine Kindergartenfreundin, die sich für die gleiche Grundschule entschieden hatte.

Vorm Schlafengehen fragte Jolie sicherheitshalber noch einmal nach: „Ihr wollt nicht mehr zusammen wohnen, versteht euch aber noch, oder?“

Carola wollte so ehrlich wie möglich sein, ihrer kleinen Tochter aber auch die Details ersparen, für die sie noch nicht alt genug war, und sich an den Ratschlag aus dem Netz halten, den anderen Elternteil nicht schlecht zu machen. Außerdem wollte sie sich auf keinen Fall aus Mitleid in Versprechungen verwickeln, auf die sie nicht allein Einfluss hatte. „Wir wollen es auf jeden Fall versuchen. Es wird am Anfang sicher komisch werden, aber wir werden uns große Mühe geben, freundlich zueinander zu bleiben. Es wird für keinen von uns ganz einfach werden.“ Ja, sie war zufrieden mit sich!

Auch Jolies beste Freundin Alexa wohnte in einer Patchwork-Familie. Mit dem Namen kam ein großer Anbieter für sprachgesteuerte Computerhilfen schon mal nicht mehr in Frage... In der Schulklasse wurden schon öfters Witze gemacht, was z. B. passieren würde, wenn Alexa auf einer Party wäre und jemand ihren Namen rief. In etwa so: „Alexa, willst du auch noch `ne Cola?“ „Entschuldigung, ich habe die Eingabe nicht verstanden“. Jedenfalls kam bei Alexa zum neuen Lebensgefährten der Mutter jedes zweite Wochenende auch noch ein siebenjähriges Zwillingspärchen hinzu.

Endlich schaffte Carola es, ihre Mutter mit dem Hinweis auf die Tagesschau, die sie ungern verpasste, aus der Wohnung zu bekommen. Es war ja nett, wenn sie ihre Hilfe anbot, aber das sollte hier ja keine Oma-Mutter-Tochter-WG werden, Mutter-Tochter reichte völlig.

 

2

 

Am nächsten Morgen durchforstete Carola das Internet, um nach Stellenanzeigen zu suchen. Gar nicht so einfach: Sie hatte ein fast 20 Jahre altes Abitur und ansonsten leider mehr Abbrüche als Abschlüsse vorzuweisen. Eine ordentliche Allgemeinbildung und gute Sprachkenntnisse reichten wohl nicht mehr aus, so viel wurde Carola schnell klar. Für die einfachsten Sachbearbeitungstätigkeiten wurden kaufmännische Ausbildungen vorausgesetzt. Selbst als Sekretärin würde sie kaum Chancen haben, da ihr Englisch eingerostet war und ihre Computerkenntnisse sich auf ein kostenloses Schreibprogramm beschränkten - googeln zählte wohl nicht als Expertenwissen...

Das Einzige, das wohl auf Anhieb in Frage käme, wäre ein Job in einem Callcenter. Dort schien man nicht ganz so hohe Ansprüche zu haben - zumindest im unteren Bereich. Das erklärte wohl auch, warum man mit den Antworten eines Callcenters immer so unzufrieden war. Carola konnte sich aber wirklich nicht vorstellen, mit einem Headset vor einem Bildschirm zu sitzen und wahlweise unbedarften Menschen irgendein Abo aufzuschwatzen oder blöde Fragen nach der richtigen Inbetriebnahme eines Bügeleisens zu beantworten. Eher würde sie wieder kellnern gehen. Allerdings waren dort die Arbeitszeiten nicht so ganz geeignet für die Betreuung einer Sechsjährigen.

Wenn sie sich einer Sache sicher war, dann dass sie mit Menschen zu tun haben wollte. Ob in Form von Teamarbeit mit gelegentlichem Kundenverkehr oder sonstwie - auf jeden Fall vis-à-vis und nicht ausschließlich telefonisch.

Sie rief bei einem Arzt an, der eine Sprechstundenhilfe für die Anmeldung suchte: leider wollte er eine gelernte Arzthelferin, obwohl die Dame nur Termine vereinbaren sollte.

Sie rief bei einem System-Gastronomen an, stellte jedoch fest, dass es sich um ein Burger-Restaurant handelte, bei dem sie bestimmt nicht die nächsten 25 Jahre arbeiten wollte.

Sie rief sogar bei einem Privatdetektiv an, der jedoch körperlich fitte Männer mit Erfahrung in diesem Bereich suchte. Das hatte er wegen ‘dem Bohei um politisch korrekte Ausdrücke’ nur nicht so in seinen Text schreiben wollen. So viel zum Thema Gleichberechtigung - und zum Thema Genitiv (wenn schon, dann wegen des Boheis, aber Carola sparte sich diesen Kommentar. Da sie aber keinerlei diesbezügliche Erfahrung hatte, konnte sie sich die Aufregung sparen. Von Fitness ganz zu schweigen ...

Also doch kellnern! Sie rief in einem angesagten Bistro an und war schwer enttäuscht, als man ihr mitteilte, dass sie wohl eher nicht zum ansonsten „jungen“ Team passte. So viel dann auch zum Thema Altersdiskriminierung - und das mit 38!! Zählte man neuerdings mit 38 schon zum alten Eisen? Und dass, wo doch alle immer länger arbeiten sollten. Wenn die Regierung könnte, würde sie den Start in den Ruhestand noch bis auf 70 Jahre hochschrauben, ausgenommen natürlich für Beamte, die mit der Pension eh schon besser dran waren.

Sie hatte noch etwa 30 Jahre zu arbeiten, wurde aber jetzt schon als alt empfunden. Das war genauso wenig zu glauben wie die vielen Großpackungen, die in Supermärkten angeboten wurden, obwohl die Zahl der Single-Haushalte seit Jahren stieg.

Oder wie die ‘werberelevante Zielgruppe’, die mit 49 Jahren endete. So, wie die Werbung heute war, hatte sich diese Zielgruppe wohl eher verlagert: interessanter als die mittelalten waren Kinder und Teenager, da diese kaum Bezug zum Wert ihres Geldes hatten (sie mussten ja auch nicht dafür arbeiten) und es deshalb leicht ausgaben und die Senioren, Verzeihung: Best-ager, die ihr mühsam erspartes Geld besonders leicht unters Volk brachten, da sie ja nun nicht mehr ‘für später’ sparen mussten.

So war also der Arbeitsmarkt - herzlichen Glückwunsch.

Hörte man nicht überall, dass Fachkräfte gesucht wurden? Qualifizierte Fachkräfte korrigierte Carola sich selber. Sie war weder eine Fachkraft noch qualifiziert. So ein Mist. Irgendwie musste sie Geld verdienen. Sie wollte aber nicht putzen gehen.

Blieb natürlich noch der Weg zum Arbeitsamt. Carola versprach sich selbst, dass sie sich eineinhalb Wochen Zeit geben wollte. Wenn sie am nächsten Ersten keine Geldquelle aufgetan hätte, würde sie zum Amt gehen.

Eigentlich hätte sie überlegen sollen, welche beruflichen Möglichkeiten sonst noch so in Frage kamen, aber ihre Gedanken schweiften schon wieder zu Michael und ihrem schönen Haus ab. Warum nur hatte Michael sie hintergangen? Jetzt musste sie doch weinen, mehr aus Ärger über den Verlust des Lebens, in dem sie sich so bequem eingerichtet hatte als über das Beziehungsaus, das wurde ihr so langsam klar.

Was fiel Michael eigentlich ein, sie einfach aus dem Haus zu jagen wie einen räudigen Köter? Hätte er sich nicht mit ihr streiten können? Wenn man sich eines nach so langer Beziehung verdient hatte, dann ja wohl, dass man nicht so leicht aufgibt. Sang Grönemeyer nicht auch so was wie „hätt´ mich zwar schockiert, wahrscheinlich hätt´ ich´s nooooch kapiert“? Vielleicht hätte sie es ja kapiert. Dass er sich von einer anderen Frau angezogen fühlte. Dass er sich von ihrem gemeinsamen Leben mehr Pep und Abwechslung und Spaß erhoffte. Dass er ... was auch immer ...

Vielleicht sollte sie sich als Schriftstellerin versuchen und ein paar Märchen weitererzählen: Der Prinz, der Dornröschen so zärtlich wachgeküsst hatte, entpuppte sich als unzuverlässiger Spieler, der das Schloss verkaufte um zocken zu können; der Prinz, der Aschenbrödel vor der Stiefmutter gerettet hatte, war total unselbständig und verlangte später, dass sie sich um seine senilen Eltern kümmerte; Rapunzel wurde von ihrem Prinzen bei spärlichem Haushaltsgeld im Schloss vernachlässigt, durfte aber auch nicht im örtlichen Theater als Sängerin auftreten. Ja, das hätte bestimmt Potenzial. Die ein oder andere geschiedene Mutter würde ihrer Tochter bestimmt ein Exemplar kaufen. Und möglicherweise würden Mädchen sich dann auch in der Schule nicht mehr zurücknehmen und sich besser auf den Unterricht als auf ihr Styling konzentrieren und zu Hause Vokabeln lernen statt vorteilhaftes Selfie-knipsen zu vervollkommnen. Sie jedenfalls wünschte sich gerade sehr, sie hätte mehr Wert auf eine richtige Ausbildung gelegt.

Und dann noch Michaels Vorwurf, körperlich nicht mehr so attraktiv zu sein!! Sicher, nach Jolies Geburt hatte sie die Schwangerschaftspfunde kaum verloren und im Laufe der letzten fünf Jahren war hier und da nach jeder Diät noch ein Pfund dazugekommen. Aber sie wurde ja auch älter, da war man nicht mehr so agil und umtriebig wie früher. Yoga und Walking hatten nicht den gewünschten Erfolg gehabt. Das war zwar weniger die Schuld von Yoga und Walking an sich als von dem reichhaltigen Frühstück vor dem Fernseher, das Carola sich anschließend immer gönnte, aber man musste sich ja auch belohnen für die Schufterei. Während sich Sylvester Stallone dann als Rocky die Seele aus dem Leib schwitzte, gönnte sie sich ein zweites Croissant und einen süßen Milchkaffee.

Sie war sich so sicher gewesen, dass Michael sie niemals verlassen könnte. Er liebte sie doch, das hatte er ihr wirklich oft gesagt. Jedenfalls früher. Wo war diese Liebe denn hin, wenn man sie mal wirklich brauchte? Im Moment war sie so sauer, dass sie ihm die Pest an den Hals wünschte.

Gerade überlegte sie, welche anderen Krankheiten sie ihm wünschen könnte, da die Pest ja nicht mehr so verfügbar war, als es klingelte und sofort danach klopfte. Eigentlich fast schon schade, denn nach einem kurzen Gedanken an einen grauenvollen Brechdurchfall war Carola gedanklich gerade bei einem fiesen, juckenden Hautausschlag gelandet, der ihn nicht nur nerven sondern auch ein wenig entstellen würde - wäre bestimmt interessant, ob Miss Arzthelferin dann auch für ihn da wäre.

„Mach mal auf Carola, ich bin es.“ Dann fügte ihre Mutter unnötigerweise noch „Mama“ hinzu.

Während sie den Fernseher ausschaltete wischte sie sich hastig mit dem Ärmel über das Gesicht, sah aber im Spiegel, den sie gestern Abend noch im Flur aufgehangen hatte, dass ihre Augen hoffnungslos gerötet waren, und öffnete die Tür. Egal, es war ja nur ihre Mutter...

Zwei Menschen sprachen nun gleichzeitig:

Der Typ, der mit einem Werkzeugkoffer in der Hand die Augen abwandte, als er Carola sah, nuschelte: „Wenn´s gerade ungelegen ist, kann ich auch später kommen.“

Herrschaftszeiten, hatte der eine tiefe Stimme. Gurgelte wohl mit Scheuermilch. In Wild-West-Filmen hätte er gut und gerne einen tapferen Cowboy synchronisieren können. Oder einen hochrangigen Mafioso in Italo-Filmen. Oder jeden, den Sylvester Stallone mal gespielt hatte. Dessen Originalstimme liebte Carola. Angeblich glaubten die Väter der Mädchen, die er so als Teenager telefonisch sprechen wollte, nie, dass er damals wirklich nur fünfzehn Jahre alt war - nur wegen seiner Stimme!

Der Typ mit dem Werkzeugkoffer war irgendwie zu groß, hatte zu lange, völlig verwuschelte blonde Haare und trug ein verwaschenes T-Shirt und Cargo-Hosen. Für Leute, die so wenig Wert auf ihr Äußeres legten, hatte Carola nicht allzu viel übrig. Definitiv nicht ihr Typ, aber wenn man auf diesen Surfer-Look stand, machte er schon was her, stellte Carola schnell fest. Gut war allerdings, dazu brauchte man keine Brille, seine Figur. Hätte sein Hintern in einer knackigen Jeans gesteckt und er das T-Shirt ausgelassen, hätte Carola ihren Wasserhahn freiwillig zerdeppert, damit er zum Reparieren blieb.

Sie war selbst erschrocken über ihre Denkweise, sie hatte bestimmt andere Sorgen als Männer, zumindest was fremde Männer betraf. Ihr bisheriger machte ihr mehr Sorgen als sie sich je hatte vorstellen können.

Carolas Mutter sagte zeitgleich: „Das ist der Andi von unten, der kann dir helfen, den Wohnzimmerschrank zusammenzubauen. Hast du geheult?“ Diese einzigartige Themenkombination konnte nur von Brigitte kommen.

Das musste der Nachbar sein, den Brigitte verschiedentlich am Telefon erwähnt hatte: mein Nachbar hat mir die Wasserkästen noch reingetragen, mein Nachbar hat den tropfenden Wasserhahn repariert, mein Nachbar hat mir einen neuen Waschbecken-Unterschrank gekauft und ihn auch direkt aufgebaut.

Carola hatte sich diesen Nachbarn immer als klassischen rüstigen Rentner vorgestellt, der sich mangels Tagesaufgaben nun mit Brigittes Anliegen die Zeit vertrieb. Falsch gedacht.

Carola war etwas überfordert und brachte nur hervor: „Oooh, Mama!!“

War das an Peinlichkeit zu überbieten? Das war so typisch ihre Mutter: alle möglichen Leute anquatschen und zusammenführen. Selbstverständlich vermied sie es dabei, vorab zu klären, ob diese Hilfe überhaupt gewünscht war. Carola hätte den Schrank bestimmt auch allein zusammengebaut bekommen. Andererseits konnte der Typ es vielleicht schneller ... außerdem war er jetzt eh schon mal da.

Dass Carola die durchgeschwitzten Sachen von gestern anhatte, weil sie erst nach dem Frühstück duschen wollte und ihr die Jobsuche „dazwischengekommen“ war, sorgte nicht gerade dafür, dass sie sich wohler fühlte diesem Fremden gegenüber. Ein guter Morgen sah definitiv anders aus.

So schnell wie er erfasst hatte, dass er ungelegen kam, so grob ging ihre Mutter über diese Tatsache hinweg, falls sie sie überhaupt bemerkt hatte. Sie drängte einfach an Carola vorbei in die Wohnung. „Hallo Jolie, Oma ist da!!“

Die stürmte sofort aus ihrem Zimmer und ließ sich in Brigittes Arme fallen. Wenigstens die beiden freuten sich über die neue Nähe.

Dann erschrak Jolie etwas, weil sie den Nachbarn entdeckt hatte und versteckte sich hinter Brigitte - vielmehr hinter deren rechtem Bein. Genauso gut hätte sich ein Nashorn hinter einer Yucca-Palme verstecken können, auch wenn der Vergleich von Brigittes Beinen mit einer Yucca-Palme nicht gerade auf der Hand lag.

Der Typ hockte sich hin und streckte Jolie seine Hand entgegen: „Hallo, ich bin Andi. Wenn du Zeit hast, kannst du mir auch mit dem Schrank helfen. Sollen wir den zusammen aufbauen?“ Die Stimme jagte Carola sofort einen Schauer über den Rücken. Und wie nett, dass dieser Hüne sich hinhockte, um Jolie zu begrüßen. Normalerweise verhielt sie sich Fremden gegenüber scheuer als eine Antilope, die den Angriff eines Löwen fürchtete.

Als ob, dachte Carola...und war zutiefst erstaunt, als Jolie zaghaft nickte.

„Natürlich nur, wenn der Schrank überhaupt jetzt zusammengebaut werden soll.“ Er hockte immer noch auf der Fußmatte und wartete auf Carolas Reaktion. Sein Blick kam von unten zu Carola herauf. Man brauchte ihn nicht näher zu kennen, um zu verstehen, dass er gewiss nicht freiwillig hier war. Carola wollte lieber gar nicht wissen, wie hartnäckig ihre Mutter den armen Kerl bearbeitet hatte. Sie blieb zwar immer freundlich, ging einem aber doch so lange auf die Nerven, bis man „freiwillig“ nachgab.

Sie hatte es einmal geschafft, Carola zu überreden (überreden im wahrsten Sinne, denn überzeugen war etwas anderes ...) ihren Chef, mit dem Carola so gar nichts zu tun hatte, aus dem Krankenhaus abzuholen. Carola verstand bis heute nicht, warum sie das damals gemacht hatte. Mütter halt.

Egal, das war in diesem Fall schließlich seine Angelegenheit. Carola hatte ihn ja nicht um seine Hilfe gebeten. Wenn er sich hatte bequatschen lassen wäre sie eben die lachende Dritte. Wenn er dann auch noch Jolie beschäftigte - umso besser.

„Natürlich heute, Du hast doch heute am meisten Zeit. Komm ruhig rein!“ Carolas Mutter öffnete die Tür noch weiter. „Carola macht uns bestimmt einen Kaffee!!“, dabei sah sie Carola an und deutete mit dem Kopf Richtung Küche. Sehr subtil.

Carola fügte sich und setzte in der Küche Kaffee auf. Wo war eigentlich ihr Kampfgeist? Die Frage stellte sie sich nicht zum ersten Mal. Von Michael hatte sie sich lange genug herumkommandieren lassen, von seiner furchtbaren Mutter Henriette sowieso und nun ließ sie sich von ihrer Rentner-Mutter zum Kaffee-kochen schicken. Erbärmlich.

Für Jolie goss sie Milch in eine Tasse und rührte mangels Kakaopulver einen Löffel Nuss-Nougat-Creme hinein. Kurz in der Mikrowelle warmgemacht ergab auch dies eine Tasse warmen Kakao. So bewaffnet ging sie wieder ins Wohnzimmer, das mit wohnlich noch gar nichts zu tun hatte: überall standen Kisten, die noch nicht ausgepackt waren, da der Wohnzimmerschrank noch verpackt in fünf Paketen mit diversen Brettern und dem üblichen Sortiment an vermutlich unvollständigen Schrauben an die Wand gelehnt stand.

„Das ist nicht unser richtiges Wohnzimmer, das ist nämlich zu Hause. Wir wohnen hier nur“, erklärte Jolie gerade das Durcheinander. Carola versetzte es einen Stich.

„Aha. Wir bauen jetzt zusammen den Schrank auf und dann packt ihr alle Sachen, die ihr aus der anderen Wohnung eingepackt habt, hier wieder aus“, ging Andi auf Jolies Erklärung glücklicherweise nicht weiter ein.

Carola hätte seinen Tonfall trotzdem am liebsten nachgeäfft: „Ja, deine übergewichtige Mama hat nämlich noch kaum Schränke, weil ihr Mann sich eine heißere Schnitte gesucht hat. Jung und schlank halt. Außerdem hält die sich für was Besseres, muss jetzt aber trotzdem mit uns unter einem Dach wohnen, weil sie pleite ist.“ Tat sie natürlich nicht, da ihre Mutter ihr schon zu“raunte“: „Jetzt reiß dich mal zusammen, du kannst doch nicht den ganzen Tag heulen wegen Michael.“

Super, jetzt stand ihre Mutter hier in dieser Mini-Wohnung und triumphierte, dass sie einen Kerl aufgetrieben hatte, der einen Schrank zusammenbauen konnte und erwartete auch noch, dass Carola sich für den zusammenriss, oder was? Das wurde ihr alles zu viel. Viel zu viel.

„So, hier habt ihr Kaffee und Kakao, den Aufbau des Schrankes hast du ja schon bestens organisiert, ich geh dann mal duschen“, sagte Carola beleidigt. Mit einem Blick auf den Nachbarn fügte sie noch hinzu: „Nix für ungut und schönen Dank schon mal. Tschüss.“

Sie ging ins Bad, schloss die Tür hinter sich und versuchte, sich wieder abzuregen. Im Moment war ihr diese Überrumpelung einfach zu viel. Außerdem hatte das plötzliche und unplanmäßige Auftreten dieses Nachbarn sie aus dem Tritt gebracht. Nein, nervös war sie natürlich nicht!! Oder doch? Egal, die Situation hatte sie vorne und hinten nicht mehr unter Kontrolle, also blieb nur Flucht.

Carola lies sich das Wasser über den Kopf laufen. Das tat gut. Das Plätschern des Wassers lies sie das nervig-fröhliche Geplapper, das ihre Mutter veranstaltete, ausschalten und wirkte entspannend. Die Flucht war genau zum richtigen Zeitpunkt erfolgt. Sie sog die Luft vier Sekunden durch die Nase ein, um sie dann sieben Sekunden lang langsam wieder auszuatmen. Dieses Verfahren hatten sie im Yoga-Kurs als Entspannungstechnik kennengelernt. Außerdem sollte es - täglich elf Minuten angewandt, daher die griffige Abkürzung 4711 - blutdrucksenkend wirken. Also das genaue Gegenteil von einem Besuch ihrer Mutter, der ließ den Blutdruck in die Stratosphäre schießen.

Sie konnte sich schon vorstellen, wie ihre Mutter sich für das merkwürdige Verhalten von Carola entschuldigte. Sie gönnte sich ein paar Minuten, in denen sie reglos unter der Dusche stand und das Prasseln des Wassers genoss.

Jedenfalls so lange, bis das surrende Geräusch eines Werkzeuges ihr dermaßen durch die Glieder fuhr, dass sie beschloss, das Wellnessprogramm zu beenden.

Nachdem sie das Wasser ausgedreht hatte, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, dass nicht ein einziges Handtuch im Bad war. Am Waschbecken stand immer noch die Rolle Küchentücher, die sie bislang verwendet hatte, weil die Handtücher noch nicht ausgepackt waren.

Na toll! Das war doch nur wieder ihre Mutter Schuld!! Hätte die sich angekündigt mit ihrem tollen Handwerker wäre Carola doch schon längst duschen gewesen - und zwar mit allem, was man dazu brauchte.

Oh, nein!!

Sie trat platschnass auf den Badvorleger und schob diesen in Raupenmanier vor bis zur Tür. „Mama!?“, rief sie und lauschte.

Einzig hörbares Geräusch war eine Bohrmaschine. Oder war es ein elektrischer Schraubendreher?

Sie versuchte es lauter: „MAMA?!“

Nichts.

Dann verstummte die Maschine.

Jetzt aber schnell: „MAMA!!!“

Die dunkle Stimme des Nachbarn antwortete: „Die ist kurz einkaufen!“ Nach einem kurzen Moment fügte er hinzu: „Is´ was?“

Einkaufen?? Das durfte doch nicht wahr sein. Ihre Mutter ließ sie ganz allein mit dem Mann in der Wohnung? Und dass, wo sie unter der Dusche stand?

„Ja, ähm“, sie räusperte sich, „ich habe hier noch keine Handtücher... Könnten Sie mal in den Umzugskartons nachschauen und eventuell meine Tochter mit einem Handtuch zu mir schicken?“

Statt einer Antwort klopfte es einen Moment später an der Badezimmertür. Carola verfluchte die Tür: es war eine Milchglastür!! Besichtigt hatte sie die Wohnung nur kurz im Beisein ihrer Mutter, die vom Vermieter den Schlüssel bekommen hatte. Da fand sie die Milchglastür angenehm modern. Jetzt drückte sie sich nah an die Wand, öffnete mit weit von sich gestrecktem Arm einen halben Zentimeter weit die Tür und wünschte sich, es wäre eine schlichte, einfache, UNDURCHSICHTIGE Holztüre, denn die Umrisse, die durch die Milchglastür zu erkennen waren, gehörten definitiv nicht zu einem kleinen Mädchen.

„Ich guck schon nicht. Keine Sorge.“ Seine dunkle Stimme jagte Carola trotzdem ein mulmiges Gefühl ein. „Deine Tochter ist mit Brigitte einkaufen.“ Na toll, sie war wirklich mutterseelenallein mit dem Mann!! Mit einem fremden Mann!! Noch nicht einmal Jolie war mehr hier! Ihre Mutter hatte ja Nerven! Dass er unaufgefordert zum «Du» übergegangen war, wollte Carola aufgrund ihrer misslichen Lage mal unkommentiert lassen.

Hinter der zentimeterweit geöffneten Tür war eine große Hand. Diese hielt ein Küchenhandtuch in der Hand. Ein Küchenhandtuch??

„Nimm erst mal das, dann brauch ich nicht suchen.“

Am liebsten hätte Carola ihn angeschnauzt. Ein Küchenhandtuch!! Sollte sie sich etwa jetzt die Füße damit abtrocknen und demnächst dann wieder die Kaffeetassen? Nee, die kamen ja demnächst in die Spülmaschine, die sie noch kaufen musste. Sie würde nicht meckern, sondern das Küchenhandtuch einfach als Putzlappen aufbrauchen. Männer!!

Carola verfluchte abermals ihren zu schnellen Abmarsch unter die Dusche, als ihr ihr nächstes Problem bewusst wurde, das sie dem Nachbarn ihrer Mutter - und damit auch ihrem Nachbarn - zaghaft mitteilte: „Ich brauch auch neue Anziehsachen.“

„Ernsthaft jetzt?“

„Nee, ich spaße nur, ich kann mir aus dem 30 mal 40 Zentimeter großen Küchenhandtuch ja auch einen Bademantel knoten!“, schoss es aus Carola heraus.

„Hey, hey, hey!! Immer schön freundlich bleiben! Ich steh ja nicht nackig im Bad!“ Danach hörte sie ihn im Weggehen noch sagen: „Und wenn, dann wäre mir das auch egal. Weiber...“

Das wurde ja immer besser: sie wartete nackt im Bad darauf, dass ein Macho, den sie nicht kannte, ihr aus ihren Umzugskartons Anziehsachen angab. Über die einzelnen Bestandteile der Bezeichnung „Anziehsachen“ durfte sie gar nicht erst nachdenken.

„So, hier kommen schon mal die ersten Teilchen.“ Mit den Worten brachte er ihr allen Ernstes Socken, einen roten Spitzen-BH und einen abgetragenen Baumwollschlüpper, der schon bessere Zeiten gesehen hatte... Hier hatte zur Zeit definitiv nur einer Spaß an der Situation.

Warum tat sich der Erdboden nicht auf, wenn man es am allermeisten brauchte bzw. warum hatte sie nicht eine Kiste mit der Aufschrift ‘Falls ich mal spontan Anziehsachen brauche’ gepackt, in der zumindest zueinander passende, moderne aber nicht zu durchsichtige Unterwäsche lag?

Die einzige Möglichkeit, ihr Gesicht jetzt noch zu wahren, wäre ein knackiger Herzinfarkt.

 

3

 

Carolas Mutter kam mit Jolie vom Metzger, der einige Straßen weit entfernt war, wieder. Sie hatte dort fertige Frikadellen, etwas Kartoffelsalat und ein paar Brötchen geholt, damit sie sich nicht mit kochen aufhalten müssten und dem Nachbarn, der den Corpus schon fast fertig hatte, trotzdem etwas anbieten konnten.

Kartoffelsalat und Frikadellen, das passte zu ihrer Mutter. Carola wusste jetzt schon, dass sie sich maximal einen Esslöffel Kartoffelsalat würde gönnen können, sonst hätte sie morgen die Mayonnaise als Fettgewebe um ihre Hüften hängen. Da konnte sie sich noch so viele Light-Produkte kaufen, mit so einer Portion Kartoffelsalat wären drei Tage Light-Esserei wieder zunichte gemacht. Und schließlich wollte sie ihre Diät nicht torpedieren.

Carola hatte sich von ihrer Peinlichkeit noch nicht ganz erholt. Sie überlegte insgeheim noch, ob sie ihrer Mutter Vorwürfe wegen des Alleinseins mit dem Nachbarn machen sollte oder die oberpeinliche Situation vielleicht doch besser ganz verschwieg. Sie hatte auch keine Lust darauf, dass ihre Mutter ihr die Geschichte in ein paar Jahren unter die Nase rieb - wie die Tequila-Geschichte.

Carola erinnerte sich gut an diese Klassenparty. Sie war 15 gewesen und hatte vorher noch nie Alkohol getrunken und an diesem Abend beobachtet, wie einige aus ihrer Klasse Tequila tranken. Sie hatte sich überreden lassen, auch mal einen zu probieren. Ach Quatsch, überreden musste man sie gar nicht, sie war ganz scharf darauf, diese „coole“ Prozedur aus Hand anlecken, Salz aufstreuen, Tequila auf ex trinken, Salz ablecken und in die Zitronenscheibe beißen mitzumachen. Als sie den ersten Tequila nach eigenem Empfinden gut vertragen hatte, war sie sehr mutig geworden. Nur die vier, die dann folgten, waren wohl viel zu schnell in ihrem Blut gelandet.

Matthias, der Klassenangeber, hatte ihr - nachdem sie sich schon übergeben hatte und erschöpft dösend vor dem Waschbecken kauerte - den linken Ärmel hochgeschoben und einen Gürtel um ihren Arm gebunden, so dass man hätte denken können, sie habe sich einen Schuss gesetzt. Glücklicherweise war ihre Freundin Sandra eine der Ersten, die als Schaulustige dazukamen, hatte den Gürtel entfernt und Klaus Mutter gesagt, dass Carola abgeholt werden musste.

Sie konnte froh sein, dass damals niemand einen Fotoapparat dabei hatte. Heutzutage wäre sie wahrscheinlich - noch bevor ihre Mutter aufgetaucht wäre - zur Belustigung der ganzen Schule oder auch Fremder im Internet zu finden. Die ersten hämischen Kommentare wären dann schneller online als Carola nüchtern.

Ihre Mutter hatte damals große Sorge, Carola könne wie ihr Vater alkoholsüchtig werden. Leider brachte sie diese Story immer wieder gerne bei Familienfeiern als angeblich lustige Anekdote.

Nein, sie würde die Dusch-Geschichte besser für sich behalten.

Der Nachbar hatte ihr auch noch eine Jeans und ein T-Shirt angereicht und keine Miene verzogen, als Carola mit hochrotem Kopf fragte, ob er noch einen Kaffee wollte. Es sollte ja Menschen geben, die Poker sogar hauptberuflich spielen.

Jolie hatte sich mittlerweile an ihn gewöhnt und plapperte munter vor sich hin. Sie hatte keine Lust mehr gehabt, Schrauben und Zangen anzureichen und verkündet, dass sie genug gearbeitet habe. Sie müsse schließlich auch noch etwas Zeit mit Uta verbringen, das war die rothaarige Puppe, die in Carolas Lesesessel saß.

Als Carolas Mutter von oben noch Getränke holte, machte sich im Wohnzimmer, in dem der Schrank nun fast fertig aufgebaut stand, eine unangenehme Stille breit.

„Das ist echt nett von Ihnen, dass sie mir hier helfen“, begann Carola vorsichtig.

„Hmm.“

Super, wie sollte sie denn da ein Gespräch in Gang kriegen.

„Soll ich Ihnen was helfen?“, versuchte sie es erneut.

„Geht schon.“

Carola stand unsicher in ihrer eigenen Wohnung herum. Na ja, so ganz zu Hause fühlte sie sich noch nicht...

„Möchten sie noch etwas trinken?“

„Nein, danke.“

Wow, ‘ne echte Plaudertasche!

„Hör mal“, begann er, „du musst dich mir gegenüber nicht verpflichtet fühlen. Ich tue das hier, weil ich es für Brigitte tue. Wenn ich fertig bin, haue ich ab und dann hast du deine Ruhe.“

„Na den Preis für den besten Charmebolzen vergebe ich jetzt an jemand anderen.“ Carola hatte schlagfertig sein wollen, hörte aber selber wie patzig sie klang.

„Meinetwegen.“

Was sollte sie denn da noch sagen? Er hatte jetzt mehr als deutlich gemacht, dass er keinesfalls hier war, um ihr einen Gefallen zu tun. Ach, es konnte ihr doch egal sein, sollte ihre Mutter sich doch um die Befindlichkeiten des von ihr angeschleppten Nachbarn kündigen. Sollte er halt alleine an dem Schrank herumwerkeln.

„Ich geh` dann mal in die Küche.“

In der Küche hätte sie sich dann doch wieder ohrfeigen können. Was war denn nur los? Sie war normalerweise nicht so unhöflich und patzig - zumindest nicht unabsichtlich. In Anwesenheit dieses Mannes benahm sie sich wie ein hilfloses, unnützes, überflüssiges Etwas. Dabei ging ihr seine Anwesenheit doch auf den Wecker. Wo blieb überhaupt ihre Mutter mit den Getränken?

Sie werkelte hörbar in der Küche herum, um Zeit totzuschlagen, obwohl Jolie schon vor dem gedeckten Tisch saß. Endlich kam auch ihre Mutter wieder und stellte eine Flasche Mineralwasser und eine Packung Apfelsaft auf den Tisch und eine weitere Wasserflasche in den Kühlschrank.

Als sie endlich alle am Tisch saßen, bemühte Carola sich wieder, ein Gespräch zustande zu bringen: „Na ja, die Kalorien, die wir hier zu uns nehmen, werden wahrscheinlich für den Rest der Woche reichen.“ Zu allem Überfluss lachte sie auch noch unbeholfen.

„Ich mag auch nicht gerne Kalorien“, bemerkte Jolie.

Carola lachte nochmals unbeholfen.

Andis Augen stachen in Carolas Richtung. „Die sind aber in Allem, das wir essen, und das ist auch gut so. Der Körper braucht diese Kalorien, um sie in Energie und Wärme umzuwandeln. Nur ein paar Leute, die glauben, sie seien zu dick, zählen die Kalorien, die sie essen“, erklärte er, „Hier braucht das aber keiner.“

„Wir sind ja auch nicht dick, ne? Jedenfalls nur ein bisschen, oder?“, musterte sie Carola. Hatten Kinder nicht oft eine direkte, zum Teil fast verletzende Art an sich? „Ich mag dann doch Kalorien, ich will ja nicht frieren.“ Dann glitt ihr Blick zu Brigitte und Carola befürchtete Schlimmes.

Doch Carolas Mutter blieb entspannt: „Die Oma ist auch nur ein bisschen dick, aber in meinem Alter darf man das. Ich zähle auch keine Kalorien.“ Zum Beweis schaufelte sie sich noch einen ordentlichen Löffel Kartoffelsalat auf den Teller.

„Ich wollte auch nur sagen, dass ein Essen mit mehr Gemüse zum Beispiel gesünder ist“, versuchte Carola, ihren Standpunkt zu verteidigen. Dass sie selbst gerne ein paar Pfunde weniger mit sich rumschleppen würde, wollte sie hier nicht zum Thema machen, sie fürchtete die scannenden Blicke der Anderen.

„´Ne Frikadelle ist auch gesund“, gab Andi von sich.

„Und lecker!“, grinste Jolie.

Dann verkündete Carolas Mutter, dass in der Metzgerei ein Schild mit der Aufschrift „Aushilfe gesucht“ zu sehen war und schlug vor, dass Carola dort einmal vorbeiging.

Jolie fing direkt an zu grinsen: „Dann könntest du dir selber die Frikadellen verkaufen.“ Sie fand ihren Witz selbst so komisch, dass alle anderen nun auch - endlich einmal gemeinsam - lächelten, zwar nicht über den Witz an sich, aber über die Tatsache, dass eine Sechsjährige sich über ihren eigenen Witz so abrollen konnte.

„Die suchen bestimmt eine richtige Verkäuferin, ich habe ja keine Ausbildung“, gab Carola zu bedenken.

„Gar keine?“, fragte nun Andi erstaunt und sah zu ihr hinüber.

„Ja, keine wie in gar keine“, zickte sie zurück. Jetzt war sie es, die einen wütenden Blick auf die andere Seite schmiss.

Es war das erste Mal, dass sie ihm wirklich in die Augen blickte. Carola war wie hypnotisiert und wusste nicht mehr, worüber sie gerade sprachen. „Haben Sie zwei verschiedene Augen?“, fragte sie überrascht.

„Ja, ein blaues und ein grünes, und ich heiße wirklich für alle Andi, kein Mensch siezt mich.“

Es klingelte. „Das ist bestimmt Lara, ich habe ihr geschrieben, dass ich hier bin“, erklärte Andi und stand auf. „Ich geh dann mal.“

„Ach was“, tönte Brigitte. Sie sprang auf und drückte ihre Hand auf Andis Schulter, so dass der lange Kerl sich brav wieder hinsetzte. „Lara kann doch mitessen, ist doch genug da“, entschied Brigitte und ging los, um die Tür zu öffnen.

Jolie sprach aus was Carola dachte: „Wer ist Lara?“

Vermutlich kam nun seine langbeinige, schwarzhaarige, gertenschlanke Lebensgefährtin vorbei.

„Meine Tochter“, erklärte Andi.

Das erklärte natürlich, warum Andi so distanziert war. Er war Familienvater und hatte sich - womöglich noch nicht einmal Carolas Mutter sondern eher seiner Frau zuliebe - breitschlagen lassen, Carola zu helfen. Das drückte Carola noch weiter in die klischeehafte Rolle der hilflosen Alleinerziehenden, wie ihr bewusst wurde. Sie fühlte förmlich den Stempel auf ihrer Stirn: alleinerziehend, keine Ausbildung, wohnt im gleichen Haus wie ihre Mutter im schäbigen Vorort.

Carolas Mutter kam mit einem schlaksigen, jungen Mädchen zurück, das eine schlabberige kurze Sporthose und einen dunkelroten Hoodie über einem verschwitzten T-Shirt trug und stellte alle einander vor. Lara gab Carola und Jolie lächelnd die Hand und begrüßte Andi mit einem „Hi, Paps“. Die Augenpartie hatte sie definitiv von ihrem Vater, wenngleich ihre Augen braun waren - beide.

„Du bist die Tochter von Andi?“, fragte Jolie in ihrer höchsten Tonlage.

„Mmm“, antwortete Lara und nahm sich eine Frikadelle und einen Löffel Kartoffelsalat. Sie grinste ihren Vater an.

„Dann ist er dein Papa?“

Alle außer Jolie schmunzelten.

„Ja, das ist mein Papa“, beantwortete Lara netterweise die Frage, während Jolie ihren Blick zwischen beiden hin- und hergleiten ließ als versuche sie noch, den Zusammenhang richtig herzustellen.

„Genau das richtige nach dem Training, oder?“, er strahlte Lara an. So sah er schlagartig richtig freundlich aus.

„Ja“, lachte diese, „besonders da wir heute an unserer Ausdauer gearbeitet haben. Zum Schluss sind wir nur noch zu viert gelaufen.“ Sie verdrehte theatralisch die Augen zur Decke.

„Wäre da nicht ein leichteres Essen mit mehr Kohlenhydraten nötig?“, fragte Carola.

Alle starrten sie für eine Sekunde an. Was war denn jetzt schon wieder? Sie hatte doch nicht vorgeschlagen, kleine Katzen zu verspeisen. Carola wurde wieder ganz heiß, denn sie fühlte quasi den Blick ihrer Mutter in ihre Richtung und den von Andi, der wohl wie Lara kurz zuvor die Augen zur Decke drehte. Carola wusste ja, dass Ernährungsfragen bei vielen Menschen quasi die Religion ersetzten und man vortrefflich darüber streiten konnte, ob ein Safttag pro Woche das Richtige war oder doch eher Trennkost oder einfach der Verzicht auf alles, dessen Kaloriengehalt zu mehr als dreißig Prozent aus Fett resultierte (sie war allein aus mathematischer Unfähigkeit kein Verfechter dieses Standpunktes), aber dass sie von Andi und erst recht von ihrer Mutter für alle Äußerungen, die das Essen betrafen, angesehen wurde als hätte sie in Indien eine Kuh in den Hintern getreten, erschien ihr doch befremdlich.

Dann beschied Lara: „Nö, passt schon.“ und die Schrecksekunde war vorbei.

Lara berichtete Andi kurz von ihrem Basketball-Training. Sie bemerkte, dass Jolie an ihren Lippen hing und genoss diese Aufmerksamkeit wie ein C-Promi das Rampenlicht. Sie schmiss mit Begriffen wie Rebound, Defence, Criss-Cross-laufen und Korbleger um sich. Jolie sah Lara mit einer Bewunderung an, als würde diese alles in fließendem Chinesisch von sich geben. Carola verstand zumindest, dass es um Sport ging ...

Nach dem Essen gingen die beiden Mädchen gemeinsam in Jolies Zimmer - mit der Puppe Uta natürlich - um Jolies Sachen auszupacken.

Während Andi den Schrank fertigstellte, räumten Brigitte und Carola die Küche auf. Carola wollte erst mosern, dass wieder einmal die Frauen den Abwasch erledigten, schluckte den Satz aber runter, als ihr einfiel, dass Andi ihren Schrank aufbaute.

Carolas Mutter musste wieder in ihre eigene Wohnung, da sie noch einen Anruf erwartete. Sie verabschiedete sich von Carola an der Tür mit den Worten „Sei doch mal etwas netter zu Andi, der ist in Ordnung.“

Wären sie allein gewesen, hätte es jetzt bestimmt einen Streit gegeben. Doch mit „Andi“ nebenan hielt Carola sich zurück: „Mensch Mama, ich kenne den gar nicht. Nur weil du den nett findest und den hier angeschleppt hast, muss ich mich doch jetzt nicht mit dem anfreunden.“

„Etwas dankbarer könntest du schon sein!“, behielt Brigitte mal wieder das letzte Wort.

Sie schloss die Tür. Ihre Mutter machte es ihr auch nicht einfach, im Guten auseinander zu gehen.

„Nein, anfreunden musst du dich nicht mit mir“, bestätigte Andi direkt hinter Carola. Mist! „Wir sind Nachbarn, nicht mehr und nicht weniger. Und zu deiner Beruhigung: so nötig habe ich es bestimmt nicht, dass ich mich aufdränge. Du kannst dich also entspannen. Ich werde dich bestimmt nicht belästigen!

Zu mir musst du nicht netter sein, aber zu deiner Mutter vielleicht, die hat es nur gut gemeint.“

Carola war baff und suchte mal wieder nach einer Lücke im Erdboden. Das war heute nicht ihr Tag und würde es auch nicht mehr werden.

Dann sprach er in dem selben, ruhigen Ton, als wäre er überhaupt gar nicht sauer, weiter: „Wäre es denn okay, wenn Lara noch bleibt? Offensichtlich hat sie mit duschen noch Zeit. Wenn sie nerven sollte oder zu doll riecht, schickst du sie einfach rauf.“ Mit diesen Worten machte er sich schon auf den Weg zu seiner eigenen Wohnung.

„Kein Problem, gerne“, beeilte Carola sich zu sagen. Na toll, jetzt stand sie wirklich wie ein Vollhonk da. Und wer war an allem Schuld? Brigitte, ihre Mutter! Hätte die „den Andi“ nicht einfach hier angeschleppt, wäre alles ganz anders gekommen.

Sie war aber froh, dass Jolie noch ein wenig Ablenkung hatte. Sie hatte an der „großen“ Lara ganz offensichtlich Gefallen gefunden.

Und sie war froh, nun endlich allein - jedenfalls ohne ihre Mutter und diesen Andi - in ihrer Wohnung zu sein, auch wenn sie sich mit dem Begriff an sich noch schwertat.

 

Am nächsten Tag, Sonntag, bestand Carolas Mutter darauf, dass Carola und Lara zu ihr zum Mittagessen herunterkamen. Es sei schließlich Quatsch, selbst zu kochen, wenn man doch so viel mit dem Umzug und anderen Dingen (was sie damit meinte, war Carola schleierhaft) zu tun habe. Carola sagte zu, da ihr eigener Kühlschrank noch so gut wie leer war und sie tatsächlich am Vorabend bis 22.00 Uhr noch mit auspacken beschäftigt gewesen war. Dafür war der Wohnzimmerschrank schon komplett eingeräumt. Toller Samstag Abend...

Die echten Schmuckstücke, die Michael ihr zu den verschiedenen Anlässen wie Hochzeitstag, Geburtstag oder Weihnachten geschenkt hatte, legte sie in einen Schuhkarton und verstaute ihn in der hintersten Ecke ihres Kleiderschranks. Jedenfalls die, die noch übrig waren. Einige hatte sie zugunsten des Wohnzimmerschranks, eines Betts für sich selbst und des Abschlags für die vorhandene Einbauküche ja schon verkauft. Ob ihm je aufgefallen war, dass sie diese Stücke immer nur ein-, zweimal nach den jeweiligen Geschenkanlässen getragen hatte? Sie hatte viel zu viel Angst, diesen echten Schmuck zu verlieren. Sie klebte sich schließlich auch nicht ein paar Hunderter ums Handgelenk und hoffte, dass die bis zum Abend noch dort waren.

Anfangs hatte sie noch gedacht, dass er ihr besonders wertvolle Stücke einfach gern geschenkt hatte, weil er beweisen wollte, wie gut er verdiente, oder damit sie sich Henriette gegenüber, die stets sehr goldbehangen herumlief, ebenbürtig fühlte. Später hatte sie vermutet, dass er es entweder überhaupt nicht gemerkt hatte oder es ihm schlicht und ergreifend egal gewesen war. Schließlich war es einfacher, zu jedem der klassischen Geschenke-Feste einfach etwas beim Juwelier zu erstehen, anstatt sich Gedanken zu machen, womit man ihr wirklich eine Freude machen könnte - zumindest, wenn man wie Michael über den nötigen Kontostand für derartige Ausgaben verfügte.

Sie hatte jedenfalls nicht vor, sich weiter mit seinen Geschenken zu schmücken. Auf keinen Fall. So viel Stolz wollte sie sich auf jeden Fall wahren.