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Sabine Wolf

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Beschreibung

Über den Tod und den Weg dorthin zu sprechen, fällt vielen Menschen schwer. So nachvollziehbar dies auch ist, führt es doch zu einer Tabuisierung des Themas, obwohl eins sicher ist: früher oder später betrifft es uns und wir werden uns mit dem Tod, dem Weg dorthin, der eigenen oder der Trauer anderer beschäftigen müssen.

Ich habe ihn in vielen Facetten, u. a. vom Tod durch Krankheit oder Unfall, versuchten und vollendeten Suiziden kennengelernt. Und so schwer es ist auch ist, einen Menschen auf seinem*ihrem letzten Weg zu begleiten, so ist es doch möglich, auch hier noch Freude zu vermitteln, Dankbarkeit auszudrücken oder Sicherheit zu geben. Und die Möglichkeit, sich zu verabschieden, ist nicht zu unterschätzen.

Wer also wissen möchte, wie man es schaffen kann, trotz furchtbarer Erfahrungen wieder zurück ins Leben zu finden, oder wer Trost darin finden kann, dass andere Menschen auch Trauriges erlebt haben, oder wer sich mit den Gedanken und Gefühlen vertraut machen möchte, die der Tod mit sich bringt, dem sei mein Text ans Herz gelegt.

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Sabine Wolf

Wie ich den Tod kennenlernte

Vom Leben, Überleben, Trauern und Sterben in und um meine Familie

Für meine ElternBookRix GmbH & Co. KG81371 München

Vorwort

Dies ist nicht nur mein persönlichstes Buch, sondern auch ein sehr persönlicher und daher auch sehr subjektiver Erfahrungsbericht, der nur meine persönliche Sichtweise wiedergibt. Ich habe die meisten Namen meiner Familie geändert, um deren Privatsphäre zu schützen, schließlich schütze ich auch meine eigene, indem ich unter Pseudonym schreibe.

 

 Das Gedicht in Kapitel 1 ist von meiner Mutter.

 

Der Zeitungsausschnitt, den ich im Text zitiere, ist aus der Zeitung «Tageblatt Steele, Kray, Ueberruhr, Kupferdreh» vom 17. August 1929

 

Wichtige Quelle war für mich die Sendung "Sonntagsfragen", in der Moderatorin Gisela Steinhauer mit Dr. Matthias Thöns über seine Erfahrungen mit 'Geschäften am Lebensende' sprach. Ich danke Frau Steinhauer für die Erlaubnis, die Sendung und Ihren Namen hier nennen zu dürfen (sowie für die Hilfe zur korrekten Quellenangabe ;-))

 

Ich danke Dr. Matthias Thöns, der mir erlaubte, seinen Namen hier zu nennen. Sollte ich hinsichtlich der medizinischen Angaben Fehler gemacht haben, so gehen diese allein auf mich zurück. Dr. Thöns leistet tolle Arbeit hinsichtlich der Aufklärung über Palliativmedizin.

 

Ich danke Frater Pater Elias Füllenbach OP, Prior der Dominikaner Gemeinschaft Düsseldorf, dass ich seinen Namen hier nennen durfte. Warum das so wichtig ist, erfahren Sie im Text.

 

Das Coverfoto ist ein Ausschnitt eines Bildes von Gerd Altmann, das ich bei pixabay gefunden und mit Canva erstellt habe.

1

Ich weiß ja nicht, wann Kinder durchschnittlich das erste Mal mit dem Tod konfrontiert werden, bei mir jedenfalls war es sehr früh. Also eigentlich schon, bevor ich mich überhaupt erinnern kann, denn mein älterer Bruder, den ich eigentlich gehabt hätte, wurde nur etwa ein halbes Jahr alt.

Sie kauften also stolz ein: eine Wiege, damit das Kind nicht im elterlichen Bett schlafen müsste, denn ein eigenes Zimmer gab es in der kleinen Wohnung noch nicht; die ersten Bodys, die damals noch Leibchen hießen; den ersten Brei, denn man (oder Mann?) hatte meiner Mutter erklärt, dass dieser viel steriler hergestellt würde als Muttermilch und daher zu weniger Krankheiten führen würde; Windeln, Spucktücher, Puder, Cremes, etc, etc, etc.

 Auch damals schon gab es Babybücher, nicht so schön, vielfältig und abwechslungsreich wie heute, aber es gab sie. Das Heftchen, das meine Eltern verwendeten (nun ja, mehr meine Mutter, denn damals war das wohl doch noch sehr klassisch Frauensache), war ein Werbegeschenk der Sparkasse: vierundzwanzig stabile Seiten in noch stabileren Kartondeckblättern, mit einem Glückspfennig auf der Innenseite des Deckblattes. Die erste Seite ist von einer vorgedruckten Einleitung der Sparkasse belegt. Auf Seite zwei hat meine Mutter den Vordruck mit den Geburtsdaten meines Bruders ausgefüllt: am 22.11.1969 hatte er um 9.45 Uhr das Licht der Welt erblickt. Es folgt ein Gedicht meiner Mutter auf Seite drei, die Ahnen auf den Seiten vier und fünf, die Onkel und Tanten auf Seite sechs, Seite sieben blieb frei, da dort die noch nicht vorhandenen Geschwister einzutragen gewesen wären, auf Seite acht hat meine Mutter Gewichts- und Größenangaben in den Vordruck eingetragen.

Allerdings ist diese Seite nicht vollständig ausgefüllt. Der letzte Eintrag ist das Gewicht, das Andreas mit drei Monaten hatte: 5410 Gramm. Der nächste Eintrag wäre am 22.05.1970 fällig gewesen. Hierzu kam es jedoch nicht mehr, da Andreas am 08.05.1970 um 16.40 Uhr verstorben ist.

 

Meine Mutter hatte den kleinen Andreas mittags schlafen gelegt. Ganz normal. Wie immer. Und natürlich kennt man die ungefähre Zeit, die das eigene Kind üblicherweise schläft. Und, mal ehrlich, welche Mutter freut sich nicht, wenn er mal ein Viertelstündchen länger schläft als üblich? Schließlich ist man ab dem Zeitpunkt der Geburt rund um die Uhr Ansprechpartner für ein kleines, süßes Menschenwesen, das außer schlafen, atmen, gucken, verdauen und vor allem weinen noch nicht viel gelernt hat. Ich meine, würde der/die eigene Partner*in einen nachts um drei Uhr heulend wecken, um loszujammern, dass er gerne unbedingt sofort jetzt etwas zu essen hätte, würde man die/denjenigen doch sonst wohin wünschen und ihm/ihr das auch überdeutlich zu verstehen geben. Und Menschen, die einem in den Ohren liegen, wie sehr sie diese unangenehmen Verdauungsprobleme leiden lassen, - nun ja, Sie wissen, was ich meine. Dieses hilflose Wesen hingegen weint nachts und die/der persönliche Assistent*in springt auf und macht und tut und das unbezahlt, im vierundzwanzig/sieben Rund-um-die-Uhr-Betrieb. Und ist auch noch stolz drauf.

Gut, wir werden dafür mit zufriedenem Schmatzen, diesem unvergleichlichen, süßen Babyduft und natürlich mit einem niedlichen Rülpsen belohnt, das wir zärtlich Bäuerchen nennen.

Irgendwann jedoch wurde meine Mutter, wie wohl jede Mutter schon einmal, skeptisch, ob alles noch so seine Ordnung hat. Welcher Elternteil ist nicht schon einmal zum Babybettchen geschlichen und hat die Ohren gespitzt, ob man dieses gleichmäßige Ein- und Ausatmen noch hören kann? Und in fast allen Fällen gehen die Eltern beruhigt wieder weg vom Bettchen, weil das kleine Würmchen unschuldig schläft.

Meine Mutter nicht. Sie hörte kein Atmen mehr.

Von da an ging alles sehr schnell. Krankenwagen, Fahrt zum Krankenhaus, Andreas wurde in einen Behandlungsraum gebracht. Keine zwanzig Minuten nach dem Schock am Babybettchen saßen meine Eltern auf unbequemen Plastikstühlen im Wartebereich eines Krankenhauses und warteten auf eine Rückmeldung der behandelnden Ärzt*innen, denen sie ihr Kind anvertraut hatten.

Die quälend lange und quälende Zeit, in der Ärzt*innen hinter verschlossenen Türen alles tun, um ein Menschenleben zu retten. Es bleibt einem nur zu warten und zu hoffen, zu warten und zu bangen, zu warten und zu beten.

Es dauerte nicht allzu lange. Quälend war sie trotzdem, diese Zeit, in der man jede Sekunde für eine halbe Ewigkeit hält. In der man nichts tun kann. Gar nichts.

Für meine Eltern brach eine Welt zusammen, als ihnen mitgeteilt wurde, dass man meinen Bruder nicht hatte retten können. Der schlimmste Horror, den Eltern sich ausmalen können, war für meine Eltern zur bitteren Realität geworden.

Lungenembolie. Einfach so. Meine Eltern hatten sechs Jahre gebraucht bis meine Mutter endlich schwanger wurde und dann stirbt der lang ersehnte Sohn einfach so?

An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass ich mir eine solche Todesnachricht auch für behandelndes Krankenhauspersonal ungemein schwierig vorstelle. Man ergreift ja schließlich diesen Beruf, um Menschen zu helfen. Wenn sie krank sind, möchte man heilen, wenn sie einen Unfall hatten, sie wieder zusammenflicken. Keinesfalls jedoch möchte man jungen Eltern mitteilen, ihr Baby sei gerade an einer Lungenembolie gestorben.

Das sind dann die Begebenheiten, an denen auch gestandene Ärzt*innen lange zu knabbern haben. Da fällt es vermutlich schwer, abends nach Feierabend die eigenen Kinder glücklich herumspringen zu sehen. Nein, schwer nicht. Ich glaube, man weiß es dann erst richtig zu schätzen. Hat man sich morgens noch über Jacken aufgeregt, die immer wieder an der Kapuze an den Garderobenhaken gehangen werden anstatt am eigentlichen Aufhänger, über Socken, die den Weg nie von alleine in den Wäschekorb finden oder über die Klassenarbeit, die der Nachwuchserwachsene vergeigt hat - Schwamm drüber! Wenn man Eltern sagen musste, dass ihr Kind nicht mehr lebt, regt man sich über die Kleinigkeiten des Alltags wohl nicht mehr auf. Man dankt dem Schicksal einfach, dass man nur Überbringer der Botschaft, nicht aber Betroffener war.

 

Und jetzt mussten sie trotzdem wieder nach Hause. Wo eine Babywiege stand, die leer bleiben würde; wo Leibchen lagen, die keiner mehr tragen würde; wo Brei wartete, den keiner mehr trinken würde. Die unendliche Leere, die dieser schwere Verlust darstellte, lässt sich nicht annähernd in Worte fassen.

  Die restlichen Seiten des Heftchens, erstes bis sechstes Lebensjahr, Einschulung und Platz für Fotos, sind leer.

 

Wie meine Eltern diesen unerträglichen Verlust verarbeitet haben, kann ich heute noch nicht ganz begreifen. Meine Mutter erklärte mir als ich älter war einmal, dass sie damals unfassbar viel gebetet habe. Dabei waren das nicht ausschließlich freundliche Gebete, sie hat dieser höheren Macht, an die sie glaubte, natürlich vorgeworfen, ihr das Liebste und Teuerste genommen zu haben und ein wirklich unschuldiges Kind, dass doch noch keinen einzigen Fehler in seinem Leben begangen hatte, aus dem Leben gerissen zu haben. Sie war erzkatholisch erzogen worden und glaubte an die Worte meiner Großmutter: Gott legt auf keine Schulter mehr, als dass sie tragen kann. Unzählige Male hatte sie aber auch das Gefühl, dass Gott sich möglicherweise fürchterlich in ihr getäuscht habe, denn sie war drauf und dran, dem Glauben abzuschwören, bevor sie irgendwie wieder Halt darin fand.

Mein Vater hat hingegen hat versucht, seinen Alltag weiterhin zu meistern. Als Mann durfte man 1970 keine Schwäche zeigen, man musste ‹seinen Mann stehen›, weitermachen, funktionieren.

Ich denke, sie haben hauptsächlich geatmet, wenig gegessen, schlecht geschlafen und sich wohl irgendwie von einem Tag zum anderen gehangelt.

Meine Tante Hannah, die Schwester meiner Mutter, gestand noch vor Kurzem, dass mein Cousin Michael, dessen Patentante meine Mutter war, damals - er war etwa drei Jahre alt - geäußert habe, meine Mutter solle nicht so oft zu Besuch kommen, denn ‹dann weint ihr ja immer›.

Was will man auch anderes machen? Wie will man eine Mutter trösten? Zumal wenn die eigenen Kinder, der Junge drei Jahre und das Mädchen zwei Monate alt, kerngesund sind. Die richtigen Worte für einen solchen Verlust wurden noch nicht gefunden.

 

Ein zartes, weißes Blättchen, das Andreas` Babyheftchen beiliegt und noch von seinem Trauergottesdienst ist, enthält die Worte ‹Es gibt ein Leid, das fremden Trost nicht duldet - und einen Schmerz, den sanft nur heilt die Zeit›. Treffender kann man es wohl kaum formulieren, dass alle Trauerbekundungen von Familienmitgliedern und Freunden das Leid, das die Eltern empfinden, nicht abmildern können. Ob sie damals daran glaubten, die Zeit könne diese Wunde irgendwann heilen, weiß ich nicht. Vielleicht bestand zumindest die Hoffnung.

Miteinander weinen, den Schmerz teilen und zuhören, obwohl man auch mal einkaufen müsste, zuhören, obwohl der eigene Nachwuchs mal wieder an die Luft müsste, zuhören, obwohl man selbst dem Thema wohl auch gerne mal entkommen würde, ist wohl die größte Anteilnahme, die man anbieten kann.

 

Und ja, irgendwie haben sie es geschafft, den ersten Tag, die erste Woche, die erste Zeit zu überstehen.

Und sie haben die Hoffnung nicht aufgegeben. Wenige Monate nach diesem unfassbaren Ereignis ist meine Mutter jedenfalls mit mir schwanger geworden. Juhu!

Ich hatte es dann auch besonders eilig und kam fast einen Monat zu früh zur Welt. Erneute Sorgen!! Meine Mutter erzählte von ihrer Nachbarin, Frau Bruckscher, die sieben Kinder gesund zur Welt gebracht hatte und alle durchgebracht hatte, die ihr damals eine große Hilfe war.

Ich fand immer, dass die Formulierung ‹durchgebracht hatte›, die meine Mutter oft benutzte, auf unterschwellige Weise zum Ausdruck brachte, dass sie selbst genau das nicht geschafft hatte, dass sie auf unverständliche Art und Weise versagt hätte. Dabei hat nie jemand anderes ihr gegenüber auch nur die leiseste Andeutung in diese Richtung gemacht. Vielleicht ist ihr das auch selbst gar nicht bewusst geworden (und mir erst jetzt gerade, während ich über diese Formulierung nachdenke). Freud würde sicherlich vermuten, das Unterbewusstsein hätte sich hier zu Wort gemeldet.

Zu jeder Tages- und auch Nachtzeit jedenfalls durfte meine Mutter bei Frau Bruckscher anklingeln und ihre Sorgen berichten: ‹Sie atmet so langsam!›, ‹Sie atmet so schnell!›, ‹Sie schläft schon so lange!›. Frau Bruckscher kam rüber, begutachtete mich, beruhigte meine Mutter, versicherte meiner Mutter wieder und wieder, dass sie selbstverständlich jederzeit wieder anschellen könne, und ging wieder nach Hause.

Auch für mich hat meine Mutter dieses Heftchen der Sparkasse ausgefüllt. Wie auch für meinen Bruder hat meine Mutter ein Gedicht für mich geschrieben. Es ist aber noch auf der Rückseite des Schmierblattes, auf dem sie es vorgeschrieben hatte. Ob sie es noch umschreiben wollte oder schlicht vor lauter Kinderkümmerei nicht mehr dazu kam, es ins Reine zu schreiben, kann keiner sagen. Es lautet:

 

Liebe stets das Schöne,

Vergesse schnell das Leid,

Dann erntest gute Löhne

Und bist dem Glück nicht weit.

In Dir sei der Sonnenschein,

Hinter Dir die Dunkelheit,

Dann kehrt bei Dir Freude ein,

Niemals aber Bitterkeit.

Das Leben ist mal hart, mal schön,

Die Hoffnung darf nie untergeh’n.

 

Besser kann man die innere Einstellung, die sie hatte, wohl nicht ausdrücken.

 

Als ich dann etwa zwei Jahre alt war, wurde meine Mutter erneut schwanger. Ich weiß heute leider nicht mehr, in welchen Monat die Probleme mit der Schwangerschaft auftraten, aber meine Mutter erlitt eine Fehlgeburt. Was meine Eltern verbrochen haben, dass der Tod sie erneut so widerlich und heimtückisch heimgesucht hatte, weiß ich nicht. Auch dieser Verlust wurde durch beten, weinen, reden und sich einfach irgendwie von einem Tag zum anderen hangeln überstanden. Natürlich gibt es auch Ehen, die an diesen Schicksalsschlägen scheitern. Jeder hat mit sich selbst so unglaublich viel zu tun, worunter das Zusammenleben leiden kann. Ich schätze, meine Eltern hat es einfach noch mehr zusammengeschweißt. Sie waren sich gegenseitig eine Stütze, hielten zusammen, so wie sie es sich versprochen hatten: in guten und in schlechten Zeiten, in Freud und Leid. Und einen Menschen gefunden zu haben, mit dem man derartige Schicksalsschläge durchstehen kann, ist sicherlich auch ein Glücksfall. Auch wenn diese Erkenntnis erst rückblickend deutlich wird und außerdem ein schwacher Trost ist. Aber man sucht halt Trost, wo immer man ihn finden kann.

 

Weitere zwei Jahre später kam meine Schwester Christina zur Welt. Nein, auch sie nicht ganz ohne Drama. Ganze sechs Wochen zu früh und dann erst einmal für ein paar Wochen in den Brutkasten, um ausreichend Gewicht zuzulegen. Bedenken muss man, dass Eltern-Kind-Zimmer damals noch nicht existent waren: Besuchszeiten von wenigen Stunden mussten strengstens beachtet werden! Außerhalb dieser Zeiten hatte kein Elternteil etwas am Bettchen des eigenen Kindes verloren. Ein Segen, dass man das heute anders sieht.

Nach einigen Wochen durfte auch Christina nach Hause und es kehrte vorübergehend Ruhe ein. Friedhofsbesuche ans Grab unseres Bruders waren so normal für uns wie für andere der Besuch bei den Großeltern. Da die Großeltern mütterlicherseits drei Stunden Fahrzeit entfernt wohnten und die verwitwete Ommi väterlicherseits noch berufstätig war, waren wir sogar häufiger am Grab als bei den Großeltern.

Was ich bei den Besuchen empfunden habe? Tja, also besonders empathisch war ich vermutlich nicht. Ich wusste damals noch nicht wirklich, was das alles zu bedeuten hatte. Es herrschte schon immer eine etwas besondere Stimmung, die ich auch im Alter von nur vier Jahren schon wahrgenommen habe. Und ich lernte früh, dass lautes Lachen, Taubenjagd oder Fangenspielen auf dem Friedhof als nicht angebracht empfunden wurden, obwohl es dort sehr schön war und auch das Platzangebot durchaus üppig war.

Blieb mir also nur, meiner Mutter zu helfen, das Unkraut zu zupfen, Blümchen zu pflanzen und bei Bedarf reichlich Wasser zu gießen. Zugegeben, diese Aufgabe erfüllte mich am meisten. Die große Gießkanne an diesem riesigen Wasserhahn so volllaufen zu lassen, dass ich sie gerade noch tragen konnte, dann das Grab meines Bruders und seines Friedhofsnachbarn (Meine Mutter hatte erzählt, dass die Eltern dieses Jungen in Berlin lebten und sie zugesagt hatte, die immergrüne Bepflanzung bei Bedarf in Schuss zu halten) zu bewässern und mit der leeren Kanne dann wieder loszulaufen fühlte sich in meiner vierjährigen Welt sehr wichtig an. Außerdem hatte ich dann etwas zu tun und empfand den Besuch als nicht zu langweilig. Von den Gedanken und Gefühlen, die meine Eltern überkamen, wenn sie am Grab ihres Kindes standen, hatte ich nicht die leiseste Ahnung.

Und das war auch gut so. Ich war schließlich vier. Und in diesem Alter nimmt man Dinge einfach als gegeben. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie es gewesen wäre, einen lebendigen Bruder zu haben, daher vermisste ich ihn auch nicht. Ich ging ihn halt auf dem Friedhof besuchen. Er blieb, wo er war und ich ging nach dem Besuch mit meinen Eltern wieder nach Hause.

Meine katholischen Eltern hatten mir als ich klein war stets erklärt, mein Bruder wohne beim lieben Gott im Himmel. Da er als Baby gestorben war, konnte er gar keine Sünden begangen haben und sei daher ganz sicher dort. Ich habe mir damals einen großen Saal vorgestellt, in dem Gott an seinem Schreibtisch sitzt und mit Unterstützung durch ein paar wichtige Engel Entscheidungen trifft. Der Rest der Engelsschar, darunter auch mein Bruder, sprang in gebührendem Abstand dazu in dem Saal herum und genoss sein Engeldasein.

Einerseits fand ich das manchmal sehr praktisch, denn schließlich, so sagte mir meine Mutter, könnte ich daher auch direkt zu meinem Bruder beten, der dann sicherlich ein gutes Wort beim lieben Gott für mich einlegen würde. Und es konnte doch nicht schaden, so dachte ich mir, wenn bei allen Menschen, die so beten, mein Gebet quasi eine Art Sonderstatus hätte. Auch wenn meine Gebete sich damals eher auf eine neue Barbie bezogen und diesen Status rückblickend nicht verdient hätten. Aber auch dieser Materialismus lässt sich als Erwachsener leicht erklären: ich war halt ein glückliches Kind und diese blöde Barbie war schlicht mein größter Wunsch.

Andererseits hätte ich im Alter ab ca. sechs Jahren auch gerne manchmal den leibhaftigen großen Bruder an meiner Seite gehabt, der mich in meiner Vorstellung gegen doofe Jungs verteidigt hätte. Ohne ihn stand ich schutzlos da, denn meine vier Jahre jüngere Schwester war als Abwehrunterstützung nicht zu gebrauchen. Und gerade weil meine kleine Schwester vier Jahre jünger war, taugte sie auch nicht bei allen Spielen als Spielgefährtin. Auch da habe ich meinen Bruder durchaus, und wiederum völlig egoistisch, vermisst. Den Tod nahm ich also am ehesten als eine Art Spielverderber wahr, der mir einen Spielkameraden entzogen hatte.

Empathie muss wohl doch anerzogen sein, denn obwohl ich mich als sehr empathischen Menschen bezeichne, scheint mein vierjähriges Ich doch extrem egoistische Motive gehabt zu haben.

 

2

 

Dann erlebte ich den Tod, wie ihn vielleicht schon mehr Kinder erleben: es erwischte unsere Haustiere.

Wie glücklich war ich, als meine Schwester und ich Kaninchen unter dem Weihnachtsbaum fanden. Ein Haustier, das mir gehörte, das ich streicheln und versorgen durfte. Außerdem trug ich jetzt immerhin die Verantwortung für das weiche Tierchen.

Dass sich die Zoohandlung vertan hatte und statt zweier Weibchen ein Weibchen und ein Männchen verkauft hatte, sei hier nur am Rande erwähnt. Meine Eltern bemerkten das erst, als wir Kinder fragten, warum Dicki (das graue Kaninchen meiner Schwester) denn der Mucki (mein schwarzes Kaninchen) so auf den Rücken springt. Wenn ich mich richtig erinnere, haben meine Eltern das Männchen in die Zoohandlung zurückgegeben. Mucki hatte eine Totgeburt, die sie sofort auffraß, und ein paar Neugeborene, die sie jedoch nicht säugen ließ. Mein Opa (der, der drei Stunden entfernt wohnte aber gerade zu Besuch war) sah sich die Versuche meiner Mutter, die die Ratschläge der Tierhandlung, die Kleinen von der Alten zu trennen und mit Pipetten zu füttern, relativ ausdruckslos an. Am nächsten Morgen waren alle tot.

«Oh, die haben wohl die Nacht nicht überlebt», behauptete er uns gegenüber, ohne mit der Wimper zu zucken.

Meine Mutter klärte mich Jahre später auf: sie kannte ihn ja nun am besten und hatte ihn mit: «Du warst das, oder?», sofort zur Rede gestellt.

Er antwortete schlicht mit seiner Devise «Man soll der Natur nicht ins Handwerk pfuschen.» Er hatte nachts allen das Genick gebrochen.

Er war Helfer auf einem richtigen Bauernhof in Niedersachsen (so einer, wie wir ihn heute nur noch aus Bilderbüchern kennen) und konnte mit dieser Vermenschlichung von Tieren einfach nichts anfangen. Und Hasennachwuchs, der von der Alten getrennt in einem Wohnzimmer mit einer Pipette gefüttert wurde, während er im Puppenwagen gehalten wurde, weil die Alte ihn verstoßen hatte, widersprach komplett seinem Weltbild. Nun ja, wir sind halt alle Kinder unserer Zeit.

Als ich etwa sechs Jahre alt war, hatten meine Eltern mir lange erzählt, sie hätten mein Kaninchen Mucki zurück zum Züchter gebracht, weil es doch so viele Freunde dort hatte. Als ich jedoch auch über zwei Jahre später mal wieder nachhakte, wo der Züchter denn wohne und ob wir Mucki nicht doch wieder zurück nach Hause holen könnten, gestand meine Mutter mir, dass Mucki gar nicht beim Züchter war. Ein Besuch beim Tierarzt hatte ergeben, dass Mucki krebskrank war und meine Eltern hatten entschieden, das kleine Kaninchen nicht leiden zu lassen und hatten es noch beim Tierarzt einschläfern lassen. Vermutlich hatten sie diese Ausrede gewählt, um das Thema ‹Tod› einfach mal zu vermeiden. Die Gründe hierfür sind ja durchaus nachvollziehbar.

Ich war niedergeschlagen, ja. Aber - das gestand ich meiner Mutter sofort - ich war auch einverstanden. Natürlich hätte ich nicht gewollt, dass das kleine, zarte Muckilein sich durch die Krankheit hätte quälen müssen. Ich selbst war ja schließlich auch nicht gerne krank. Und mein ‹krank› bezog sich nur auf Husten, Schnupfen, Halsschmerzen und Fieber oder ein gelegentlich mal aufgeschlagenes Knie. Wie hätte ich da meiner heißgeliebten Streichelunterlage eine noch viel schlimmere Krankheit wünschen können?

 

Später bekamen wir einen Kanarienvogel, der sogar einen Ausflug hinter die Kleiderschränke, mit anschließender Befreiung durch das Herausbrechen einer Kleiderschrankrückwand sowie einen Ausflug zur Holzhandlung, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite ihr Lager hatte, überlebte. Zur Rettung musste meine Mutter zunächst mit dem leeren Käfig in die Verwaltung gehen, um dort einem Mitarbeiter die Situation zu erklären, der dann einen anderen Mitarbeiter beauftragte, meine Mutter mit ihrem leeren Käfig auf das Lagergelände zu begleiten, das für betriebsfremde Personen eigentlich Tabu war. Dort saß der verblüffte Vogel in einem Gebüsch. Nachdem meine Mutter einige Zeit mit dem geöffneten Käfig dort gestanden und beruhigend auf den Piepmatz eingeredet hatte, entschied Pucki (Ja, besonders kreativ war ich bei der Namensgebung wohl nicht, auf das Kaninchen Mucki folgte der Vogel Pucki) wieder in sein Zuhause zurückzukehren.

Eines Tages jedenfalls, Pucki machte schon einen sehr schwachen Eindruck, da er nicht mehr auf seinen Stangen, sondern nur noch auf dem Boden seines Käfigs hocken mochte und auch seit Tagen nicht mehr geflogen war, entschied meine Mutter, dass er zum Tierarzt müsste. Wir hoben das entsetzte Vögelchen in einen Schuhkarton, da wir gesagt bekommen hatten, er hätte nicht so viel Angst, wenn er im Dunkeln transportiert werden würde. Meine Mutter fuhr also das Auto und ich saß mit dem Schuhkarton auf der Rückbank. Anfangs hatte ich Pucki noch scharren hören, irgendwann war Ruhe. Eine düstere Ahnung ließ mich vorsichtig in den Karton lünkern.

«Du kannst wieder nach Hause fahren, Mama», teilte ich meiner Mutter mit. «Ich glaube, Pucki lebt nicht mehr.»

Sie fuhr bei nächster Gelegenheit rechts ran. Angeblich wollte sie sich selbst von Puckis Zustand überzeugen. Rückblickend glaube ich, sie wollte wohl vielmehr wissen, wie ich meine traurige Entdeckung verkraftet hatte.

Auch da muss ich jedoch sagen, dass ich ja schon gewusst hatte, dass Pucki älter und schwächer geworden war und zwar sehr traurig, aber nicht fassungslos oder so gewesen war. Pucki bekam eine Beerdigung in ebendiesem Schuhkarton im Schrebergarten von Nachbarn.

 

3

 

Mein Vater hat leider auch noch einen gewaltigen Schrecken bekommen, als man ihn mit dem Tod bedrohte.

Er war Straßenbahnfahrer und fuhr abends eine Straßenbahnlinie, die unter anderem von einer Menge aufgewühlter Fußballfans zur Heimreise benutzt wurde. Einer der Fans war schon durch Pöbeleien auffällig geworden, der Kumpel hat ihn aber immer wieder beruhigen können.

An der Haltestelle Dominikus-Krankenhaus wollten die beiden eigentlich aussteigen. Der aggressivere der beiden hielt sich jedoch an den Haltestangen fest, die durch die Bahn laufen, holte Schwung und wollte mit den Füßen eine Scheibe der Bahn eintreten.

Mein Vater, damals noch schlank, verließ seinen Fahrersitz und packte den Randalierer am Schlafittchen. Wir erinnern uns, das ganze begab sich Mitte/Ende der Siebziger, da machte alleine eine Uniform bei den meisten Menschen noch Eindruck. Er hielt den Randalierer also so fest, verließ gemeinsam mit ihm die Bahn und ließ ihn erst auf dem Bahnsteig wieder los. Der Kumpel, der vorher noch für Ruhe gesorgt hatte, stellte sich jedoch nun auf die Seite des Randalierers und zog unvermittelt eine Waffe: «Hau ja ab und lass den los, sonst knallt’s!»

Mein Vater dachte an Christina und mich, seine sechs- und zweijährigen Kinder, und an meine Mutter, die eventuell in wenigen Sekunden zur Witwe würde. Er sprach von puddingweichen Beinen.

Nachdem er eine Weile auf meinen mit erhobenen Händen dastehenden Vater gezielt hatte, schmiss der junge Fan seine Waffe plötzlich in ein Gebüsch, drehte sich um und lief weg. Und mein Vater? Ließ die Bahn Bahn sein und lief hinterher. Und ich weiß, dass das jetzt kaum zu glauben ist, aber so ist es tatsächlich passiert: der junge Mann nahm die nahegelegene Autobahnbrücke als Fluchtweg. Mein Vater lief hinter ihm und zufällig kam ein Taxifahrer gerade dort die Brücke hinaufgefahren. Der Mann erkannte die Uniform meines Vaters sofort und funkte die Polizei an. Und als wäre das nicht schon Glück genug, hörte eine Streife, die wirklich zufällig gerade von der anderen Seite in Richtung dieser Brücke fuhr, den Funkspruch und schaltete umgehend das Blaulicht ein, stoppte auf der anderen Seite der Brücke und die beiden Beamten stiegen aus. Der Flüchtende hatte jetzt hinter sich meinen Vater, links von sich den Taxifahrer und vor sich die Polizei. Gut, rechts natürlich noch den Abgrund mit der Autobahn.

Kaum zu glauben war, dass der Vater des Fans ein Kollege meines Vaters war! Der Mann war Busfahrer und arbeitete in der gleichen Firma, wenn auch in einem anderen Betriebshof. Die Waffe ist damals noch im Gebüsch sichergestellt worden, es handelte sich um eine Schreckschusspistole, was mein Vater als waffenunkundiger Durchschnittsbürger natürlich nicht erkennen konnte.

Wie die Verfolgung durch die Behörden aussah, kann ich leider nicht mehr sagen, mein Vater hat auf jeden Fall nach einer Entschuldigung des Mannes, die im Hause des Kollegen stattfand, auf weitere Maßnahmen verzichtet, um ihm seine Zukunft nicht zu verbauen.

Danach hatten wir leider nur eine Weile Ruhe, bevor das Schicksal oder wer auch immer sich erneut etwas wirklich Übles hat einfallen lassen.