Der zwölfteilige Brokat und alles andere - Yürgen Oster - E-Book

Der zwölfteilige Brokat und alles andere E-Book

Yürgen Oster

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Beschreibung

Der Zwölfteilige Brokat ist eine Qigong-Übung aus den Klöstern der Wudangberge in China. Man muss nicht alles wissen, was in diesem Buch steht, um den Brokat zu üben. Er wird gut erklärt und reich bebildert dargestellt. Aber man muss auch nicht den Brokat lernen wollen, um dieses Buch mit Genuss zu lesen. Was in diesem Buch außer dem zwölfteiligen Brokat vorkommt: • Womit alles anfing und warum es uns schwer fällt, Qi zu verstehen. • Was die Dan Tian sind und der Dreifache Erwärmer und was das mit der Bahnhofstraße zu tun hat. • Natürlich Yin und Yang, die Trigramme und die 8 Unsterblichen. • Die Wandlungsphasen, das mittlere Gefäß und Spiegelneuronen. • Der Unterarm, das Kniegelenk, die Wirbelsäule und was alles zu viel ist. • In welche Richtung die Zeit verläuft und ob das eine angebundene Katze ist. • Der Eisenochse und die Ruhe der Berge, warum manche Menschen gerne auf Tischen tanzen und andere Steinchen ins Wasser werfen. • Wie die TCM entstanden ist, wie weit schulterweit sein kann und wie man eine Ejakulation vermeidet. • Ein magisches Quadrat, die sieben Sterne und die sieben Po. • Gesundheit, wie man eine Faust macht und der Alleskönner-Dämon. • Das vorgeburtliche Qi, das nachgeburtliche Qi und ein Blick über den Tellerrand. • Eine Organuhr, ein naiver Missionar, die zwölf Irdischen Zweige und die zehn Himmlischen Stämme. • Daoistische Meditation, Alchemie und die Geschichte vom Affenkönig. • Und alles andere.

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Inhalt

Zu Anfang

Die Ausgangsposition

1. Mit beiden Händen den Himmel halten

Beschreibung der 1. Übung

2. Den Bogen spannen nach links und rechts

Beschreibung der 2. Übung

3. Wechselnd die Hände heben

Beschreibung der 3. Übung

4. Zurückblicken auf die fünf Mühen und sieben Verletzungen

Beschreibung der 4. Übung

5. Den Kopf schütteln und mit dem Hintern wackeln

Beschreibung der 5. Übung

6. Vor und zurück, sieben Mal

Beschreibung der 6. Übung

7. Die Fäuste ballen und mit den Augen funkeln

Beschreibung der 7. Übung

8. Mit beiden Händen die Füße fassen

Beschreibung der 8. Übung

9. Himmlisches Licht sammeln, das Qi hinunterleiten

Daoistische Meditation nach Sun Si Miao

Beschreibung der 9. Übung

10. Zu beiden Seiten die Nadel vom Meeresboden heben.

Daoistische Meditation nach Sun Si Miao, Teil 2

Beschreibung der 10. Übung

11. Die Arme auf und ab wirbeln

Beschreibung der 11. Übung

12. Im Bogenschritt leicht wie Wolken

Beschreibung der 12. Übung

Anhang

Die Entstehung des Kosmos

Qi im Menschen

Die Fünf Wirkphasen Wu Xing

Die Himmlischen Stämme und Irdischen Zweige

Zeittafel der chinesischen Dynastien

Kurze Geschichte des Daoismus

Bildernachweise

Quellen- und Literaturhinweise

Die Acht Unsterblichen überqueren das MeerRelief aus dem Qingsong Tempel in Hongkong

Zu Anfang

Noch als die Bezeichnung Qi Gong in Deutschland unbekannt war und man stattdessen von Vorübungen zum Taijiquan sprach oder, wie ich es vorzog auf das Schild meiner Schule zu schreiben ‚chinesisches Yoga‘, da kannten wir alle schon diese acht Übungen, die auch einen eigenen Namen hatten: Acht Brokate.

In diesem Buch wird eine Folge mit vier weiteren Übungen vorgestellt. Du kannst die Bewegungsabläufe lernen und erfolgreich durchführen, ohne das ganze Buch zu lesen. Dazu brauchst du nur die Beschreibungen am Ende jeden Kapitels, und am Ende des Buches werde ich versuchen, die wichtigsten zusätzlichen Informationen zusammenzufassen. Diese Zusammenfassung ist auch hilfreich, wenn du das ganze Buch liest, denn es kommen eine Menge Geschichten darin vor, die nicht unbedingt wichtig zu erinnern sind, aber, hoffentlich, die Geschichte leichter verdaulich machen. Als ich mein erstes Lehrvideo produzierte, trug ich den Stoff sehr trocken und fast mechanisch vor. Mein Regisseur forderte mich mehrmals auf: "Yürgen, mach doch mal einen Witz." Aber ich wollte den Zuschauern nicht zumuten, bei wiederholtem Betrachten immer wieder den gleichen Witz zu hören. Natürlich meinte der Regisseur, ich sollte lockerer sein, und das hätte den Videos sicher gut getan. Im Unterricht bin ich durchaus locker, und dieses Buch spiegelt in etwa wieder, was ich auch in meinen Seminaren erzähle. Hier nutze ich die Gelegenheit, noch mehr zu sagen, als ich in einem Kurs sagen könnte, bei dem praktisches Arbeiten im Vordergrund steht. Wenn du schon einige Erfahrung mit Taijiquan oder Qigong gemacht hast, ist dir manches bekannt. Da ich jedoch nicht wissen kann, was jeder schon weiß, gehe ich auf alles so weit wie möglich ein.

Über den Namen "Brokate" gab es die Geschichte, die Übungen seien auf Brokatstoffen gewebt überliefert worden. Bis heute habe ich noch keine Abbildung dieser Brokatstoffe gesehen. Ich denke, es handelt sich um eine moderne Legende, im Westen erzählt, um Unwissenheit zu verbergen. Es könnte allerdings auch sein, dass in Unkenntnis über das Wesen eines Brokatstoffes jene Seidentücher gemeint wurden, die in dem Grab Ma Wang Dui in der Provinz Hunan gefunden wurden. Dabei handelt es sich um die älteste bisher bekannte Darstellung von Dao Yin-Übungen, wie sie früher genannt wurden. Dao Yin bedeutet so viel wie “Dehnen und Strecken”.

1972 wurden in der Nähe der Stadt Changsha nacheinander drei Gräber aus der Zeit der westlichen Han-Dynastie gefunden und geöffnet. Es handelte sich dabei um die Begräbnisstätte des Herzogs von Dai und zweier Angehörigen.

Aus einem der Gräber konnten viele Seidenbücher geborgen werden. Texte und Bilder, die auf Seidenstoffe gemalt waren. Darunter das Yi Jing, bekannt als Buch der Wandlungen, das Dao De Jing von Lao Zi und eben auch ein großes Tuch mit den Darstellungen von Personen, die verschiedene Übungen ausführen. Die Gräber werden auf die zweite Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts datiert. Älter als diese Bilder sind nur Beschreibungen von Übungen, zum Beispiel im Buch des Gelben Kaisers über das Innere, Huang Di Nei Jing Su Wen.

Wie dem auch sei, aus den Darstellungen der Ma Wang Dui Tücher lässt sich keine eindeutige Übungsreihe nachvollziehen. Auch wenn einige der Figuren Haltungen einnehmen, die in Variationen der Brokatübungen vorkommen, wäre es doch vermessen zu behaupten, die Acht Brokate seien auf jenen Seidentüchern überliefert worden.

Das Schriftzeichen Jin lässt sich sowohl mit Brokat als auch elegant, prächtig, glänzend übersetzen. Duan übersetzt man gerne als Stück, Abschnitt, kann aber auch als Paragraph oder Vers gelesen werden. Das ist eine Eigenart der chinesischen Schrift, auf die später noch genauer eingegangen wird. Ein einziges Schriftzeichen kann sehr verschieden gelesen werden und ergibt seinen Sinn am ehesten aus dem Zusammenhang. Da in späteren Überlieferungen die Namen der einzelnen Brokate stets und konsequent aus sieben Zeichen geschrieben wurden, könnte man durchaus auch von Versen sprechen, also den Acht (bzw. zwölf) Versen des Brokat oder Acht Elegante Verse.

Ganz gleich, wie wir es lesen und verstehen, wichtig ist die Ausführung der Übungen. Ich möchte der Einfachheit halber ab jetzt nur noch von den Ba (acht) Duan Jin oder den Shi Er (zwölf) Duan Jin reden.

Wenn wir also sagen können, dass schon um ca. 300 vor unserer Zeitrechnung Ba Duan Jin-ähnliche Übungen praktiziert wurden, ist daran zumindest die Kontinuität zu bewundern, mit der diese und ähnliche Bewegungsarten überliefert wurden. Immerhin legt man auch den Ursprung der antiken Olympischen Spiele auf das siebte Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, wobei dort nicht so sehr die Gesundheit der Athleten von Bedeutung war: Erstens ging es nicht um den Sport, sondern es war ein religiöses Kultfest, und zweitens mussten manche Teilnehmer in ihrer Disziplin durchaus mit dem Tod rechnen. Vielleicht stammt aus jener Zeit der Spruch „Sport ist Mord“, oder von den Gladiatorenkämpfen. Aber auf Griechisch oder Latein reimt es sich nicht so schön. Sicher belegt ist der Satz von Bertold Brecht: “Der große Sport fängt da an, wo er längst aufgehört hat, gesund zu sein.“

Doch kehren wir zurück in das China um ca. 300 vor unserer Zeitrechnung. Aus dieser Zeit stammt auch das Huang Di Nei Jing, das Buch des Gelben Kaisers vom Inneren. Es ist wohl die älteste Schrift über jene Entsprechungsmedizin, die bis heute als chinesische Medizin überliefert ist. Auch in diesem Buch finden wir schon Hinweise auf Bewegungen, die bei bestimmten Leiden auszuführen seien.

Ich möchte gerne noch einmal erzählen, wie es nach meiner Vorstellung begann:

Vor langer, langer Zeit kam ein Mensch aus seiner Höhle oder seiner Hütte, sah die Sonne aufgehen, reckte und streckte sich und fühlte sich wohl dabei. Und weil er sich wohl fühlte, machte er das jeden Morgen, und im Laufe der Zeit entwickelte er für sich einige Bewegungsfolgen, mit denen er den Grundstein legte für das heutige Qi Gong.

Deshalb verneige ich mich hier vor jenem Unbekannten und allen, die ihm folgten, die seine Idee aufgegriffen, sie weiter entwickelt und ihren Nachfahren vermittelt haben.

Den Begriff Qi Gong soll zum ersten Mal der Daoist Xu Xun (* 239; † 374), der erste Patriarch der Jing Ming Dao Schule, verwendet haben. Im allgemeinen wurden verschiedene Bezeichnungen benutzt, das oben schon erwähnte Dao Yin, Yang Sheng, was Pflege des Körpers bedeutet, oder Yang Shen, Pflege des Geistes, wenn die Übungen mehr spirituellen Zielen dienten. In den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts vereinigte man die verschiedenen Wege unter dem Namen Qi Gong.

Es dauerte noch einige Zeit, bis Frau Dr. med. Josephine Zöller nach China kam und dort Qi Gong kennenlernte. Sie sammelte einige Heftchen mit einzelnen Übungen, übersetzte sie und machte ein dickes Buch daraus. Natürlich dachte jeder: “Dr. med. oho, chinesische Medizin, lange Erfahrung, Forschung und jetzt also Qi Gong.“ Was einem so an Assoziationen durch den Kopf geht, wenn man ein solches Buch von solcher Autorin in der Hand hält. Dabei war Josephine richtig per Zufall in die ganze Geschichte gerutscht. Als Ärztin in Berlin-Kreuzberg hatte sie eher mit Türken und Griechen zu tun gehabt, und chinesische Medizin hatte ihr bis dahin noch nichts bedeutet. Eigentlich wollte sie einen Kurs über griechische Mythologie an der Volkshochschule besuchen, war aber leider die Einzige, die sich dafür eingeschrieben hatte. Weil sie schon da war, hat sie geschaut, was denn sonst angeboten wurde, und just an diesem Tag begann ein Kurs Chinesisch. Also lernte Josephine, die mit Erreichen der Mindestrente ihre Praxis geschlossen hatte, die chinesische Sprache. Mit einem Grundwissen ausgerüstet reiste sie nach China, lernte dort Mediziner und auch die chinesische Medizin kennen. Nach drei Monaten kehrte sie nach Hause zurück, packte ihren Hausstand ein, die chinesischen Kollegen besorgten ihr derweil eine Anstellung als Deutschlehrerin und so konnte unsere rüstige Rentnerin für längere Zeit in der Volksrepublik bleiben, was damals, in den frühen 80er Jahren, noch nicht so einfach war. Jetzt machte sie auch ihre ersten Begegnungen mit Qi Gong, sammelte einige Heftchen mit einzelnen Übungen, übersetzte sie und machte ein dickes Buch daraus. Mit dem dicken Buch machte sie auf ihre alten Tage eine zweite Karriere, und Qi Gong wurde in Deutschland bekannt.

Im Vorwort schreibt sie, „…dass das Qi… (nicht) nur Sache der asiatischen Völker sei. Qi ist eine «Naturkraft», wie die Gravitation.“

Damit kommen wir zu einem wichtigen, unausweichlichen Thema: Was ist denn eigentlich Qi Gong bzw. dieses ominöse Qi? Wenn ich danach gefragt werde, versuche ich es mir meistens leicht zu machen und sage einfach, es ist die Lebenskraft. Da sich jeder, der lebt, darunter etwas vorstellen will, wenn auch nichts Konkretes, komme ich damit für gewöhnlich durch. Im vorliegenden Buch möchte ich es mir nicht so einfach machen und werde dem Thema ausreichend Platz einräumen. Immerhin hat man diese Naturkraft hier im Westen noch nicht entdeckt und weigert sich auch standhaft, sie anzuerkennen. Die asiatischen Völker hingegen haben sie seit ca. 3000 Jahren erforscht, ausgiebig beschrieben und in den verschiedenen Wissenschaften ihrer Kulturen angewandt. Ich finde dieses Thema schon ein Schwätzchen wert.

Gong hingegen ist leicht zu übersetzen, bedeutet Arbeit, sich mit etwas beschäftigen, Mühe. Es ist das gleiche Gong wie in Kung Fu.

Unter Kung Fu oder der neueren Pinyin-Umschrift folgend Gong Fu - was aber dennoch "Gung Fu" ausgesprochen wird - versteht man gemeinhin die chinesische Kampfkunst. Es ist aber ursprünglich ein Oberbegriff, der alles umfasst, was Mühe und Zeit braucht, um gemeistert zu werden. Disziplin.

Dazu gehört auch Qi Gong.

Die Bezeichnung Shi Er Duan Jin taucht zum ersten Mal im Shou Shi Chuan Zhen von Xu Wen Bi auf. Das war in der Periode Qian Long der Qing Dynastie (1735 – 1796).1

Eine achtteilige Version der Brokate wird schon viel früher im Dao Shu () erwähnt, das 1136 erschien.

Das Dao Shu (Die Achse des Dao) ist eine Sammlung daoistischer Texte, die von dem Gelehrten Zeng Zao zusammengetragen wurde. Dieses umfangreiche Werk enthält Texte aller Aspekte der daoistischen Philosophie und Religion, von den theoretischen Grundlagen über die Entstehung des Universums bis zu religiösen Glaubenssätzen und Praktiken. Das Dao Shu ist eine wichtige Quelle zum Studium der Entwicklung innerer Alchemie am Ende der Tang-Zeit (618 – 907).

Alle späteren Formen der Ba Duan Jin oder Shi Er Duan Jin basieren auf dem dort enthaltenen Text.

Einer im 18. Jahrhundert verbreiteten Legende nach soll der populäre Heerführer Yue Fei um 1100 die Übungen zur Kräftigung seiner Soldaten zusammengestellt haben. Yue Fei war der erfolgreichste Truppenführer der südlichen Song Dynastie, galt als volkstümlich und fürsorglich. Es ist auch eine chinesische Eigenart, den Dingen irgendwann im Nachhinein einen berühmten Menschen als Schöpfer anzudichten. Zhang San Feng als Erfinder des Tai Ji Quan, Bodhidharma als Gründer des Shao Lin, Lao Zi als Autor des Dao De Jing - alles nicht bewiesen. Diese Legenden werden intensiv ausgeschmückt und erzählt, bis jeder sie schon einmal nacherzählt hat. Da man in China auch jeder noch so unglaublichen Geschichte eine Lokalität zuordnet und man besichtigen kann, in welcher Höhle die absolut nicht historische Gestalt des Zhen Wu meditiert hat, muss es ja stimmen. Bekanntlich hält sich nichts hartnäckiger als ein Gerücht. Gäbe es auf der anderen Seite nicht eine reichlich ernsthafte und präzise Geschichtsschreibung (mit Perioden und Dynastien als Zeiteinteilungen), hätten sich die Chinesen schon fünf Mal neu erfunden.

Die tatsächlich erste Erwähnung der Ba Duan Jin findet sich im Xiu Zhen Shi Shu () aus dem 13. Jahrhundert. Hierbei handelt es sich allerdings um eine Reihe von Übungen im Sitzen, die seit der Zeit der nördlichen Song zwischen 960 und 1127 bekannt sein sollen. Das Xiu Shen Shi Shu, eine zehnbändige Textsammlung zur inneren Alchemie der Bai Yu Chan Schule, zeigt uns eine Zeichnung jeder Übung, eine allgemeine Beschreibung des Ablaufs und einen ausführlichen Kommentar. Den gleichen Text finden wir im Chi Feng Sui von Zhou Lü Jing aus dem Jahr 1578. Spätere Werke haben meist die alten Texte übernommen und mit erweiterten Kommentaren versehen.

Inzwischen sind unterschiedliche Versionen der Ba Duan Jin in ganz China und auch in der westlichen Welt verbreitet. Es dürfte sich um die bekannteste Dao Yin Methode überhaupt handeln. Die Ausführungen variieren von einfachen, leichten Bewegungen bis zu extrem schwierigen, die Gelenkigkeit und Kraft erfordern. Die meisten Spielarten halten sich an die gleiche Reihenfolge der Übungen.

Die in diesem Buch vorgestellte zwölfteilige Reihe ist relativ einfach und kann ohne viel Aufwand jederzeit praktiziert werden. Sie lässt sich leicht lernen und leicht erinnern. Die Art der Ausführung kann den eigenen Ansprüchen angepasst werden. Ob schnell oder langsam, ein einziger Durchlauf oder viele Wiederholungen, sollte den Bedürfnissen und Fähigkeiten jedes Einzelnen entsprechen.

Shi Er Duan Jin basiert auf der Philosophie des Daoismus und dem Wissen der chinesischen Medizin. Mit den Übungen wird Qi reguliert, werden Yin und Yang in ein Gleichgewicht gebracht, Sehnen und Bänder gekräftigt und die Knochen gestärkt. Shi Er Duan Jin verbessert die Gesundheit, fördert die geistige Entwicklung und verhilft zu einem glücklichen und langen Leben.

Nach den Vorstellungen der chinesischen Medizin zeigt sich Gesundheit in der Harmonie und Ausgewogenheit von Körper und Geist. Die Lebenskraft Qi durchströmt unser ganzes Wesen, alle körperlichen Systeme, beeinflusst die Gemütszustände und die Welt der Gedanken. Ist Qi im Gleichgewicht von Yin und Yang, befindet sich unser ganzes Dasein in entspannter Ruhe und Gelassenheit. Durch die Regulierung von Atmung und Bewegung werden Geist und Qi vereint. Diesen Gleichklang wollen wir erreichen durch die regelmäßige Anwendung der Shi Er Duan Jin.

Es ist besser und leichter, die Gesundheit zu erhalten und zu stabilisieren, als sie wieder herzustellen. Und es ist alles ganz einfach. Aber erst dann, wenn man es kann.

Zum Anfang ein paar Hinweise, die das Üben und den Erfolg unterstützen sollen:

1) Die innere Einstellung

Nicht nur die richtige äußere Haltung, sondern auch die innere trägt zum Erfolg der Übungen bei. Wer nicht gesund ist und damit nicht umgehen kann, wer den ganzen Tag deswegen in Sorgen vergeht, wird niemals den gewünschten Effekt erzielen, ganz gleich, wie eifrig er übt. Aber auch, wenn mit den Übungen eine Verbesserung spürbar wird, darf man sie nicht abbrechen. Sie beharrlich weiter praktizieren, ist der Weg, eine stabile Gesundheit zu erlangen. Um den Körper zu kräftigen, die Gesundheit zu erhalten und zu steigern, sollte man regelmäßig üben.

2) Die Verbindung von Spannung und Entspannung

Während der Übungen müssen Muskeln und Nerven des ganzen Körpers entspannt sein. Dann wird die Haltung langsam weich und dennoch kraftvoll. Damit werden geistige und körperliche Erschöpfung aufgehoben. Festigkeit und Nachgiebigkeit oder Spannung und Entspannung sind relativ. In den Übungen wird immer Entspannung mit Spannung verbunden und umgekehrt. Niemals sollte nur harte Kraft angewendet werden. Härte wird mit Weichem, Anspannung mit Entspannung vereint. Das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Qigong Praxis.

3) Geistige Konzentration

Ist der ganze Körper entspannt, wird auch der Geist sich entspannen. Man richtet während der Übungen seine Aufmerksamkeit zum Zentrum des Körpers, einem Bereich unterhalb des Bauchnabels, dem Dan Tian (Elexierfeld). Der Geist ist ruhig und seine Ausrichtung zum Dan Tian ist sanft, nicht angestrengt, sonst würde sich ein Gefühl der Unruhe einstellen, in extremen Fällen kann es zu einer Überempfindlichkeit der Nerven führen.

Leite die Energie, die du von der Natur aufnimmst, gedanklich ins Dan Tian. So wie es notwendig ist, wird die im Dan Tian gespeicherte Energie einund ausgehen, wir sagen dazu: „Der Geist führt die Energie, die Energie kontrolliert das Blut, die Energie bewegt sich mit dem Blut, das Blut bewegt sich mit der Energie. Wo dein Geist hinkommt, wird auch deine Energie hinkommen. So wirst du während des Übens jeden Raum deines Körpers beruhigen, der Körper fühlt sich leicht an und die Krankheit weicht. Das ist der beste Weg zu einem langen Leben.“

4) Gleichmäßige und sanfte Atmung

Vor dem Beginn der Übungen kann man einige Male tief durchatmen. Während der Übungen soll der Atem sanft und natürlich sein. Es ist besser, durch die Nase zu atmen, man kann auch durch Nase und Mund gleichzeitig atmen. Aber man soll nicht heftig mit weit geöffnetem Mund, sondern leicht ein- und ausatmen. Der Atem sollte nicht zu hören sein, auch nicht für dich selbst.

Such dir einen Platz an der frischen Luft. Musst du im Haus üben, dann öffne zunächst eine Weile die Fenster. Bewegung und Atmung sollen allmählich koordiniert werden. Im Prinzip wird eingeatmet, wenn der Brustkorb sich öffnet und ausgeatmet, wenn er sich schließt.

Dann wird sich auf natürliche Weise eine Bauchatmung einstellen. Damit wird der Umfang der Zwerchfellausdehnung erweitert und die Bauchmuskulatur gestärkt, womit gleichzeitig eine Massage der inneren Organe einhergeht. Auf jeden Fall soll sich die tiefe Bauchatmung natürlich entwickeln und nicht willentlich herbeigeführt werden.

5) Die Pflege der Gesundheit

Es reicht nicht nur die körperliche Übung, um ein hohes Maß an Gesundheit zu erreichen. Dazu gehören alle Aspekte des täglichen Lebens, die Ernährung, die Arbeit und die Lebensumstände. Zum Beispiel schadet Rauchen dem Körper, deshalb sollte man es vermeiden. Ebenso sollte man nicht zuviel berauschende Getränke zu sich nehmen.

Die Übungen sollten nicht innerhalb einer Stunde nach den Mahlzeiten praktiziert werden, damit Atmung und Verdauung nicht gestört werden. Die Kleidung sollte locker sein, um die Bewegungen nicht zu behindern.

Um den Körper umfassend zu trainieren, sollte man neben den Brokatübungen weitere Methoden zur Gesunderhaltung praktizieren. Dauer und Häufigkeit der Übungen müssen der Person, der Zeit und dem Ort angepasst werden. Die Intensität soll der eigenen Kondition entsprechen. Streng dich nicht übermäßig an, man darf durchaus leicht ins Schwitzen kommen, sollte es aber nicht übertreiben. Hier gilt wie bei allem, das rechte Maß zu finden.

1 Auch etwas, worüber man sich unterhalten möchte: diese chinesische Zeitrechnung in Dynastien und Perioden. Möchte gerne wissen, wieviele meiner Leser ohne zu googeln wüssten, wovon die Rede ist, wenn ich von der Epoche des Westgotenreiches reden würde.

Die Ausgangsposition

Wenn man von Süden kommend mit dem Zug nach Mainz einfuhr, konnte man früher kurz vor dem Südbahnhof am Eingang zum Volksgarten eine große Blumenuhr sehen. Eine kreisförmige Fläche von ungefähr fünf Metern im Durchmesser bildete aus verschiedenen Pflanzen das Zifferblatt, über das sich zwei mächtige Zeiger drehten. Irgendwann ging wohl das Uhrwerk kaputt, aber die runde Fläche gab man nicht auf. Im Jahre 2010 pflanzten die städtischen Gärtner dort aus grünem und dunkelrotem Buntnessel ein großes Yin und Yang Symbol. Genau genommen heißt es Tai Ji Tu, was ungefähr Darstellung der höchsten Harmonie bedeutet. Das wissen hier nur wenige, aber Yin und Yang, das ist bekannt. Ein bisschen mehr als männlich/weiblich sollte man aber schon darüber wissen. Ursprünglich bezeichnete Yang die Sonnenseite eines Hügels und Yin die Schattenseite. Jetzt wissen wir schon, dass Yang hell und Yin dunkel ist, und wo die Sonne scheint, ist es wärmer als im Schatten. Im Kühlen ist es auch feuchter, Wärme schafft Trockenheit. Ein trockenes Holz ist härter als ein feuchtes, ein feuchtes ist biegsamer und nachgiebig. Im Inneren eines Hauses ist es dunkler als draußen und auch enger. Auf diese Weise kann man recht gut weiter denken und verstehen, was warum als Yang oder Yin kategorisiert wird. Jedenfalls gibt es Yang und Yin als solches nicht, sondern es ist ein Konzept. Auch gibt es nichts, was nur Yang oder nur Yin ist, das zeigen uns die jeweils gegenfarbigen Punkte in den beiden Tropfen.

Bevor wir uns in der Zuordnung aller Teile des täglichen Daseins nach Yin oder Yang verlieren, sollten wir von dem großen Gedanken ausgehen, der besagt, dass der Kosmos entsteht und sich verändert durch das Zusammenspiel der beiden Kräfte. Wenn es ein Oben gibt, gibt es auch ein Unten und wenn es ein Oben und Unten gibt, gibt es auch etwas, das sich zwischen oben und unten abspielt. Dann gibt es Kräfte, die aufeinander einwirken und das Sein ins Rollen bringen. Wir Menschen haben nicht nur ein Oben und Unten, sondern auch ein Hinten und ein Vorne, ein Rechts und ein Links sowie ein Innen und ein Außen. Jede Menge Yin und Yang. Das ist unsere Ausgangsposition.

Du stehst aufrecht, die Fersen der Füße zusammen, die Füße ungefähr im 45-Gradwinkel nach außen weisend.

Du stehst aufrecht. Die Füße fest auf dem Boden, mit der Erde verbunden. Du kannst die Füße etwas krümmen, mehr in der Vorstellung als in Wirklichkeit, wie ein auf dem Ast sitzender Vogel. Oder besser, als würden die Füße Kraft von der Erde saugen.

Unter der Fußsohle befindet sich der Punkt Yong Quan, Sprudelnde Quelle. Er ist der erste Punkt der Nierenleitbahn, der einzige Punkt unter der Fußsohle. Deshalb ist für manche Praktiker diese Leitbahn die Nummer Eins. Westliche Mediziner, die sich der Akupunktur genähert haben, setzten die Herzleitbahn an erste Stelle, die chinesische Organuhr (wir kommen später darauf zurück) beginnt mit der Lungenleitbahn. Wir sehen hier schon, dass es kein einheitliches System gibt und es oft auf den Standpunkt, auf die Ausgangssituation der Betrachtungsweise ankommt.

Der Immobilienmakler und Kunstmäzen K.H. Müller kaufte einige Jahre nach der Gründung des Museums Insel Hombroich eine nahegelegene ehemalige Raketenstation und machte daraus eine Spielwiese für bildende Künstler, Musiker, Dichter, Wissenschaftler und Esoteriker. Genau genommen sind ja alle aufgezählten Sparten esoterisch, also nennen wir als letztes die Spirituellen. Zumindest war es so gedacht und was so klingt wie eine Hippie-Wohnwagensiedlung fand tatsächlich auf einem professionellerem, aber durchaus esoterischen Niveau statt. Die Wissenschaften wurden vertreten von jenem Fritz-Alfred Popp, der sich der Erforschung der Biophotonen widmet. In seinem auf der Raketenstation ansässigen Institut trafen sich Wissenschaftler und Forscher aus aller Welt. Da ich auf der Museumsinsel ziemlich regelmäßig Tai Ji Quan und Qi Gong Seminare abhielt und auf der Raketenstation übernachtete, begegnete ich beim Frühstück einigen interessanten Menschen. Unter anderen lernte ich einen chinesischen Physiker kennen, der sich mit ich weiß nicht mehr was beschäftigt hatte und nach einem Beschreibungsmodell suchte. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Sprache der chinesischen Medizin ziemlich gut dazu geeignet war, weshalb er sich eingehend mit der chinesischen Medizin beschäftigte und Akupunkturpunkte erforschte. Aus diesem Grund war er in Alfred-Fritz Popps Institut gelandet. Ich erzähle das alles, weil dieser Mann ganz genau erkannt hatte, die Sprache der chinesischen Medizin ist auch auf andere Gebiete anwendbar und ich möchte an dieser Stelle den Leser eindringlich darauf hinweisen, dass es sich um eine Sprache handelt. Um einen Versuch, Wirklichkeit zu beschreiben, in Erkenntnis gebündelte Erfahrungswerte in Zeiten überdauernde Metaphern zu kleiden, damit hilfreiches Wissen nicht verloren geht.

Die Begriffe von Yin und Yang, den Trigrammen oder den Fünf Wirkphasen, Qi, Jing-Essenz, Shen-Geist und was uns alles noch begegnen wird, sind Begriffe innerhalb eines Systems der Beschreibung, so wie fis und dur oder Terz Musik beschreiben, aber nicht Musik sind. Ich bitte darum, dies beim weiteren Lesen stets im Sinn zu behalten.

Qi fließt im Körper unter anderem durch die Leitbahnen. Es gibt zwölf ordentliche, paarweise angeordnete und acht außerordentliche Leitbahnen, sie werden auch Meridiane genannt, weil sie ein Netz bilden. Beginnen wir mit dem Nierenmeridian, dessen erster Punkt an der Fußsohle liegt und dann an der Innenseite des Beins und vorne, ziemlich nah der Mittelachse des Torsos aufsteigt bis unter das Schlüsselbein. Dort geht Qi über in den Xin Bao (dem man kein Organ zuordnen kann), der zur Hand fließt. Von der Hand geht es im San Jiao (ebenfalls ohne Organ, wir lernen ihn bald besser kennen) zum Kopf, von dort über die Gallenblasenleitbahn wieder runter zum Fuß. Das wäre ein Durchlauf, wovon es drei gibt mit je vier Leitbahnen. Sie befinden sich sowohl in der rechten als auch in der linken Körperhälfte.

In der aufrechten Haltung bist du fest mit dem Boden verbunden, den Kopf stell dir vor wie an einem Faden vom Himmel hängend. Der Faden hält dich hoch, das Gewicht des Körpers folgt der Schwerkraft und sinkt nach unten auf die Fußsohlen.

Die Kraft der Erde steigt durch die Fußsohlen in dir hoch und trägt dich, die Kraft des Himmels umfasst und hält dich. Wenn wir von Himmel und Erde reden, wo ist dann für dich die Grenze des einen, wo beginnt für dich das andere? Wir sagen, der Körper mit seiner Substanz gehört zur Erde, der Geist kommt vom Himmel. Beide Kräfte durchdringen sich und verschmelzen im Herzen. Dort ist der Sitz des menschlichen Geistes.

Der Mensch steht verbindend zwischen Himmel und Erde, er hat beides in sich vereint. Das ist, einfach gesagt, der Grundgedanke des Daoismus, jener in China entstandenen Weltsicht. Der Name bezieht sich auf den Begriff DAO , wörtlich der Weg. Aber das Schriftzeichen, ein gehendes Auge, bedeutet auch, über etwas reden, erklären. Beschreiten und Beschreiben. Etwas, das uns sagt oder zeigt, wo es lang geht. Das Leitende. Ursprünglich wurde der Begriff ausschließlich für den Wandel des Mondes und den Lauf der Gestirne benutzt. Später erweiterte sich das Bedeutungsspektrum zunächst auf die Natur, das Geschick der Menschen und letztlich auch auf den Lebensweg des Einzelnen. Soweit war der Begriff schon im Denken der Chinesen integriert, als sich folgende Geschichte begab.

Es muss in der Periode der Frühlings- und Herbstannalen gewesen sein, als sich Li Er, der Archivar in der Bibliothek des Königshauses, aus der Hauptstadt Xian Yang aufmachte, das Reich zu verlassen. Er sah den Untergang der Zhou-Herrscher kommen, war auch alt genug geworden, sich zurückzuziehen und so machte er sich auf den Weg. Die Legende erzählt, er ritt auf einem Ochsen, nach Bertold Brecht gab es auch einen Knaben, der den Ochsen führte. Nach ungefähr siebzig Kilometern in westlicher Richtung erreichte unsere kleine Reisegesellschaft am Shan Gu-Pass einen Turm, den ein gelehrter Mann namens Yin Xi zur Beobachtung der Gestirne errichtet hatte. Er war kein einfacher Zöllner, und es war auch nicht an der Großen Mauer, die es zu der Zeit noch nicht gab. Hier begegneten sich zwei kluge Köpfe, die sich einiges zu erzählen hatten. Wie so ein Wort das andere gab und die beiden Gefallen aneinander fanden, bat jener Yin Xi den Alten, sein Wissen doch in Worte zu fassen. Er wird in seinem Leben einiges gelesen und sich sein Teil gedacht haben. Er fasste alles in ungefähr 5000 Schriftzeichen zusammen, die weise gewählt auch von sprachlichem Humor zeugen. Es ist bis in die Gegenwart bekannt als das Buch Dao De Jing (Tao Te King) und sein Autor trägt den Ehrennamen Lao Zi (Lao Tse).

Das Buch Dao De Jing gilt als das wichtigste Schriftwerk des Daoismus. Es wird sowohl als ein Lehrbuch für den wahrhaftigen Herrscher als auch als eine Anweisung zur rechten Lebensführung im Sinne des Dao, als das himmlische oder kosmische Gesetz und seiner Befolgung, nämlich De gelesen. Es existieren zahlreiche Übersetzungen des Dao De Jing, die mitunter erheblich voneinander abweichen. Auch in China ist die Exegese jener knappen Schrift von vielfältiger Couleur. Einerseits sind die Zeichen in ihrer Zusammensetzung oftmals vieldeutig und schwer in eine andere Sprache angemessen übertragbar, andererseits kommen oft die Ansichten des Übersetzers in die Quere, über deren Schatten er nicht springen kann, wenn sie seiner Grundeinstellung entsprechen.

De wird meist als „Tugend“ übersetzt, wobei hierin keine moralische Wertung gesehen werden sollte, als vielmehr die auf tiefer Einsicht in das Wirken des universellen Geschehens basierende Lebensführung des Wu Wei, des Nicht-Eingreifen-Wollens. De entspricht einfachster, grundsätzlicher Ethik. Achte das Leben, achte Wahrhaftigkeit, lebe bescheiden. Folge dem Dao.

So wie die Gestirne ihrer festen Bahn folgen, ohne zu zögern und zu zweifeln, so folgt auch der Weise dem Lauf des Himmels. Um diesen Zustand zu erreichen, bedarf es der unermüdlichen Ertüchtigung. Durch Selbstkultivierung und Verfeinerung gelangt er in einen Zustand der Unsterblichkeit. Im Daoismus gibt es keine Idee der Wiedergeburt. Es gibt keine individuelle Seele, die den Tod überlebt und in ein neues Leben gelangen kann. Entweder man wird ein Unsterblicher oder man stirbt.

Der Daoismus in seiner heutigen Erscheinung entstand aus der langsamen Verschmelzung der Ahnen- und Himmelsverehrung mit den Theorien von Yin und Yang und den Fünf Wirkphasen, er absorbierte Gedanken des Konfuzianismus und der Mohisten, der Kultivierung magischer Lehren, der Vorstellungen von Unsterblichkeit und dem volkstümlichen Aberglauben. Der Daoismus ist sowohl eine Philosophie als auch eine Religion, in der diese Philosophie aufgenommen wurde. Es ist sehr schwer, aus dem verschlungenen Knäuel eine einfache und klare Idee hervorzuziehen. Würde man sich nur auf eines beziehen und das andere vernachlässigen, wäre es nicht vollkommen, man würde dem Daoismus Unrecht tun. Wenn sich etwas einfaches sagen lässt, dann wohl am ehesten, dass das gesamte Universum, im ganz Großen wie im ganz Kleinen, Recht hat.

Natürlich kann man fragen, ob man sich mit dem Daoismus beschäftigen muss, wenn man Qi Gong lernen will. Natürlich muss man nicht. Natürlich sollte man. Natürlich haben auch die Chinesen einen mehr oder weniger ähnlichen Körper wie Europäer oder Afrikaner. Da gibt es kleine Unterschiede, aber die Funktionsweise sollte doch gleich sein. Ist wohl auch so, würde ein Chinese auch so sagen. Nur, wenn wir anfangen, den Körper und seine Funktionsweise zu beschreiben, werden die Darstellungen erheblich auseinandergehen. Man könnte sogar Zweifel hegen, ob über das gleiche Subjekt berichtet wird. Ich möchte es so ausdrücken: Wir reden beide über einen Computer, aber wir im Westen reden über die Hardware und wir im Osten über die Software. Und das ist wirklich ein plumper Vergleich. Aber er kommt der Sache dennoch nah. Anders ausgedrückt hat die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise die Seiten des Buches gezählt, die Buchstaben statistisch erhoben, ebenso alle Satzzeichen. Die Schrifttype wurde mit anderen Büchern verglichen und die Unterschiede konnten deutlich aufgezeigt werden. Das Material des Papiers wurde chemisch analysiert, ebenso die Druckerschwärze. Wir wissen eigentlich alles über das Buch, bloß gelesen hat es noch niemand.

Die Wissenschaftler der asiatischen Kultur haben sich dagegen nicht so sehr darum gekümmert, woraus dieses Buch besteht, sondern sich damit beschäftigt, die Sprache zu entschlüsseln. Ob sie es endgültig geschafft haben und sogar etwas über den Inhalt des Buches sagen können, darüber weiß auch ich nichts zu sagen. Immerhin bin ich ebenso in dieser christlich-jüdischen, naturwissenschaftlichen Kultur aufgewachsen und habe ihre Brille aufgesetzt bekommen. Inzwischen ziehe ich es zwar vor, einen Daoistenkittel zu tragen statt der allgegenwärtigen Jeans, aber die Perspektive, die kommt noch immer von meiner Ausgangsposition.