Derfflingers Schwert - Uwe Gehrmann - E-Book

Derfflingers Schwert E-Book

Uwe Gehrmann

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Beschreibung

Im Jahr 1678 kämpft das aufstrebende Brandenburg-Preußen des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm mit Unterstützung seines alten Feldmarschalls Georg von Derfflinger unter den Großmächten Europas ums Überleben. Im Japan der Edo-Zeit unter der Regierung der Tokugawa hingegen herrscht Frieden. Das Land befindet sich in Selbstisolation, hegt aber durchaus Interesse, Geschäfte mit anderen Ländern zu tätigen und neue Verbindungen aufzubauen. Der junge Samurai Nakatani Kiyoshi erhält deswegen den Auftrag, ein wertvolles Schwert als Geschenk ins ferne Europa, nach Brandenburg, zu bringen. Dadurch wird Kiyoshi jedoch zum Verbannten – denn sobald er das Inselreich verlassen hat, darf er nie wieder zurückkehren. Seine Ehre gebietet es ihm, den Auftrag anzunehmen, und so macht er sich auf die lange, gefahrvolle Reise. Kiyoshi wird in die Intrigen und Kämpfe des Holländischen und Schwedisch-Brandenburgischen Krieges hineingezogen und muss erkennen, dass er selbst ein Teil der politischen Ränke ist. Als staatenloser Außenseiter erringt der Samurai dennoch den Respekt und sogar die Freundschaft seiner Gastgeber – und wird schließlich zu einer Entscheidung der Ehre, aber auch des Herzens, gezwungen, was alles verändern wird ...

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Widmung

Dramatis personae

1678, im Juni, Fürstentum Lüneburg 盗人

1677, im Oktober, Nagasaki, Japan 牛込重忝

Amsterdam, im Juni 1678 トラベル

Kattegat, Schloss Nordborg, Ende Juni 1678 陰謀

1678, im Juni, Fürstentum Lüneburg 強盗

Schloss Gusow, Brandenburg, Ende Juni 1678 女の子

Schloss Gusow, Brandenburg, Ende Juni 1678 到着

Quilitz und Gusow, Brandenburg, Mitte Juli 1678 狩猟

Nijmwegen, Gelderland, holländische Generalstaaten, Mitte Juli 1678 外交

Gusow, Mitte August 1678 星の下

Insel Rügen, September 1678 島

Gusow, Ende September 1678 最初の矢印

Stralsund, Oktober 1678 火と灰

Gusow, November 1678 決闘

Gusow, November 1678 平和と戦争

Gusow, Altjahrstag, 31. Dezember 1678 元旦

Gusow, Brandenburg, Januar 1679 盗難

In der Mark Brandenburg, Januar 1679 跡をたどる

In der Uckermark, Januar 1679 判定

Ostsee, Januar 1679 霧の中で

Samland, Ostpreußen, Januar 1679 福禄寿

Kurisches Haff, Anfang Februar 1679 霜

Herzogtum Samogitien, Februar 1679 戦争の香り

Samogitien, Telcze, Februar 1679 戦闘

Königsberg, Februar 1679 質問と回答

Königsberg, Februar 1679, Kurfürstliches Schloss 刀が帰ってきた

Nagasaki, Japan, Mai 1680 春

Nachwort des Autors

Dank

Titelseite

Uwe Gehrmann
Derfflingers Schwert
Historischer Roman

Im Jahr 1678 kämpft das aufstrebende Brandenburg-Preußen des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm mit Unterstützung seines alten Feldmarschalls Georg von Derfflinger unter den Großmächten Europas ums Überleben.

Im Japan der Edo-Zeit unter der Regierung der Tokugawa hingegen herrscht Frieden. Das Land befindet sich in Selbstisolation, hegt aber durchaus Interesse, Geschäfte mit anderen Ländern zu tätigen und neue Verbindungen aufzubauen.

Der junge Samurai Nakatani Kiyoshi erhält deswegen den Auftrag, ein wertvolles Schwert als Geschenk ins ferne Europa, nach Brandenburg, zu bringen. Dadurch wird Kiyoshi jedoch zum Verbannten – denn sobald er das Inselreich verlassen hat, darf er nie wieder zurückkehren. Seine Ehre gebietet es ihm, den Auftrag anzunehmen, und so macht er sich auf die lange, gefahrvolle Reise.

Kiyoshi wird in die Intrigen und Kämpfe des Holländischen und Schwedisch-Brandenburgischen Krieges hineingezogen und muss erkennen, dass er selbst ein Teil der politischen Ränke ist.

Als staatenloser Außenseiter erringt der Samurai dennoch den Respekt und sogar die Freundschaft seiner Gastgeber – und wird schließlich zu einer Entscheidung der Ehre, aber auch des Herzens, gezwungen, was alles verändern wird …

fabEbooks

Impressum

Dieser Titel ist auch als Print erschienen. © Fabylon Verlag 2023 Lektorat und Redaktion: Uschi Zietsch Cover: Agentur Michael Steinmann ISBN 978-3-946773-43-6 Originalausgabe. Alle Rechte vorbehalten. www.fabylon.de

Widmung

Für das Mädchen mit der großen roten Schleife und den kleinen Jungen, der den Weg übers vereiste Haff überlebt hat

Dramatis personae

Nakatani Kiyoshi –{Samurai und Verbindungsoffizier zur holländischen Handelsinsel »Dejima« vor Nagasaki. Gefolgsmann des Ushigome Shigeyasu. Sohn des Haruma Nakatani, Held von Sekigahara."); ?>

Friedrich von Perschkau – Rittmeister, führender Dragoner-Offizier in Derfflingers Leibregiment, als Junker auf seinem Gut in Bendiglauken von niederen preußischem Adel. Verheiratet mit Viktoria von Perschkau.

Georg Freiherr von Derfflinger – Feldmarschall und rechte Hand des Kurfürsten, bissig, grantelig, geplagt von Gicht und Husten, ist er – noch aus dem 30-jährigen Krieg – eine Berühmtheit seiner Zeit.

Sophie-Charlotte Mentzel – 18-jährige Tochter des berühmten Wissenschaftlers Christian Mentzel.

Gottfried Christian von Ebel – als Obristenlieutenant Regimentsführer der Ersten Derfflinger-Dragoner und zeitweise der Vorgesetzte Perschkaus. Angelehnt, aber nicht zu verwechseln mit dem historisch belegten Offizier »Eberwein«.

Ushigome Shigeyasu – Bugyo, Daimyō (Gouverneur) in Nagasaki.

Franz (von) Meinders – Kurbrandenburgischer Minister.

Jean-Antoine de Mesmes – Comte d’Avaux, in den Niederlanden Botschafter des französischen Königs Ludwig XIV.

Christian Mentzel – Arzt, Botaniker und Sinologe, 1658 vom Kurfürsten zum Leibarzt und kurfürstlichen Rat ernannt.

Dietrich Sigismund von Buch – Hofbeamter bei Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Kammerjunker des Kurfürsten im Nordischen Krieg, hinterließ ein Tagebuch, das als wichtige historische Quelle dient.

Christoph, Hans und Johannes – Dragoner. Lieutnants und Adjutanten Perschkaus.

Peter Kleikamp – Räuber-Rottmeister. Der historische Kleikamp wurde 1615 in Ahlen als Hexer und Werwolf auf dem Scheiterhaufen verbrannt. In seiner Bande die Münsterländer Conrad Ruwebusch, Johann Walbohm, Christian zum Loe, Franz Wilmes und Heinrich Ossenkamp.

Lowis Kampner – Koch. Dazu Edith, seine Gehilfin.

1678, im Juni, Fürstentum Lüneburg 盗人

Nach zwei Tagen hatten die Leichen zu stinken begonnen. Wer diese beißende Fäulnis nur einmal gerochen hatte, vergaß sie nie wieder. Peter Kleikamp hätte längst darüber hinaus sein müssen, sich an verwesenden Körpern zu stören. Der Tod, in welcher alptraumhaften Maske auch immer, hatte ihn fast sein ganzes Leben begleitet. Und dennoch: An diesem Morgen mischte sich der würzige Duft des verblühenden Bärlauchs noch intensiver mit der süß ätzenden Ausdünstung der fünf modernden Toten, und es drehte ihm beinahe den Magen um. Die Leichname lockten bereits ungebetene Gäste an. Gestern hatte er einen hungrigen Fuchs mit Steinwürfen vertrieben. Kleikamp studierte die flirrenden Sonnenflecken auf dem Gras und bemerkte die Ironie. Fast hätte er gegrinst. Er war wohl nicht der einzige Räuber, den es magisch an diesen Ort zog. Schließlich saß auch er seit Sonnenaufgang erneut an dem nachlässig aufgeworfenen Grab. Aus welchem Grund, das wusste er selbst nicht zu sagen.

Peter Kleikamp hockte auf einem Baumstumpf, versuchte, durch den Mund zu atmen und brummte leise vor sich hin. Um sich abzulenken und seinen Fingern etwas zu tun zu geben, schnitzte er seit geraumer Zeit an einem dicken Buchenscheit. Bei der Begutachtung war er mit den Fingern die Maserung entlang gestrichen, hatte die Form betrachtet und sich dann entschieden, einen Wanderer aus dem Ast zu schneiden. Mit einem langen Stab und vielleicht einem Hund zu seinen Füßen. Das hatte er im rohen Holz gesehen. Vielleicht auch einen Hirten, einen Schäfer. Heraus kam aber – wie so oft bei ihm – ein Soldat. Ein Astloch war ihm in die Quere gekommen, es wurde ein Schild. Die Nut über dem Kopf der kleinen Figur geriet zum Rand eines einfachen Helmes. Und so trug der Wanderer plötzlich keinen Stock mehr, sondern einen Speer. Noch hatte das grobe Holz kein Gesicht, aber dafür zog Kleikamp mit dem Jagdmesser eine Rille die Taille hinab, um ein Schwert am Gürtel anzudeuten. Die Spitze der Klinge rutschte ihm ab und zog eine hässliche Kerbe quer über die untere Seite des Scheitholzes. Kleikamp fluchte. Dann eben auch kein Schwert. Er gab auf, es war sinnlos.

Er ließ die grob gefurchte Skulptur sinken und starrte wieder zu dem Erdhügel hinüber. Wilde Malve und Bärlauch breiteten sich wie ein Teppich auf der Waldlichtung aus. In einer Lücke zwischen dem hoch stehenden Waldmeister und dem Löwenzahn war der Boden unter den licht stehenden Bäumen auf einige Fuß in der Breite aufgeworfen wie ein gepflügter Acker. Eine hässliche braune Schramme, aus der noch etwas anderes emporwaberte als der Heuduft der Waldkräuter. Kleikamp schnaubte und zog eine Grimasse.

Wie lange war das Töten schon sein Handwerk? Acht Jahre? Zehn? Als Landsknecht hatte er sich als junger Mann an den münsterschen Fürstbischof verkauft, um gegen die Niederlande zu ziehen. Später für die Schweden gegen Brandenburger gekämpft. Bis die Schlacht, das Gemetzel von Fehrbellin alles verändert hatte. Gut, danach war das Morden seltener geworden, aber es begleitete ihn immer noch wie ein wilder schwarzer Hund, der Demut heuchelnd um seine Stiefel strich. Kleikamp hatte seinen Weg vom einfachen Handlanger zum Rottmeister in den Armeen der Fürsten gemacht, hatte Schädel eingeschlagen, geplündert, gebrandschatzt, unfassbares Leid gesehen und gebracht. All das, nur um nach all den Jahren in der frühen Sonne auf einem Baumstumpf am Waldrand zu sitzen und beinahe kotzen zu müssen, weil es ein bisschen nach Verwesung stank? Aber das Ende der fünf Kaufleute, die seit einer Woche im Waldboden moderten und deren Fleisch der Sommer nun zu Brei verflüssigte, das war anders gewesen.

Kleikamp warf den verhunzten Holzsoldaten in ein Gebüsch. Er schüttelte den Kopf, stand abrupt auf und bückte sich nach seiner Steinschlosspistole und dem Schwertgehänge, die er im Gras abgelegt hatte. Er musste die Bilder in seinem Kopf loswerden, die ihn seit Tagen um den Schlaf brachten. Deswegen war er an diesem Ort. Was geschah ihm? War er alt geworden? Müde? Er ächzte und legte sich bedächtig den breiten Gürtel um.

»Wenn du schon nicht Flöte spielen kannst, so bläst du doch Trübsal, wie ich sehe!«

Kleikamp fuhr herum. Aus dem Schatten des Waldes löste sich ein kleiner, dünner Mann und kam mit breitem Grinsen auf ihn zu. Sein Schädel war sorgfältig rasiert und glänzte wie frisch poliert.

»Ruwebusch! Wie lange stehst du schon da?«

Der Mann antwortete nicht. Er verfiel er in einen Wiegeschritt, winkelte seine Ellenbogen ab, setzte seine Füße geziert vor und tanzte mit zögernden Schritten eine Volte, während er näher kam. Dann begann er leise zu singen: »Der dieses Liedlein hat gemacht, der hat gar oft den Tod betracht’. Und letztlich mit ihm g’rungen. Liegt jetzt im Hohl, es tut ihm wohl …« Dann hatte er Kleikamp erreicht und schlug ihm auf die Schulter.

»Wache am Grab, hm? Wie lange denn noch? Kleikamp, wir haben Tage nichts von dir gehört. Wo hattest du dich versteckt?«

Kleikamp grunzte. »Ihr hättet sie tiefer verscharren müssen. Sie stinken. Und locken die Aasfresser an.«

»Dann musst du eben tiefer in den Wald gehen, da wird die Luft wieder frisch.« Ruwebusch spuckte in Richtung des Erdhügels aus. »Oder zu uns ans Feuer. Es wird langsam Zeit. Komm jetzt mit mir zurück, Johann hat uns zwei Kaninchen gebracht.«

Kleikamp musterte den kleineren Mann vor ihm. Die Gegensätze hätten nicht deutlicher sein können. Kleikamp, groß, stämmig, mit wild wucherndem Bart, wirkte in seiner Massigkeit fast brutal. Dennoch blickte er aus sanften braunen Augen auf Ruwebusch, der schmal und glattrasiert hin und her zappelte wie ein Wiesel. Er trug mit gelben Zähnen ein nervöses Lächeln vor sich her, das gewöhnlich immer breiter wurde, je mehr Wut in ihm hochkochte. Was oft geschah. Kleikamp ließ sich von dieser gespielten Freundlichkeit nicht blenden und zögerte. Conrad Ruwebusch war der Grund, warum er sich fühlte, als sei er aus der heißen Pfanne direkt ins Feuer gefallen. Sein glatzköpfiger Unterführer war an dem Tag, als die Clever Kaufleute mit ihrem Wagen in den Wald gerumpelt kamen, in blutigste Barbarei verfallen. Und Kleikamp hatte es nicht verhindern können.

Dass sie den kleinen Treck überfallen hatten, war Tagewerk und nur natürlich. Üblicherweise raubten sie, was lohnenswert und essbar schien. Und falls die Gefangenen nicht zu zerlumpt und heruntergekommen waren, konnte man auch darüber nachdenken, sie in Geiselhaft zu nehmen. Das hatte schon gutes Geld eingebracht. Alle anderen, darauf hatte Kleikamp immer Wert gelegt, ließ man meistens nach einer gehörigen Tracht Prügel gehen. Angst, verraten zu werden und die Dorfbüttel in den Nachbarorten aufzuscheuchen, hatte die Bande nicht. In den fast drei Jahren, seit sie nach der verheerenden Niederlage mit den Schweden bei Fehrbellin das Gewerbe gewechselt hatten und von Söldnern zu Räubern geworden waren, wechselten sie immer mal wieder ihren Standort, wenn der Boden zu heiß wurde. Sie zogen von einem Herzogtum in die nächste Grafschaft, von einem Bistum ins nahe Fürstentum, von Erzherzögen zu Königreichen – auf dem deutschen Flickenteppich war immer Platz für ein paar ehrliche Wegelagerer. Ernsthafte Probleme mit der hohen Gerichtsbarkeit hatte es bisher wenig gegeben. Und nun lagerten sie bereits seit einigen Monaten wie die Spinnen im Netz eines großen Waldes in der Nähe des Klosters Ebstorf, von den Bauern in der Gegend passenderweise »Räuberkammer« genannt, und das Fürstentum Lüneburg erwies sich als ruhiger Gastgeber.

Natürlich, Todesfälle kamen vor, irgendwelche Reisenden wollten immer mal Helden spielen, wurden mit einem Schwertstreich oder dem Schuss aus einer Hakenbüchse ruhig gestellt und verschwanden in Wald und Heide. Niemand interessierte sich dafür, während draußen die Kriege unter den gekrönten Häuptern weitertobten. Sollten sie es tun, ein ferner Sturm, der mit leisem Rauschen an ihnen vorüberzog. Kleikamp und seine Bande arbeiteten längst auf eigene Rechnung.

Er hielt dem blassen Blick Ruwebuschs stand, der ihn mit dürrem Lächeln fixierte, während er auf eine Antwort wartete. Äußerlich unbeeindruckt überprüfte Kleikamp den Sitz von Schulter- und Hüftgurt und hing seinen Degen an den Gürtel. Alles betont langsam, um Zeit zu gewinnen.

War es wirklich erst drei Jahre her, dass sie allesamt der Vernichtung des schwedischen Infanterieregiments von Dalwig durch die Brandenburger entkommen waren? Ein gutes Dutzend Gleichgesinnter hatte sich ins Hinterland geflüchtet und den Teufel getan, sich geordnet mit dem geschlagenen schwedischen Feldherrn Wrangel zurückzuziehen. Sechs davon, wie Kleikamp und Ruwebusch auch, hatten ihre Heimat im Münsterland. Sie hatten am Rande eines abgebrannten Dorfes abgestimmt, ein zerlumpter Haufen mit blutgetränkten Verbänden an Armen und um den Kopf, heiser vom Gebrüll der Schlacht, hinkend und mit Tränen der Verzweiflung in den Augen. Für die Schweden, die immer noch durch die norddeutschen Lande zogen, waren sie Deserteure, Feinde für die Brandenburger. In beiden Fällen reif für den Galgen. Zu Hause wartete bei Münster, Warendorf, Coesfeld oder Ahlen ein armseliger Hof, der längst weitervererbt worden war, und ein Fürstbischof, der sie vor Jahren an den Meistbietenden weiterverschachert hatte. Nein, nie mehr fremden Herren dienen! Also verschwanden die Männer in entgegengesetzter Richtung der weiterziehenden Heersäulen und suchten ihr Glück von nun an gemeinsam. Ohne Adelige, die ihnen sagten, wo und für wen sie zu töten oder zu sterben hatten. Ihr Anführer war gewählt, nicht geboren: Rottmeister Peter Kleikamp.

Bis jetzt. Bis zu jenem Tag vor einer Woche, als sie die fünf Kaufleute an Bäume gebunden, ihnen Holzspäne unter die Fingernägel getrieben und schließlich – als sie immer noch nicht verraten wollten, wo die Clever Dukaten versteckt waren – ihnen die Zungen herausgeschnitten hatten, sodass die Schreie der gequälten Kreaturen in blutigem Röcheln und Stöhnen erstickten. Conrad Ruwebusch war es gewesen, der die Folter der Gefangenen aus einem mit Brandenburg verbündeten Land angeführt hatte – gegen den klaren Befehl Kleikamps. Der kannte seine Männer nicht wieder, die sich nach harten Wochen ohne Beute und gutes Essen den Wein aus den zwei Wagen kannenweise in den Schlund schütteten und immer wütender wurden, als nur flämisches Tuch und holländisches Glas, aber kein Gold zu finden war. Ein Rausch, dem er nichts entgegenzusetzen hatte. Ruwebusch, schon immer vom Teufel mit einer heimtückischen Grausamkeit gesegnet, war mit glänzenden Augen um die Marterpfähle herumgetanzt und hatte seinen Degen geschwungen wie ein Priester einen Weihwasserwedel. Ein Hexensabbat, geboren aus der Verzweiflung über die Gnadenlosigkeit dieser Welt und nun befeuert von einer Macht über Leben und Tod, die keine Strafe fürchten muss. Hier schlachteten die von Gott Verlassenen die Verzweifelten ab. Ein Brudermord.

Kleikamp hatte geschrien und getobt, seinen Pallasch gezogen und sich vor die geschundenen Kaufleute gestellt. Aber seine eigenen Leute hatten ihn in ihrer betrunkenen Raserei weggerissen. Als Johann Walbohm und Conrad Ruwebusch schließlich vortraten und sich unter den anfeuernden Rufen der Meute anschickten, den Gefangenen die Nasen abzuschneiden, war Kleikamp aufgesprungen, hatte sein Jagdmesser gezogen und es den fünf Gefolterten blitzschnell der Reihe nach vorne in die Halsbeuge gestoßen. So überraschend, dass im Blutregen niemand reagierte. Als er dem Letzten, der gurgelnd in seinen Fesseln zusammensackte, das Messer wieder herausriss, brach er keuchend in die Knie, seine Hand, die immer noch das Messer hielt, hob sich langsam, und er zeigte mit dem Finger auf Ruwebusch. Alle verstummten. Die beiden starrten sich an. Die Hand sackte herab. Kleikamps Kopf neigte sich vor Erschöpfung, seine langen Haare senkten sich wie ein Vorhang über seine hohlen Wangen. »Vergrabt sie«, hatte Kleikamp gekrächzt, sich hochgestemmt und war schwankend im Unterholz verschwunden.

Nun standen sich die beiden Männer wieder gegenüber, über den Baumwipfeln spann sich ein makellos blauer Himmel, der Wald wirkte so rein wie frisch aus dem Fluss gezogen. Nichts deutete auf das Grauen jener Nacht im Fackelschein hin.

»Wozu braucht ihr mich? Was wollt ihr noch?«, fragte Kleikamp und schob die Pistole in den Gurt.

»Du warst es, der einfach verschwunden ist. Vergessen?«, antwortete Ruwebusch und sein Blick vereiste. »Fast eine Woche Schweigen reicht allen hier, wir haben die Nase voll von beleidigten Leberwürsten, die plötzlich um ein paar Pfeffersäcke trauern. Wer vermisst sie? Wer braucht sie? Auf diese Hunde geschissen. Wir brauchen einen Anführer, der handelt. Keinen, der heulend in den Wald läuft wie ein Weib, wenn es mal etwas gröber wird. Was zum Henker ist los mit dir?«

»Conrad, zwei von denen waren fast noch Kinder!«

Ruwebusch schnaubte verächtlich. »Wie viele junge Männer hast du in deinen Kriegen zerhackt? Wie vielen die Köpfe und Arme abgeschlagen, wie viele erschossen, die sabbernd vor dir im Schlamm krochen? Glaubst du, es macht einen Unterschied, nur weil uns das damals die Fürsten befohlen haben? Nein! Jetzt sind wir die Könige und führen unsere eigenen Kriege.«

»Das ist armselig.« Kleikamp schüttelte den Kopf. »Ja, wir sind frei. Aber wir foltern nicht, wir schänden nicht. Und töten nur, wenn es nicht anders geht. Aber dann schnell. So war es verabredet. Das da …«, und er zeigte auf das namenlose Grab im Schatten, »… tun nicht einmal Tiere. Damit will ich nichts zu tun haben.«

»Sag das den anderen Wölfen, Blutsauger sind wir alle. Aber vielleicht heulen sie mit dir. Vielleicht nicht«, antwortete Ruwebusch und schaute ihn aus schmalen Augen von der Seite an. Ein Lächeln, zögerlich wie eine Raupe auf einem fauligen Apfel, kroch auf sein Gesicht. »Komm, wir wollen reden.« Er zog Kleikamp am Ärmel. Widerstrebend folgte der große Mann.

Eine halbe Meile wanderten sie über einen von Farnen beschatteten, versteckten Pfad in den Wald hinein. Ruwebusch hatte die Führung übernommen, Kleikamp stampfte schweigend hinterdrein. Bald streckte er schnuppernd die Nase in die Luft. Der Kaninchenbraten war eher zu riechen, als das Feuer zu sehen. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Nach der Trennung von seinen Kameraden hatte Kleikamp in seiner selbstgewählten Waldeinsamkeit nichts Anständiges mehr zwischen die Zähne bekommen. Als er aus dem Schatten einer großen Eiche ins Licht trat, hielt er an und atmete tief durch. Kleine Hütten aus Weidengeflecht und Ried kauerten sich in den Zwischenräumen der Baumstämme, notdürftige Unterstände, mit Rinde gedeckt, und ärmliche Zelte öffneten sich auf einer Lichtung im Halbkreis, in dessen Mitte ein großes Feuer loderte. Etwa zwanzig Mann saßen auf gefällten Baumstämmen um einen dampfenden Kessel herum und schauten den beiden erwartungsvoll entgegen.

Ohne ein Wort zu wechseln, ohne die Blicke, teils neugierig, teils ohne Regung, zu erwidern, trat Kleikamp in den Kreis und setzte sich dazu. Neben ihn sprang Conrad Ruwebusch leichtfüßig über das Holz und baute sich am Feuer auf. Niemand sagte ein Wort. Kleikamp musterte die bärtigen, verhärmten Gesichter, einige schauten zur Seite, als sich die Blicke trafen. Immer noch waren fünf aus münsterschen Landen dabei, denen Kleikamp knapp zunickte. Neben ihm und Ruwebusch noch dessen nicht weniger heimtückischer Freund Johann Walbohm aus Coesfeld, Christian zum Loe und der Warendorfer Franz Wilmes. Den Gruther Heinrich hatte im Januar 1677 eine Musketenkugel in die Brust getroffen. Der Freckenhorster hatte wässriges Blut gespuckt, war einen Tag später verreckt und lag jetzt bei Rodeleben in Sachsen zur letzten Ruhe. Über seinem Grab baumelte der namenlose Reisende, den man nach dessen schicksalhaften Schuss überwältigt und an einer Linde aufgeknüpft hatte. Immer wieder waren Männer gegangen, getötet oder gar gefangen worden, andere waren hinzugekommen – Gute, Böse, Verzweifelte, Brutale, Kluge und Dumme, die die Bande auffüllten. Fahnenflüchtige Soldaten vor allem, aber auch verelendete Bauernsöhne, verschuldete Handwerker, die keinen anderen Ausweg mehr wussten oder einfach glaubten, als Diebe zu leicht verdientem Geld zu kommen. Was bedeutete schon Gerechtigkeit, wenn das Volk den Junkern zu dienen hatte, die in ihrer Willkür niemand zur Rechenschaft zog? Die Bauern gehörten dem Grundherrn, hatten keine Rechte außer der Pflicht, ihrem Kloster oder Grafen Hand- und Spanndienste zu leisten, und verloren zudem noch weit über die Hälfte der Ernte an Herrn, Kirche, Stadt oder Land. Eine Pest, die nur mit Gewalt zu bekämpfen war. Und diese Gewalt, das waren die Wegelagerer.

Ruwebusch winkte einem Mann. Christian zum Loe stand zögernd auf, schöpfte etwas Brühe aus dem Kessel und brachte den Kump zu Kleikamp, der dankbar und gierig zu löffeln begann, dass die Brühe Schlieren in seinem Bart zog. Mit einer weit ausholenden Geste in die Runde begann Ruwekamp zu sprechen. »Peter, du hast uns böse beschimpft, uns tagelang in Stich gelassen. Wir hatten keinen Anführer mehr.« Er machte eine Pause. »Am fünften Tag ohne von dir zu hören haben wir abgestimmt, und man hat mich zum neuen Meister der Rotte gewählt.« Ruwebusch sah Kleikamp in die müden Augen und wartete auf eine Reaktion. Es kam keine. »Kleikamp, wirst du das akzeptieren?«

Langsam stand der Angesprochene auf, das Leder seinen hohen Stiefel knirschte, der Degen am Gürtel schepperte gegen den Baumstumpf. Er ging mit schleppenden Schritten ums Feuer und sah jeden einzelnen an. Christian zum Loe hob nicht einmal den Kopf und sah verschämt zu Boden, andere blickten interessiert ins Dämmer des Waldes. Drei, vier aber sahen frech und herausfordernd zu ihm auf, Walbohm grinste ihn sogar an und ließ seine schwarzen Zahnstummel sehen. Offensichtlich waren zwei Parteien entstanden – ein Riss hatte sich durch die Bande gezogen.

»Ich war euch drei Jahre lang ein Anführer, und ich hoffe, ein guter«, begann Kleikamp. »Ihr habt euch jetzt anders entschieden. Ich kann das verstehen. Was ich nicht verstehe, ist, dass wir mit dem Tod der Clever Händler eine Grenze überschritten haben. Wir waren Söldner, ich habe mit Münsteranern und mit Schweden gekämpft, einige von euch waren in englischen Diensten, andere sogar mit dem Franzmann unterwegs.« Kleikamp sah, wie einige Männer nickten. Immerhin, er fasste Mut. Sie hörten zu. »Der Tod ist unser Geschäft, auch wenn wir nun selbst entscheiden, wen wir zur Hölle schicken. Nicht die Fürsten, Bischöfe oder Herzöge sind unsere Herren, wir sind stolz darauf, nur uns selbst zu dienen. Aber vor ein paar Tagen habe ich mit angesehen, wie ihr …«, und er zeigte mit dem Finger auf jeden einzelnen Mann, der vor ihm saß, »… wie wir aus Lust getötet haben.« Kleikamp machte eine Pause. Alles war still. Am Rand der Lichtung sang eine Amsel, frühe Bienen summten durch das Lager. »Seit über zehn Jahren bin ich Soldat, ja, an meinem Schwert klebt Blut, ich habe die Toten nicht mitgezählt. Aber ich habe nicht gefoltert, nicht eine Frau habe ich geschändet. Ich wollte immer Gott gefällig sein, völlig egal, welcher Pfaffe, ob Kathole oder Reformer, gerade das Blaue vom Himmel herabpredigt.«

Kleikamp setzte sich wieder und faltete die Hände auf den Knien. »Bin ich weich geworden? Kann sein, dass ihr Recht habt. Aber drauf geschissen. Es soll Schluss sein. Ich habe lange gegrübelt und mir viel Zeit gelassen, aber nun: In den Tagen, die ich allein verbracht habe, habe ich mich entschieden: Entweder ich gehe zurück in die Heimat. Und wenn unser Hof in der Brockhauser Heide zuschanden liegt und ich nur noch als Tagelöhner Arbeit finde, dann soll’s so sein. Oder aber wir verbannen Conrad und Johann und retten so wenigstens etwas von unserer Ehre und Seele.« Er blickte zu Ruwebusch, der ein selbstsicheres, schmales Lächeln zur Schau trug. »Wenn ihr glücklich werden wollt mit Conrad, dann soll er euch führen, von mir aus bis an den Galgen und in die Hölle. Aber dann ohne mich. Ich kann so nicht weitermachen, nicht mit diesen beiden. Wenn ihr also wollt, dann packe ich meine Siebensachen und gehe nach Westen. Ihr entscheidet.«

Kleikamp raffte sich auf und wandte sich seiner alten Hütte zu. Die Männer rückten murmelnd zur Seite. Christian zum Loe vertrat ihm den Weg. »Peter, nimm mich mit. Zu zweit geht es sich besser. Noch hat mich der Henker nicht am Kragen, ich sollte mein Glück nicht bis zum Letzten ausreizen.«

Er schaute zu Ruwebusch hinüber, der völlig überrascht wirkte und seine Pistole zog. Er spannte den Hahn und zielte auf zum Loes Brust. »Nochmal abstimmen? Nein, niemals!«, geiferte er. »Wir haben entschieden, und jetzt führe ich. Nur ich! Ja, Peter kann gehen, soll er doch seinen erbärmlichen Schwanz einziehen. Aber nur er. Wir brauchen jeden Mann.« Johann Walbohm war aufgestanden, zog seinen Degen, hielt ihn aber noch mit der Spitze nach unten.

Alle sprangen auf, riefen durcheinander und gestikulierten wild. Franz Wilmes, der Warendorfer, reagierte als Erster. Er gab Walbohm einen heftigen Tritt in die Seite und zog gleichzeitig seine Pistole, die Lunte glühte. Walbohm war ins Taumeln geraten und prallte gegen Ruwebusch. Und schon hatte auch Kleikamp seine Waffe aus dem Gürtel gerissen und legte an.

»Was jetzt, Conrad?«, schrie er. »Wollen wir uns auch noch gegenseitig umbringen? Ist es das, was du willst?« Hinter ihm standen zum Loe und Wilmes. Auf der anderen Seite drohten Ruwebusch und Walbohm. Die Männer rundherum erstarrten.

Ruwebusch zischte. »Leg die Waffe nieder, du Hund! Nur du verschwindest. Zum Loe bleibt hier, niemand geht ohne meine Erlaubnis.« Der neue Anführer durfte keine Schwäche zeigen, ein Zurück gab es nicht.

Wie auf dem Schachbrett die Bauern standen sich beide Parteien starr gegenüber und hatten die Waffen ausgerichtet. Auf sechs Fuß Entfernung konnten selbst die kleinen Bleikugeln der Pistolen hässliche Löcher reißen. Kleikamp blieb ruhig und wandte sich leise an die beiden Männer hinter ihm. »Wir gehen langsam zurück.« Und Schritt für Schritt tasteten sie sich rückwärts. Keiner ließ den anderen aus den Augen. Ruwebuschs Hand zitterte. »Bleibt stehen, ihr Verräter! Jetzt musst du auch noch daran glauben, Kleikamp!« Er drehte sich halb zu den restlichen Männern, die tatenlos zuschauten. »Los, zieht eure Waffen! Das können die nicht mit uns machen.«

Niemand reagierte. Kleikamps Autorität reichte wohl immer noch, um die Männer zögern zu lassen. Aber wie lange noch? Langsam tasteten sich die drei weiter zum Rand der Lichtung, ohne Ruwebusch und Walbohm aus dem Blick zu lassen. Inzwischen waren sie bereits einen halben Steinwurf entfernt, die Zielgenauigkeit der Pistolen wurde immer unsicherer.

»Noch einen Schritt, und du bist tot, Kleikamp!« Ruwebusch streckte den Arm aus und seine Hand zuckte mit der Pistole vor. Auch Kleikamp und Wilmes reckten entschlossen ihre Feuerwaffen, als ein durchdringender Pfiff ertönte. Die Männer drehten sich hastig um. Das Signal, das da aus dem Innersten des Waldes kam, kannten alle nur allzu gut. Da ertönte es nochmal. Lauter diesmal. Dann brach ein Mann raschelnd durch die Büsche auf die Lichtung, preschte in die Mitte des Platzes und stoppte schwer atmend. Ein völlig verschwitzter Heinrich Ossenkamp stützte die Hände auf die Knie und schien jetzt erst die dramatische Szene wahrzunehmen. »Seid ihr alle toll geworden?«, japste er. »Leute, da kommt ein Treck auf uns zu und ihr erschießt euch gegenseitig?« Mit großen Augen starrte er zuerst Ruwebusch, dann Kleikamp und seine Männer an.

Ruwebusch senkte widerwillig die Pistole zuerst. »Erzähl! Was ist los?«

Ossenkamp schöpfte Atem. »Ich war draußen auf unserem Baum am Waldrand. Da seh ich die Staubwolke. Und dann biegt ein Planwagen in die Kurve. Vier Dragoner zu Pferde, zwei Mann auf dem Bock. Leute, ich wette meinen Arsch, dass da was zu holen ist.« Ossenkamp hielt inne. »Aber ihr habt ja besseres zu tun. Entschuldigt, dass ich störe.«

Alle hatten nun ihre Waffen gesenkt. Die Nachricht von einer so fetten, aber auch gefährlichen Beute ließ alle Herzen höherschlagen. Ruwebusch, der erleichtert schien, so ungeschoren aus einer heiklen Lage herauszukommen, nickte zu Kleikamp hinüber. »Pass auf, du Hundsfott. Für vier Dragoner und zwei Fuhrleute brauchen wir alle Mann. Den machen wir noch zusammen. Dann dürft ihr alle drei gehen. Ist das ein Angebot?«

Kleikamp sah zu Wilmes und zum Loe. Die beiden nickten unmerklich. »Garantierst du uns freien Abzug?«, rief er Conrad zu.

»So wahr, wie ich den Anteil des Rottmeisters kriege!«

»Du lügst, dein Schwur ist so viel wert wie Pferdescheiße, hinterhältige Ratte!«, schrie ihn Wilmes an.

Kleikamp hob die Hand und flüsterte Loe und Wilmes etwas zu. Beide nickten zaghaft. Dann schöpfte er tief Luft. »Gut. Den holen wir uns noch. Ein paar Dukaten für die Reisekasse und Proviant wären nicht schlecht. Wir machen es wie immer«, wandte er sich zu den Männern. »Nur diesmal führst du, Ruwebusch.«

Der wedelte mit der Pistole in der Luft. »Soldaten, ihr habt es gehört. Alle auf ihre Posten! Das Gold gehört uns!« Und wie ein Schwarm Krähen stoben die Männer auseinander, rafften ihre Waffen zusammen und verschwanden einer nach dem anderen im Wald.

»Auf geht’s! Auch du, Ossenkamp«, fasste er seinen Kundschafter am Arm. Der zögerte. »Oder ist noch was?«

»Hm«, grinste der herausfordernd. »Ich weiß nicht, ob es wichtig ist. Aber am Wagen flattert eine Standarte.«

»Und?« Ruwekamp wurde ungeduldig.

»Eine blaue Standarte, einen Arm mit Schwert über züngelnden Flammen meine ich, erkannt zu haben. Die Sonne blendete etwas.« Ossenkamp hielt erneut inne.

»Mann! Ich hau dir aufs Maul, spuck’s endlich aus!«

Kleikamp seufzte und fasste Ruwebusch am Arm. »Heinrich will dich nur vorwarnen. Das sind Brandenburger.«

Ruwebusch spuckte aus. »Wer will das denn wissen. Ist mir scheißegal. Tot sind sie alle gleich.«

»Na ja, ich dachte nur«, sagte Kleikamp und fasste die Pistole fester. »Es sind Dragoner vom alten Derfflinger.«

1677, im Oktober, Nagasaki, Japan 牛込重忝

Es war Nakatani Kiyoshi schon immer schwergefallen, seine innere Unruhe nicht bis in die Augen steigen zu lassen. Er zählte mit: sieben Atemzüge, ein unbewegtes Gesicht, eine Maske, kein Muskel hatte zu zucken. Ein Samurai ist unbewegt wie ein Fels. Nur gegen die beginnende Röte seiner Wangen war er machtlos. Kiyoshi wurde es warm im Gesicht, er kauerte auf seinen Unterschenkeln, die Hände lagen leicht auf, und er drückte seinen Rücken kerzengerade durch. Ruhig bleiben, siebenmal tief ein- und ausatmen, eine endlose Zeit für sich jagende Gedanken, ermahnte er sich. Hatte er richtig gehört? Es war unerhört, unfassbar. Das musste ein Traum sein, und sicher kein guter. Was geschah hier nur?

Im Audienzzimmer des Nagasaki Bugyo war es so still, dass das Geschrei spielender Kinder am nahen Shinto-Tempel zu hören war. Der Oktober hatte mit einigen Sonnentagen begonnen, es war so warm, dass halb Nagasaki auf den Beinen war und durch die Gassen flanierte oder unter seidenen Schirmen am Hafen entlangwanderte, um die ein- und ausfahrenden Schiffe zu bestaunen. Ein leichter Luftzug wehte durch den offenen Raum, dessen Schiebetüren nach Norden offenstanden. Es duftete nach Mandeln und Erde, der Herbst war nahe und würde in ein paar Wochen die Ahornbäume in Purpur tauchen, die Gingkos mit zartem Gold überziehen. Aber Nakatani Kiyoshi fröstelte es unter seinem leichten Gewand von gewebter Baumwolle. Kōyō, die Färbung des Herbstlaubes, er sollte es nicht mehr sehen? Nein, das musste ein Irrtum sein. Unbewegt, so hoffte er wenigstens, blickte er in die Augen Ushigome Shigeyasus, seines Herrn, der ihn misstrauisch von oben herab musterte. Einatmen, ausatmen, zum fünften Mal …

»Hat dir dein Glück die Sprache verschlagen, Kiyoshi?« Der Gouverneur von Nagasaki klopfte ungeduldig mit seinem Fächer auf die Oberschenkel.

Nakatani Kiyoshi verbeugte sich leicht, um seine Verunsicherung und Ratlosigkeit zu verbergen. »Herr, es kommt etwas unerwartet.« Er zögerte kaum merklich, auch, um Zeit zu gewinnen. »Ich fühle mich geehrt. Natürlich.«

Shigeyashu schnaubte und wandte sich zu seinen Beratern um. »Er fühlt sich geehrt, habt ihr das gehört?« Ein zustimmendes Gemurmel und weitere Verbeugungen waren die Antwort der Ratgeber und Samurai, die links und rechts um das Podest des Statthalters hockten. Auch sie wirkten überrascht, niemand aber würde das zugeben. Shigeyashu stemmte einen Arm herrisch auf den Oberschenkel und musterte erneut den jungen Samurai vor ihm.

»Hast du das gehört? Dankbarkeit wäre angebracht. Man wundert sich über deine Schweigsamkeit. Jeder hier …«, und er wedelte mit dem geschlossenen Fächer unbestimmt um seine Schultern, »… jeder hier würde sofort an deine Stelle treten.« Weiteres zögerliches Nicken im Halbkreis folgte, wenn auch nicht von jedem.

Jeder würde? Und dann auch noch sofort? Wirklich? Und warum schickt er dann nicht einen von denen? Oder war es eine Prüfung für seine Treue? Das konnte nicht sein Ernst sein. Kiyoshi biss die Zähne zusammen. Gleich die erste Frage sollte alles klären: »Es ist keinem Japaner erlaubt, das Land zu verlassen. Und wenn er es doch tut, dann kann er bei Strafe des Todes nicht mehr zurückkehren. Ist es nicht so? Schickt Ihr mich also ins Exil?«

»Das ist der Grund, warum du keine Ahnung von großer Politik hast.« Shigeyashu lachte auf. Es klang trocken, kurz. Keine Freude lag darin. »Nein, deine Mission wurde bereits vor Wochen entschieden. Und zwar von mir und Tokugawa Ietsuna persönlich. Ja, tatsächlich, da staunst du. Der Shogun ist sehr daran interessiert, was uns diese anderen zu bieten haben. Die Holländer sind lästig wie die Fliegen, aber sie bringen auch Wertvolles und vor allem bringen sie uns Wissen und Reichtum ohne – wie die Portugiesen – ihren jämmerlichen Christengott im Gepäck. Natürlich nur, wenn man sie auf ihrer Händlerinsel festhält. Der Tokugawa will nun wissen, was uns diese andere Nation zu bieten hat. Vielleicht kann man daraus einen Vorteil ziehen. Den Holländern täte etwas Konkurrenz gut. Seit wir die Portugiesen ins Meer zurückgejagt haben, fühlen sich diese schwarz gekleideten Barbaren aus den niederen Landen zu sicher und werden unverschämt.« Er machte eine bedeutsame Pause und lehnte sich zurück. Als keine Antwort kam, seufzte er und fuhr fort. »Du hörst dir an, was diese anderen Barbaren zu sagen haben und dann packst du wieder deine Sachen. Schon mit dem zweiten Sommermonsun solltest du zurück sein. Wir haben dir Pass und Geleitbrief ausgestellt, die dir eine sichere Rückkehr garantieren.«

Kiyoshi musterte das schwarze, schmale Lackkästchen, das Shigeyashu ihm nun mit dem Fächer herüberschob. Es war wunderschön gearbeitet, ein Reiher schlug wild mit den Flügeln und erhob sich gerade über verflochtenes Schilf, das sich wogend über die Längsseite des Deckels zog. Kiyoshi klappte den Deckel auf. Tatsächlich: Die Schriftrollen wurden von dem blutroten Siegel des Statthalters zusammengehalten. Ein hellblaues Seidenband war um die Papiere gewickelt. Sanft glitten Kiyoshis Finger über den glänzenden Stoff, die Rollen herauszunehmen traute er sich nicht, es hätte sich angefühlt wie ein zu schnelles Zugeständnis, wie sein Namenszug unter einem wichtigen Dokument.

Innerhalb eines Moments hatte sein Leben eine andere Richtung eingeschlagen. In seinem Kopf schwirrte es durcheinander wie in einem Hühnerhof, den der Marder heimsucht. Eigentlich war er aus einem ganz anderen Grund bei Ushigome Shigeyasu vorstellig geworden, dann aber nicht mehr zu Wort gekommen. Schon im späten Sommer hatte Kiyoshi seinen Herrn darauf aufmerksam gemacht, dass es Hinweise auf Bestechung und Unregelmäßigkeiten im großen Ausmaße gab. Er hatte mit Shigeyasu und mit dessen Sekretären den Verdacht diskutiert, und der besorgte Daimyō hatte ihn beauftragt, die Beweise heranzuschaffen. Am vergangenen Nachmittag hatte Kiyoshi nun endlich eine große Lagerhalle entdeckt, bis an die Decke gefüllt mit Kisten und in Matten eingeschlagene holländischer und chinesischer Waren. Schlau gedacht, aber nicht schlau genug: Denn die Spur hatte zu einem Kontor auf einer der vorgelagerten Inseln geführt. Auf Kuroshima hatte sich eine Halle zwischen Reisterrassen geduckt, einer der Insel-Bauern hatte sich für eine kleine Belohnung auf dem Markt in Hirado als sehr gesprächig erwiesen. Kiyoshi fühlte sich bestätigt, es passte – schließlich hatten die Holländer in Hirado, vom lokalen Fürstenhaus Matsura mit einer regelrecht verbotenen Lässigkeit an der langen Leine geführt, ihre Handelstätigkeit begonnen. Bis die Tokugawa-Shogune das europäische Pack nach Dejima verbannte.

Der Rest war leicht: Ab der einsamen Bucht auf Kuroshima brauchten Kiyoshi und seine Truppe nur noch den tief eingegrabenen Spurrillen der Wagen ins Innere zu folgen, die sie vor die Türen des bambusgedeckten Schuppens führten.

Hier waren Bengaliseide und Häute aus Siam gestapelt, hier lag Zuckerrohr, bereit, zu Arrak verarbeitet zu werden, in Fässern klebte Butter, schwappte Olivenöl, seine Nase über den großen Tonkrügen verriet ihm die Weine und den holländischen Genever. Ballen von Rohseide und Stoffen sowie Baumwolle von der chinesischen Küste lagen neben Truhen voller Spiegel, Porzellan und Uhren.

Seit drei Jahren schon war Kiyoshi erst Übersetzer für die holländische Händlergemeinde auf der vorgelagerten Insel Dejima gewesen, dann war er als Samurai und Vertrauter des Nagasaki Bugyo auch Spion und Verbindungsoffizier für die japanischen Interessen geworden. Inzwischen sprach Nakatani Kiyoshi fließend holländisch und war früh mit 25 Jahren in den Rang eines Hanshi aufgestiegen, Herr über einen Stab von über hundert Übersetzern und Helfern, der seinem Statthalter und Daimyō verlässlich Bericht erstattete. Bestechung und kleine Gefälligkeiten waren trotz der rigorosen Gesetze gegenüber den Holländern zwar gang und gäbe, aber das, was sich hier vor ihm ausbreitete, erreichte neue, ungeahnte Dimensionen. Schnell überschlug Kiyoshi den Warenwert, während seine Helfer immer neue Truhen und Kästchen von links nach rechts stapelten. Vielleicht über weit 500.000 Koku Reis – wenn Kiyoshi richtig lag, dann war das hier das Jahreseinkommen einer ganzen Provinz. Damit wäre eine Armee von Söldnern zu bezahlen.

Schon von der Löschung der Handelsware weit vor Dejima hatten ihm seine Informanten berichtet. Zuerst schien auch im letzten Herbst alles nach Vorschrift gelaufen zu sein: Die Schiffe wurden durchsucht, alle Geschütze, das Schießpulver und die Munition für die Dauer des Aufenthalts ebenso beschlagnahmt wie Segel und Steuerruder. Dann aber hatten wohl nicht alle Boote, die schwer beladen von den holländischen Pinassen ablegten, Kurs genommen auf die Kontore bei Dejima, sondern waren irgendwo am Festland verschwunden und wohl entladen worden. Bis dahin noch kein Grund, sich zu beunruhigen. Diesmal aber waren die Gerüchte nicht abgerissen, es seien wohl einige Landungsboote mehr abgezweigt worden als sonst üblich und stillschweigend geduldet. Das hatte Kiyoshis Neugierde und Interesse geweckt – seit Wochen schon hatte er nach dem Verbleib der verschwundenen Güter geforscht. Und sie nun auf dieser Insel gefunden.

Obwohl die Gesetze nirgendwo so streng waren wie hier, waren auch in Japan Bestechung und persönliche Bereicherung das perfekte Schmiermittel, um den Handel reibungslos ablaufen zu lassen. Ein bisschen hatten alle was davon, wenn Geld oder Waren in den Taschen hängen blieben – einige Holländer, vom Opperhoofd, dem jeweiligen Direktor der Ost-Indischen Gesellschaft ganz zu schweigen, verließen das Land deutlich reicher als sie gekommen waren und verkauften japanischen Lack oder neues Imari-Porzellan zuhause für den eigenen Geldbeutel. Es war ein Geschäft für alle, die japanischen Statthalter ließen sich ihre Toleranz und Großmütigkeit ebenso in Silber aufwiegen wie die unbedeutenden Sekretäre, die für einen kleinen Goldflorin wegschauten, wenn Frauen und Sake auf die Insel geschmuggelt werden sollten.

Kiyoshi seufzte und setzte sich müde auf eine Bambusrolle. Im einsetzenden Dämmerlicht waren seine Leute immer noch damit beschäftigt, Listen der gefundenen Güter anzulegen. Das hier war eine Nummer zu groß für ein bisschen Untreue oder die üblichen Schmiergelder. Nervös strich sein Daumen über den Kopf des Drachen, der seinen Gehstock aus schwerem Ebenholz schmückte. Ebenso wie seine beiden Schwerter ein Erbstück seines verstorbenen Vaters, der vor 77 Jahren das Glück hatte, in der Schlacht bei Sekigahara auf Seiten des Siegers Tokugawa Ieyasu gekämpft zu haben. Ein Glück, das der spazierstocktragende Sohn auch ohne Waffen, Krieg und Gewalt in höfischen Diensten schnell verspielen könnte.

»Scheiße fließt nach unten«, flüsterte Kiyoshi und klopfte nachdenklich mit der Spitze des Stocks auf den gestampften Lehmboden. Hierbei mussten mehrere hochgestellte Würdenträger Nagasakis beteiligt sein, das alles konnte unmöglich das Werk eines Einzelnen sein. Auch die Holländer waren schließlich mit von der Partie, ohne das Wissen des Opperhoofd wären solche Mengen nicht an den japanischen Behörden vorbeizuschleusen. Mit wem legte er sich hier an? Musste er denn immer seine Nase in solch heikle Dinge stecken? Fast musste er lächeln hinter seiner streng zur Schau getragenen Miene. »Ach, Kiyoshi, du lernst es nicht, oder? Shiranu ga hotoke!« Er schüttelte leicht den Kopf: Nicht zu wissen, heißt ein Buddha sein? Konnte sein, aber jetzt war es zu spät, zu viele wussten davon, ein Zurück gab es nicht mehr, sich dummstellen war ab einer gewissen Größe des Problems keine Pose mehr, sondern tatsächliche Dummheit. Gefährliche Dummheit.

Nakatani Kiyoshi brauchte Verbündete. Und so war er zum Palast des Statthalters zurückgekehrt, um die Bürde der Verantwortung teilen zu können, oder noch besser: sie ganz loszuwerden. Sie beide verband fast schon mehr als Blutsverwandtschaft. Ihre Väter waren Waffenbrüder gewesen und beide hatten zusammen die Schlacht von Sekigahara überlebt. Die Familien Ushigome und Nakatani dienten gemeinsam am Tokugawa-Hof in Kyōto und unterstützten sich schon seit Generationen. Ein Erbe von Verpflichtung und freundschaftlichem Respekt, das immer noch galt, und so wurde Ushigome Shigeyasu zum großen Förderer der Karriere Kiyoshis. Der Daimyō sollte wissen, was zu tun wäre.

Und eben dieser Mann ließ Kiyoshi nun nicht zu Wort kommen. Was nun einfach war, denn der Plan, ihn auf die große Reise zu schicken, weit weg in das Land der Barbaren, hatte Kiyoshi die Sprache verschlagen. Wie hieß das Volk, das er besuchen sollte? Buran-Den-Buruga? Bran-Den-Burga? Kiyoshi starrte auf das Lackkästchen und musterte interessiert die Einlegearbeit mit dem filigranen, aufsteigenden Reiher. Shigeyasu wartete auf eine Reaktion, seine Berater blickten starr vor sich auf den Boden. Das Schweigen zog sich wie ein breiter Strich verdünnter Tusche über Reispapier.

Mit einem Ruck stemmte sich Shigeyashu in die Höhe, sein seidener Kimono raschelte wie ein schleichendes Tier in trockenem Gras. Alle Augen starrten erschreckt den kleinen Mann an, wie er nun hochgestreckt und herrisch mit dem Fächer auf Kiyoshi zeigte.

»Du kommst mit mir. Ich habe dir etwas zu zeigen!« Ohne eine Antwort abzuwarten drehte sich der Daimyō um und verließ den Raum. Zögerlich stand auch Kiyoshi auf, verneigte sich vor den Ratgebern und folgte seinem Herrn durch die papierenen Schiebetüren in das Nebenzimmer der Audienzhalle. Auch hier war alles aufs Einfachste eingerichtet, ein Rollbild mit großer, wuchtiger Kalligrafie verkündete über einem niedrigen Tischchen, dass jeder Tag ein guter Tag sei. Kiyoshi nahm es mit versteinerter Miene zur Kenntnis und folgte einem Wink Shigeyasus, der ihn zu einem Regal an der Längswand beorderte.

»Hör zu, Kiyoshi, ich weiß, dass es schwer ist für dich. Ich weiß, es kommt überraschend, aber dein Auftrag geht über alles hinaus, was du bisher für mich getan hast.« Shigeyasus Stimme war, jetzt, wo sie unter sich waren, sanfter geworden. »Der Reichtum, das Wohlergehen unserer großen Nation liegt in deinen Händen. In deinen Händen, verstehst du? Niemand sonst wird von deiner Reise erfahren, wir können es uns nicht erlauben, dass jedermann erfährt, wie du unser Land verlassen hast und dass du wohlbehalten zurück darfst, ist dir das bewusst?«

Kiyoshi nickte verwirrt.

»Deshalb reist du allein. Und ohne weitere schriftliche Anweisungen. Im November segeln die Holländer zurück. Du wirst in sieben Tagen auf eines der ersten Schiffe gehen, das dich nach Holland bringt. Das sollte in ein paar Monden zu schaffen sein. Dann reist du weiter nach Brandenburg. Unser Opperhoofd, dieser Dirck de Haas, weiß Bescheid und wird dir eine Kabine anweisen. Du wirst dem Shogun dieser Brandenburger deine Aufwartung machen und hören, was sie zu sagen haben. Wer sind sie? Was wollen sie? Was haben sie zu bieten? Du machst keine Versprechungen, gibst nichts preis. Du nickst nur, hältst die Lippen versiegelt und die Augen offen. Dann, im nächsten Frühjahr, wirst du mit den ersten Schiffen der Holländer zurückgebracht. Du berichtest mir, wir reisen nach Kyōto und warten dem Shogun auf. Soll der entscheiden, ob es sich gelohnt hat.«

»Aber Herr«, begann Kiyoshi. »Ich habe die unterschlagenen Waren gefunden. Auf der Insel Kuroshima lagern immense Mengen unterschiedlicher Güter, die …«

Eine herrische Geste des Daimyō schnitt Kiyoshi das Wort ab. »Das lass nun unsere Sorgen sein. Du wirst mir die Akten geben, und dann kümmere ich mich um den Rest. Die Schmuggelbande wird dem Schwert der Gerechtigkeit nicht entgehen, glaube mir. Gute Arbeit, Kiyoshi. Ich würde gern deinem alten Vater davon berichten, er wäre so stolz auf dich gewesen. Aber sonst behalte ich mein Schweigen, auch am Hofe. Je geheimer deine Mission ist, desto glücklicher wird deine Familie sein, dass ich dich mit dieser Aufgabe betraut habe. Mehr muss niemand wissen.«

»Aber die Holländer selbst müssen mitgemacht haben an diesem Betrug«, begann Kiyoshi von Neuem. »In dem Kontor lagern Waren, die ein ganzes Schiff füllen. Ohne das Wissen dieser Barbaren kann so ein Reichtum nicht zusammenkommen.«

Ein leises Kopfschütteln war die Antwort. Shigeyasu senkte beruhigend die Hände und deutete ihm an, sich zu setzen. Er beugte sich vor und sah Kiyoshi eindringlich in die Augen, ein hochgestreckter Finger schwebte vor der Nase des Samurai wie die Klaue einer Gottesanbeterin. Kiyoshi war wie hypnotisiert.

»Und jetzt offenbare ich dir das letzte Geheimnis. Und das wichtigste von allen über die Langnasen«, begann Shigeyasu. »Der Holländer selbst öffnet uns die Türen zu seiner Konkurrenz. Der Opperhoofd ist zur letzten Kirschblüte mit dem Auftrag zu mir gekommen. Diese Brandenburger müssen Nachbarn der Holländer sein und Verbündete, und einer der Fürsten wiederum ein Freund ihres Fürsten. Das verstehe, wer will! Wie auch immer: Dieser eine sucht ein Geschenk für die Sammlung seines Shoguns und bat den Holländer darum, bei der nächsten Rückreise etwas ganz Besonderes mitzubringen. Das war eine Chance, die sich unser Shogun Tokugawa Ietsuna nicht entgehen lassen will. Warum nicht jemanden mitschicken, der das Geschenk – das wir uns natürlich von den Holländern teuer bezahlen lassen – persönlich überbringt? Jemand, der unser ganzes Vertrauen genießt? Jemand, der den Dialekt der Barbaren spricht. Und jemand, der weiß, was für einen Schatz er dort mit sich trägt.« Er stieß mit dem Zeigefinger gegen Kiyoshis Brust. »Dich!«

Shigeyasu ließ das wirken. Kiyoshi zeigte kaum eine Regung, vielleicht, dass seine Augen sich etwas weiteten, als der Statthalter ihn nun über alles lobte. Seine Verschwiegenheit, die Schläue eines Fuchses, was ja gerade die Aufdeckung der Schmuggelaffäre bewiesen hatte, seine Treue zu ihm, seinem Daimyō, und natürlich die Ausdauer, Kraft und Stärke beim Umgang mit dem Schwert. »Im Dōjō hat dich noch keiner geschlagen, du bist mein bester Mann. Ich höre, es kommen immer wieder Samurai aus ganz Japan in unsere Kampfschule, um dich im Zweikampf zu stellen. Aber noch keiner hat dich besiegt. Dein Ruf ist unbefleckt.«

Kiyoshi nickte. Tatsächlich war er stolz auf sein Geschick mit dem Katana, dem Langschwert. Dafür trainierte er auch in diesen Friedenszeiten jeden Tag und hatte auf dem Stammsitz seiner Familie schon in jungen Jahren eine harte Grundausbildung durchlaufen. Sein Vater Nakatani Haruma hatte den Bürgerkrieg noch mitgemacht und war als ein Samurai der traditionellen Schule ein unerbittlicher Lehrmeister gewesen. Neun offizielle Duelle hatte Kiyoshi in Diensten des Nagasaki Bugyo seitdem mit Samurai anderer Kampfschulen ausgefochten, und bisher hatte ihm niemand die Klinge an den Hals gesetzt. Er war zwar groß für einen Japaner, überragte viele Gegner um Haupteslänge, aber er war auch hager und deshalb ungemein schnell, mit einer großen beweglichen Reichweite gesegnet, die ihm Vorteile einbrachte.

Kiyoshis Dynamik im Duell hatte selbst mit dem Trainingsschwert aus roter Eiche schon so einige Nasen und Arme gebrochen. Manchmal bedauerte er, den Bürgerkrieg verpasst zu haben. Ein Kampf auf Leben und Tod war in Diensten als Beamter Shigeyasus nicht vorgesehen. In seinem Alter hatte sein Vater schon in Reihen seines Daimyōs Hosokawa Tadaoki Dutzende Gegner getötet. Von ähnlichen Abenteuern würde Kiyoshi seinen Enkeln wohl nicht erzählen können, sein Leben verlief in ruhigen Bahnen. Ruhm, der auf einem Holzschwert beruht, ist ein blinder Spiegel. Ein Schatten seiner selbst.

»Und deshalb«, fuhr Shigeyasu fort und riss Kiyoshi aus seinen Tagträumen, »wirst du auf unsere Gabe achten, wie auf dein eigenes Herz. Und glaube mir, sie ist es wert.«

Der Statthalter wandte sich im Sitzen um, nahm etwas aus dem Regal an der Wand hinter ihm, hob es mit beiden Händen an und reichte es an Kiyoshi weiter.

Dem stockte der Atem.

Ein Schwert. Auch, wenn nur der Griff aus der Seidenumwicklung herausragte, erkannte Kiyoshi sofort, dass es kein gewöhnliches Katana war. Mit der Andeutung einer Verbeugung nahm er die Waffe an sich und wiegte sie in seinen Händen, während sein Blick die Montierung prüfte. Die bescheidenen Verzierungen täuschten ihn nicht. Die umleimte Rochenhaut am Griff verbarg liebevoll gearbeitete Menuki in vergoldeten Früchten und Blättern, die die Schwertangeln abdeckten. Die Tsuba, das runde Stichblatt, war aus Eisen getrieben, zeigte aber eine geprägte Flusslandschaft mit Kormoran, die Scheide war schlicht und lackiert.

Kiyoshi umfasste vorsichtig den Griff, blickte um Erlaubnis bittend zu seinem Herrn auf, seine Augen glänzten. Shigeyasu nickte knapp. Er lächelte nicht.

Also wandte sich Kiyoshi höflich ab – niemand zieht offen in Gegenwart seines Herrn oder eines Gastgebers ein Schwert blank. Und ließ den Stahl langsam aus der Scheide gleiten.

Ein Meisterwerk. Kiyoshi konnte sich nicht sattsehen an dieser todbringenden Schönheit. In der polierten Fläche spiegelte sich die Oktobersonne, die auf der Schneide mehrfach gebrochen wurde. Die gewundene Härtelinie, der Hamon, schlängelte sich in perfekten Wellen bis zum Grat, der zur Spitze auslief. Das Schwert schmiegte sich wie eine schlafende Kobra an den Ärmel seines Kimonos, Kiyoshi spürte regelrecht seine fließende Balance und Ausgewogenheit. Er zog es heran und blickte an seiner Klinge entlang. Der Samurai seufzte, so ein makelloses Schwert hatte er noch nie in der Hand gehabt. Seine beiden Waffen, das vom Vater ererbte Schwerterpaar Katana und Wakizashi, waren von Yoshisada geschmiedet und wahrlich keine schlechten Klingen. Sie taten ihre Arbeit und waren seit Generationen in seiner Familie verlässliche Begleiter. Aber das hier war etwas anderes. Ein Schwert für Fürsten. Fast widerwillig schob er es wieder in die Scheide, nahm es in beide Hände, berührte es sanft mit der Stirn und reichte es Shigeyasu zurück. Der legte es quer zwischen sich und Kiyoshi auf den Boden. Dann wies er darauf. »Was sagst du?«

»Herr, es ist eine unglaubliche Gabe für einen Barbaren. Unbezahlbar wie die japanische Seele.«

Shigeyasu nickte und sah Kiyoshi tief in die Augen. »Wir lassen es uns in Gold aufwiegen, glaub mir. Käme es nicht vom Shogun selbst, hätte sogar ich dafür meine Familie verkauft. Tokugawa Ietsuna musste den Mönchen versprechen, sich – möge er ein langes Leben haben – in ihrem Tempel bestatten zu lassen, sonst hätten sie es niemals herausgerückt.«

Kiyoshis Züge hellten sich auf. »In Edo vielleicht? Dann war es der Kan’ei-ji-Tempel? Ich hatte es bereits geahnt.«

Shigeyasu erlaubte sich ein feines Lächeln, schmal wie ein Pinselstrich. »Weiter …«

»Dann ist es ein Meisterstück von Nagasone Kotetsu? Unglaublich. Ich habe noch nie ein Schwert von ihm gesehen. Aber viel gehört, genug, um eines zu erkennen, auch ohne die Signatur in der Griffangel.«

»Du hast einen guten Blick, Kiyoshi. Ja, es ist ein Werk Kotetsus. Er erhält sein Gnadenbrot bei den Mönchen auf dem Ueno-Hügel. Er müsste inzwischen so alt sein wie der heilige Fuji selbst und hat seit Jahren keinen Schmiedehammer mehr in der Hand gehabt. Das, was wir haben«, sagte er und streichelte mit den Fingerspitzen über die glänzende Scheide, »ist sein Vermächtnis. Kotetsu weiß es selbst nicht mehr genau, aber keine 40 Schwerter werden ihm zugeschrieben. Eines der letzten, vielleicht das letzte Katana aus seiner Werkstatt überhaupt, liegt hier vor uns.«

»Aber, bei allem Respekt, ist das nicht zu wertvoll, um es außer Landes zu geben? Jeder Holländer oder welcher Europäer auch immer wäre mit einem minder wertvollen Schwert zufrieden. Den Unterschied würden die Barbaren niemals merken. Diese Klinge hat das Zeug dazu, ebenso berühmt zu werden wie der Doji kiri, der »Dämonen-Spalter« von Yasutsuna oder die Mikazuki, die »Mondsichel«, die vierte Klinge der fünf himmlischen Schwerter von Sanjo. Und Ihr gebt es ab?« Kiyoshi schüttelte leicht den Kopf.

»Zuerst einmal gebe nicht ich es ab, sondern unser Shogun. Und du wirst wohl kaum seine Weisheit in Frage stellen, oder?« Shigeyasus Züge verhärteten sich. Kiyoshi wurde blass, aber sein Daimyō winkte ab: »Nun gut, ich gebe zu, dass auch ich nicht glücklich bin, solch einen Schatz in Hände abzugeben, die gerade mal in der Lage sind, stumpfe Beidhänder aus Eisen gerade zu klopfen. Aber hier sind wir beide nur Boten. Ich überreiche es dir, du gibst es weiter an den Shogun der Brandenburger. Nur der Wind weiß, ob uns das etwas nutzt. Außerdem«, er neigte sich Richtung Kiyoshi, »geben wir ja auch dich außer Landes. Du bist unser Wächter, du wirst dieses Schwert mit deinem Leben verteidigen.« Er senkte seine Stimme. »Aber du kehrst schließlich auch zurück, nicht wahr?« Shigeyasu musterte Kiyoshi eindringlich.

Dessen Blick streichelte verträumt das Schwertgebinde vor sich auf dem Boden. Eine Klinge von Kotetsu, die das Harte und Weiche vereinte, Gegensätze, zu einer edlen Einheit verschmolzen. Ein Schwert mit Herz und Seele, ein Schwert, das mit einem Streich sowohl töten als auch Frieden stiften konnte. Und er war im Auftrag des Shogun auserwählt, es zu begleiten. Weit über das Meer, um dann vielleicht den barbarischen Gaijin beizubringen, welches Prunkstück sie da in den Händen hielten. Lag hier das Abenteuer, das er sich so lange gewünscht hatte? Er musste nur zugreifen. Und jetzt endlich verbeugte sich Kiyoshi tief. »Hai! Es wird mir eine Ehre sein, Herr!«

»Gut!« Shigeyasu erhob sich. »Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.« Auch Kiyoshi stand auf und verneigte sich ein zweites Mal. »Du wirst deine Sachen packen und in sieben Tagen am Hafen auf eine holländische Fleute gehen. Wir werden das Schwert in einer Kiste versiegeln und für die Reise fertigmachen. Du wirst es, ebenso wie deine Reisedokumente, in einer Woche bei mir und nur bei mir abholen. Ebenso verfährst du mit dem Kontor der Bestechungs- und Schmuggelwaren: Du erstellst einen Bericht, den du mir überreichst. Und wiederum nur mir. Ich und meine Beamten übernehmen den Rest dieser hässlichen Affäre. Du nimmst nirgendwo Abschied, sondern wirst deine Beamtentätigkeit weiterführen, als sei nichts passiert. Es ist dir nicht erlaubt, über deine Mission zu reden, ich werde später persönlich deine Mutter besuchen und die Familie informieren. Haben wir uns verstanden?«

Kiyoshi verbeugte sich erneut zeremoniell, sein Herz klopfte. Auch Shigeyasu deutete knapp eine Verbeugung an, nahm das Schwert auf, wandte sich abrupt ab und verschwand in schnellen Schritten durch die Schiebetür. Die Stille, die er zurückließ, stülpte sich wie eine Glocke aus Glas über den Raum. Kiyoshi atmete tief durch. Sieben Mal.

Dann ging auch er.

Amsterdam, im Juni 1678 トラベル

Auf dem Schiff war seine Welt klein gewesen und übersichtlich. Das half. Es half etwas. Auch wenn die Gesellschaft der stinkenden, grobschlächtigen Weißen kaum zu ertragen war, so hatte er seine schmale Kabine, um sich zurückzuziehen, wenn der einzige Ausweg aus dem Elend schien, einfach von Bord zu springen. Stundenlang hatte Kiyoshi am Heck der Lazarus gestanden und zugesehen, wie seine Heimat sich im Dunst des Meeres auflöste. Es war ihm hundeelend, aber er drängte seine Verzweiflung, seine Trauer, hinter seine unbewegte Miene zurück. Kerzengerade stand er an der Reling, fing mit den Knien das Wiegen des Schiffes in der Dünung auf und starrte ins schmutzig-graue Kielwasser. Der Duft des Tangs aus der Omura-Bucht wurde immer schwächer, irgendwann verstummten auch die letzten Möwen über Amakusa-nada. Dann blieb nur noch das Knarren der Takelage, das Schlagen der Segel im achtern Wind und die Rufe der Matrosen über den rollenden Wellen, die der Bug der Fleute teilte. Tsuki no Usagi, der Hase im Mond, konnte nicht einsamer sein als Nakatani Kiyoshi, dem die Welt noch nie so unfassbar groß und so unendlich leer vorgekommen war wie an diesem Tag im Oktober, als er alles hinter sich ließ, was sein Leben ausgemacht hatte.

Obwohl ihm als Gast der VOC, der Niederländischen Ostindien-Kompanie, mehr Zugeständnisse gemacht wurden als den gemeinen Seeleuten oder Soldaten, die gerade ein- oder zwei Mal am Tag jeweils für eine halbe Stunde ans Oberdeck getrieben wurden, um frische Luft zu schnappen, stellten die sieben Monate auf See seine Disziplin als Samurai auf die härteste Probe seines Lebens. Nichts war so, wie er es gewohnt war: Dem penetranten Gestank von zweihundert in einem 150 Fuß langen Holzkasten zusammengepferchten Männern entkam er nur, wenn er die Nase in den Wind hielt. Die Seekrankheit in den ersten Wochen, als er betend und zitternd in seiner Hängematte zusammengerollt seinen Tod herbeisehnte, war fast schon weniger schlimm als der Proviant, der ihn jeden Tag mehr Überwindung kostete. Das faserige Fleisch der Hühner und Schweine, die bereits nach einigen Wochen allesamt in einem blutigen Massaker geschlachtet worden waren, reichte nicht lang. Danach machten sich die Matrosen über Salzfleisch und Stockfisch in Salzlake her. Kiyoshi, der daheim so gut wie nie Fleisch aß, schob so oft wie möglich die zähen Brocken an den Rand seines Napfes und entsorgte sie über die Reling. Zwiebeln und Kartoffeln aber waren bald verdorben, es blieben also nur noch getrocknete Erbsen, Linsen, Graupen und alles Essbare aus Mehl, aus dem man nur die Maden herausklopfen musste, um es herunterschlingen zu können.

*

Nach Wochen auf See brachten allein die Zwischenstopps etwas Erleichterung. Bei den niederländisch-chinesischen Kontoren auf Batavia hatte Kiyoshi sogar seinen ersten Deutschen getroffen. Ein gewisser Andreas Cleyer, Mediziner in Diensten der niederländischen Kompanie, hatte ihn in einer Schenke angesprochen und ihn begeistert über japanische Pflanzen und traditionelle Heilmethoden ausgefragt. Es waren Kiyoshis erste intensive Gespräche in dieser Sprache. Gut, dass man mit Brouwer und dem Kapitän ins Holländische wechseln konnte, wenn es zu kompliziert wurde.

Das Schiff nahm sich Zeit auf dem Rückweg, lief behäbig die Banda-Inseln an, um Nelken, Muskatnuss und Muskatblüten aufzunehmen, übernahm Zimt auf Ceylon oder ankerte fast einen Monat vor Kapstadt. Es dauerte indes immer nur wenige Wochen, ehe frisches Obst, Gemüse, Wasser, Fisch und Fleisch erneut verbraucht waren oder faulig wurden. Er träumte des Nachts von Dashi-Brühe, Reis mit frischem Ingwer und Pilzen und wachte mit trockenem Mund auf.

Nach zwei Monaten fasste Kiyoshi einen Entschluss. Das Leiden, so viel war sicher, ging nicht von selbst vorbei. Wenn das Problem nicht zu lösen war, dann musste er seine Einstellung zu dem Problem ändern. Er nahm ab sofort seine Prüfung als spirituelle Aufgabe an. Er begann den Tag mit Meditation, kämpfte auf dem wogenden Achterdeck unter den staunenden Blicken der Besatzung mit seinen Schwertern gegen unsichtbare Gegner und lenkte sich ab mit seinen neuen Sprachlektionen: Stundenlang übte Kiyoshi mit einem der Kaufleute an Bord Deutsch, was ihm leichtfiel, denn das Holländische unterschied sich kaum, schien eher ein regionaler Dialekt zu sein. Im niederländischen Kastell De Goede Hoop in Kapstadt hatte Kiyoshi ein Buch in deutscher Sprache gefunden. Der »Simplicius Simplicissimus« war ein gerade erschienenes Werk eines gewissen German Schleifheim von Sulsfort, mit dem Kiyoshi täglich übte, bis die Sonne sank. Und er fand meist Unterstützung durch einen Mitreisenden.

Sie setzten sich in den Schatten am Heck, um den muffigen Kabinen unter Deck zu entkommen. Der Kaufmann Pieter Brouwer legte das großformatige Buch auf seine Knie, las Kiyoshi vor – der sprach die Sätze nach und erfuhr so gleichzeitig von einem großen Krieg, der Europa erst kürzlich erschüttert hatte. Einerseits wunderte er sich, dass die Holländer das nie erwähnt hatten, andererseits: Er hätte sowieso nicht zugehört. Was ging es ihn an, wenn sich die Barbaren gegenseitig abschlachteten?

Jetzt aber war sein Interesse geweckt: Ebenso wie in Japan fast 80 Jahre zuvor hatten die europäischen Fürsten vor gerade erst 20 Jahren einen gewaltigen Bürgerkrieg überstanden, und das Buch erzählte von einem Mann, der in dessen Wirren versucht, zu überleben und dabei unfassbare Abenteuer erlebt. Dass dieser Melchior Sternfels von Fuchshaim auf seinen Irrfahrten sogar Japan erreicht hatte, beeindruckte Kyoshi ungemein, auch wenn ihm die Schilderung seiner Heimat eher ebenso seltsam vorkam, wie viele Orte, Länder und Völker, mit denen Simplicius Bekanntschaft machte. Als dieser Überlebenskünstler am Ende gar auf einer einsamen Insel landete und ein holländischer Kapitän dessen Lebensbeichte mit zurückbrachte, hatte Kiyoshi einen Seelenfreund gefunden. Waren sie nicht beide ins Leben ausgesetzt, ohne zu wissen, was als nächstes passieren würde? Waren sie nicht alle Gestrandete? Das Vermächtnis des Einsiedlers für seinen manchmal gar nicht so einfältigen Schützling wurde Kiyoshis Trost und Stütze: Selbsterkenntnis, Welterkenntnis und Beständigkeit – das hätten auch die Zen-Mönche im Sōfuku-ji-Kloster in Nagasaki lehren können.

Vielleicht, so dachte Kiyoshi insgeheim beim Blättern in den Seiten, vielleicht sind wir ja doch alle Töchter und Söhne der einen Mutter.

»Das mag doch ein Trost sein, nicht wahr?«, fragte er Brouwer auf Deutsch, der den unverhofften Sprachkurs als willkommene Abwechslung genoss.

Der Holländer nickte zögernd. »Kann sein. Durchaus …« Dann zuckte er die Schultern. Er sei sich doch nicht ganz sicher. »Was soll man davon halten, wenn sich Tausende des Glaubens wegen den Schädel einschlagen, die sich aber allesamt Christen nennen?« Die seien doch tatsächlich allesamt Töchter und Söhne einer Familie. »Und wenn in unseren unheiligen Zeiten nicht einmal auf die Familie Verlass ist, worauf dann noch?«

Kiyoshi wirkte überrascht. »Ihr glaubt alle an einen Gott und tötet euch dennoch gegenseitig? 30 Jahre lang? Erkläre es mir.«

Der Kaufmann schüttelte unwirsch den Kopf. »Nein, das ist zu kompliziert. Was würdest du sagen, wenn ich dir erzählte, dass die einen glauben, den Sohn Gottes, Jesus, den Messias, bei der Messe tatsächlich zu essen, die anderen aber, dass es nur ein Symbol ist, wenn wir Brot und Wein als sein Fleisch und Blut essen und trinken? Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Würdest du das verstehen?«