Descartes Traum - Philip J. Davis - E-Book

Descartes Traum E-Book

Philip J. Davis

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Beschreibung

Es war René Descartes, der die Welt im 17. Jahrhundert auf den Kurs steuerte, dessen Stationen bald seine kühnsten Träume übersteigen sollten: die Rationalisierung der Welt, ihre Erkundung und Beherrschung durch die Methoden der Messung, des Zählens, Quantifizierens und Analysierens. Philip J. Davis und Reuben Hersh fahren diese Route erneut ab und stellen in ihrem »Kursbuch«, das erstmals 1986 erschien, eine Reihe wichtiger Fragen: Wie beeinflußt die Computerisierung der Welt die materiellen und intellektuellen Bausteine unserer Zivilisation? Wie verändert der Computer unsere Vorstellungen von der Realität, vom Wissen und von der Zeit? Hat er unser alltägliches Leben tatsächlich erleichtert? (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Philip J. Davis | Reuben Hersh

Descartes’ Traum

Über die Mathematisierung von Zeit und Raum. Von denkenden Computern, Politik und Liebe

Aus dem Amerikanischen von Klaus Volkert

FISCHER Digital

Mit einem Glossar von Klaus Volkert

Inhalt

Für Phyllis und Hadassah [...]René Descartes (1596–1650) Französischer [...]Giovanni Battista Vico (1668–1744) [...]VorwortI. Unsere mathematisierte WeltDescartes’ TraumWeiterführende Literatur:Das Traumbild heuteWeiterführende Literatur:Die Grenzen der MathematikWeiterführende Literatur:Ertrinken wir in Ziffern?Die stochastisierte Welt: bloß eine Frage des Geschmacks?Weiterführende Literatur:Rückkoppelung und Kontrolle: die GleichgewichtsmaschineAuf lange SichtDas Gesetz von TorricelliDie ErhaltungssätzeLösung der KontinuitätsgleichungenGleichgewichtswerteKontrolleStabilität des DauerzustandesWeitergehende SchlußfolgerungenWeiterführende Literatur:Computergraphik und hohe KunstWeiterführende Literatur:II. Die soziale Tyrannei der ZahlenMathematik und RhetorikEinleitungTeil 1 Mathematik als rhetorisches MittelTeil 2 Rhetorik in der MathematikWie man etwas beweisen kannSchlußfolgerungenWeiterführende Literatur:Wer legt die Kriterien fest? Mathematik und SozialpolitikWer legt die Kriterien fest? Mathematik und SozialpolitikWeiterführende Literatur:Computerisierung der LiebeWeiterführende Literatur:TestenWeiterführende Literatur:Mathematik als soziale BarriereDie Rolle der Berechnung in Organisationen aus marxistischer SichtIII. Erkenntnis und BerechnungDrei Funktionen der angewandten Mathematik: Beschreiben, Vorhersagen, VorschreibenDie intellektuellen Komponenten von Technologie, Mathematik und Berechnung: vier ListenAnmerkungen:Weiterführende Literatur:Metadenken als LebensweiseDrei Bedeutungen von »Berechnung«Höhere Arithmetik: Elemente der wissenschaftlichen BerechnungSuperarithmetikWeiterführende Literatur:Wozu ist die Numerik gut?Weiterführende Literatur:Warum sollte ich einem Computer glauben: Berechnung als Prozeß und ErgebnisWeiterführende Literatur:Die Whorfsche Hypothese: Ziele und Zwecke von ComputersprachenComputer-BabelDie Whorfsche Hypothese: Ein Gespräch mit Charles M. StraussWeiterführende Literatur:Das Programmierermilieu Ein Interview mit Charles M. StraussWeiterführende Literatur:IV. Ausblick auf die ZeitÜber Zeit und MathematikWeiterführende Literatur:Die Nichteuklidische Geometrie und der ethische RelativismusWeiterführende Literatur:Die unvernünftige Effektivität der Computer: Sind wir vernagelt und festgenagelt?Weiterführende Literatur:V. Mathematik und EthikPlatonistische Mathematik und platonische Religionsphilosophie: eine ethische MetapherWeiterführende Literatur:Der denkende Computer: eine Interpretation nach Art des MittelaltersDer TextExegese auf mittelalterliche ArtDie wörtliche InterpretationDie metaphorische InterpretationDie moralische InterpretationDie anagogische InterpretationWeiterführende Literatur:Die Mathematik und das Ende der WeltVI. Persönliche AnsichtenMathematik und aufgezwungene WirklichkeitWeiterführende Literatur:Bedeutungsverluste durch intellektuelle Prozesse: die mathematische AbstraktionDer Verlust von BedeutungDie Vernichtung von BedeutungVernichtung durch intellektuelle ProzesseDer FormalismusGeistvoll in die Katastrophe?Bedeutungsverlust durch ComputerDie Wiedergeburt der BedeutungWeiterführende Literatur:VII. NachwortDankGlossarBibliographieAbbildungsnachweise

Für Phyllis und Hadassah mit Dank und Liebe

René Descartes (1596–1650) Französischer Philosoph und Mathematiker

»Die langen Ketten einfacher und leichter Gedanken, welche die Geometer zu den schwierigsten Beweisen benutzen, veranlassen mich anzunehmen, daß alle Gegenstände menschlichen Denkens auf die gleiche Weise miteinander verbunden sind.«

Giovanni Battista Vico (1668–1744) Italienischer Philosoph, Rechtsgelehrter und Philologe

»Die Mathematik wird vom menschlichen Geist in einem Akt der Selbstentfremdung geschaffen. Dieser Geist kann sich in der Mathematik nicht wiederfinden. Der menschliche Geist lebt in menschlichen Institutionen.« Giovanni Battista Vico in einer Paraphrase von Sir Isaiah Berlin.

Vorwort

Die überwiegend positive Aufnahme von »Erfahrung Mathematik« (dt. 1985), hat uns ermutigt, in der Beschreibung jener wundervollen und oft verblüffenden Tätigkeit, genannt »Mathematik machen«, fortzufahren. In »Erfahrung Mathematik« versuchten wir, einen umfassenden Eindruck von dieser Tätigkeit zu vermitteln. Dabei nahmen wir den Standpunkt des Berufsmathematikers[*] ein, der die Mathematik »von innen heraus« betrachtet. Wir haben dort unter anderem beschrieben: Die Bestandteile, aus denen die Mathematik konstruiert ist, wie sie erfunden und wie sie verwendet wird, wie man sich als arbeitender Mathematiker fühlt und welche menschlichen Werte der Mathematik zugeschrieben werden können. Kurz, wir versuchten die Frage zu beantworten: Was ist mathematische Erfahrung? – Bei der Beantwortung dieser Fragen wurden wir zu einer Philosophie der Mathematik geführt, von der wir meinten, sie sei mit dieser Erfahrung verknüpft. Die Formulierung dieser Philosophie spornte unsere schriftstellerischen Anstrengungen an.

Das Ziel des vorliegenden Buches ist ein anderes. Wir nähern uns der Mathematik von außen. Wir beschäftigen uns mit den enormen Auswirkungen dieser Disziplin auf unsere Umwelt, und zwar auf unsere natürliche Umwelt wie auch unsere soziale. In diesem Zusammenhang wird gelegentlich von angewandter Mathematik gesprochen. Diese Anwendungen der Mathematik sind heutzutage so weit verbreitet, daß wir von der Mathematisierungder Welt sprechen. Wir wollen ihre zivilisatorischen Bedingungen untersuchen und herausfinden, unter welchen Voraussetzungen diese Anwendungen wirksam und sinnvoll sind und wann nicht, wann sie nützlich sind, gefährlich oder unbedeutend. Wir verfolgen, wie sie unser Leben einschränken und unsere Realitätswahrnehmung verändern.

Ein mathematischer Satz in der Bildenden Kunst. I.H. Schoenberg stellt die harmonische Analyse eines irregulären Siebenecks (Satz von Jesse Douglas) als räumliche Konstruktion dar. Läßt sich fortgeschrittene Mathematik als ein Element in die Ikonographie einbringen?

Im Verlauf des letzten Jahrhunderts haben Mathematik, Technologie und Wirtschaft ihre Kräfte in beeindruckender Weise verbunden, um den Computer zu entwickeln. Der Computer seinerseits hat, diese seine »Abstammung« anerkennend, seine »Ahnen« mit zahlreichen Wohltaten beschenkt.

Die letzten Anwendungsstufen der Mathematik werden heute mit Hilfe dieser wunderbaren mathematisch-logischen Maschine zustande gebracht. Erstaunlich sind die weite Verwendbarkeit und die verbreitete Aufnahme dieser Technologie: Die Möglichkeiten des Computers werden als allumfassend betrachtet, und viele Bereiche unseres alltäglichen Lebens werden absichtlich computergerecht verändert.

In diesem Buch werden wir neben der Mathematik auch den Computer befragen: Was ist die »Erfahrung Computer«? Wie beeinflußt die Computerisierung der Welt die materiellen und intellektuellen Qualitäten unserer Zivilisation?

Was die Technologie anbelangt, so erkennt jeder, der die ersten fünfzig Jahre des Computerzeitalters betrachtet, das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Computern und Technik. Ohne substantielle Hilfe des Computers kann man nicht zum Mond fliegen. Die Öffentlichkeit lernt, daß ein Herzschrittmacher einen Computer enthält, und sie beginnt langsam zu begreifen, daß das Schlagwort der »Computerisierung des Menschen« wörtlich und nicht bloß metaphorisch genommen werden muß. Umgekehrt ist klar, daß die Bits und Pieces, die Chips und Tapes eines Computers Produkte einer fortgeschrittenen Technologie sind und daß jeder technologische Fortschritt die Möglichkeit bietet, Entwurf und Funktion des Computers zu verbessern.

In der Wirtschaft, in der Sozialstatistik und in der Datenverarbeitung ganz allgemein erkennt die Öffentlichkeit das geschilderte Wechselspiel. Deutlich sieht sie die Revolution, die in der Buchführung stattgefunden hat. Die computergestützte Reservierung, obgleich nicht unverzichtbar für die Geschäfte einer Fluglinie oder eines Theaters, hat ein Maß an Bequemlichkeit und Flexibilität erzeugt, das wir in Zukunft nicht mehr missen möchten. Die Computerisierung der Bibliotheken, die jetzt im Vormarsch ist, faßt die Möglichkeiten aller Bibliotheken zusammen und macht jedes Buch auf Fingerdruck zugänglich für den, der eine entsprechende Anfrage in die Tastatur eines Terminals eintippen kann.

In der Mathematik, dem dritten Element der genannten Verbindung, tritt uns die Wechselwirkung mit dem Computer nicht genauso auffällig entgegen, obwohl es dieses Phänomen auch hier gibt. Ist nicht nach althergebrachter Ansicht der Computer nichts anderes als eine schnell rechnende Maschine? Während Wirtschaft und Technologie sich mit handfesten Angelegenheiten befassen, ist die Mathematik eine Sache der Imagination, eine Disziplin, in der mit abstrakten Symbolen hantiert wird. Abstraktionen sind nicht unmittelbar zu begreifen. Obwohl der Ursprung des Computers in den frühen Träumen der Mathematiker lag und seine Weiterentwicklung von Ideen abhing, die mathematische Talente hervorgebracht haben, wird infolge der genannten Abstraktheit die Rolle, welche die Mathematik gespielt hat, immer noch schlechter verstanden als die von Wirtschaft und Technologie.

Wollen wir die Beziehungen zwischen Mathematik und Computer darlegen, so stellen sich viele Fragen: Wie beeinflußte der Computer die Anwendbarkeit abstrakter mathematischer Formulierungen in der Praxis? Welche Rolle spielte er bei der Entdeckung von neuen mathematischen Sätzen? Welchen Einfluß hatte er auf unsere Theorien über mathematische Erkenntnis und mathematische Existenz, über mathematische Vorstellungsvermögen und mathematische Einsicht und über die Ausbildung in Mathematik? Wie hat er unsere Ansichten über das Mögliche und das Unmögliche und dessen Transzendierung verändert?

Umgekehrt ist zu fragen: In welcher Weise hat die Mathematik zur Erfindung neuer Computersysteme beigetragen? Gibt es Elemente von Universalität, die es erlauben, die Informatik als Wissenschaft und nicht als Handwerk zu bezeichnen? Sind diese Elemente mathematischer Natur? Wie sehen die Beziehungen zwischen der Denkweise der Mathematik, den Fähigkeiten des Computers und der menschlichen Intelligenz allgemein aus? In welcher Weise unterscheiden sich die Träume und Ziele der Mathematiker von denen der Informatiker?

Sollten wir diese Fragen beantworten können, so wären wir auf unserem Weg zu einer Philosophie der Berechnung ein gutes Stück vorangekommen. Diese ist ein Gebiet, das heute bestenfalls in Ansätzen existiert – sieht man einmal von Anleihen bei der Wissenschaftstheorie und der Philosophie der Mathematik ab. Es verdient jedoch Selbständigkeit.

Wie sollte eine Philosophie der Berechnung aussehen? Nun – so könnte eine erste Antwort lauten – so wie die klassische Philosophie mit dem Wahren, dem Guten und dem Schönen befaßt war, so müßte sich die Philosophie der Berechnung in analoger Weise mit der richtigen, der guten und der schönen Berechnung beschäftigen. Was macht eine Berechnung richtig? Warum sollte ich glauben, was mir ein Computer erzählt? Wann kann eine Berechnung nützlich genannt werden? Was macht sie gut oder schlecht, schön oder häßlich? Wie verändert der Computer unsere Vorstellungen von Realität, Wissen und Zeit?

Viele Gründe lassen sich angeben, warum man diese Fragen stellen sollte. Man betrachte erstens die ungeheure gegenwärtige Macht der Computerisierung: Wir versinken in den Wogen neuer Ideen, Ausrüstungen und Möglichkeiten, weit jenseits der Träume aller Science Fiction. Auf dem Gebiet der Computer ist, obwohl uns die Vernunft vor unbegrenztem Optimismus warnt, keine Schranke nach oben in Sicht; nur unser beschränkter Horizont bildet eine Grenze. Überall gibt es Arbeitsplätze, die Effizienz scheint gesichert, und der Geist ist überwältigend. Es spricht einiges dafür, daß der begabteste und beste Teil unserer Jugend traditionelle Beschäftigungsgebiete des Intellekts wie Mathematik und Physik zugunsten der Informatik aufgeben wird. Einige von diesen jungen Leuten finden die Mathematik zu streng und die Gegenstände der aktuellen Forschung unerträglich langweilig. Im Gegensatz hierzu erscheint die draufgängerische Mentalität des Informatikers als heißersehnte Befreiung. In Anbetracht berauschter Aktivität und des damit verbundenen Trancezustandes lohnt es sich, Bilanz zu ziehen und zu fragen: Worauf läuft das alles hinaus?

Die Wichtigkeit dieser Frage folgt auch aus sozialen Erwägungen. Einige Kritiker sind der Ansicht, der Computer und seine Peripheriegeräte seien integrierte Bestandteile jener Megamaschine zeitgenössischer Megatechnologie, die das Denken entwürdigt und den Intellekt erniedrigt. Simone Weil, eine tiefreligiöse Frau und Schwester eines berühmten Mathematikers, schrieb einige Jahre vor Aufkommen der Digitalrechner in ihr Tagebuch: »Geld, Mechanisierung, Algebra. Die drei Alpträume unserer Zivilisation.« Geld, Mechanisierung und Algebra haben wir als die Ahnen des Computers identifiziert. Je nach Standpunkt wird man die Meinung von Simone Weil teilen oder nicht: Ihr Glaube ist aber weit verbreitet, und man braucht nicht ambitioniert religiös zu sein, um ihre Auffassung zu teilen. Diejenigen unter uns, die Mathematik lieben und sie als eine der großen Schöpfungen der Menschheit verehren, werden kritisch einwenden: Warum soll gerade die Mathematik in Verbindung mit ihren beiden Partnern für die »Alpträume der Zivilisation« verantwortlich sein?

Als Gegenpol kritischer Radikalität tritt die Idee auf, ausschließlich der Computer biete die Möglichkeit sozialer Heilung – durch ein technologisches Utopia. Die wahren Anhänger dieser Auffassung behaupten, daß man nur durch die geschickte und schnelle Vernetzung von Trillionen Bits hoffen kann, jemals soziale Gerechtigkeit und interkulturellen Frieden erreichen zu können. Und die Zyniker unter den Anhängern der Computerisierung können immerhin anführen, daß klassische Fanatismen verdrängt werden: Dieses neuartige Spielzeug Computer sei vielleicht geeignet, soziale Konflikte durch berechenbare Entscheidungsprozesse überflüssig zu machen …

Im Streben nach einer Philosophie der Berechnung sollte man sich vernünftigerweise an den etablierten Diskussionen zur Philosophie der Mathematik orientieren. Während des letzten Jahrhunderts war diese hauptsächlich mit der Frage beschäftigt, warum die Mathematik wahr sei. Die jetzt auftauchende Philosophie der angewandten Mathematik und Berechnung muß sich die Frage stellen, warum und wozu die Mathematik gebraucht wird.

Die Entwicklung unserer Computerkultur verlief derart rasch und mitreißend, daß schon die Talente eines Reporters erforderlich wären, wollte man unseren heutigen Standort beschreiben – ganz zu schweigen von der Darstellung tieferliegender philosophischer Folgerungen aus diesem Sachverhalt.

Wir haben versucht, uns in diesem Buch nach besten Kräften mit einigen der oben erwähnten Fragen auseinanderzusetzen. Wir hatten nicht die Absicht, ein Buch von einem »neutralen« Standpunkt aus zu schreiben. Wir treffen eine Feststellung und wollen eine These daraus ableiten.

In Kurzform lautet die Feststellung: Die sozialen und materiellen Welten werden in zunehmendem Maße mathematisiert. Die These ist: Wir sollten diese Entwicklung kritisch beobachten, denn sie könnte uns allen schaden.

Dieses Buch stellt eine Sammlung unabhängiger Essays dar, die lose um mehrere Themen gruppiert sind. Einige der Essays lehnen sich an bereits veröffentlichte Artikel an, andere sind Überarbeitungen von Vorträgen oder redigierte Versionen von Tonbandinterviews. Die Essays erfordern unterschiedliche Niveaus mathematischen Wissens: Die Anforderungen reichen von der Allgemeinbildung bis zum professionellen Standard. Die Leser sollten nach Belieben blättern und sich in das vertiefen, was ihre Neugierde anspricht.

I. Unsere mathematisierte Welt

Orbis Typis Universalis. Die Landmasse in der linken unteren Ecke ist die soeben entdeckte westliche Hemisphäre, die damals noch nicht Amerika genannt wurde. Hier ist eine neue Realität im Entstehen begriffen.Aus: Claudius Ptolemäus, »Geographie«; Straßburg, 1513

Descartes’ Traum

Die moderne Welt, also unsere Welt triumphierender Rationalität, begann am 10. November 1619 mit einer Offenbarung und einem Alptraum.

An diesem Tag verkroch sich ein dreiundzwanzigjähriger Franzose namens René Descartes in der kleinen schwäbischen Stadt Ulm hinter seinem Wandofen. Dort, gut aufgewärmt, hatte er eine Vision. Es war keine Offenbarung himmlischer Heerscharen oder des neuen Jerusalem; es war vielmehr die Vision von der Vereinheitlichung aller Wissenschaften. Dieser Vision war ein Zustand intensiver Konzentration und innerer Erregung vorausgegangen. Descartes’ erhitzter Geist fing Feuer und fand Antworten auf die gewaltigen Probleme, die ihn seit Wochen belastet hatten. Er war von einem Genius besessen, und die Antworten wurden ihm in einem verwirrenden und blendenden Licht offenbart. Später ging er erschöpft zu Bett und hatte drei Träume, die ihm von dem Genius vorausgesagt worden waren.

Im ersten Traum wurde er von einem Wirbelwind umhergewirbelt und von Phantomen bedroht. Descartes empfand ein ununterbrochenes Gefühl des Fallens.

Dann träumte er, ihm würde eine Melone aus einem fernen Land geschenkt. Der Wind legte sich, und er wachte auf. Sein zweiter Traum handelte von Donnerschlägen und Kugelblitzen, die in seinem Zimmer tobten.

In seinem dritten Traum blieb alles ruhig und nachdenklich. Descartes fand ein Buch auf seinem Tisch, einen Dictionnaire. Er blätterte darin und schöpfte Hoffnung, daß ihm dieses Werk von Nutzen sein könnte – da verschwand das Buch, und er hielt statt dessen eine Gedichtsammlung in Händen.

Er schlug sie willkürlich auf und las den Vers ›Quod vitae sectabor iter?‹ (Welchen Lebensweg soll ich wählen?)

Ein Fremder stand vor ihm, der eine Gedichtzeile deklamierte, die mit Est et Non begann. Descartes erzählte ihm, daß er diese Verse aus den »Idyllen« des Ausonius gut kenne und sie in eben der Gedichtsammlung enthalten seien, die er vor sich habe. Er wollte dem Manne das Gedicht zeigen und begann, in der Anthologie zu blättern. Noch während er suchte, fragte ihn der Fremde, woher er dieses Buch habe, und Descartes berichtete ihm, daß er zuvor ein anderes hatte, das aber nun verschwunden sei. Kaum hatte er das gesagt, tauchte der Dictionnaire wieder auf, aber er war nicht mehr vollständig. Deshalb wandte Descartes sich wieder der Gedichtsammlung zu. Aber auch dort fand er nicht, was er suchte: Das Gedicht, das mit ›Est et Non‹ begann, fehlte hier. Descartes erzählte dem Fremden, daß er ein noch schöneres Gedicht desselben Autors kenne, das mit der Zeile ›Quod vitae sectabor iter‹ beginne. Der Fremde bat ihn, dieses Gedicht zu suchen. Während Descartes damit beschäftigt war, verschwanden der Mann und das Buch.

Noch im Schlaf begann Descartes seine Träume zu deuten: Die ersten beiden Träume bezogen sich auf die Vergangenheit, der dritte aber sagte ihm eine glänzende Zukunft voraus: Der Dictionnaire verkörperte das gesamte wissenschaftliche Wissen seiner Zeit; die Gedichtsammlung symbolisierte Philosophie und Lebensweisheit. Die Verse über die Ungewißheit des Lebensweges faßte er als weisen Rat auf.

Aus dem Schlaf erwacht, fuhr Descartes mit seiner Interpretation fort. Der Donner des zweiten Traums kündigte seiner Ansicht nach den Geist der Wahrheit an. Die Gedichtsammlung verhieß ihm, daß er die göttliche Offenbarung begreifen werde; und der Vers ›Est et Non‹ – nichts anderes als das ›Ja und Nein‹ der Pythagoräer – bedeutete ihm, daß er eines Tages das Wesen menschlicher Erkenntnis wie die Methoden der Wissenschaften verstehen werde. Von seinen Träumen bestärkt, faßte Descartes den Entschluß, künftig der Wahrheit seiner Visionen nachzugehen. Descartes’ Ergriffenheit legte sich nach einigen Tagen. Er war jedoch nun sicher, bei seiner Suche nach den Fundamenten der ›mirabilis scientiae‹ (wunderbaren Wissenschaft) auf dem richtigen Weg zu sein. Was war dieser Weg, den Descartes nun so deutlich vor sich sah? Es war die Methode der Vernunft, die allen Wissenschaften Vereinheitlichung und Erleuchtung bringen sollte.

Achtzehn Jahre vergingen, bis der Welt Einzelheiten über diese grandiose Vision und über die mirabilis scientiae fundamenta – die Grundlagen einer wunderbaren Wissenschaft – mitgeteilt wurden. Sie sind – in der Art und Weise, wie Descartes sie zu jenem Zeitpunkt darzustellen vermochte – in der Abhandlung »Von der richtigen Methode des Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung« enthalten. Seine Methode sollte nach Descartes’ Willen bei jeglicher wissenschaftlicher Forschung Anwendung finden. Sie schreibt vor:

nur dasjenige ist als wahr anzunehmen, was der Vernunft so klar ist, daß jeglicher Zweifel ausgeschlossen bleibt;

größere Probleme sind in kleinere aufzuspalten;

es soll immer vom Einfachen zum Zusammengesetzten hin argumentiert werden; und

das Werk ist einer abschließenden Prüfung zu unterwerfen.

Descartes war zuerst und vor allem Geometer; er pflegte alle Probleme zunächst in geometrische zu übersetzen. Was seiner Methode Substanz verleiht, ist ihre Anwendung in der Mathematik, der Wissenschaft von Raum und Quantität und den einfachsten und sichersten Vorstellungen des Geistes.

Als ich die High-School besuchte und erstmals von der analytischen Geometrie (auch »Koordinaten-« oder »Kartesianische Geometrie« genannt) hörte, hielt ich diese für die Methode, alle Probleme der Geometrie auf entsprechende Probleme der Algebra zurückzuführen. Die Wahrheit ist nicht so einfach. Keiner, der mit der analytischen Geometrie in ihrer heutigen Form vertraut ist, würde diese in Descartes’ Abhandlung wiedererkennen. Was sich bei Descartes tatsächlich findet, ist weniger eine Koordinatengeometrie als eine Algebraisierung der Konstruktionen mit Zirkel und Lineal. Die Koordinatengeometrie, wie sie heute gelehrt wird, umfaßt die Einführung rechtwinkliger Achsen in die Ebene, die Zuordnung zweier Koordinaten (oder Adressen) zu jedem geometrischen Ort und die Ersetzung von geraden und gekrümmten Linien durch geeignete algebraische Gleichungen. In ihrer modernen Form ist die Kartesianische Geometrie ebensosehr das Werk von Descartes wie das seiner Zeitgenossen und deren Nachfolger.

Titelseite von Descartes' Abhandlung

Es ist zutreffend, daß die analytische Geometrie im Sinne der formalen Logik eine Maschinerie darstellt, die es erlaubt, die Wahrheit geometrischer Aussagen automatisch zu entscheiden. Dies bewies 1931 der Logiker Alfred Tarski. Tarskis Algorithmus ist aber nicht so beschaffen, daß er auf die von der Praxis gestellten geometrischen Probleme anwendbar wäre. Er ist derart komplex, daß er selbst zeitgenössische Computer zurückschrecken läßt … Arbeitet man praktisch mit der analytischen Geometrie, ist oftmals Einfallsreichtum erforderlich, um eine passende algebraische Formulierung zu finden und deren Einzelheiten zu handhaben. Andererseits kann die Algebra selbst so beeindruckend sein, daß sie den ursprünglich vorausgesetzten automatischen Charakter der Methode vergessen läßt. Und wegen der Ausdruckskraft und Universalität seiner Vision wie seiner Philosophie, die das individuelle Denken in den Mittelpunkt rückte, ist es gerechtfertigt, Descartes den ersten neuzeitlichen Wissenschaftler zu nennen und uns alle als Kartesianer zu bezeichnen.

Was beunruhigte Descartes? Paul Valéry, der Descartes sein Leben lang studierte, schrieb in sein Tagebuch: »Ergründe, was Descartes wollte, was für ihn zu wollen möglich war, wonach er trachtete, selbst wenn es nur halb bewußt war. Dort liegt die Basis, der strategische Punkt, den es zu ergründen gilt.«

Einige Gelehrte glauben, daß Descartes mit den Rosenkreuzern sympathisierte. Viele Wissenschaftler jener Zeit waren Mitglieder dieser Bruderschaft oder hatten zumindest deren Lehren studiert. Die zitierten Gelehrten denken, daß Descartes den hermetischen und alchemistischen Universalismus der Rosenkreuzer auf das Niveau der präzisen Vernunft heben wollte, wie er sie in der mathematischen Deduktion verkörpert fand. Ganz allgemein wird angenommen, daß Descartes den damaligen Stand des Wissens als eine Mischung von Tatsachen und Einbildungen, von Legenden und Gerüchten, Vermutungen und Vorurteilen, von Lehrmeinungen und Dogmen betrachtete. Sie alle waren seiner Meinung nach erfüllt von einer abgedroschenen und unwirksamen Metaphysik und beruhten auf chaotischen und irreführenden Methoden. All dies wollte er reformieren und umstürzen, beseitigen und durch eine die Wahrheit enthüllende Methode ersetzen. Diese sollte sicher sein und der Wissenschaft eine veränderte Philosophie und eine neue Theorie der Wahrheit liefern. In den Dienst dieses großartigen Vorhabens stellte Descartes sein Leben, indem er sagte: »Ich habe es über Königreiche und Throne gestellt, und alle errungenen Reichtümer sind nichts im Vergleich zu ihm.«

Das Weltall, wie man es 1617 sah. Plan von Robert Flud.Aus: »Utriusque Cosmi Metaphysica«, Oppenheim, 1617.

Ohne diese Darstellung bestreiten zu wollen, habe ich doch meine eigenen Vorstellungen über Descartes’ Programm. Ich stelle ihn mir gerne als kleinen Jungen vor, der mit einem mathematischen Problem beschäftigt ist. Er versucht, dieses zu lösen, aber nichts gelingt ihm. Er bleibt stecken. Er kann das Problem einfach nicht lösen. Diese Vorstellung hat nichts Ungewöhnliches an sich. Alle Mathematiker bleiben gelegentlich stecken. Die allergrößten mathematischen Genies bleiben stecken. Der Beweis dieser Behauptung liegt auf der Hand: Es gibt immer berühmte ungelöste Probleme. Die Tatsache, daß einige dieser Probleme letztendlich doch gelöst werden, ist unwichtig. In jeder Generation gibt es etwas, was die besten Köpfe nicht bewältigen können.

Die Mathematik ist nach Descartes eine Angelegenheit des Geistes. Ihre Wahrheiten, die sie, ausgehend von sicheren Hypothesen durch kleine und zuverlässige Denkschritte des Menschen findet, werden von Gott verbürgt. Warum sollte sich das Denken selbst behindern? Wenn es ein Problem begreifen kann, sollte es gleichfalls imstande sein, den Weg zu einer Lösung aufzuzeigen.

Ich stelle mir gerne vor, daß sich im jungen Descartes, als er stecken blieb, eine Art kosmischer Zorn gebildet hat, der sein Leben lang anhielt. Er trachtete danach, diesen durch die Entdeckung einer Methode zu besänftigen, die garantiert immer Antworten findet. Valéry bemerkt hierzu: »Mit dieser Methode errang er den überwältigendsten Sieg, den jemals ein Mensch errungen hat, der sein Genie dazu verwandte, Genialität überflüssig zu machen.«[1]

Descartes’ Vision wurde zum Geist der Neuzeit. Zwei Generationen später sprach der Mathematiker und Philosoph Leibniz von der »characteristica universalis«. Das war der Traum einer universellen Methode, mit deren Hilfe alle Probleme der Menschheit, seien sie nun wissenschaftlicher, juristischer oder politischer Natur, vernünftig und systematisch durch einen logischen Kalkül gelöst werden sollten.

In unserer Generation sind die Visionen von Descartes und Leibniz überall verwirklicht.

Der Kartesianismus fordert den Vorrang für die Mathematisierung der Welt.

Weiterführende Literatur:

W. de la Mare; J. Maritain; P. Valéry, J. Vrooman

(s.a.Bibliographie)

Das Traumbild heute

Wir wollen im folgenden einen knappen Überblick zur Entwicklung der Mathematik geben, wie sie seit Descartes’ Traum stattgefunden hat. Hierzu müssen wir uns eine Vorstellung vom Stand der Mathematik in Descartes’ Tagen machen.

Im wirtschaftlichen Bereich war die Arithmetik von Kaufen und Verkaufen, von Schulden und Zinsen seit langem gängig. Die Seefahrtsversicherungen zum Beispiel haben ihre Wurzeln im 15. Jahrhundert, Unfall- und Lebensversicherungen kamen zu Descartes’ Lebzeiten auf. Seit alters waren Lotterie und Glücksspiel wohlbekannt, ihre gründliche theoretische Behandlung beginnt aber erst im 16. Jahrhundert.

Was die Astronomie anbelangt, so war unser heutiger Kalender mit einigen geringfügigen Abweichungen im Gebrauch. Rein arithmetische Methoden zur Berechnung der Mond- und Planetenstände waren seit der Antike bekannt. Das Werk von Ptolemäus aus Alexandria brachte die Rechenfertigkeit der Astronomen im zweiten Jahrhundert nach Christus auf ein hohes Niveau. Die geometrisch-schematische Beschreibung von Kopernikus und die sich hieran anschließenden Untersuchungen von Kepler, Tycho Brahe und Galilei führten bald zum revolutionären Werk Newtons. In ihm wird, gestützt auf die Entwicklung der Differential- und Integralrechnung, die Mechanik, insbesondere die Bewegung der Planeten, auf ein System von Differentialgleichungen zurückgeführt.

Die Bestimmung von Längen, Oberflächen und Rauminhalten geometrischer Figuren war seit den Tagen Euklids (325 v.Chr.) und Archimedes (225 v.Chr.) bekannt. Die Geometer beherrschten die Vermessungskunde sowie einige statische Probleme, die der Architektur entstammten. Im Laufe des 16. Jahrhunderts wurden die Geometrie der Kugeloberfläche und damit verwandte geographische Probleme wie Kartographie und Navigation ausgiebig behandelt. Anfänge mathematischer Theorien lagen in der Optik, in der Lehre von der Perspektive, in der Hydrostatik und -dynamik sowie in der Harmonielehre vor. Bereits die Pythagoräer mathematisierten die Musik, als sie um 500 v.Chr. die Beziehung zwischen Tonhöhe und Saitenlänge entdeckten. Die »Sphärenharmonie«, jener Versuch, die Konzepte von Musik, Astronomie und Mathematik zu vereinigen, war eine Vorstellung, die Descartes durch die damals neuen Spekulationen des Astronomen Kepler bekannt gewesen sein muß. Die Astrologie, zu Descartes’ Zeiten eng mit der Medizin, der Chemie und der Kunst der Weissagung verbunden, war in hohem Maße mathematisiert. Die Methode, mit der sie versuchte, Zusammenhänge herzustellen, war, obwohl letztlich erfolglos, nach unseren Maßstäben nicht unwissenschaftlich zu nennen. In jedem Fall war sie wichtig, insofern sie neue Probleme im Bereich der angewandten Mathematik aufwarf und zur Verfeinerung der bereits in Gebrauch befindlichen Rechenverfahren beitrug. In Descartes’ Umwelt war eine Vielzahl von mathematischen Instrumenten in Gebrauch: Der Abakus (ein Rechenbrett) und die Sonnenuhr waren antike Erfindungen; Vorformen von ihnen gehen bis ins Jahr 3500 v.Chr. zurück. Der zur Winkelmessung dienende Quadrant stammt aus dem 8. Jahrhundert v.Chr. Das Astrolabium, das zur Bestimmung der Uhrzeit und der geographischen Breite diente, geht bis ins dritte Jahrhundert v.Chr. zurück. – John Napier hatte 1614 seine Logarithmen veröffentlicht, die die Kunst des praktischen Rechnens ein gutes Stück voranbrachten und die schließlich zu einer grundlegenden Idee der theoretischen Mathematik werden sollten.

 

Zwölf Generationen sind vergangen, seit Descartes seinen Traum träumte. Wie steht es heute um die erhoffte Mathematisierung der Welt?

Die Naturwissenschaften Physik, Astrophysik und Chemie sind im 20. Jahrhundert, was ihre theoretischen Teile angeht, rein mathematisch. Tatsächlich gilt die Ausdrückbarkeit in der Sprache der Mathematik beinahe als Kriterium für den wissenschaftlichen Status einer Theorie. Es ist fast zu einem Glaubensbekenntnis geworden, anzunehmen, daß es immer möglich sein wird, eine passende Mathematik zu erfinden, sollte die verfügbare Mathematik zur Beschreibung eines beobachteten Phänomens nicht ausreichen.

Biologie und Medizin, die Wissenschaften organischer Natur, werden zunehmend mathematisch. Mathematische Beschreibungen für die Kontrollmechanismen physiologischer Prozesse wurden gefunden; die Genetik, die Morphologie, die Bevölkerungsstatistik, die Epidemiologie (die Lehre von der Ausbreitung ansteckender Krankheiten) und die Ökologie haben alle ihre mathematische Basis erhalten.

Was Soziologie und Psychologie betrifft, so fällt unsere Übersicht weniger einheitlich aus. Die Anhäufung und Auswertung von psycho-sozialen Statistiken ist zu einem großen Geschäft geworden, das oft politisches Handeln mitbestimmt. Erheben von Stichproben, Befragen und Testen beeinflussen wiederum unser wirtschaftliches und politisches Verhalten.

Ökonomische Theorien sind ohne einen soliden mathematischen Hintergrund nicht verstehbar. Die Theorie des Wettbewerbs, der wirtschaftlichen Zyklen und der ökonomischen Gleichgewichtszustände erfordern Mathematik der schwierigsten Art. Es wird verlangt, in die Wirtschafts- und Militärpolitik Spiel-, Entscheidungs- und Optimierungstheorie einzubeziehen.

Unsere Rentenversicherung hat ihre letzten Investitionen womöglich unter Verwendung der neuesten Liquiditätstheorie vorgenommen. Die Qualität unseres zukünftigen Lebens auf Erden wird vorausgesagt mit Hilfe von Methoden der ökonomischen Zeitreihenanalyse; industrielle und institutionelle Aktivitäten werden vielleicht bald unter Benutzung der mathematischen Steuerungstheorie geplant.

Die Linguistik befaßt sich gegenwärtig eher mit formalen (das heißt mathematik-artigen) Sprachen als mit der Zusammenstellung eines Navajo-Englischen Wörterbuchs. Mathematik ist in musikalische Kompositionen eingeflossen und in Choreographie und Kunst vorgedrungen.

Jede Computerisierung hat eine mathematische Grundlage. Der Digitalrechner ist das mathematische Instrument par excellence. Seine vielfältigen Möglichkeiten werden unter anderem thematisiert in der Zeitschrift »Perspectives in Computing« (»Perspektiven der Berechnung«), herausgegeben von IBM. Diese Publikation enthält zahlreiche Artikel von Akademikern und erfreut sich einer weiten Verbreitung. Das Ziel der Zeitschrift ist es, Wege aufzuzeigen, wie der Computer in vorteilhafter Weise in allen akademischen Disziplinen, angefangen bei Analysis und geschriebener Poesie bis hin zur Zusammenstellung heiliger Texte aus Tibet, eingesetzt werden kann.

Die letzte Digitalaufnahme von Bachs B-Moll-Messe wurde produziert, indem man die akustischen Wellen mit Hilfe der Schnellen-Fourier-Transformierten filterte. Letztere befand sich auf einem Chip. Wollen Sie wissen, wie eine Ratte es lernt, in einem Labyrinth zurechtzukommen? Dann mag Ihnen eine geeignete Markovmatrix die Antwort geben (obwohl sich die Ratte beklagen könnte, daß ihr Verhalten dabei zu stark vereinfacht wurde).

Möchten Sie wissen, wie sich die New Yorker Müllabfuhr optimal durch die Straßen Manhattans schlängeln kann? Dann wird Sie die Arbeit von A. C. Tucker aus dem Jahre 1973 über perfekte Graphen aufklären.

Es gab Versuche, eine mathematische Definition von »Leben« mit Begriffen aus der Komplexitätstheorie zu geben. Untersuchungen wurden angestellt, in denen die Spannungen zwischen Gott und den Menschen, von denen das Alte Testament berichtet, als spieltheoretische Beispiele behandelt werden. Das Problem des Bösen wurde mit Mitteln der Transformationstheorie analysiert. All dies und noch viel, viel mehr würde also Descartes vorfinden, kehrte er in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts auf die Erde zurück. Anscheinend gibt es kaum ein Gebiet, das die Mathematik noch nicht durchdrungen hat oder zukünftig durchdringen wird. Genauso wie alle materiellen Gegenstände dem Gravitationsgesetz unterworfen sind, wo auch immer sie sich befinden, und Paulus behaupten konnte, »ich bin allen alles«, ist die Mathematik durch ihre Fähigkeit, Anzahl, Raum, Muster, Anordnung, Struktur und logische Folgerung zu behandeln, zum alles verbindenden Klebstoff unserer rationalisierten Welt geworden. So wie Descartes es gewollt hat.

Weiterführende Literatur:

C.Boyer; COSRIMS; M. Dertouzos und J. Moser; M. Gaffney und L. Steen; M. Kline; P. Lax; J. Newman; Z.W. Plyshyn; S. Pollack; L. Steen

(s.a.Bibliographie)

Die Grenzen der Mathematik

Einen Augenblick! Kann wirklich alles mathematisiert werden? Gibt es irgend etwas in der Welt, das niemals Gegenstand einer mathematischen Theorie werden kann? Gewiß – was die materielle Welt anbelangt, so glauben wir nicht, daß es darin etwas Unmathematisierbares gibt. Es mag Phänomene wie zum Beispiel die Strudelbildung geben, deren mathematische Beschreibung so komplex ist, daß wir weder in der Lage sind, sie zu analysieren, noch sie mit vernünftigem Zeitaufwand zu berechnen. Dennoch vertrauen wir darauf, daß die Physik jedes Phänomen erklären kann. Und zwar mit Hilfe des mathematischen Formalismus – sei es nun der alte der Differentialgleichungen mit Anfangs- und Randbedingungen oder der moderne der Abbildungen zwischen hoch- oder unendlichdimensionalen, nichtlinearen, differenzierbaren Mannigfaltigkeiten.

Also müssen wir, um nicht-mathematisierbare Gegenstände zu finden, von der materiellen Welt absehen. Welche andere Welt gibt es? Wenn Sie ein hinreichend fanatischer Anhänger des mechanischen Materialismus sind, werden Sie sagen: gar keine!

Pause. Ende der Diskussion.

Denken Sie etwas menschlicher, so wird Ihnen bewußt sein, daß es Phänomene gibt wie Gefühle, Glauben, Geisteshaltungen, Träume, Absichten, Sehnsüchte und vieles andere mehr. Und diese innere Welt eines Menschenlebens kann keineswegs mathematisiert werden.

Einige Psychologen und Soziologen, die mit Fragebögen und Chi-Quadrat-Tests umhergehen, geben vor, das menschliche Denken quantitativ zu erforschen. Aber die meisten dieser Untersuchungen verfehlen ihr Ziel dermaßen weit, daß der Kritiker kaum »tsss …« zu machen braucht. Diese Forscher stolpern über ihre eigene Absurdität und ihr eigenes Getöse.

Ich möchte nicht behaupten, daß einzig das Innenleben eines Individuums jenseits der Mathematik liegt. Das gilt im höheren Maße noch für das Innenleben der Gesellschaft, also für die Kultur selbst. Beispiele hierfür sind: Literatur, Musik, Politik, die Strömungen und Bewegungen der Geschichte sowie der Unsinn und die Alltäglichkeiten, die unsere Zeitungen füllen. All dies entzieht sich dem Computer und liegt jenseits von Gleichung oder Ungleichung. Wie vieles andere mehr …

Weiterführende Literatur:

B.Arden; H. Dreyfus (1979); J. Eccles und D. Robinson

(s.a.Bibliographie)

Ertrinken wir in Ziffern?

Unlängst hat die Post den Postleitzahlen weitere vier Stellen hinzugefügt. Sie verspricht uns einen besseren Service, aber garantieren kann sie dafür nicht. Um England anzurufen, muß ich fünfzehn Ziffern wählen (dafür erlebe ich aber den Nervenkitzel, den Ozean aus eigener Kraft zu überbrücken). Institutionen, die trickreiche neue Telefonsysteme installieren ließen, schicken ihre Sekretärinnen auf Lehrgänge; dort lernen sie, wie man die Zentrale in der Halle erreicht. Damit ich Tag und Nacht über Geld verfügen kann, ermutigt man mich, eine Zauberkarte zu erwerben und mich an ein Nummernsystem zu halten. Ich habe keinerlei Zweifel, daß ich in wenigen Jahren einige vorbereitende Programmierungen durchzuführen haben werde, um eine öffentliche Toilette benützen zu können. Einfach ein Geldstück in den Schlitz zu werfen, wird zu den geheiligten Einfältigkeiten der Vergangenheit gehören. Ertrinken wir in Ziffern? Ist das Ende in Sicht?

Ja, wir ertrinken, aber das Ende ist noch nicht in Sicht. Hinter all den Ziffern steht die Tatsache, daß unsere Zivilisation computerisiert worden ist. Wir befinden uns in den Fängen der Symboljongleure und Zahlenknacker. Die wahre Natur dieser Sklaverei wird oft übersehen. Sie ist nämlich keine Knechtschaft gegenüber einem einzelnen Computer; vielmehr entsteht sie aus der totalen Computerisierung der Informationsquellen und der Kommunikationsmöglichkeiten. Jedesmal, wenn ein Zahnarzt einen hohlen Zahn füllt, findet das irgendwo ein Computer heraus und schickt eine Rechnung. Dem Computernetzwerk entkommen? Keine Chance! Ihr Schwiegersohn hat vielleicht einen guten Job als Programmierer eines Reklamefeldzuges für Computer. Der Zahnarzt besitzt selbst IBM-Aktien.

Verarbeitung von Zahlen und Symbolen – das macht auch die Mathematik aus. »Studiere Mathematik! Dann stehen Dir alle Türen offen.« Die Mathematik hat sich mit dem mechanischen Denken und dem Geld verbunden – nach Ansicht einiger ist diese Kombination die Monstrosität unseres Zeitalters. Für andere hingegen ist sie der gerade Weg zur Erlösung. Im neuen Jerusalem sprechen die Leute FORTRAN oder BASIC. Ein Computerspiel könnte die Erscheinung Gottes sein. »Ich berechne, also bin ich«[*] lautet der neue Existenzbeweis. Wir alle sehen die Segnungen des Computerzeitalters: Flüge zum Mond und Herzschrittmacher. Noch wissen wir aber nicht um den Preis, der für den Zustand der Super-Digitalisierung zu zahlen sein wird.

Heute zeichnet sich die Mathematisierung unseres intellektuellen und emotionalen Lebens ab. Mathematik wird nicht mehr ausschließlich in den Naturwissenschaften angewandt, wo Erfolge seit Hunderten von Jahren an der Tagesordnung sind, sondern auch in Ökonomie, Soziologie, Politologie, in den Sprach- und Rechtswissenschaften sowie in der Medizin. Diese Anwendungen beruhen auf der fragwürdigen Annahme, daß die Probleme jener Gebiete durch Quantifizierung und Berechnung gelöst werden können. Es gibt kaum etwas, dem wir keine Zahlen zuordnen könnten. Den Operationen, die es uns angeblich ermöglichen, diese Zahlen zu interpretieren, sind keine Grenzen gesetzt. Wir werden mit Fragebögen und Statistiken überhäuft. Computer in der Hand unkritischer Bediener spucken Standardabweichungen und Korrelationskoeffizienten aus. Diese werden dazu verwendet, uns in Übereinstimmung mit den Schlußfolgerungen der Befrager zu bringen (Denken Sie, Sie sind deprimiert? Ja: 17 %. Nein: 48 %. Ich weiß nicht, was deprimiert bedeutet: 12 %. Andere Antworten: 23 %). Die Manager der Kriterien erzählen uns, daß wir die Gesellschaft ändern sollten, damit diese oder jene Norm optimiert wird. Sie gründen hierauf ihre Politik. Aber niemand kann sagen, warum gerade dieses Kriterium das richtige sein sollte.

Der Computer zeichnet sich durch seine präzise Sprache aus, durch genaue Anweisungen und abstrakte, allgemeine Programme, wobei die zugrunde liegende Bedeutung dessen, was getan wird, zweitranging ist. Deshalb wird eine exzessive Computerisierung zu einem Leben mit formalen, an sich bedeutungslosen Handlungen führen. Sie begünstigt einen geisttötenden Formalismus.

Oft wird der Computer als neutraler, aber williger Sklave beschrieben. Die Gefahr hierbei ist nicht, daß der Computer ein Roboter ist. Sie besteht vielmehr in einer zunehmenden Roboterisierung des Menschen, in dem Maße, wie er Abstraktheit und Rigidität des Computers übernimmt.

Das Problem der kommenden Jahre besteht darin, in einem Meer neutraler Symbole Bedeutungen zu schaffen.

Die stochastisierte Welt: bloß eine Frage des Geschmacks?

Eine faire Münze[*] wird geworfen. Ein bestimmter Vorgang gilt als Ergebnis des Wurfes; dies ist ein Ereignis von vollkommener Unbestimmtheit.

Der Wurf zeigt keinerlei Neigung, und dieses Fehlen von Neigung läßt ihn zu einem Ereignis höchsten ethischen Niveaus werden.

Durch seine Unbestimmtheit beweist der Wurf, daß er von der Welt der Bedeutungen vollständig getrennt ist; deshalb ist er ein Ereignis auf niedrigstem ethischen Niveau.

Diese Zweideutigkeit der Ebenen verleiht dem Wurf Bedeutung.

 

Das fremdartige Wort »stochastisch«, das trotz seines merkwürdigen Klanges in wissenschaftlichen Kreisen gegenwärtig sehr beliebt ist, bedeutet zufällig, unerwartet oder chaotisch. Die Stochastisierung der Welt (man möge uns diesen Zungenbrecher nachsehen) bezeichnet einen bestimmten Standpunkt. Dieser gibt vor, daß Zufälligkeit, Willkür und Wahrscheinlichkeit als reale, objektive und fundamentale Aspekte der Wirklichkeit anzusehen sind. Der Terminus schließt ebenfalls die Verwendung derjenigen Methoden der mathematischen Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie ein, die das Chaos eines einzelnen, nicht vorhersagbaren Ereignisses auf weniger wilde und besser prognostizierbare Modelle zurückführen sollen. Das »Gegenteil« von stochastisch ist deterministisch. Aber wir haben in einer Welt zu leben gelernt, die zugleich stochastisch und deterministisch ist. Deshalb wäre das Verhältnis der beiden Begriffe besser mit »komplementär« als mit »gegenteilig« zu beschreiben.

Warum sollten wir das Wort »stochastisch« verwenden, wenn doch das vertraute »statistisch« naheliegt? Sind nicht beide Wörter gleichbedeutend? Hierauf lautet die Antwort: Im heutigen Sprachgebrauch bezieht sich »statistisch« auf das Sammeln quantitativer Daten und auf die Ableitung von Folgerungen. Das Wort »stochastisch« ist inhaltsreicher: Es weist auf ein umfassendes begriffliches Schema für unsere Umwelt hin, in dem Zufälligkeit ein hervorstechendes Merkmal ist. Dieses Schema ist sowohl theoretischer wie praktischer Natur; es ist philosophisch und zugleich methodologisch.

Viele der Zahlen, die täglich gedruckt werden, haben eine stochastische Basis. Wir lesen die Prozentzahl von kinderlosen Ehepaaren in New York, die Anzahl der Personenwagen, die vierköpfige Familien aus Orlando, Florida, im Durchschnitt besitzen, und die Wahrscheinlichkeit für das Gelingen einer Organtransplantation. Eine Marktübersicht schätzt das monatliche Verkaufsvolumen eines Schnellrestaurants an einem bestimmten Ort. Wir erfahren, daß eine Versicherungsgesellschaft aufgrund der günstigen Entwicklung imstande war, die Beiträge um 0,82 Dollar pro tausend Dollar Versicherungssumme zu senken. Bei solchen Informationen ist stets mitbeabsichtigt, eine bestimmte Einstellung zu erzeugen und Reaktionen zu provozieren. Wenn zum Beispiel mitgeteilt wird, daß die Englischnoten der Zehntkläßler aus Iowa schlechter sind als diejenigen der Zehntkläßler in Nebraska, dann glaubt vermutlich jeder Leser oder Hörer in Iowa, daß hier etwas unternommen werden muß.

Die Stochastisierung der Welt durchdringt derartig unser Denken und Verhalten, daß sie als ein charakteristischer Zug unseres modernen Lebens bezeichnet werden darf. Unsere Versicherungen und unsere Alters- und Sozialvorsorge beruhen auf Begriffen der Zufälligkeit. Auswählen, Stichproben ziehen, Wahlprognosen und Schultests sind stochastische Begriffe. Dies sind gewaltige Unternehmungen! Die Mendelsche Biologie ist eine ausgedehnte Übung in mathematischer Wahrscheinlichkeitstheorie. »Wie groß«, fragte der Gastgeber der Talk-Show im Radio, »ist die Wahrscheinlichkeit, daß schizophrene Eltern ein schizophrenes Kind bekommen?« Postwendend meldete sich ein Arzt, der zugehört hatte und nannte die gesuchte Zahl. Die Quantenmechanik beruht auf Wahrscheinlichkeit ebenso wie die Theorie experimenteller Messungen. Das Testen von Alternativen – ist dieser Dünger besser als jener, ist diese Medizin besser als jene – setzt statistische und wahrscheinlichkeitstheoretische Überlegungen voraus.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine durch Mikrowellen übertragene Nachricht ihren Bestimmungsort verstümmelt erreicht? Läßt sich diese Wahrscheinlichkeit durch geeignete Codierung der Botschaft verringern? Mathematiker und Kommunikationstheoretiker haben Bände gefüllt mit dieser einen Frage. Die Lösung beruht auf einer probabilistischen Definition von »Kapazität eines Kanals«, ergänzt um subtilste kombinatorische Analysis. Theorien der Mustererkennung werden von Wissenschaftlern formuliert, die in Wahrscheinlichkeitstheorie geübt sind. Die Epidemiologie – das Studium der Ausbreitung ansteckender Krankheiten – arbeitet mit Modellen, die auf stochastischen Differentialgleichungen beruhen.

Möchten Sie wissen, wer der Autor der anonymen »Federalist Papers« gewesen ist? Hamilton oder Madison? Rufen Sie die Literaturdedektive an! Diese haben das Dokument einer ganzen Serie von computergestützten statistischen Tests unterworfen. Sie werden einige Worte über das Bayessche Gesetz murmeln und sich freuen, Ihnen eine Antwort geben zu können.

Der Zwang, Entscheidungen angesichts der Unsicherheiten des Lebens zu treffen, ruft nach dem Wahrscheinlichkeitstheoretiker und nach dem Spieler.

Der Sport wird zunehmend mathematischer und von »Zuständen« erobert. Nehmen wir als Beispiel Baseball. Einer der großen Baseballtheoretiker hat einen Zahlenindex erfunden, der den Wert eines Spielers ausdrückt. Wie findet man den wirklichen Wert eines Spielers heraus? Ein geläufiges Schema schlägt folgendes vor: Zuerst berechne man die Offensivrate des fraglichen Spielers (das ist die Anzahl der Läufe, die er pro Auszeit hatte (25 und ½)); diese Zahl wird der besonderen Situation im Heimstadion des Spielers angepaßt. Dann bilde man die »Verantwortlichkeit« eines Spielers, die auf der Anzahl der Auszeiten, die er verursacht hat, beruht. Berücksichtigt man nun das in Prozentzahlen ausgedrückte Gewinn-Verlust-Verhältnis, so erhält man eine Gewinn-Verlust-Zahl für jeden Spieler. Diese wird nun kombiniert mit einer Defensivrate, die Fehler, Doppelspiel, totale Chancen und andere wichtige Spielsituationen berücksichtigt. Auf diese Weise gelangt man schließlich zu einer Zahl, die den Beitrag des Einzelspielers zur Mannschaftsleistung wiedergibt.[1]

Als man ein nationales Komitee aus Trägern des Hosenbandordens bildete, das Empfehlungen hinsichtlich möglicher Nachwirkungen des Atomunglücks in Three Mile Island aussprechen sollte, wurde der Präsident des Dartmouth College, John Kemeny, zum Vorsitzenden ernannt. Kemeny ist ein bekannter Experte der Wahrscheinlichkeitstheorie.

Die Welt ist tatsächlich stochastisiert, und sie wird es von Tag zu Tag mehr. Eine Person kann kaum zum Sheriff von Penobscot County kandidieren, ohne einen eigenen Meinungsforscher anzuheuern. Die Färbung einer neuen Zahncreme – ob mit Zebrastreifen oder lieber mit Polkapunkten – kann Gegenstand einer großen Marktstudie sein, für die Millionen von Dollar eingesetzt werden. Die stochastische Sicht der Welt kann in Gesetze eingebaut werden. In einigen Staaten enthält die Wahl der Geschworenen ein stochastisches Element. Will man sein Auto zulassen, so muß man zuvor eine Haftpflichtversicherung abschließen; will man eine Hypothek auf ein Haus aufnehmen, so muß man eine Feuerversicherung abschließen. Die Existenz der Versicherungspolice, sei sie nun aufgrund von Vorschriften oder freiwillig unterschrieben worden, wirkt natürlich auf das System zurück: Patienten werden streitsüchtig, Rechtsanwälte fächern jeden Funken von Habgier an, und Ärzte schließen Versicherungen gegen Kunstfehler ab. Die Gerichte, die sich dieser Tatsachen bewußt sind, verhängen unglaublich hohe Strafen, die wiederum die Versicherungsprämien in schwindelerregende Höhen treiben, damit letztlich alle möglichen Kosten erhöhen und so zur wirtschaftlichen Instabilität beitragen.

Der stochastische Geist sagt: »Gibt es Autounfälle? Ja, aber sichere Dich ab, indem Du Dich von Kopf bis Fuß mit Versicherungen eindeckst!« Der deterministisch eingestellte Geist hingegen befiehlt: »Untersuche die Ursachen. Bewirke Veränderungen. Laß Gesetze verabschieden. Hole die Betrunkenen von der Straße.« Die Klugheit rät: »Tue beides.«

Die Geschäftswelt wird in einer anderen Weise vom Geist der Stochastik durchdrungen. Entsteht Kapital durch säbelrasselnde ökonomische Abenteuer oder ist es vielmehr eine Erscheinungsform des verteilten Risikos? Viele Ökonomen denken das letztere. Sie weisen auf die Bildung großer Konzerne hin, in denen die hohen Profite einer gutgehenden Sparte aufgewogen werden durch die niedrigen Einnahmen oder gar Verluste in einer anderen.

Das Erstaunlichste ist jedoch, daß diese Sichtweise des Universums trotz ihrer heute beherrschenden Stellung »neu« ist. Sie ist knapp vierhundert Jahre alt. Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik können sich erst dann entwickeln, wenn wir bereit sind, eine der elementarsten mathematischen Operationen auszuführen und die Konsequenzen dieser Tat zu akzeptieren. Diese Operation ist die Mittelbildung. Nehmen wir an, es seien fünf Menschen in diesem Zimmer. Ihre Gewichte seien 161, 173, 154, 192 und 168 Pfund. Dann beträgt ihr Durchschnittsgewicht 169,9 Pfund. Kein Individuum im Zimmer hat aber dieses Durchschnittsgewicht! Wir schaffen also einen fiktiven Menschen – »den Durchschnittsmenschen«. Eine solche Person gibt es nicht. Im obigen Beispiel liegen drei Menschen unter dem Durchschnitt, zwei darüber. Nicht jedermann kann über dem Durchschnitt liegen – außer wenn dies ein Kongreßabgeordneter von seinem Wahlkreis behauptet. Wir erfinden eine neue Logik und eine neue Erkenntnistheorie: der »vernünftige Mensch« wird jetzt interpretiert als der »Durchschnittsmensch«.

Eine faire Münze wird dreimal geworfen. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, genau zweimal »Kopf« zu erhalten? Die Antwort lautet ⅜. Man kann sich vorstellen, daß sich dieser Wert durch Mittelung aus der Anzahl der günstigen Ergebnisse und der Anzahl aller möglichen Ergebnisse ergibt.

Ein individuelles Ereignis mag unvorhersagbar sein. Mittelt man aber viele Ereignisse, so gelangt man zu Stabilität, Ordnung und gesetzmäßigem Verhalten. Es klingt unglaublich, daß der Vorgang der Mittelung bis ins 17. Jahrhundert hinein nicht bekannt gewesen ist. Das verspätete Auftauchen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehört zu den großen Rätseln der Wissenschaftsgeschichte. Auffällig ist weiter, daß das Geburtsdatum der Wahrscheinlichkeitstheorie ziemlich genau mit dem jener Theorie (Differential- und Integralrechnung; A.d. Ü.) zusammenfällt, welche die andere große Weltsicht – die deterministische Mechanik von Galilei und Newton – wesentlich förderte. Diese Alternativen haben sich stets in einem merkwürdigen Prozeß gegenseitiger Stützung und Rivalität weiterentwickelt.

Es ist der Mühe wert, sich die Gründe in Erinnerung zu rufen, die für dieses verspätete Auftauchen des Wahrscheinlichkeitsbegriffes vorgebracht worden sind. Ich werde hier der von Ian Hacking in seinem witzigen und scharfsinnigen Buch »The Emergence of Probability« (»Das Auftauchen der Wahrscheinlichkeit«) gegebenen Zusammenfassung folgen.

 

Nach Hacking gibt es fünf wichtige Erklärungen, warum die Wahrscheinlichkeitstheorie so spät aufgetreten ist. Gemäß der ersten Ansicht waren die Wissenschaftler besessen von Determinismus und persönlichem Fatalismus. Waren die Zahnräder des Kosmos erst einmal in Gang gesetzt, so galt alles Nachfolgende als wohlbestimmt und deshalb potentiell erkennbar. Aber wie ließ sich Wissen über die Zukunft erlangen? Über Jahrhunderte hinweg war die Befragung des Zufalls eine geläufige Methode: Würfeln, Kartenlesen, Beobachten des Vogelfluges und das Studium der Eingeweide von Opfertieren sind wohlbekannte Beispiele hierfür. Kurz: man verwendete irgendeine Vorstellung der Wahrsager, Geisterbeschwörer und Seher.[2] Oftmals wurde angenommen, die Befragung des Zufalls enthülle den Willen Gottes (werfen wir nicht heute noch eine Münze, um uns unserer ethischen Fairness zu versichern?)

Nach der zweiten Ansicht glaubten die Menschen, Gott spräche durch den Zufall; demnach wäre die Konstruktion einer Theorie des Zufalls per se eine gottlose Tat. In jenen Perioden, in denen Religion und Leben untrennbar miteinander verbunden waren, blieb eine solche Theorie chancenlos.

Zur Vorgeschichte der Wahrscheinlichkeitstheorie:römische Soldaten beim Würfelspiel (Zeichnung von W. Timmermann).

Die dritte Erklärung sieht so aus: Um eine Theorie der Wahrscheinlichkeit formulieren zu können, bedarf es einer großen Zahl gut zugänglicher und leicht verständlicher empirischer Daten. Wir benötigen viele Beispiele von Mengen gleichbedeutender Ereignisse. In früheren Zeiten, in denen sogar die Spielwürfel aus unregelmäßigen Tierknochen hergestellt wurden und nicht aus standardisierten Quadern bestanden, konnten solche gleichwahrscheinlichen Ereignisse nicht beobachtet werden.

Folgt man der vierten (marxistischen) Ansicht, so entwickelt sich die Wissenschaft gemäß den ökonomischen Notwendigkeiten. Einzelne Bereiche des Renten- und Versicherungswesens reichen in ihren Anfängen weiter bis ins fünfzehnte Jahrhundert zurück, aber erst im achtzehnten Jahrhundert gibt es eine entwickelte Theorie des Messens. Nicht vor dem 19. Jahrhundert finden wir biologische Experimente und Daten sowie die statistische Mechanik. Alle diese Dinge fördern die Produktionsprozesse der Gesellschaft und differenzieren die Bedürfnisse. Sie schaffen ein soziales Verlangen nach einer Theorie der Wahrscheinlichkeit und der Statistik. Vor dem 17. Jahrhundert gab es kein solches Bedürfnis.

Die fünfte Position schließlich geht davon aus, daß die Mathematik vor dem 16. Jahrhundert nicht genügend weit entwickelt war, um Anwendungen auf wahrscheinlichkeitstheoretische Fragen zuzulassen. Die Rechentechniken waren noch primitiv, und die Differential- und Integralrechnung, die unverzichtbar ist bei der Beschreibung von Wahrscheinlichkeitsverteilung, war nicht vor Mitte des 16. Jahrhunderts verfügbar.

Alle diese Erklärungen sind nach der Meinung von Hacking und der meisten anderen Wissenschaftshistoriker unzureichend für die Erklärung der mysteriösen Verspätung. Die aus Wissenschaftshistorikern zusammengesetzte Jury hört sich alle diese Argumente an und fällt ihr Urteil: unbewiesen. Eine neue Erklärung taucht nun auf. Sie gründet in der Natur dessen, was als »Wissen« betrachtet wurde. Irgendwann im 16. oder 17. Jahrhundert – jener fruchtbarsten Periode des westlichen Denkens – ereignete sich eine feine, aber letztlich tiefgehende Veränderung im Verständnis von Evidenz, Zeichen, Meinung, Wissen und Glauben.

Hacking selbst neigt zu einer Theorie, die besagt, daß durch die Erfahrungen der sogenannten »niederen« Wissenschaften (Alchemie, Geologie und Medizin) eine neue Auffassung von wissenschaftlicher Evidenz entstand. Autorität wurde nun der Natur und nicht mehr den bloßen Worten von »Autoritäten« zugesprochen. Dies führte zur Gewohnheit, Häufigkeiten zu beobachten.

Lorraine Daston hat in einer kürzlich erschienenen Untersuchung die Rolle des römischen Rechtes in dem für die Herausbildung der Wahrscheinlichkeitstheorie entscheidenden Zeitraum analysiert. Mehrere Faktoren bestimmten gerade das Recht dazu, auf die Wissenschaften in Richtung auf Stochastisierung einen gewaltigen Einfluß auszuüben. Hier sind zu nennen: die juristischen Theorien der Evidenz, die Glaubwürdigkeitshierarchien für Zeugenaussagen und Indizien, das Interesse an privaten Abmachungen (z.B. bei Versicherungen, Renten, Glücksspielen und Termingeschäften) sowie die Sorge um Gerechtigkeit beim Geldwechsel und um die traditionellen, das Erheben von Zinsen verbietenden Gesetze.

Ich möchte jetzt eine eigene Ansicht darüber vortragen, wie die Gesetzmäßigkeit in den Bereich der Wahrscheinlichkeit Einzug hielt. Ich beginne mit einer Beschreibung des Problems von Luca Pacioli. Dabei handelt es sich um eines der ersten überlieferten Probleme aus der Geschichte der Wahrscheinlichkeitstheorie. Es findet sich in der »Summa de arithmetica« von Fra Luca Pacioli, die 1494 zu Venedig erschienen ist. Pacioli war Mathematiker und ein Freund von Leonardo da Vinci. Ich habe die Sprache etwas modernisiert.

A und B knobeln mit Geldstücken. A gewinnt bei Kopf, B bei Zahl. Der Einsatz beträgt 100 Dollar. Es wurde vereinbart, daß derjenige, der sechsmal gewonnen hat, den gesamten Einsatz erhält.

Aufgrund einer Störung von außen muß der Wettkampf beim Stande 5 zu 3 für A abgebrochen werden.

Frage: Wie ist der Einsatz aufzuteilen?

Pacioli argumentierte dafür, ⅝ des Einsatzes A zukommen zu lassen und ⅜ B.

Andere Experten seiner Zeit widersprachen Luca.

Geht man von unserer heutigen hochentwickelten Theorie aus, so kann man meiner Meinung nach leicht drei deutlich verschiedene Aspekte an der Wahrscheinlichkeitstheorie benennen. Diese sind:

Die reine Wahrscheinlichkeitstheorie: Diese ist mathematisch, axiomatisiert und deduktiv organisiert. Ihre Sätze haben genau den gleichen erkenntnistheoretischen Status wie diejenigen anderer Zweige der reinen Mathematik.

Die angewandte Wahrscheinlichkeitstheorie: Sie trachtet danach, probabilistische Modelle in Einklang mit der Wirklichkeit zu bringen. Sie verbindet Experimentieren und Erheben von Daten mit 1, um so zu Aussagen über die Realität zu gelangen.

Die angewandte Wahrscheinlichkeit auf unterstem Niveau: Hier geht es um praktische Entscheidungen. Was sollen wir als Konsequenz von 1 und 2 glauben? Für welche Handlungen sollen wir uns aufgrund von 1 und 2 entscheiden?

In Wirklichkeit ist 3 überhaupt keine Mathematik: 3 bedeutet eine Entscheidung, also öffentliche oder private Politik.

Lehrbücher der Wahrscheinlichkeitstheorie sind gut in den Punkten 1 und 2. Sie sind aber notorisch schwach hinsichtlich 3. Beim Übergang von 1 und 2 zu 3 spielen Dinge wie Geschicklichkeit, List, Erfahrung, Überredungskunst, fehlerhafte Darstellung und gesunder Menschenverstand eine wichtige Rolle. Eine ganze Menge von Rhetorik gehört auch dazu. All das sind nichtmathematische Kunstgriffe.

Der Übergang von 1 und 2 zu 3 ist keineswegs immer klar oder zwingend. »Zwischen Idee / und Wirklichkeit / zwischen Impuls / und Tat / liegt der Schatten.«

Beleg: das Glücksspiel. Die Botschaft der Wahrscheinlichkeitstheorie über das Glücksspiel ist enttäuschend. Die Mathematik kann so etwas wie »Fairness eines Spieles« definieren, und zwar wie folgt: Sollte das Spiel, das Sie spielen, unfair sein, so schauen Sie zu, daß Sie auf die richtige Seite gelangen. Ist das Spiel fair, so brauchen Sie sich darum keinen Gedanken zu machen. Die Mathematik hat – sieht man einmal von der angewandten Statistik ab – sehr wenig darüber auszusagen, ob ein individuelles reales Spiel mit einem bestimmten Würfel oder Rad fair ist oder nicht.

Beleg: die Menschen bauen Häuser an den Hängen des Ätna und im Umkreis des Andreasgrabens. Ergeben sich hieraus Schwierigkeiten, so werden Kredite zu günstigen Zinsen gewährt, für die vorsichtigere Bürger geradestehen müssen und ein nationales Katastrophengebiet ausgerufen.

Lucas Problem wurde gestellt, bevor eine klare Ansicht, was mathematische Wahrscheinlichkeit sei, vorlag. Es ist gerade deshalb interessant, weil es in der Sprache von 3 formuliert ist: Welche Handlung sollen wir als Reaktion auf ein bestimmtes probabilistisches Ereignis wählen.

Lucas Problem zeugt von einem aufkommenden Gefühl dafür, daß es einen »richtigen«, »fairen« oder »ehrlichen Weg« geben müsse. Der Weg zur gerechten Verteilung des Einsatzes sollte mit Hilfe der Mathematik ableitbar sein. Das paßt zu der Auffassung, beweisbares Wissen sei möglich. Diese Idee fand ihren Höhepunkt in der Intention Leibniz’, eine deduktive, rechnerisch vorgehende Ethik sei realisierbar – für heutige Juristen eine eher komische Überzeugung[3].

Betrachten wir das etwas genauer. Man stelle sich eine unendliche Folge von Spielen vor, die zu Ende gespielt werden. Nun untersuchen wir jene Wurffolgen, in denen A auf einer gewissen Stufe fünf und B drei Würfe für sich entschieden hat. Jetzt frage man: welcher Anteil an den geschilderten Spielfolgen gewinnt tatsächlich? Die Antwort der Mathematik lautet: ⅞. Wie gelangen wir aber von dieser mathematischen Berechnung zu der (juristischen) Empfehlung einer 7:1-Verteilung? Das hängt völlig davon ab, ob wir akzeptieren, daß der oben geschilderte imaginierte Vorgang zu einer gerechten Aufteilung führt. Als fair gilt das, was im Mittel geschehen würde. Damit wird die Frage zurückverwiesen: Welches ist die Erfahrung, die es zu mitteln gilt?

Zum Beispiel werden heutzutage die Lebensversicherungsbeiträge für Männer und Frauen gesondert berechnet. Diese Trennung wird aufgrund einer Entscheidung und nicht aufgrund logischen Zwanges vorgenommen. Ohne weiteres könnte man die Beiträge auch ohne Berücksichtigung des Geschlechtes festlegen – ähnlich, wie man sie heute ohne Berücksichtigung ethnischer Abstammungen ermittelt. Die Wahl, worüber zu mitteln ist, ist kein Bestandteil der Mathematik. Sie wird getroffen, noch bevor die erste Berechnung beginnt. Kehren wir zu Lucas Problem zurück. Auf der Basis von 1 und 2 könnte man für eine andere Antwort plädieren. Es ist ebensogut möglich, anzunehmen, daß wir nicht im voraus wissen, ob die Münze fair ist oder nicht. Das kann uns die Mathematik nicht mitteilen. Setzen wir voraus, die Wahrscheinlichkeit für »Kopf« sei p und die für »Zahl« sei q. Das Baumdiagramm sieht dann so wie auf Seite 50 aus.

Sind die gefundenen Antworten (⅞ zu ⅛ beziehungsweise 0,947 zu 0,053) die einzig möglichen? Sicherlich nicht! Ausgehend von der Ansicht, daß die ursprüngliche Vereinbarung durch vorzeitiges Ende des Wettkampfes außer Kraft gesetzt worden ist, könnte man sich für das Teilungsverhältnis ½ zu ½ einsetzen. Vielleicht würde ein guter Anwalt aus unserem Problem einen Fall konstruieren, in dem alles an A zu geben wäre. Im Grunde genommen war es die Absicht des Wettkampfes, dem Gewinner alles zu geben. Wer aber sollte im vorliegenden Fall alles erhalten? Sicherlich nicht B. Ich vermute, daß man zu jedem beliebigen Teilungsverhältnis Annahmen postulieren könnte, die es rechtfertigen.

Warum wurde der Wettkampf abgebrochen? War es zu spät geworden? Brach ein Feuer im Casino aus? Starb einer der Spieler? Wurde er vielleicht von B beendet, weil dieser vermutete, A würde falschspielen? Ein Anwalt möchte das gerne wissen. Die Antwort ist für ihn wichtig.[4]

Ich möchte die These aufstellen, daß die verzögerte Entwicklung der Wahrscheinlichkeitstheorie gerade durch die Denkweise verursacht wurde, die Lucas Problemstellung erfordert. Dieses bezieht sich direkt auf die angewandte Wahrscheinlichkeit unterster Stufe 3 und stellt damit Fragen, die nicht eindeutig zu beantworten sind. Die Wahrscheinlichkeitstheorie konnte erst in dem Augenblick Fortschritte machen, als es möglich wurde, sie aus der Arena öffentlicher Politik und Erfahrung herauszuhalten. Danach wurde eine idealisierte und auf Übereinkünften beruhende Theorie geschaffen, auf deren Grundlage eindeutige und allgemein anerkannte Antworten möglich sind.

Die Wahrscheinlichkeitstheorie, die wir aus der heutigen Mathematik kennen, begann im 15. Jahrhundert – unter anderem provoziert durch unverbesserliche Spieler, die sich durch die Rationalisierung ihrer Erfahrung zu helfen suchten. Trotz der Tatsache, daß wir heute in einer stochastisierten Welt leben, ist das Verständnis, das der Stochastisierung zugrunde liegt, schwer erfaßbar und umstritten geblieben. Die Mathematik darin ist streng genug, was das Formal-Deduktive anbelangt. Aber welchem Aspekt der wirklichen Welt entspricht sie nun? Ist die Wahrscheinlichkeit real oder ist sie nichts als ein Feigenblatt der Unkenntnis? Die Frage, was real sei, ist selten einfach zu beantworten. Ist der Teufel ein realer Aspekt der Welt? In vergangenen Jahrhunderten lautete die Antwort wie selbstverständlich ja. Der Teufel hat sich heute zumindest in der zivilisierten Welt auf eine bescheidenere und eher metaphorische Rolle zurückgezogen. Der Zufall wird für vieles in Anspruch genommen, was früher dem schmutzigen Geschäft des Teufels zugeschrieben worden ist.

Es gab Geburtswehen. So gab es kontroverse Definitionen dessen, was auszumerzen sei und dessen, was akzeptiert werden kann. Nehmen wir als Beispiel den Begriff der probabilistischen Erwartung.

»Während des gesamten 18. Jahrhunderts war die probabilistische Erwartung Gegenstand von Kontroversen unter den Mathematikern. Trotz ihrer untergeordneten Rolle in den frühesten Formulierungen … blieb die Erwartung kein feststehender Begriff. Vielmehr wurde ihre Definition mehreren tiefgreifenden Veränderungen unterworfen. Sie wurde von den Mathematikern in einer wohlüberlegten Anstrengung abgeändert, um das wichtige Konzept der rationalen Entscheidung einzubeziehen. Als der Begriff der Rationalität allmählich legale, ökonomische und schließlich psychologische Züge annahm, paßte sich die Definition der probabilistischen Erwartung bald an.«

(L.J. Daston)

Aus einem alten amerikanischen Rechenbuch

Einstein sagte in einem berühmten Ausspruch, in dem er die stochastischen Züge der Quantenmechanik zurückwies: »Gott würfelt nicht.« Neben der Ablehnung metaphysischer Elemente der Quantenmechanik scheint dieser Ausspruch auch ein ethisches Urteil zu enthalten: Die Angelegenheiten des Kosmos sind nicht in der gleichen Art und Weise geordnet wie die ärmlichen Belange der Menschheit. Ich hörte diesen Ausspruch Einsteins erstmals als Student, und zwar mit dem kritischen Unterton, sein Determinismus sei altmodisch und überholt.

Ich möchte gern die Worte R.M. Tawnys aus seiner Einleitung zu Max Webers Werk »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« paraphrasieren. Im folgenden Zitat habe ich »Kapitalismus« durch »Stochastizismus« ersetzt und einige wenige Kürzungen vorgenommen.

»Alle Revolutionen werden, sobald sie erfolgreich sind, als natürlich und unausweichlich dargestellt. Der Stochastizismus ist heute mit dem nicht hinterfragbaren Ansehen eines siegreichen Faktums ummäntelt. Aber in seiner Jugendzeit war er ein Blender, und sein Titel erst nach Jahrhunderten etabliert. Der Stochastizismus brachte ein System von Beziehungen mit sich, das mit ehrwürdigen Übereinkünften in Widerspruch stand. Ähnlich wie diese Neuerung den Pionieren, die als erste mit ihr experimentierten, Mut zum Risiko abverlangte, brauchen heute diejenigen, die mit dem von ihr gewobenen Netz brechen wollen, Originalität, Selbstbewußtsein und Zähigkeit.«

Ich höre heute das Rumoren eines Umschwungs. Kürzlich wurde mir die folgende Anekdote erzählt: Ein führender theoretischer Physiker (sein Name wird auf Anfrage mitgeteilt) traf einige seiner Kollegen. Er sagte: »Soll ich Ihnen etwas erzählen?« Die Kollegen nickten zustimmend. Er blickte um sich und befahl: »Schließen Sie alle Türen.« Als die Türen geschlossen waren, fügte er hinzu: »Sie sollten wissen, im Grunde genommen glaube ich nicht an die Quantenmechanik.«

 

Hinsichtlich der stochastisierten Welt war mein Vetter H. der altmodischste Mensch, der mir jemals begegnet ist. In seinen jungen Jahren machte er eine Menge Geld als Fabrikant. Anschließend verbrachte H., der Junggeselle, Chemiker und Hobbyphilosoph war, vierzig glückliche Jahre auf den Pferderennbahnen Neuenglands. Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie waren in seinen Augen von geringer Bedeutung. »Deine Wahrscheinlichkeitstheorie ist ein einziger Unfug«, warf er mir vor. (Er hatte sein Diplom am MIT gemacht.) »Sie sagt mir nicht das, was ich wissen will. Sie erzählt mir, daß, falls die Wettsumme 100000 Dollar ist, die Rennveranstalter und der Staat jeweils 10 % bekommen und 80000 Dollar in meine Tasche wandern. Verteilst Du das nun über acht Rennen, so wirst Du vom Rennplatz wegbleiben. Aus der Sicht des Rennens gibt es überhaupt keine Wahrscheinlichkeit. Wenn 10000 Dollar auf Sweet Rosie gesetzt werden zum Kurs von 8 zu 1, so zahlt das Wettbüro 80000 Dollar an die Wetter. Wo ist da Deine Wahrscheinlichkeit?« Genausogut könnte der Betreffende auch den Rennen fernbleiben und sich an der Wall Street betätigen. »Wenn Du etwas in der Zeitung liest, ist es bereits zu spät.« Mit anderen Worten: eine Sache, mit der der Durchschnittsbürger schon in Berührung gekommen ist, kann man getrost vergessen! Er verabscheute alle Tipgeber, die auf kleinen Pressen in Kombiwagen gedruckt werden; er verabscheute Computerprognosen, die Aussagen zu Empfehlungen zermalmen.