Deutsche Außenpolitik in der Ära Bismarck - Andreas Rose - E-Book

Deutsche Außenpolitik in der Ära Bismarck E-Book

Andreas Rose

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Am Anfang der Ära Bismarck existiert im Herzen Europas nur ein loser Staatenbund unter preußischer Dominanz, beim Abgang des ›Eisernen Kanzlers‹ 1890 ist die dominierende Großmacht auf dem Kontinent das Deutsche Kaiserreich, 1871 im Spiegelsaal von Versailles gegründet. Drei sogenannte Einigungskriege waren die Voraussetzung für diese Entwicklung (1864, 1866, 1870/71). Parallell dazu entstehen in kriegerischen Auseinandersetzungen die Staaten Griechenland und Italien: Die Ära Bismarck ist die Epoche der Nationalstaatenbildung. Diese europäischen Kriege, die Rivalitäten und Ressentiments der Mächte, die komplexen Bündnissysteme und die Geheimdiplomatie, die diese Epoche prägten, werden in einer großen, europäischen Gesamtschau präsentiert. Das Ringen um eine neue europäische Ordnung, das immer stärker auch die öffentliche politische Meinung berücksichtigen muss, stellt Andreas Rose in klarer, chronologischer Gliederung dar.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 310

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Geschichte kompakt

Herausgegeben von

Kai Brodersen, Martin Kintzinger,

Uwe Puschner, Volker Reinhardt

 

Herausgeber für den Bereich 19./20. Jahrhundert: Uwe Puschner

 

Beratung für den Bereich 19./20. Jahrhundert:Walter Demel, Merith Niehuss, Hagen Schulze

Andreas Rose

Deutsche Außenpolitikin der Ära Bismarck (1862–1890)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung inund Verarbeitung durch elektronische Systeme.

© 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durchdie Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.Redaktion: Frank Schlumm, BerlinEinbandgestaltung: schreiberVIS, BickenbachSatz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-15188-2

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-534-72922-7eBook (epub): 978-3-534-72923-4

Menü

Buch lesen

Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zum Herausgeber

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Geschichte kompakt

I.   Von der europäischen Konzertdiplomatie zur Machtpolitik – die deutsche Frage und das Zeitalter der Einigungskriege

1. „Macht geht vor Recht“ – vom Pariser Frieden zum Krieg in Oberitalien

2. Der preußische Verfassungskonflikt, die Berufung Bismarcks und dessen Anfänge

3. Drei Kriege bis zur Reichsgründung

a) Die schleswig-holsteinische Frage und die Auseinandersetzung mit Dänemark 1863/64

b) Die Entfesselung des „Bruderkrieges“ um die deutsche Vorherrschaft (1864–1866)

c) „À Berlin“ – Von der Luxemburgkrise zur spanischen Thronfolge und dem Duell mit Frankreich (1866–1870/71)

4. Im Spiegelsaal von Versailles – Kaiserproklamation und Kriegsende

II.  Das neue Reich in der Mitte Europas

1. Das Kaiserreich und seine außenpolitischen Akteure

a) Kaiser, Reichskanzler und Militärs

b) Der diplomatische Dienst in der Wilhelmstraße

2. Die Trieb- und Bewegungskräfte der Staatenwelt

a) Gründerboom, Gründerkrach und Schutzzölle

b) Nationalismus

c) Öffentliche Meinung, Pressepolitik und Diplomatie

3. Das Kaiserreich im System der Großmächte

a) Die neue Mächtekonstellation

b) Wahlchancen in der „halb-hegemonialen“ Stellung

III. „Saturiertheit“ und „kontinentale Hochspannung“ – von der Reichsgründung bis zum Zweibund (1871–1879)

1. Die Drei-Kaiser-Politik

2. Von der „Mission Radowitz“ zur „Krieg-in-Sicht“-Krise

3. Die orientalische Krise und die „Doktorfrage“ aus Livadia

4. Das „Kissinger Diktat“ als Leitlinie Bismarckscher Außenpolitik

5. Makler ohne Courtage – Der Berliner Kongress 1878

6. Vom „Ohrfeigenbrief“ zum Zweibund

IV. Relative Sicherheit und Überseeabenteuer (1880–1884/85)

1. Dreikaiservertrag und Dreibund

2. Zu neuen Ufern – Bismarck und die koloniale Episode 1880–1884/85

a) Kolonien für Deutschland – bloß ein überflüssiger Luxus?

b) Allianzbildung mit dem Erbfeind?

c) Die „Kronprinzenthese“

3. Bismarcks „Karte von Afrika“ bleibt in Europa

V.  Außenpolitisches Zauberwerk: Bismarcks System der Aushilfen (1885–1890)

1. Die west-östliche Doppelkrise 1885–1887

2. Die „Aushilfen“ werden zum „System“

a) Der Rückversicherungsvertrag: „politische Bigamie“ oder „geniale Aushilfe“?

b) Außenwirtschaftspolitik: Schutzzölle und Lombardverbot

c) Deutsch-russische Entfremdung und Sondierungen an der Themse

d) Das Ende einer Ära – die Außerdienststellung Bismarcks

VI. Schlussbetrachtung

Auswahlbibliographie

Personen- und Sachregister

Geschichte kompakt

 

In der Geschichte, wie auch sonst,dürfen Ursachen nicht postuliert werden,man muss sie suchen. (Marc Bloch)

Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden.

Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen, europäischen und globalen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. „Geschichte kompakt“ ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte.

Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe „Geschichte kompakt“ soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissensstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden.

 

Kai BrodersenMartin KintzingerUwe PuschnerVolker Reinhardt

I.   Von der europäischen Konzertdiplomatie zur Machtpolitik – die deutsche Frage und das Zeitalter der Einigungskriege

1814/15

Wiener Kongress und Gründung des Deutschen Bundes

1834

Gründung des Deutschen Zollvereins

1848/49

Revolution

1853–1856

Krimkrieg

1858–1862

Die „neue Ära“ unter Wilhelm I.

1859

Krieg Sardiniens und Frankreichs gegen Österreich

23.9.1862

Ernennung Bismarcks zum preußischen Ministerpräsident

30.9.1862

„Eisen-und-Blut“-Rede Bismarcks in der Budgetkommission des preußischen Landtages

1862–1866

Preußischer Heeres- und Verfassungskonflikt

8.2.1863

„Konvention Alvensleben“ zwischen Preußen und Russland zur Unterdrückung und Verfolgung polnischer Aufständische

1.2.–1.8.1864

Deutsch-Dänischer Konflikt

30.10.1864

Friede von Wien

14.8.1865

Konvention von Bad Gastein

15.6.–26.7.1866

„Deutscher Krieg“ zwischen Preußen und Österreich

3.7.1866

Schlacht bei Königgrätz

23.8.1866

Friede von Prag

3.9.1866

Annahme der Indemnitäts vorlage

20.9.1866

Preußische Annexionen Hannovers, Kurhessens, Nassaus und Frankfurts

17.4.1867

Gründung des Norddeutschen Bundes

13.7.1870

„Emser Depesche“

19.7.1870–26.2.1871

Deutsch-Französischer Krieg

2.9.1870

Schlacht bei Sedan und Gefangennahme Napoleons III.

18.1.1871

Kaiserproklamation Wilhelms I. im Spiegelsaal von Versailles

28.1.1871

Kapitulation von Paris und Waffenstillstand

21.2.–26.2.1871

Friedensverhandlungen in Versailles

März 1871

Pontus-Konferenz zur Revision der Schwarzmeer-Klausel

16.4.1871

Verfassung des Deutschen Reiches

10.5.1871

Friede von Frankfurt a.M.

Aufstieg Preußens

Wer heute auf die Epoche zwischen dem Krimkrieg und der Reichseinigung zurückblickt, ist leicht versucht, den Aufstieg Preußens zur gleichrangigen Großmacht, die preußische Führungsrolle bei der Einigung Deutschlands und im weiteren Verlauf den Aufstieg und Fall des deutschen Kaiserreiches 1918 als etwas Zwangsläufiges und Naheliegendes anzunehmen. Doch so selbstverständlich, wie sich der Entwicklungsprozess im Nachhinein darstellt, war er keineswegs.

Karte: Europäische Staatenwelt zwischen 1815 und 1871

Gewiss, die Ergebnisse des Wiener Kongresses von 1815 hatten in Mitteleuropa vor allem Preußen begünstigt. Mit seiner Ausdehnung nach Westen wuchs es weiter nach Deutschland hinein. Es gewann vor allem die industriellen Gebiete an Rhein und Ruhr hinzu, während die andere deutsche Großmacht Österreich – überwiegend agrarisch geprägt – mit seinen italienischen Besitzungen weiter aus Deutschland herausgerückt war. Dennoch blieb die „deutsche Frage“ untrennbar mit dem europäischen Staatensystem und dessen Kernproblematik zwischen Gleichgewicht und Hegemonie verbunden. Auf dem Wiener Kongress war das Konzert der fünf Großmächte England, Frankreich, Preußen, Österreich und Russland übereingekommen, in Mitteleuropa ein machtpolitisches Vakuum zu schaffen. Der Deutsche Bund als integraler Bestandteil dieser Ordnung sollte lediglich eine defensive Funktion wahrnehmen und die Großmächte von weiteren Zusammenstößen abhalten. Gleichzeitig sollte die traditionelle Rivalität zwischen Preußen und Österreich Mitteleuropa von einem engeren Zusammenschluss abhalten.

Wenngleich der 1834 gegründete Deutsche Zollverein als preußisch dominierter Zusammenschluss Norddeutschlands aus der Rückschau auch wie eine erste Etappe auf dem Weg zu einer kleindeutschen Lösung ohne Österreich wirkt, so bildete Deutschland bis in die 1860er-Jahre hinein keine außenpolitisch handlungsfähige Einheit. Im Vordergrund standen die Deutschlandpolitik zwischen Preußen und Österreich um die Vormacht in Mitteleuropa und der europäische Bezugsrahmen. Die Versuche einer kleindeutschen Lösung ohne Österreich – inklusive der Habsburger Lande – und großdeutsche Vorstellungen hielten sich weitgehend die Waage und kulminierten in den Revolutionsereignissen von 1848/49. So sehr sich die Revolutionäre in den verfassungspolitischen Debatten der Paulskirchenversammlung verzettelten, so sehr übernahmen sie sich auf dem Gebiete der Außenpolitik. Großdeutsche Sehnsüchte und der Wunsch nach einer Einverleibung Schleswigs zerschellten nicht zuletzt auch an der Intervention der Mächte, allen voran Russlands.

In den 1850er-Jahren deutete zunächst nicht viel daraufhin, dass Preußen seine Potenziale auszuschöpfen gedachte. Nachdem König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) die Kaiserkrone aus den Händen der Paulskirchenversammlung abgelehnt hatte, musste Preußen auch im Konflikt mit Österreich um die Frage einer zukünftig kleindeutsch geführten Union oder eines großdeutschen 70 Millionen Bürger umfassenden Reiches zurückstecken. In der Punktation von Olmütz (29.11.1850) wich es einem militärischen Konflikt mit Österreich, welches von Russland unterstützt wurde, aus und ordnete sich noch einmal dem Deutschen Bund und der Wiener Führung unter. Begründet wurde das preußische Zurückweichen von Otto von Bismarck (1815–1898), der am 3. Dezember 1850 mit seiner berühmten Olmütz-Rede erstmals deutschlandweit auf sich aufmerksam machte. Indem er in der Rede einen Krieg um Preußens Ehre willen und für eine preußisch geführte Union ablehnte und gleichzeitig den „staatlichen“, zunächst vor allem preußischen „Egoismus“ zum Prinzip erhob, steckte er den Rahmen preußischer Politik ab. Noch ging es dabei nicht um eine nationale Einigung, sondern preußische Selbstbehauptung. Auch während des Krimkrieges machte Berlin keinerlei Anstalten, sich für die Einheit einsetzen zu wollen. Vielmehr gab es sich zaudernd und zögernd, wirkte konzeptionslos und schwankte zwischen Ost und West.

1. „Macht geht vor Recht“ – vom Pariser Frieden zum Krieg in Oberitalien

Krimkrieg

Nachdem bereits die europaweite Revolution von 1848/49 die Solidarität des Mächtekonzerts untergraben hatte, versetzte der Krimkrieg diesem Konzert einen irreparablen Schlag. Die Gewaltpolitik von Zar Nikolaus I. (1796–1855) gegen die Türkei und seine Drohung, sich mit dem Nationalismus auf dem Balkan zu verbünden, sorgte für den ersten Großmächtekonflikt seit 1815.

Frankreich und England hatten sich zusammengeschlossen und ihre Flotten zu den Dardanellen entsandt, um das Osmanische Reich gegen den russischen Expansionswillen auf dem Balkan und in Richtung Meerengen zu unterstützen. Nach der Vernichtung des türkischen Schwarzmeergeschwaders durch die russische Flotte griffen die Westmächte ein und erklärten am 27. März 1854 Russland den Krieg. Schon bald mussten sich Paris und London aber eingestehen, dass sie auch der Unterstützung der Mittelmächte bedurften. Die bescheidenen Kräfte Sardinien-Piemonts, dessen Ministerpräsident Graf Camillo Benso di Cavour (1810–1861) sich von der Kriegsteilnahme eine anglo-französische Unterstützung bei der Einigung Italiens erhoffte, reichten gegen Russland längst nicht aus. Während sich Österreich unter Karl-Ferdinand Graf von Buol-Schauenstein (1797–1865) tatsächlich darauf einließ, eine Pressionspolitik gegen den alten russischen Verbündeten zu verfolgen und Truppen an seiner Ostgrenze in Stellung brachte, verhielt sich Preußen lange unentschlossen und schwankend zwischen Ost und West. Sollte man die traditionellen, antirevolutionären, konservativen Bande zum Zarenreich kappen und sich an die Westmächte hängen? Oder sollte Preußen den Bestand der Heiligen Allianz fördern? Würden England und Frankreich Preußen in einem Konflikt gegen Russland beistehen? Der Einzige, der im Für und Wider der Parteien am Berliner Hof einen kühlen Kopf behielt und nüchtern die Interessen Preußens wog, war der erst zwei Jahre zuvor berufene Preußische Gesandte am Bundestag in Frankfurt Otto von Bismarck.

E

Otto von Bismarck (1815–1898), Staatsmann, Reichsgründer. In Schönhausen bei Tangermünde geboren, pflegte Bismarck nach dem Jurastudium und einigen Jahren im Staatsdienst einen eher unsteten Lebensstil. Erst die Heirat mit der tief religiösen Johanna von Puttkamer (1824–1894) beendete 1847 die Jahre des „tollen Bismarck“. Nach der Revolution von 1848 trat er als Verfechter einer durch und durch konservativen Politik auf. Als preußischer Gesandter beim Bundestag in Frankfurt am Main (1851–1859) entwickelte er in einem regen Austausch mit den hochkonservativen Gebrüdern Leopold und Ernst Ludwig von Gerlach seine ersten außenpolitischen Gedanken. Diese zielten auf eine reine Interessenpolitik, ungeachtet traditioneller außenpolitischer Partner. In Frankfurt verfolgte er überdies einen konsequent preußischen und anti-österreichischen Kurs, was zu seiner Versetzung nach St. Petersburg führte (1859–1862), die er als „Kaltstellung“ begriff. Seine abermalige Versetzung nach Paris (1862) deutete aber bereits auf eine Rehabilitierung hin. Im Herbst 1862 wurde er von Wilhelm I. zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt. Als solcher vertrat er hartnäckig die Rechte der Krone, bekämpfte die liberale Mehrheit im preußischen Landtag und setzte die Heeresreform gegen die Verfassung durch. Im Frühjahr 1864 führte Preußen unter seiner Führung gemeinsam mit Österreich Krieg gegen Dänemark, bevor die Frage nach der Vorherrschaft im Deutschen Bund 1866 zum Krieg gegen Österreich führte. Mit dem Sieg Preußens im „Bruderkrieg“ gegen Österreich war der Deutsche Bund zerstört. Den Abschluss der maßgeblich von Bismarck initiierten Einigungskriege bildete der Krieg gegen Frankreich von 1870/71. Von 1871 bis 1890 war Bismarck Reichskanzler und Außenminister des Deutschen Reiches sowie preußischer Ministerpräsident. Nach seiner Demission zog er sich auf sein Gut Friedrichsruh bei Hamburg zurück, wo er am 30. Juli 1898 verstarb.

Preußische Interessenpolitik

Noch 1848 ein deutlicher Vertreter hochkonservativer Prinzipien, pro-österreichisch, pro-russisch und anti-französisch orientiert, hatte sich seine Sichtweise seit seiner Gesandtentätigkeit (1851–1859) von den Vorgaben seiner Förderer Ernst Ludwig (1795–1877) und Leopold von Gerlach (1790–1862) emanzipiert. Frei von sentimentalen Bindungen, erklärte er den Staatsegoismus und die Interessen zur außenpolitischen Richtschnur. Klarer als jeder andere erkannte er, dass eine Kriegsteilnahme Preußen keinerlei Vorteile einbringen würde. Österreich als Juniorpartner zu folgen, hätte vor allem Frankreich gedient. Es hätte die Heilige Allianz der status quo und monarchisch orientierten Mächte Preußen, Russland und Österreich völlig zerstört und fortan Preußen einem russischen Revanchedruck ausgesetzt. In einem solchen Krieg, so prophezeite Bismarck, lägen zudem alle Vorteile bei Napoleon III. (1808–1873), denn dieser konnte sich angesichts der vorteilhaften geographischen Lage Frankreichs jederzeit mit Russland verständigen. „Wir und Österreich“, so schrieb er Leopold von Gerlach, „sind […] in der Falle, und England zuckt die Achseln“. Aber auch ein Krieg mit St. Petersburg gegen die Westmächte und Österreich stand für ihn außer Frage. Wie sollte der Zar Preußen in einem Krieg, der sich hauptsächlich im Westen abspielen würde, Hilfe leisten? Statt sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden, müsse sich Preußen deshalb zurückhalten und neutral bleiben. Dann würde es mittelfristig den größten Nutzen und die größte Bewegungsfreiheit aus einer internationalen Konstellation erzielen, die von der Forschung als „Krimkriegssituation“ beschrieben wird.

E

Die „Krimkriegssituation“ beschreibt nach Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand eine Mächtekonstellation, die Bismarck die Lösung der deutschen Frage ermöglichte bzw. entscheidend erleichterte, und die im Nachgang der Einigungsphase zwischen 1862 und 1871 wiederholt die Geschichte Europas und Deutschlands bis in die jüngste Geschichte beeinflusste: das Verhältnis der jeweiligen Flügelmächte Großbritannien, später der Vereinigten Staaten von Amerika einerseits und Russlands bzw. der Sowjetunion andererseits zueinander und gegenüber Deutschland. Danach nahm die Bewegungsfreiheit der europäischen Mitte immer dann zu, wenn die rivalisierenden Flügelmächte Europa den Rücken kehrten. Die Isolation und Niederlage des Zarenreiches im Krimkrieg führte einerseits zum Bruch zwischen England und Russland sowie zwischen Russland und Österreich. Während sich der anglo-russische Gegensatz damit außerhalb Europas zementierte, lockerten sich die Rahmenbedingungen für eine Lösung der deutschen Frage in der europäischen Mitte.

Bismarcks Obstruktion gegen Österreich

In Frankfurt, dem laut Bismarck „augenblicklich wichtigsten Posten unserer Diplomatie“, betrieb er deshalb eine vehemente Obstruktionspolitik gegen alle Versuche Wiens, den Deutschen Bund und Preußen für einen anti-russischen Kurs zu gewinnen. Auf sein Betreiben hin blieb Preußen letztlich passiv und der Deutsche Bund erklärte seine Kriegsbereitschaft zu allen Seiten hin. Die Konsequenz aus der preußischen Haltung, der russischen Niederlage und dem Pariser Frieden war zunächst, dass Preußen erst verspätet und unter demütigenden Umständen überhaupt an den Friedensverhandlungen in Paris teilnehmen durfte. Augenscheinlich schienen England und Frankreich die größten Profiteure des Krimkrieges zu sein. Auf den zweiten Blick aber erscheint auch das zögerliche Preußen als heimlicher Sieger. Erstens, weil der Krieg den endgültigen Bruch zwischen Wien und St. Petersburg besiegelt hatte und sich damit der Aktionsradius Preußens beträchtlich erweiterte. Ein erneutes Olmütz, also ein Zurückweichen gegenüber Österreich im Verbund mit Russland in der deutschen Frage, war in Berlin nicht mehr zu fürchten. Obwohl sich das Zarenreich nun zunächst von Europa weg in Richtung Asien orientierte, konnte Preußen zukünftig sogar mit russischem Wohlwollen rechnen. Und zwar immer dann, wenn es gegen Österreich ging. Zweitens wurde der deutschen Öffentlichkeit erstmals offenbar, dass preußische und deutsche Interessen eine größere Kongruenz aufwiesen als die Interessen mit dem Vielvölkerstaat Österreich auf dem Balkan und im Orient. Drittens zahlte sich die prowestliche Orientierung für Wien nicht aus. Im Gegenteil: Österreich geriet sogar in die Isolation, weil sich England von nun an seinen weltpolitischen Abenteuern und Frankreich Italien zuwandte.

Bismarck dachte deshalb auch schon weiter. Bereits kurz nach der Pariser Friedenskonferenz (25.2.–30.3.1856) stand für ihn fest, dass Deutschland für zwei Großmächte „zu eng sei“. Preußen werde deshalb früher oder später für seine Existenz „gegen Österreich fechten müssen“.

Q

Bismarck an Leopold von Gerlach, 28. April 1856

Aus: Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 14/1, S. 441.

 

Ich kann mich der mathematischen Logik der Tatsachen nicht erwehren, sie bringt mich zu der Überzeugung, daß Österreich nicht unser Freund sein kann und will. Bei der Bahn, auf welche die österreichische Monarchie gesetzt ist, kann es für Österreich nur eine Frage der Zeit und der Opportunität sein, wann es den entscheidenden Versuch machen will, uns die Sehnen zu durchschneiden, daß es den Willen dazu hat, ist eine politische Naturnotwendigkeit. Solange es die Schiffe seiner jetzigen Politik nicht dezidiert verbrennt, d.h. solange es nicht für eine Abgrenzung seines und unseres Einflusses in Deutschland vermöge einer geographischen und politischen Demarkationslinie sich definitiv verständigt und die Verständigung in Vollzug gesetzt hat, müssen wir dem Kampf mit ihm entgegensehen, mit Diplomatie und Lüge im Frieden, mit Wahrnehmung jeder Gelegenheit, uns im Krieg den coup de grâce [Gnadenschuss, A. R.] zu geben, oder coup de jarnac [eine nicht ganz regelkonforme Überrumpelung des Gegners, A. R.] will ich lieber nicht sagen. Österreich läßt sich dabei durch deutsche Gefühle, durch Bilder von Mann und Frau, die sich zanken, aber nach außen zusammenhalten nicht irre machen. Es nimmt die Hilfe der Franzosen so gut als die der ultramontanen Münsterländer und [August] Reichensperger [1805–1895]. Über unser Gezänk und Intrigen im Frieden geht dabei Deutschland noch sicherer zugrunde, als über einen guten Krieg, wie den siebenjährigen, der uns wenigstens klare Verhältnisse zueinander brächte. Aber wenn wir ihn auch fromm vermeiden wollten, Österreich wird ihn führen, sobald ihm die Gelegenheit günstig ist. Wir, so stark wir jetzt sind, bleiben eine Unmöglichkeit in dem System der dermaligen Wiener Politik; ihre Ziele und die Existenz des gegenwärtigen Preußen schließen sich gegenseitig aus. Sie glauben das nicht, und davon unsere Meinungsverschiedenheit. Ich war ziemlich gut österreichisch, als ich hier herkam, und bin auch bereit, es wieder zu sein, wenn wir von dort die Garantie für eine Politik erhalten, bei der auch wir bestehen können. Bei der jetzigen können wir das meines Glaubens nicht.

„Neue Ära“ und Versetzung

Einstweilen ging das den tonangebenden Kreisen am Berliner Hof um den Ministerpräsidenten Otto von Manteuffel (1805–1892) und Leopold von Gerlach jedoch zu weit. Noch konnte Bismarck sich halten und seinen privaten Konfrontationskurs mit Österreich am Bundestag weiter treiben. Als im Sommer 1858 jedoch Prinz Wilhelm (1797–1888) die Regentschaft für seinen inzwischen geistig umnachteten Bruder Friedrich Wilhelm IV. übernahm und sich eine „Neue Ära“ ankündigte, waren die Tage des konfliktfreudigen Gesandten in Frankfurt erst einmal gezählt. Zwar verkündete der einstige Kartätschenprinz der 1848er Revolution, dass Preußen in Deutschland „moralische Eroberung“ betreiben wolle, doch den Worten folgten zunächst kaum Taten.

Vor dem Hintergrund innerer Reformen suchte Berlin unter dem neuen Außenminister Alexander Graf von Schleinitz (1807–1885) erneut die Nähe zur Donaumonarchie. Als Zeichen des guten Willens gegenüber Wien wurde Bismarck im Januar 1859 nach St. Petersburg versetzt, was er selbst als eine regelrechte „Kaltstellung“ empfand. Aus der Ferne beobachtete er, wie sich eine neue internationale Krise zusammenbraute, die für die deutsche Frage und die Nationalbewegung zur Initialzündung werden sollte.

Oberitalienischer Konflikt

Mit dem Krieg Frankreichs und Sardinien-Piemonts gegen Österreich zwischen April und Juli 1859 trat das europäische Staatensystem endgültig in eine Phase reiner Machtpolitik ein. Zwar hatte bereits der Krimkrieg die lange Friedens- und Stabilitätsphase zwischen den Großmächten beendet, doch war es auf der Krim erst nach erheblichen Widerständen überhaupt zu einem Großmächtekonflikt gekommen. 1859 jedoch wurde erstmals seit den napoleonischen Kriegen wieder einer von langer Hand geplanter Eroberungskrieg vom Zaun gebrochen. Was umso schwerer für das Konzert der Mächte wog, war, dass Frankreich und Sardinien-Piemont in diesem Konflikt mit Österreich gezielt gegen eine Macht zu Felde zogen, die sich dem Status quo und der Stabilität der internationalen Beziehungen besonders verpflichtet fühlte. Während es den Westmächten 1854 noch darum gegangen war, Russland für die Störung der Gleichgewichtsordnung im Orient zu sanktionieren, ging es nun um bloße Machterweiterung. Wenngleich sowohl Napoleon III. als auch Camillo Cavour offiziell das Nationalstaatsprinzip für ihre Sache reklamierten, machte das die Sache nicht besser. Im Gegenteil: Die österreichische Stellung in Norditalien beruhte zweifellos auf dem anerkannten Völkerrecht. Das nationale Prinzip galt bis dahin als revolutionäres Prinzip, welches von den Großmächten nicht nur nicht akzeptiert worden war, sondern gegen welches sich auch die Wiener Ordnung explizit gewandt hatte. Weder Napoleon noch Cavour ging es um die Einigung Italiens. Vielmehr stand bei beiden die Machtpolitik im Vordergrund während das nationale Element lediglich als willkommenes Mobilisierungsinstrument diente. In Plombières (20.7.1858) hatten Napoleon und Cavour in einem Geheimvertrag vereinbart, Österreich aus Italien hinauszuwerfen.

E

Die Entfesselung des oberitalienischen Krieges. In Plombières sicherte Napoleon III. Cavour die Unterstützung von 200.000 Soldaten für einen Angriffskrieg gegen die Habsburgermonarchie zu. Eine fabrizierte Petition der Bürger von Modena an den König von Sardinien sollte den Zündfunken zum Krieg bilden. Ziel war es, einen italienischen Staatenbund nach Vorbild des Deutschen Bundes zu erreichen, in dem der Papst als Trost für den Verlust seiner Besitzungen den Vorsitz übernehmen sollte. Darüber hinaus verlangte Napoleon für seine machiavellistische Komplizenschaft Savoyen und Nizza und die dynastische Verbindung Frankreichs und Italiens. Nachdem die Verständigung von Plombières im Januar 1859 in einem geheimen Angriffspakt besiegelt worden war, ging Cavour dazu über, Österreich zu einem Krieg zu provozieren. Unterdessen bereitete Napoleon den Feldzug diplomatisch vor, indem er die Habsburgermonarchie auf internationalem Parkett zu isolieren suchte. In London und Berlin stieß der französische Kaiser damit jedoch auf taube Ohren. Beide Mächte wollten nichts mit einem derart flagranten Rechtsbruch zu tun haben. Für Preußen kam hinzu, dass die Rechtslage des Deutschen Bundes zumindest die Möglichkeit zur Beistandspflicht beinhaltete: selbst wenn die österreichischen Besitzungen in Oberitalien nicht zum Gebiet des Deutschen Bundes zählten, so war Österreich doch immerhin eine deutsche Macht. Nur in St. Petersburg trat Napoleon mit seinem diplomatischen Ränkespiel offene Türen ein, schließlich versuchte Russland alles, um sich an Österreich zu rächen und seine Niederlage im Krimkrieg, die sich vor allem in der Neutralisierung des Schwarzen Meeres äußerte, zu tilgen. Am 3. März 1859 schlossen Paris und St. Petersburg einen Geheimvertrag, bei dem Russland seine wohlwollende Neutralität in einem künftigen französisch-österreichischen Konflikt zusicherte. Aber selbst die Einigkeit Frankreichs, Sardiniens und Russlands hätten die Wiener Ordnung nicht zu Fall gebracht, hätten die Entscheider am Ballhausplatz nicht ausgerechnet jetzt einen entscheidenden Fehler begangen. Statt auf den anglorussischen Vorschlag eines Kongresses einzugehen, dem sich auch Napoleon nicht hätte entziehen können und dem selbst Cavour zähneknirschend zustimmte, trat Österreich die Flucht nach vorn an. Trotz eigener chronischer Finanznöte und militärischer Schwächen sowie in völliger Verkennung der politischen Lage überstellte Wien ein Ultimatum nach Turin. Cavour fand sich am Ziel, lehnte das Ultimatum ab und schob so Österreich auch noch den „Schwarzen Peter“ für den Kriegsausbruch zu. Am 26. April erklärte Österreich Sardinien den Krieg. Knappe zwei Monate später war es durch verheerende Niederlagen bei Magenta (4. Juni) und Solferino (24. Juni) geschlagen. Kaiser Franz Joseph I. (1830–1916) blieb nichts Weiteres übrig, als am 11. Juli in Villafranca einen Waffenstillstand mit Napoleon zu unterzeichnen. Österreich verlor die Lombardei und Teile Venetiens.

Deutsche Frage und Dualismus

Hatte der Krimkrieg die Situation zwischen den beiden deutschen Vormächten aufgebrochen, so brachte der oberitalienische Krieg die deutsche Frage endgültig wieder auf die Tagesordnung. Eine Niederlage Wiens konnte das übrige Deutschland nicht unberührt lassen. Überall wurden Stimmen laut, dass Preußen den Po am Rhein verteidigen müsse. Dahinter stand nicht nur die nationale Verbindung zu Österreich, sondern auch das gleichgewichtspolitische Kalkül, dass mit einem Sieg Frankreichs der Druck auf die Westgrenze automatisch steigen würde. Zweifellos stellte der Krieg die deutsche Sicherheit insgesamt infrage. Gleichzeitig berührte der Krieg auch den preußisch-österreichischen Gegensatz. Preußen wollte sich deshalb seine Hilfe zumindest mit der Gleichstellung im Deutschen Bund, dem Oberbefehl am Rhein und dem militärischen Primat in Norddeutschland bezahlen lassen. Doch ehe Österreich Zugeständnisse an Preußen zu machen bereit war, zog es den Frieden von Villafranca und den Verlust der Lombardei und Teile Venetiens vor. Das preußische Kalkül, einer kleindeutschen Lösung über die akute österreichische Zwangslage näher zu kommen, war damit gescheitert. Der Dualismus verschärfte sich, denn Österreich drängte nach Villafranca zurück in den Deutschen Bund. Gleichzeitig wurde der Ruf nach Einheit, ob groß- oder kleindeutsch in zahllosen Kundgebungen und Veranstaltungen wie den deutschlandweit beachteten Schiller-Feiern 1859 immer lauter. In dem Maße, in dem die öffentliche Meinung an Bedeutung gewann, rückte auch die Lösung der deutschen Frage verstärkt in den Vordergrund. Wien reaktivierte seine alten Pläne zu einem 70-Millionen-Reich in der Mitte Europas und strebte einen Beitritt zum Zollverein an. Preußen wollte genau dies verhindern und zog einen Handelsvertrag mit dem freihändlerischen Frankreich vor (29.3.1862).

Realpolitik

Auch wenn die Wiener Ordnung durch die beiden Kriege auf der Krim und in Oberitalien nachhaltig erschüttert worden war, so war sie damit nicht unwiederbringlich zerstört worden. Immerhin wurde zwischen 1853 und 1856 eine Eskalation zum Weltkrieg vermieden und auch in der Folgezeit kam es bis 1912 weiterhin zu einer Fülle von gegenseitigen Konferenzen und Vermittlungstätigkeiten. Gleichwohl ist unverkennbar, dass um die Jahrhundertmitte eine andere Zeit angebrochen war. Eine neue Generation von Politikern hatte das Ruder übernommen und leitete einen Gezeitenwechsel in der internationalen Politik ein. Aufgewachsen mit dem Legitimismus des Zeitalters Metternichs, suchten sie nach den Erfahrungen von 1848/49 den Bund mit den national-revolutionären Kräften, um auf ihre Nachbarn im Konzert zu drücken. Die bekanntesten Vertreter dieses neuen Typs waren Felix Schwarzenberg (1800–1852) in Österreich, Napoleon III. in Frankreich, Alexander Gortschakow (1798–1883) in Russland, Camillo Cavour in Italien und Otto von Bismarck in Preußen. Der Gegensatz zwischen liberalem Westen und konservativem Osten verlor seinen ideologischen Charakterzug. Im Vordergrund, so stellte der Publizist August Ludwig von Rochau (1810–1873) in seiner bekannten Schrift zu den „Grundsätze[n] der Realpolitik“ schon 1853 fest, stand nicht länger das Solidaritäts- und Konsensprinzip, ausgedrückt in der allseitig geachteten Vertragstreue, sondern vielmehr die machiavellistische Machtpolitik und pure Interessenwahrung. Im Staatsleben, so Rochau, gelte nichts anderes als das „Gesetz der Stärke“. So ist Bismarcks bekannter Ausspruch vom September 1863, dass die Geschicke Deutschlands nicht durch „Reden oder Majoritätsbeschlüsse“, sondern „durch Eisen und Blut“ entschieden würden, eine durch und durch typische und logische Schlussfolgerung aus seinen politischen Lehrjahren seit 1848. Auch Schwarzenberg und andere hatten schließlich Anfang der 1850er-Jahre die Zeit der ehernen Prinzipien in der Außenpolitik für beendet erklärt. Für den österreichischen Außenminister Bernhard von Rechberg (1806–1899) war nach den Erfahrungen des italienischen Konflikts die Solidarität der Mächte sogar gänzlich aufgehoben und das europäische Gleichgewicht nichts weiter als ein „toter Buchstabe“. In Preußen machte man sich vor diesem Hintergrund zunehmend Gedanken um die eigene Sicherheit und Schlagkraft.

2. Der preußische Verfassungskonflikt, die Berufung Bismarcks und dessen Anfänge

Heeresreform

Der Krieg in Oberitalien hatte noch einmal daran erinnert, dass eine nationale Einigung nicht kampflos zu erreichen sein würde. Aber bereits zuvor hatte König Wilhelm I. eine Reform des preußischen Heeres angekündigt. Tatsächlich lässt sich der Zustand der preußischen Armee Ende der 1850er-Jahre im internationalen Vergleich als stark verbesserungsfähig beschreiben. Das stehende Heer war von seinem Umfang von 140.000 Mann her auf dem Stand der Freiheitskriege stehen geblieben, obwohl die Bevölkerung von elf auf achtzehn Millionen angewachsen war. Großmachtambitionen waren damit nicht zu verfolgen. Allein Frankreich verfügte über mehr als 400.000 Mann, Österreich standen über 300.000 Soldaten zur Verfügung und der Zar leistete sich ein Millionenheer. Hinzu kam die Diskrepanz bei den Dienstzeiten. Die aktive Grundwehrdienstzeit preußischer Soldaten betrug offiziell drei, faktisch aber eher zwei Jahre. Österreich verlangte drei bis fünf, Frankreich vier bis sieben und Russland sogar zwölf Jahre Dienst an der Waffe. Die profilaktische Mobilmachung 1859, bevor es zum Frieden von Villafranca gekommen war, hatte überdies gezeigt, dass die Struktur aus Landwehr und stehendem Heer alles andere als effizient war und eher zu chaotischen Zuständen denn zu geordneter Mobilisierung führte. Abgesehen vom geringen Kampfwert der häufig nur in vierwöchigen Kurzlehrgängen ausgebildeten Landwehrrekruten, galt die Landwehr als potenzieller Revolutionsherd und wenig verlässlich. Eine Gesetzesvorlage sah deshalb im Februar 1860 vor, die regulären Streitkräfte zu verdoppeln, die Wehrdienstzeit auf drei Jahre zu verlängern und die Bedeutung der Landwehr zu verringern. Die Mitglieder des mehrheitlich aus Liberalen zusammengesetzten preußischen Abgeordnetenhauses lehnten jedoch jede Bedeutungsminderung der Landwehr, diesem Inbegriff einer bürgerlichen Armee, ab. Zwar wurde eine direkte Konfrontation mit der Krone zunächst noch vermieden, da der Landtag zumindest einer Vermehrung der Truppen zustimmte, aber nachdem eine Verbesserung des Heeresreformprogrammes ausgeblieben war, verweigerten die Abgeordneten 1862 schließlich die Bewilligung weiterer Mittel. Als auch Neuwahlen keine anderen Mehrheitsverhältnisse brachten, schien die Situation derart verfahren, dass Wilhelm sogar eine Abdankung erwog. In dieser Lage schlug Kriegsminister Albrecht von Roon den inzwischen nach Paris versetzten Otto von Bismarck als neuen Ministerpräsidenten vor. Ihm wurde die nötige Härte zugetraut, mit den widerspenstigen Abgeordneten fertig zu werden.

E

Albrecht Graf von Roon (1803–1879) fiel nach langer Dienstzeit an verschiedenen Stellen in der preußischen Armee, die ihn bis in den Rang eines Generalmajors gebracht hatten, 1858 durch seine Denkschrift zu Fragen der Modernisierung des preußischen Kriegswesens auf. Mit Beginn der Regentschaft des Prinzen Wilhelm wurde er 1859 zum Reorganisator des Heeres und zum preußischen Kriegsminister (ab 1861 auch Marineminister) berufen. An der Seite König Wilhelms I. und als fraktionsloser Abgeordneter im preußischen Abgeordnetenhaus focht er ebenso hartnäckig wie rhetorisch brillant für die preußische Heeresreform. Mit seinem denkwürdigen Telegramm vom 18. September 1862 und dem darin enthaltenden Satz „Periculum in mora! Dépêchez-vous!“ („Gefahr im Verzug! Beeilen Sie sich!“), veranlasste er Bismarck von Paris nach Berlin zu eilen, wo ihn der schon zur Abdankung bereite König Wilhelm I. zum Ministerpräsidenten ernannte. Mit seinen Reformen galt er nach den Siegen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich gemeinsam mit Bismarck und Moltke als einer der Väter der Reichseinigung. Am 16. Juni 1871 erhob ihn Kaiser Wilhelm I. in den Grafenstand.

Der Lotse geht an Bord

Bismarck nahm die Herausforderung an, obwohl die Mehrheit von seinem Scheitern überzeugt war. Bereits wenige Tage nach seiner Ernennung zum Preußischen Ministerpräsidenten hielt er eine programmatische Rede vor der Budgetkommission des Abgeordnetenhauses.

Q

„Eisen und Blut“ –Auszug aus Bismarcks Programmrede in der Budgetkommission, 30.9.1862

Aus Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 10, S. 139f.

 

Die öffentliche Meinung wechsle, die Presse sei nicht die öffentliche Meinung; man wisse, wie die Presse entstände; die Abgeordneten hätten die höhere Aufgabe, die Stimmung zu leiten, über ihr zu stehen. Wir haben zu heißes Blut, wir haben die Vorliebe, eine zu große Rüstung für unsern schmalen Leib zu tragen; nur sollen wir sie auch utilisieren. Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht; Bayern, Württemberg, Baden mögen dem Liberalismus indulgieren, darum wird ihnen doch keiner Preußens Rolle anweisen; Preußen muß seine Kraft zusammenfassen und zusammenhalten auf den günstigen Augenblick, der schon einige Male verpaßt ist; Preußens Grenzen nach den Wiener Verträgen sind zu einem gesunden Staatsleben nicht günstig; nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen – sondern durch Eisen und Blut.

Der neue Ministerpräsident appellierte an die nationale Stimmung und verwies auf zukünftige Aufgaben. Er dachte gar nicht daran, sich von Verfassungsfragen aufhalten zu lassen. Geradezu unverfroren begründete er sein Vorgehen, einfach ohne parlamentarische Zustimmung weiter zu regieren mit einer Verfassungslücke. So sähe die preußische Verfassung den Fall, dass sich Regierung und Parlament über den Haushalt nicht einigen könnten, schlichtweg nicht vor. Um aber die Handlungsfähigkeit des Staates in einem solchen Fall zu erhalten, sei es deshalb das gute Recht der Regierung, auch ohne genehmigten Haushalt weiter zu regieren. Innenpolitisch mit dem Rücken zur Wand, suchte Bismarck, das machte seine Rede deutlich, seinen Erfolg in der Außenpolitik.

Polenaufstand

Am 22. Januar 1863 brach ein polnischer Aufstand gegen Russland aus. In Frankreich, England und auch in Deutschland löste das Aufbegehren gegen die russische Knute allgemein große Sympathie aus. Nicht so bei Bismarck. Einmal mehr betrachtete er die polnische Frage ausschließlich aus dem Blickwinkel preußischer Staatsräson. Da Preußen selbst über polnische Provinzen verfügte, fürchtete er ein Überschwappen der Aufstandsbewegung auf preußisches Territorium. Darüber hinaus sah er ein freies Polen als einen potenziellen Bundesgenossen für jeden Gegner Preußens. Um Preußen gegen nationalpolnische Bestrebungen abzudichten und gleichzeitig eine vom russischen Außenminister Gortschakow betriebene Annäherung Russlands an Frankreich zu torpedieren, bot er St. Petersburg eine Kooperation bei der Niederschlagung des Aufstandes an.

Im Auftrag Bismarcks reiste Gustav von Alvensleben (1803–1881), Generaladjutant König Wilhelms I., Anfang Februar nach St. Petersburg, um dort eine Militärkonvention mit dem russischen Vizekanzler, Alexander Gortschakow, zur Niederwerfung des polnischen Januaraufstandes zu unterzeichnen – die sogenannte „Alvenslebensche Konvention“ vom 8. Februar 1863. Darin gestatteten Preußen und Russland sich gegenseitig, die Grenze des jeweils anderen zur Verfolgung der Aufständischen zu überschreiten. Auch wenn die Konvention auf britischen und französischen Druck hin bald wieder gekündigt wurde, so bewirkte sie eine nachhaltige Festigung der preußisch-russischen Beziehungen, die sich unter anderem in der neutralen Haltung Russlands gegenüber Preußen im Krieg gegen Österreich 1866 sowie im Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 manifestierte.

Scheitern der Bundesreform

Während sich Preußen und Russland annäherten, intensivierten sich auch die Kontakte zwischen Wien und Paris. Napoleon III., der sich für die Polen stark machte, versuchte Österreich gegen Preußen in Stellung zu bringen. Gleichzeitig nahm die Wiener Politik einen neuen Anlauf in der Bundespolitik zu Lasten Berlins. Dazu suchte Wien die Nähe zur Nationalbewegung und den Mittelstaaten. Ziel war es, ein Fünferdirektorium als Kollektivorgan mit österreichischem Vorsitz zu schaffen. Um eine Wiederholung von 1859 zu verhindern, sollte der Bundestag zukünftig mit einer Zweidrittelmehrheit den Bundeskrieg ausrufen können. Wenn Gebiete außerhalb des Bundes betroffen waren, sollte sogar eine einfache Mehrheit genügen. Das war klar auf die Bedürfnisse Österreichs und eine Ausschaltung Preußens gerichtet. Bismarck reagierte mit einer unverhohlenen Kriegsdrohung, sollte Österreich nicht die Parität im Bund und die preußische Hegemonie in Norddeutschland anerkennen. Wien jedoch hielt unbeirrt an seinem Reformkurs fest. Am 3. August 1863 tauchte Kaiser Franz Joseph plötzlich bei König Wilhelm I. in Bad Gastein auf und lud ihn zu einem Fürstenkongress am 16. August nach Frankfurt ein. Das Ziel war offensichtlich. Wien versuchte es mit einer Überrumpelungstaktik. Aber Wilhelm sagte die Beratung nach Rücksprache mit Bismarck ab. Damit war der Fürstenkongress von vornherein gescheitert. Der preußische Ministerpräsident stellte drei Bedingungen, von denen er wusste, dass Österreich sie keinesfalls akzeptieren konnte. So forderte er ein Vetorecht für die beiden Vormächte, eine paritätische Führung sowie ein nationales Parlament. Vor allem Letzteres wirkte aus dem Munde des Konfliktministers, der mit seiner Lückentheorie die preußische Verfassung mit Füßen trat, alles andere als glaubhaft. Gleichwohl entsprach diese Forderung der öffentlichen Meinung, die Bismarck längst als wichtigen Faktor, sowohl in der Deutschland- als auch der Europapolitik, erkannt hatte. Eine Lösung der deutschen Frage schien ihm nur durch eine Kooperation der preußischen Machtpolitik mit der Nationalbewegung möglich.

3. Drei Kriege bis zur Reichsgründung

a) Die schleswig-holsteinische Frage und die Auseinandersetzung mit Dänemark 1863/64

Das Scheitern der Bundesreformpläne und Preußens Absage an den Fürstenkongress markierten die erste Phase der neuen preußischen Außenpolitik unter der Führung Bismarcks. Sie stand vornehmlich unter dem Zeichen der Selbstbehauptung gegenüber Österreich, obgleich die genauen Ziele sowie Motive und der einzuschlagende Weg noch weitgehend im Unklaren blieben. Während in der Deutschlandpolitik die preußisch-österreichischen Beziehungen in einer Sackgasse endeten, deutete sich auf europäischer Ebene unmittelbar nach den polnischen Ereignissen Ende 1863 wiederum eine bilaterale Kooperation an. Den Anlass dazu bildete die komplexe schleswig-holsteinische Frage.

E

Die schleswig-holsteinische Frage beschrieb das komplizierte Beziehungsgeflecht der beiden „unteilbaren“ Elbherzogtümer Schleswig und Holstein mitsamt dem Herzogtum Lauenburg, die seit dem 15. Jahrhundert mit dem dänischen Königshaus in Personalunion verbunden waren. Seit 1815 gehörte lediglich das deutsch besiedelte Holstein, nicht aber Schleswig, in dem eine nicht unbeträchtliche dänische Minderheit lebte, zum Deutschen Bund. Im Zuge der Revolution von 1848/49 und deutscher Einigungsbestrebungen war die Frage auf die Ebene der europäischen Großmachtpolitik gerückt. König Friedrich VII. (1808–1863) von Dänemark musste den Verzicht auf die Einverleibung der Herzogtümer in den dänischen Staat erklären und damit von der nationalen Bewegung der „Eiderdänen“ abrücken. Das 2. Londoner Protokoll (1852) schrieb diese Regel fest und bestimmte darüber hinaus, dass das dänische Thronfolgerecht nach dem Aussterben der Linie Oldenburg diesen Bestimmungen Folge zu leisten habe. Danach war ausschließlich die Linie Sonderburg-Glücksburg erbberechtigt, Herzog Christian August von Sonderburg-Augustenburg (1798–1869) hatte für sich und sein Haus auf jegliche Ansprüche verzichtet. Dessen Sohn Friedrich (1829–1880) fühlte sich jedoch nicht an den Verzicht seines Vaters gebunden. Er konnte sich dabei auf die Unterstützung der deutschen Nationalbewegung sowie der deutschen Mittelstaaten berufen, die wie der Deutsche Bund nicht zu den Unterzeichnern des Londoner Protokolls gehörten. Österreich und Preußen waren dagegen als Signatarmächte an dessen Bestimmungen gebunden. In einer Zeit aufkommender nationaler Strömungen, denen Friedrich VII. mit einer Dänisierungspolitik in Schleswig zusätzlich Vorschub leistete, beschrieb die schleswig-holsteinische Frage daher eine höchst komplizierte und konfliktreiche Gemengelage. Diese eskalierte im Frühjahr 1863, als Friedrich VII. auf Druck des Kopenhagener Reichstages die Inkorporation Schleswigs in den dänischen Staatsverband verfügte. Es folgte die Bundesexekution, d.h. der Vollzug der Bundesakte nach Artikel 31 der Wiener Schlussakte gegen „pflichtwidrige“ Bundesglieder, und die Truppen Hannovers und Sachsens besetzten Holstein.

Konflikt mit Dänemark

Am 18. November 1863 bestätigte der Nachfolger König Friedrich VII. von Dänemark, König Christian IX. (1818–1906) die bereits von seinem Vater erlassene Gesamtverfassung für den dänischen Staat. Ihr Zweck war es, sich national von Deutschland weiter abzusetzen. Die Verfassung sah die endgültige Trennung der beiden, international als „untrennbar“ („up ewig ungedeelt“)