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Eine Mentalitäts-Melange aus Castingshow-Teilnehmer, Investment-Banker und Hells Angel breitet sich epidemisch aus. Weil mittlerweile jeder meint, seine Sicht auf die Dinge sei die einzig richtige und alle anderen müssten sie kennen, wird der Umgang mit den Zeitgenossen gnadenlos. On- und Offline. Wir haben 80 Millionen Partikularinteressen in allen Lebenslagen. Alles redet von Integration, die Wahrheit ist: Es gibt mehr Vereinzelung als jemals zuvor (nicht nur Individual-Tourismus, sondern auch Individual-Terrorismus). Single-Wohnungen sind der häufigste Haushalts-Typ in Deutschland. Disziplin ist vor allem in der Disziplin Selbstdarstellung zu beobachten. Für diese Tätigkeit haben immer mehr Menschen Zeit, obwohl sie sich wahnsinnig gestresst fühlen. Wir leben und kommunizieren über unsere Verhältnisse. Einen nicht unerheblichen Teil Verantwortung dafür tragen Politik, Wirtschaft und Medien. Sie haben eine Ethik der Quantität etabliert (Rendite und Roter Teppich). Man zappt sich durch die 24-Stunden-Gesellschaft. Der Latte to go im life to go. Kurzfristige Effizienz ist der Antriebsmotor von Parteien, Unternehmen und einem Heer von rast- und maßlosen, schnell gelangweilten Menschen, die Strebsamkeit oft nur in Bezug auf Körper und Konto kennen und denen kein Job und Partner gut genug sind. Loses Mundwerk, lose Beziehungen. Die arbeitgebende Seite begünstigt diese unheilvolle Tendenz: Prekäre Beschäftigungs-Verhältnisse werden in Deutschland zur Regel. Trotzdem nennt man sie noch atypisch. Fast acht Millionen Menschen sind auf staatliche Hilfe angewiesen. Wir haben die wenigsten Kinder in Europa, aber nahezu jedes fünfte unter drei Jahren lebt in einem Hartz IV-Haushalt. Solch ein Land, in dem außerdem bald mehrere Millionen Demenzkranke Hilfe brauchen, hat nicht nur Zuwanderung, sondern vor allem Zusammenhalt bitter nötig. Doch unsere Entscheidungsträger schauen nur noch über den Tellerrand, pochen darauf, dass andere ihre Hausaufgaben machen und ignorieren, dass in diversen Kontexten die eigene Versetzung gefährdet ist. Die wirtschaftliche Lokomotive Europas hat in sozialer Hinsicht den Rückwärtsgang eingelegt. Es fehlt an Solidarität und innerer Sicherheit. Noch wird das Volk, das zunehmend Gründe hat, unzufrieden zu sein, mittels suggerierter Nähe weit entfernt stattfindender Katastrophen narkotisiert. Hauptsache, alle haben schnelles Internet!
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Seitenzahl: 126
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Für Smf, die Kraftquelle und Kompass zugleich sind und für meine Eltern, ohne die das vielleicht nicht so wäre!
"Die ganze Richtung passt mir nicht!"
Fabians Freund Labude in Erich Kästners "Der Gang vor die Hunde"
Einleitung
Ohne Ruhe
Ohne Kontinuität
Ohne Selbstreflektion
Ohne Ernsthaftigkeit
Ohne Verbindlichkeit
Ohne Glaubwürdigkeit
Ohne Autorität
Ohne Nachwuchs
Ohne gesunden Patriotismus
Ohne festen Job
Mit Volldampf
"Es ist alles nicht einfacher geworden durch die Liberalisierung", meinte die Außendienstlerin unseres Energieversorgers im Beratungsgespräch. Nur, dass der Kunde eben mehr Möglichkeiten habe. Die Optionsvielfalt für das Individuum ist riesig, die Biographie bei weitem nicht mehr so stark wie früher durch die Geburt vorgegeben. Nie war so viel Selbstbestimmung. Für eine offene Gesellschaft gehört sich das auch. Doch die - nach 1945 dringend notwendig gewesene - Autonomie hat über das Ziel hinausgeschossen. Immer mehr Zeitgenossen zappen sich durch's Leben. Sie sind nicht nur physisch, sondern vor allem mental auf der Walz. Die Zahl der emotionalen Vagabunden, wie der echte Doktor Faust, die historische Vorlage für Goethes Tragödie, einer war, steigt kontinuierlich. Der Latte to go im Life to go. "Das Leben ist ein Nehmen und Gehen", stand auf einem Schild vor einem Café.
Wie sang Kris Kristofferson: "Freedom's just another word for nothing left to lose!" Erich Kästners "Fabian" wollte schon in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts von dieser Freiheit befreit werden. Die Menschen haben bald genug von der Beliebigkeit. Wenn Heterogenität zum Dogma wird, wirkt Vielfalt so verwirrend wie Einfalt beengend. Der Philosoph Byung-Chul Han spricht daher auch von einem "Imperativ": man dürfe heutzutage nicht man selbst sein, man müsse! Simplifizierung lautet der zunehmend zu beobachtende Reflex auf dieses "Leiden an Unbestimmtheit" (Georg Wilhelm Friedrich Hegel). Die gesamte Gesellschaft benötigt wieder mehr Verbindlichkeit. Mehr Verbindlichkeit bedeutet auch mehr Verbundenheit. Und mehr Verbundenheit bedeutet einen größeren Zusammenhalt. Viele Jungen und Mädchen wissen nicht mehr, woran sie bei ihren Eltern sind. Und die wissen nicht mehr, woran sie bei ihren Arbeitgebern sind. Die Stabilität in China hat einen hohen Preis: Die individuelle Unfreiheit. Die Freiheit in Deutschland hat einen hohen Preis: Die politische Handlungsunfähigkeit. Irgendwo dazwischen liegt das Ideal. Jorgen Randers resümiert in seinem neuen Bericht an den Club of Rome, 40 Jahre nach dem weltberühmten "Die Grenzen des Wachstums": "Ziehen Sie in ein Land, das sich nicht allein auf Demokratie und Marktwirtschaft verlässt." Ein beunruhigender Appell, der leider wohlbegründet ist.
Jeder denkt und beurteilt vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen. Ausnahme-Beobachter wie Hannah Arendt oder Karl Popper haben der Menschheit nahegelegt, sich von übertriebenem Kollektivismus zu verabschieden. Der von ihnen erlebte war in Faschismus ausgeartet. Wer in der DDR gewohnt und nicht zum Macht-Apparat gehört hat, wird den real existierenden Sozialismus als erzwungenen Kollektivismus aufgefasst haben und Unzufriedenheit mit den Gegebenheiten im vereinigten Deutschland vermutlich nicht nachvollziehen können. Sicher muss man insgesamt für Lebens-Zeit und -Ort dankbar sein - gerade im globalen Maßstab (Menschen, die aus Kriegsgebieten zu uns flüchten, werden einen Großteil der in diesem Buch auftauchenden Kritik als nicht der Rede wert erachten). Die Nachteile des individualistischen Liberalismus kommen allerdings mehr und mehr zum Tragen. Spätestens seit der Digitalisierung der Kommunikationstechnologien erhebt er die eigene Person zum Nabel der Welt. "Zu keiner Zeit hat sich das Ich so viel mit sich selbst beschäftigt", sagt der Soziologe Gerhard Schulze. Der britische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton sagt aber auch: "Im Augenblick seines größten Triumphs erweist das Ich sich als leer." Gleichzeitig ist ein privat dominierter autoritärer Kapitalismus entstanden, der dafür sorgt, dass vor allem global agierende Konzerne von Produktion und Distribution profitieren - ob es sich um Waren im ursprünglichen Sinne oder um Dienstleistungen handelt. Hier ist der Einzelne lediglich Mittel zum Zweck. Diese zwei Entwicklungen führen nicht zur Massenvernichtung, für die Gesellschaft gesund sind sie aber ebenfalls nicht. Außerdem bieten sie Angriffsflächen für Gemeinschafts-Extremisten - ob chauvinistische oder religiöse. Deutschland sei ökonomisch die Lokomotive in Europa, heißt es immer wieder. In sozialer Hinsicht haben wir den Rückwärtsgang eingelegt. Wenn man dramatisieren wollte, könnte man sogar sagen: Diesbezüglich sind WIR auf dem Weg zum failed state!
"Ich weiß nicht, ob die Beschleunigung der Gesellschaft so gut für uns Menschen ist." Das sagt kein Bergführer, sondern Rennfahrer Sebastian Vettel. Selbst unsere Schritt-Geschwindigkeit hat laut Studien zugenommen. Unser Gehirn, diese komplexeste aller bekannten Strukturen, muss mehr denn je unterscheiden können zwischen wichtig und unwichtig, wesentlich und überflüssig. Der Frontallappen der Großhirnrinde, der für das Aussortieren verantwortlich ist, ist nicht zu beneiden. Hinzu kommt, dass wir die einzige Gattung sind, die sich ihrer Endlichkeit bewusst ist. Schon Voltaire schrieb an seinen Brieffreund Friedrich den Großen: "Der Tod stimmt mich traurig!" Vielleicht führt dieser intellektuelle Vorsprung in Kombination mit den schier unendlichen Möglichkeiten des Zeitvertreibs (ein missratenes Kompositum: Zeitvertreib, ist sie neben der Gesundheit doch das kostbarste Gut) zu der um sich greifenden Flüchtigkeit. Der Konsum von Tiefkühlkost hat sich in Deutschland binnen 30 Jahren verdreifacht. Wir stehen ständig unter Strom, sind ständig auf dem Sprung. Das Ruhegebot, an das die Autoren des Buchs "Deutschland - erste Informationen für Flüchtlinge" erinnern, besteht noch immer zwischen 22 Uhr und 6 Uhr. Auf dem Papier. Doch wenn die Verkäuferin beim Bäcker um 17.30 Uhr sagt: "Schönen Feierabend!", kann sie sich nicht mehr sicher sein, dass der Kunde eben jenen jetzt hat. Jeder Vierte, der am Samstag Brötchen holt, kommt von der Arbeit oder muss noch hin (26 % der Erwerbstätigen).
Die Frau auf der Nordsee-Hallig hat – trotz der verständlichen Sehnsucht nach Abwechslung – Recht: "Jede Vereinfachung ist ein Gewinn für das Leben!" Zumindest für die Lebensführung. Denn sie verringert das Risiko psychischer Entropie, einen Zustand innerer Unordnung (Ertragsreduktion erhöht die Güte des Rebmaterials). Wer dieser Tage einen Kindergeburtstag ausrichtet, wird verblüfft feststellen, dass sich Drittklässler bei den Eltern ihrer Schulfreunde wie auf Ecstasy benehmen (daher beschließen immer mehr Erziehungsberechtigte, solche Feiern "outzusourcen").
Die Nordsee-Insel Juist ist ein Gegengift zur Atemlosigkeit unserer Tage. Wenn man die Fähre verlässt, betritt man eine Art entschleunigter Miniatur-Welt, in der das lauteste Geräusch von Pferdekutschen produziert wird. Wer geht, sieht im Schnitt mehr als derjenige, der fährt, wie Johann Gottfried Seume Anfang des 19. Jahrhunderts auf seinem Spaziergang nach Syrakus bemerkte. "Mit Knappheit kommen wir besser zurecht als mit Überfluss", so Querdenker und Bestseller-Autor Nassim Nicholas Taleb. Man hat den Eindruck, die Menschen langweilen sich umso mehr, je größer die Auswahl an potentiellen Beschäftigungen ist. Oder wurde früher so häufig im Radio davor gewarnt, dass von Brücken Steine auf die Autobahn geworfen werden?
Man muss es so sagen: Der Mensch von heute hat mehr Möglichkeiten als Verstand. Wir leben und kommunizieren über unsere Verhältnisse. Es ist eine philanthropische Prognose, wenn der Philosoph Wilhelm Schmid meint, die Menschen würden vielleicht noch 100 Jahre brauchen, um mit der Freiheit und dem Zustand der freien Wahl zurechtzukommen. Wer sich aufmerksam umschaut und -hört, stellt fest: Der Perzeptions- und Options-Tsunami der Postmoderne löst zunehmend ein Verlangen nach Reduktion von Komplexität aus, nach Überschaubarkeit. Und das nicht nur bei den älteren Zeitgenossen, denen sich die Welt zu schnell dreht. Der Erfolg national orientierter Parteien ist ein Indikator hierfür. Die Sehnsucht nach Schwarz-Weiß-Malerei ist auch unter Jüngeren immer mehr zu beobachten.
Weltweit gibt es mehr Menschen mit Handy als mit Zahnbürste. Ende 2014 haben sich 60 % der Deutschen für das neue Jahr weniger Stress gewünscht. Man möchte ihnen zurufen: Nehmt Euch vor, Euch weniger vorzunehmen! Sich medial zu beschneiden, ist ein nicht zu unterschätzender Anfang. Immer und überall Zugriff auf die ganze Welt zu haben, ist psychologisch kein Fortschritt, sondern Überforderung. Die Zahl von Teenagern, die wegen Depressionen behandelt werden, nimmt kontinuierlich zu. Die Ärzte schießen dabei gerne mit Kanonen auf Spatzen: 8-12-Jährige, bei denen ADHS diagnostiziert wurde, bekommen Neuroleptika verschrieben - Medikamente, die eigentlich gegen Schizophrenie und Psychosen eingesetzt werden.
Eine Vertreterin von Google teilte den EU-Politikern Anfang 2015 mit, dass jede Minute rund 300 Stunden neues Video-Material bei YouTube hochgeladen werden. Der Watzlawick-Satz "Man kann nicht nicht kommunizieren", erhält im digitalen Zeitalter ein modales Geschwisterchen: Man will nicht nicht kommunizieren. Es ist eine philosophische Frage des 21. Jahrhunderts, ob diese Form der Maßlosigkeit weniger verwerflich ist als eine auf den Konsum greifbarer Güter ausgerichtete Unersättlichkeit.
Der Chef der Computermesse CeBIT wies im Vorfeld der Veranstaltung 2014 darauf hin, dass 90 % der verfügbaren Daten in den vergangenen zwei (!) Jahren entstanden sind. Früher hieß es: Sage nicht alles, was Du weißt, aber wisse immer, was Du sagst! Das Motto von heute lautet eher: Sage (und vor allem: schreibe) immer alles, selbst wenn Du nichts weißt! Resonanz statt Relevanz. 2014 wurden von deutschen Accounts über 500 Milliarden Mails verschickt. Dass zunehmend schriftlich kommuniziert wird, ist nach Auffassung der amerikanischen Soziologin Sherry Turkle eine Entwicklung, die den Menschen ermöglicht, "sich ganz ungeniert vor sozialen Situationen zu verstecken". Eine Studentin klagte mir in einer Veranstaltung ihr Leid: Vor drei Tagen sei ihr i-phone kaputt gegangen. Sie müsse nach Berlin und fühle sich nun aufgeschmissen. Ohne Navi. Der Kauf einer Stadtkarte stand ihr arg bevor. Im schlimmsten Fall müsste sie wildfremde Menschen ansprechen und nach dem Weg fragen!
Facebook-Gründer Mark Zuckerberg hat die Hoffnung geäußert, dass das Internet unseren Planeten ehrlicher machen wird. Eine Freundin erzählte, bei der Arbeit würden sich Kollegen innerhalb des selben Büros WhatsApp-Nachrichten schicken - so könnten sie unauffälliger lästern. Das die Ehrlichkeit steigernde Whistleblowing erhält einen zusätzlichen Distributionskanal, das stimmt. Aber nur, weil die Menschen jedes kleinste private Detail öffentlich machen, ist nicht weniger Lug und Trug in der Welt. Eine weitere Studentin warf mal selbstkritisch ein: "Das perfekte Leben, wie wir es im Internet präsentieren, führt doch eh keiner!" Das alltägliche Theaterspielen, das der Soziologe Erving Goffman 1959 seiner Spezies bescheinigte, vollzieht sich nun auf einer weiteren Bühne.
Hinzu kommt, dass die Anonymität im Internet einen derart hohen Stellenwert hat, dass ein mehrfach auf einem Portal verleumdeter Arzt vor dem Bundesgerichtshof mit seiner Klage scheitert, zu erfahren, wer diese Dinge über ihn geschrieben hat. Der Schutz der Persönlichkeitsrechte sei laut Telemediengesetz kein Grund, die Anonymität aufzuheben, so die Richter. Juristisch geförderte Feigheit! Ich war äußerst angenehm überrascht, als die junge Klassenlehrerin meines Sohnes kurz nach seiner Einschulung in einem Informationsblatt für die Eltern von einer "Telefonkette" schrieb und es nicht für selbstverständlich hielt, uns für entsprechende Fälle als "Freunde" auf Facebook zu werben. Dass das Internet für die nächste Generation eine Selbstverständlichkeit ist, wurde mir klar, als der 5-Jährige plötzlich im Arbeitszimmer hinter mir stand, auf den Monitor starrte und fragte: "Was machst Du? Bist Du auf sandmännchen.de?
Auf einem Ausflugsdampfer im hohen Norden der Republik hörte ich einen etwa 11-jährigen Jungen trotz strahlenden Sonnenscheins und imposanter Landschaft stolz verkünden: "Justin, ich kann jetzt endlich Level 18 machen!" Der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (BITKOM) meldete schon 2011 hocherfreut: "Jeder dritte Deutsche ist ein Gamer." Deutschland im 21. Jahrhundert: statt Leseratten und Rechenfüchsen immer mehr Spielkälber. Das besonders Fatale: "Bis heute dreht sich der Großteil aller Spiele um den Kampf um Leben und Tod des pixelhaften Alter Egos auf dem Bildschirm", so Georg Rüschemeyer in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Wenn ein Vierjähriger das Smartphone des Vaters bedienen, aber nicht rückwärts laufen kann, ist die Priorität falsch gesetzt. Statt sie vor das iPad zu setzen, sollten Mama und Papa die Kleinen lieber zum Schwimmunterricht bringen. Diese Fähigkeit beherrscht mittlerweile nur noch jedes zweite Kind in Deutschland, das die Grundschule hinter sich hat. Eine Freundin berichtete, wie erstaunt ihre Kolleginnen waren, als sie hörten, dass der 8-jährige Sohnemann nicht permanent nach dem Fernseher, der Wii oder dem Nintendo fragt. Sie hätten bei sich zu Hause - auch während der Ferien - ständig Terz. Man hat den Eindruck, ohne bewegte Bilder fühlt sich der Nachwuchs amputiert (Marshall McLuhan bezeichnete Medien ja auch als "Extensions of Man"). Doch was will man von den Kids erwarten, wenn die Eltern diese digitale Abhängigkeit vorleben: Der Vater eines Freundes meines Sohnes streckte mir einmal sein i-phone entgegen, als wir in einer Turnhalle saßen. Ich sollte mit meinem Finger einen fiktiven Ball auf dem Display am fiktiven Herunterfallen hindern, während unsere realen Söhne einem realen Fußball hinterherrannten. Als ich dankend ablehnte, sagte er etwas verständnislos: "Das ist die heutige Zeit!"
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein würde heute vermutlich behaupten: "Die Grenzen meines Empfangs sind die Grenzen meiner Welt!" Der Bundesgerichtshof urteilte Anfang 2013, dass die ständige Verfügbarkeit des Internet auch für Privatpersonen "von zentraler Bedeutung" ist und stellte dieses Gut auf eine Stufe mit Wohnung und Auto. Der 1995 von Nicholas Negroponte vorausgesagte "Wechsel vom Atom zum Bit" ist glücklicherweise noch nicht erfolgt - Komplementarität (vielleicht sogar mit Schlagseite Richtung Bit) ist aber nicht mehr von der Hand zu weisen: Es existiert sogar das Konzept der eDNA. Dessen Entwickler Adrian Neal behauptet, Wortwahl, Tipprhythmus und generelle Interaktion mit dem Smartphone seien genauso individuell wie die biologische DNA.
Der Brockhaus wird nicht mehr gedruckt. Die Ausgabe von 2006 wird die letzte der berühmten deutschsprachigen Enzyklopädie gewesen sein. Hendrik Werner schrieb im "Weser-Kurier" nachvollziehbar betrübt über diese Entscheidung, zeitnahe Updates würden in der digitalen Ära ungleich höher bewertet als das sorgsame Sammeln, Bewerten und Aufbereiten von Wissen. Bei der Vorstellung eines neuen Spielers wurde der Fußballer von einem Reporter gefragt, was denn seine Stärken seien. "Schaut YouTube!", lautete die Antwort.
Der Schweizer Ökonom Alan Frei sagt über sich selbst: "Wo immer ich meinen Laptop aufklappe, ist mein Zuhause." Über einen jungen Autor konnte man lesen: "Lebt in Berlin und im Internet". Das Bundesministerium für Verkehr hat im Namen nun auch den Aufgabenbereich "digitale Infrastruktur". Und Google bestieg 2014 erstmals den Thron der weltweit teuersten Marken. Man ist "always connected", aber die Verbindungen im Hirn, die noch vor wenigen Jahrzehnten die Telefonnummern der Freunde gespeichert haben, liegen brach. Der ehemalige SPD-Vorsitzende Björn Engholm, der heute als Anti-Burnout-Berater unterwegs ist, meint, die Leute müssten wieder lernen, dass ihr Zugang zur Welt nicht allein das Internet ist, sondern die Summe ihrer fünf Sinne: sehen, hören, riechen, schmecken, tasten.
Es ist fantastisch, wie kleine Kinder alle paar Meter Dinge als wahrnehmungswürdig erachten. Während wir Großen ignorant von A nach B hasten, verharren sie fokussiert und ohne jeglichen Zeitdruck. Es gibt sogar die Bezeichnung "spazieren stehen". Unsere Aufmerksamkeit ist eine starke Währung, nicht ohne Grund heißt es im Englischen "pay attention". Aber sie ist eben nur begrenzt vorhanden, während die Nachfrage unaufhörlich steigt (was laut Cyber-Psychologin Catarina Katzer zu einem "Kontext-Kollaps" führen kann). Das, was der Kinderpsychologe Armin Krenz "Seelenproviant" nennt, kann kein noch so modernes Gerät generieren, nicht mal ein sprechendes Handy. Es ist kein Beleg für gesellschaftlichen Fortschritt, wenn die Zahl der "Likes" anderer Nutzer auf der eigenen Facebook-Seite darüber entscheidet, ob es ein guter Tag war.
Dass der wachsende Einflussbereich der Technik, gerade der Kommunikationstechnik, bei der Zunahme von psychischen Problemen auch eine Rolle spielt,