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»Wir wissen, wie sich die Deutschen benehmen, wenn sie zu viel trinken, wie sie tanzen, klatschen, lachen und flirten. Wie sie schwindeln, angeben und sich schämen. Wie sie ihre Partner behandeln, wie sie es mit dem Geldausgeben halten und wie sie glücklich sind oder grantig, weil sie gerade Hunger und Durst haben.« Wenn die Wiesn-Kellnerinnen Stefanie Baumann und Maria Linner einen Blick hinter die Kulissen des Oktoberfestes gewähren, zeigen sie mehr als die verrückten und witzigen Seiten des Spektakels. Liebevoll und heiter entblößen sie die deutsche Seele. Und bei dieser Gelegenheit auch gleich die aller anderen Gäste dieses einzigartigen Festes.
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Seitenzahl: 205
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Stefanie Baumann
Maria Linner:
Deutschland im Bierzelt
Alle Rechte vorbehalten
© 2024 edition a, Wien
www.edition-a.at
Cover: Bastian Welzer
Satz: Bastian Welzer
Gesetzt in der Premiera
Gedruckt in Deutschland
1 2 3 4 5 — 27 26 25 24
ISBN: 978-3-99001-736-4
eISBN: 978-3-99001-737-1
Stefanie Baumann
Maria Linner
Die Leiden und Freuden der Oktoberfest-Kellnerinnen
edition a
Dabei sein ist alles
So sind wir Deutsche
Ausländer auf der Wiesn
Die Deutschen, die Wiesn und das Geld
Die Deutschen, die Wiesn und der Dreck
Die Deutschen, die Wiesn und die Liebe
Deutsche außer Rand und Band
Darum liebe ich meine deutschen Wiesnbesucher
Die Deutschen, die Wiesn und die Menschen hinter den Kulissen
What it takes to be a good Wiesnbedienung
Ein Tag im Leben einer Wiesn-Kellnerin
Die Abgründe des berühmtesten Bierfests der Welt
Besondere Wiesn-Momente
Time to say goodbye
Was machen die da?
Ja, sind die denn verrückt geworden?
An meinen ersten Arbeitstag als Wiesn-Bedienung erinnere ich mich noch besonders gut, vielleicht, weil er für den ganzen Wahnsinn der Wiesn steht. Es war im September 2003, und ich arbeitete im Hacker. Das Zelt der traditionsreichen Münchner Brauerei Hacker-Pschorr zählt schon lange zu den großen Festzelten auf dem Oktoberfest. Etwa 6.800 Menschen haben darin Platz, und weitere 2.500 im dazugehörigen Biergarten. Jeden Tag füllt es sich als eines der ersten und bleibt dann bis zur Sperrstund’ durchgehend voll. »Himmel der Bayern« wird das Zelt genannt, weil sich die Gäste dort genau so wohlfühlen sollen.
Nur für die Bedienungen ist es nicht gerade der Himmel, denn es geht zu wie in einem Bienenstock. So war es auch an meinem allerersten Tag als topmotivierte, frischgebackene Wiesn-Kellnerin. Ich nahm Bestellungen auf, balancierte übervolle Tabletts auf meiner Schulter, ermahnte Gäste, die auf Tische klettern wollten (und es taten) und verteilte literweise Bier und kiloweise Schweinshaxen. Die Musik der Band dröhnte durchs Zelt, stolz präsentierten die Leute ihre Trachten. Alles ein lautes, buntes und zünftiges Fest der Lebensfreude. Und ich mittendrin. Ich fühlte mich stark, ich fühlte mich am richtigen Fleck zur richtigen Zeit, und ich sehe sie noch vor mir, die vier großen Männer, die das brechend volle Zelt betraten, um sich nach einem freien Platz umzusehen. Wie das meistens so ist im Hackerzelt, vor allem am Wochenende, hatten sie Pech: Alles besetzt. Ich hörte sie diskutieren, ihrem harten Akzent nach waren sie keine Bayern, sondern kamen aus dem hohen Norden. Sie beschlossen, nach draußen zu gehen und es sich im hinteren Teil des Biergartens gemütlich zu machen, wo es noch reichlich leere Bierbänke gab.
Genau in dem Moment, als sie bei mir vier Hendln und vier Maß Bier bestellten, begann es zu nieseln. Ich spreche so gut wie alle Gäste mit »du« an, das ist auf der Wiesn ganz normal. Denn die Stimmung ist gelöst und locker, wir glauben einander ja irgendwie zu kennen, es ist wie in einer großen Familie. Viele der Gäste aus Bayern, Mitteldeutschland, dem Norden und der ganzen Welt kommen Jahr für Jahr. Sie spüren, dass die Wiesn zu Deutschland gehört wie die Nationalhymne oder das Bundeswappen. Meiner Meinung nach wirkt die Wiesn ohnehin wie ein Virus: Sind wir einmal damit infiziert, werden wir es kaum noch los. Einmal Wiesn, immer Wiesn. Das gilt für die Gäste genauso wie für das Personal.
Jetzt musste ich erst mal dafür sorgen, dass auch meine norddeutschen Gäste gute Erinnerungen mit nach Hause nehmen konnten. Deshalb fragte ich die vier Männer im Nieselregen: »Seid ihr sicher, dass ihr hier sitzen wollt?« Und ich gab zu bedenken: »Wir haben hier zwar schon Schirme, aber die reichen nicht aus. Ihr werdet trotzdem nass werden!«
»Wir bleiben«, sagte einer mit kräftiger Stimme.
»Wie ihr wollt,« antwortete ich leicht verwundert. Vielleicht würde es ja ohnehin gleich wieder aufhören. Ich ging hinein, um die Biere zu holen und wie immer war dort die Hölle los. Das Zelt bebte, obwohl es gerade erst Mittag war. Dass ich an meinem Einstand gleich die schwerste Schicht mit den abgelegensten Tischen abgekriegt hatte, war kein Zufall: Wir Anfänger sollen Erfahrung sammeln und uns hocharbeiten. Erst, wer zeigt, was er kann, bekommt eine bessere Position.
Anfangs blieb mir also keine andere Wahl, als im entlegenen, hinteren Teil des Biergartens zu arbeiten. Dort saßen die Gäste verständlicherweise nicht besonders gern. Alle wollten lieber vorne sitzen, bei der Musik, im Mittelpunkt des Geschehens. Für uns Kellner bedeutet der hintere Teil des Biergartens weniger Gäste, und damit auch weniger Umsatz und weniger Trinkgeld. Noch dazu macht uns manchmal, wie auch an diesem Tag, das Wetter einen Strich durch die Rechnung, wenn Gäste vor dem Regen fliehen und wir wenig verdienen.
Aber diese vier Norddeutschen schien das schlechte Wetter nicht zu stören, sie blieben beharrlich sitzen. Dabei wurde der Regen immer stärker. Dicke Tropfen platschten in den weißen Schaum, als ich mit den Maßkrügen die zwanzig Meter zu ihrem Tisch lief. Es war ein Sauwetter! Wenig später brachte ich das Essen und traute meinen Augen kaum. Fast hätte ich laut gelacht. Die vier hatten sich einen Unterstand gebaut. Dafür hatten sie links und rechts von ihrem Platz Bänke aufeinandergestapelt. Zwei Tische hatten sie zu einem notdürftigen Dach umfunktioniert. Das wackelige Gebilde sah aus wie ein kleines Haus, das allerdings jeder etwas stärkere Windstoß zum Einsturz bringen würde. Gegen den Regen war das Ganze leider wirkungslos. Die Teller der Männer waren binnen Sekunden voll Wasser. Ihre Hendln schwammen regelrecht darin. Meine vier wackeren Norddeutschen schien auch das nicht zu stören, vielleicht waren sie das Essen auf hoher See gewohnt. Verwässertes Bier und eingeweichte Hendln, mich hätten sie damit jagen können.
Diese erste Episode als Oktoberfest-Kellnerin zeigte mir, welche Bedeutung die Wiesn für die Gäste hat. Die Sturheit der Norddeutschen rührte mich. Sie wollten halt unbedingt dabei sein, um jeden Preis. Und wer dabei sein will, ist zu vielem bereit. Wir Wiesn-Bedienungen können nicht nur davon ein Liedchen singen. Was abseits des Oktoberfests vollkommen verrückt wäre, fällt hier nicht einmal auf. Das ist der ganz normale Wiesn-Wahnsinn. Ganz Deutschland liebt ihn.
Übrigens habe ich mich noch gar nicht richtig vorgestellt. Ich bin die Steffi, Ihre Wiesn-Bedienung, die Maria ist meine Schwester, sie arbeitet auch am Oktoberfest. Gemeinsam haben wir dieses Buch für Sie und all unsere anderen Wiesn-Gäste geschrieben. Weil’s keine Besseren gibt.
Ich bin nicht allein auf dem Oktoberfest, und ich war auch nicht die erste Wiesn-Bedienung in meiner Familie. Schon meine Tanten Maria und Anita haben auf der Wiesn gearbeitet. Wir sind eine gar nicht mal so kleine Bande, und das schon seit langem. Das sage ich durchaus mit ein bisschen Stolz.
Als Kind habe ich meine Tanten bewundert. Sie waren selbstbewusste, »gstandne« und fleißige Frauen, die schon als Kinder auf Großvaters Bauernhof mit angepackt haben. Sie haben die Schweine und Hühner versorgt und den Stall ausgemistet. Außerdem waren sie gute Köchinnen. All das haben sie mit einer beeindruckenden Leichtigkeit erledigt, obwohl die Arbeit hart war, vor allem im Sommer, wenn es im Stall unerträglich heiß wurde. Davon können wir uns heute alle eine Scheibe abschneiden. Meine fünf Geschwister und mich hat das geprägt, auch wir haben immer mitgeholfen. Tante Anita lebt noch, sie ist über siebzig, Maria ist verstorben, sie wäre heute über neunzig.
Als ich am Oktoberfest anfing, war meine Tante Anita noch in Amt und Würden. Besonders gern erinnere ich mich an schöne gemeinsame Wiesn-Pausen. Seit jeher gibt es hinter den Kulissen Rückzugsorte fürs Personal. Eine Kantine zum Beispiel, wo wir einander treffen und plaudern. Wir kommen zusammen und erzählen von unseren bittersüßen Wiesn-Leiden.
Zum Beispiel, dass wir beim Servieren Biere umgeschüttet haben. Klingt harmlos, aber verschüttetes Bier muss man als Kellnerin selbst bezahlen und bei zweieinhalb turbulenten Wochen kann da schon was zusammenkommen, wenn man nicht höllisch aufpasst. Auch Stürze und Verletzungen gehören dazu. Ich bin in all den Jahren aber nur zweimal gestürzt. Bei einem dieser Stürze habe ich mich an den Scherben eines Maßkrugs geschnitten, habe es aber nicht einmal bemerkt. Vermutlich lag es am Adrenalin, das uns durch die raue Zeit trägt. Auf der Wiesn heißt es: »Zähne zam und weiter.« Für Selbstmitleid bleibt keine Zeit.
Warum tun wir uns das trotzdem an?
In meinem Fall spielte sicher meine Tante Maria mit ihrer Wiesn-Schwärmerei eine entscheidende Rolle. »Steffi, es gibt nichts Schöneres als das Oktoberfest. Egal, ob gerade viel los ist oder wenig. Auf der Wiesn ist’s immer lustig. Da gibt es gutes Essen und gutes Bier.« Also kam es, wie es kommen musste. Die Töchter der beiden Tanten, jede hatte drei, fingen wie ihre Mütter auf der Wiesn an. Auch sie sind inzwischen schon im Ruhestand. Als Kind habe ich sie immer bewundert und ein bisschen beneidet, weil ich sah, was ihnen die Gäste so alles schenkten. Bunte Plüschtiere und große und kleine Lebkuchenherzen. Das alles wollte ich auch.
Meiner jüngeren Schwester Maria ging es genauso. Heute arbeiten wir im selben Team im Löwenbräu, am Balkon.
Dort fühle ich mich immer wie auf einer schillernden, bunten Party, die einem Jahrmarkt gleicht. Es ist, als würde man die Realität für ein paar Stunden verlassen und in eine farbenfrohere, intensivere Welt eintreten. Das »Löwenbräu« ist bekannt, es gehört zu den größten Zelten auf der Wiesn. Über dem Haupteingang sitzt ein riesiger Löwe, natürlich kein echter, und trinkt genüsslich sein Bier. Die Rundbögen des Zeltes sind mit gelben Schleifen geschmückt, die Boxen weiß-blau dekoriert.
Wie jedes der großen Zelte ist auch das Löwenbräu in drei Bereiche aufgeteilt: die »Boxen« an den Rändern, das sogenannte »Schiff« in der Mitte und die Galerie im Obergeschoss. Die Gäste sitzen an Bierzelt-Garnituren für jeweils acht bis zehn Personen.
5.800 Menschen haben bei voller Auslastung in diesem Zelt Platz, im Biergarten kommen noch 2.700 dazu. Um dieser Anzahl Frau zu werden, müssen wir viele Bierkrüge stemmen. Ich bin bereits stolz auf meine 13 Maß, die ich auf einmal heben kann, aber meine kleine Schwester Maria, die Sie hier noch besser kennenlernen werden, schafft sogar 14. Sie ist damit ein wahres Wiesn-Wunder! Auch davon werden Sie noch lesen.
Es ist gut, eine Verbündete zu haben, denn mit der eigenen Schwester ist es noch mal etwas ganz anderes. Wir lachen über dieselben Dinge. Wir können uns schnell und gut organisieren, weil keine von uns beleidigt ist, wenn der Ton forsch wird. Zimperlich darfst du auf der Wiesn ohnehin nicht sein.
»Du kannst jetzt keine Pause machen!
Hol die Getränke!«
»Bin ich die Einzige, die hier arbeitet?«
»Geht das noch heute?«
Solche Sätze brüllen wir einander schon einmal zu, aber keine ist der anderen böse. Wir vertrauen einander und verlassen uns aufeinander.
Unsere ältere Schwester Katharina ist auch auf der Wiesn. Normalerweise arbeitet sie in einem anderen Zelt, dem Bräurosl. Dann gibt es noch meine Nichten, Amelie und Theresa, die im berühmt-berüchtigten Hacker-Zelt arbeiten. Obwohl wir auf drei Zelte verteilt sind, fühlen wir, dass wir alle gemeinsam hier sind. Als Familie. Das zu wissen tut gut und beruhigt. Sollte etwas sein, egal was, werden wir immer füreinander da sein.
Ein Gast fragte mich einmal, was wir sonst so im Leben machen, schließlich dauert das Oktoberfest ja keine drei Wochen. Nun, ich bin, wie Sie nun wissen, hauptberuflich Kellnerin, aber der Rest meiner Familie hat andere Berufe. Eine ist Reisekauffrau, eine Hebamme, eine Lehrerin und andere studieren, wir sind vielseitig. Was uns verbindet, ist die Liebe zu Menschen. Von denen handelt dieses Buch.
Wenn Deutschland im Bierzelt sitzt oder steht, und zwar auf den Bänken, dann passieren Dinge, die wir davor niemals für möglich gehalten hätten. Wir sehen den langweiligen Nachbarn, wie er ungeniert Tränen lacht über einen dreckigen Witz, die prüde Beamtin, wie sie flirtet und ihre Bluse aufknöpft, und den braven Ehemann, wie er sich mit seinen Freunden besäuft.
Sind Sie Deutscher, werden Sie sich in diesem Buch ertappt fühlen, denn ich kenne Sie ganz gut! Ich weiß, wie Sie sich benehmen, wenn Sie zu viel trinken und manchmal sogar sturzbetrunken sind. Ich weiß, wie Sie tanzen, klatschen, lachen und flirten. Ich weiß, wie Sie schwindeln, angeben, sich schämen, glücklich sind oder grantig, weil Sie gerade Hunger und Durst haben. Und ich weiß, wie Sie Ihren Partner behandeln und wie Sie es mit dem Geldausgeben halten.
Auf den ersten Blick wirkt das alles enthemmt und chaotisch. Dabei ist die Wiesn viel mehr als Bier, Lärm und Rausch. Sie ist bizarr, schräg, durchgeknallt und großartig! Willkommen am Oktoberfest! O’zapft is!
Mit den Jahren habe ich einen sechsten Sinn für meine Gäste entwickelt und besonders gut kenne ich mich mit meinen eigenen Landsleuten aus. Wir machen immerhin um die achtzig Prozent der Wiesnbesucher aus. Aber von »den Deutschen« zu sprechen, ist eine zu starke Vereinfachung, es gibt nämlich riesige Unterschiede zwischen den Bundesländern, den Regionen, und ja, auch immer noch zwischen Ost und West. Dazu kommen wir noch. Ich brauche sie jedenfalls nur anzusehen, um ungefähr zu wissen, woher sie kommen.
Ich freue mich immer über deutsche Gäste. Damit hier keine Missverständnisse entstehen: Sie haben ihre Macken, aber sie verstellen sich nicht und spielen nichts vor. Sie sind authentisch, das gefällt mir.
Welche Gäste mir am allerliebsten sind, ist gar nicht so leicht zu sagen. Das hängt von meiner Laune ab. Manche Kolleginnen sehen diese Dinge pragmatisch: Ihnen sind zum Beispiel ältere Gäste lieber als Studenten, weil die mehr Trinkgeld geben.
Mit Betrunkenen haben wir Kellnerinnen alle Probleme. Auch ich freue mich nicht gerade, wenn welche bei mir Platz nehmen. Betrunken? Jetzt schon? Dann schlafen die mir vielleicht am Tisch ein. Das will keine Bedienung, weil sie dann nicht mehr konsumieren. Keine Bestellung, kein Trinkgeld. Wenn einer schon stark alkoholisiert angetorkelt kommt, habe ich kein Problem mit einer Notlüge, da bin ich ziemlich direkt: »Hier ist leider schon besetzt.«
Die schweren Fälle sind allerdings deutlich seltener, als viele denken. Nur weil jemand ein bisschen betrunken ist, ist er noch nicht unangenehm. Im Gegenteil. Die Deutschen sind lustig, auch oder gerade, wenn sie ein bisschen zu viel getrunken haben.
Wir, meine Kolleginnen und ich, haben unsere deutschen Gäste in Gruppen eingeteilt. Das kam wie von selbst. Irgendwann hat das angefangen und dann lief es. Wir Deutsche lassen uns leicht auf diese Weise klassifizieren. Gehen wir die Gruppen einfach durch, dann werden Sie verstehen, was ich meine.
»Die Üla-Palüs kommen!«
Wenn ich meiner Schwester Maria diesen Satz zurufe, weiß sie, dass eine Gruppe von Ostdeutschen das Zelt betritt.
Hulapalu ist eigentlich ein Hit des Österreichers Andreas Gabalier, den wir Deutsche lieben. Gabalier weiß bis heute selbst nicht, was das Wort Hulapalu eigentlich bedeutet. Während einer Partynacht hauchte es ihm angeblich ein Mädchen ins Ohr: »So schnell geht das mit dem Hulapalu nicht.« Vermutlich sprach sie von Sex, das wird wohl ungeklärt bleiben. Sie dürfte damit jedenfalls ein bisschen mehr Aufmerksamkeit eingefordert haben.
Die brauchen viele Ostdeutsche im Bierzelt, denn sie haben spezielle Bedürfnisse. Nehmen Sie das bitte nicht persönlich! Wir Kellner sind direkt und manchmal auch ein klein wenig garstig, ich weiß, aber wir meinen es niemals böse. Wir lieben unsere Üla-Palüs und wir kümmern uns gern um sie. Warum wir Gabaliers Hulapalu französisch aussprechen, wenn wir über unsere lieben ostdeutschen Wiesnbesucher sprechen, wissen meine Schwester und ich allerdings auch nicht mehr so genau.
Meistens kommen die Üla-Palüs in großen Reisebussen auf der Theresienwiese an. Das weiß ich, weil ich es in meinen Pausen beobachte, oder morgens, wenn ich meine Schicht beginne. Ganze Massen steigen aus, sie kommen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen oder Brandenburg und sind vom Typ her alle ähnlich. Darf ich das sagen?
Bierernst und politisch korrekt ist dieses Buch jedenfalls nicht, das haben Sie hoffentlich mittlerweile gemerkt. Ich sage es geradeheraus: Die Ostdeutschen ähneln einander wirklich sehr. Jedenfalls haben sehr viele einen ausgeprägten Hang zum Übergewicht und ihre Lederhosen sind entweder gar nicht aus Leder oder aus schlechtem. So etwas sehe ich auf den ersten Blick. Falsche Lederhosen sehen nach dem aus, woraus sie sind, nach Plastik und Kunstleder. Sie glänzen matt, riechen nicht gerade nach Rosen und es ist ihnen anzumerken, dass sie leichter sind als echte Lederhosen und sich dadurch auch ganz anders am Körper bewegen.
Dazu tragen ostdeutsche Männer fast immer T-Shirts und nur selten Hemden. Die Frauen haben zweit- oder drittklassige Dirndln an. Meistens sind es simple Modelle ohne Stickereien und ohne Muster. Oft bestehen sie nur aus einem Teil und sogar die Schürze ist angenäht. Ein Fake-Dirndl, sozusagen, das eher an ein Faschingskostüm oder den Souvenirladen erinnert als an echte Tracht. Aber nicht nur die Outfits sind seltsam. Sie gehen auffällig langsam und gemächlich ins Zelt, setzen sich hin und los geht für uns die Show.
»Na, schauen wir mal, was sie dieses Mal machen«, kommt dann von Maria und wir schauen uns dabei vielsagend an. Wir denken dasselbe. Die Üla-Palüs machen einfach Dinge, die Wessis nie oder nur selten machen.
Üla-Palüs jammern zum Beispiel gern und viel. Und ich muss betonen: Das stört uns gar nicht! Wir mögen sie gerade deshalb. Wir wissen, dass wir uns für sie mehr Zeit als für die Bayern oder andere Wessis nehmen müssen. Sie fühlen sich hier nicht richtig zu Hause und sind ein wenig wie Kinder. Wenn wir ihnen die Aufmerksamkeit geben, die sie brauchen, läuft alles gut. Das Eis bricht und die Nachmittage und Abende mit ihnen sind dann schön entspannt.
Nehmen wir ein Beispiel für einen klassischen Dialog mit einem Üla-Palü. Stellen Sie sich bitte einen bärtigen Mann mit sanftem Blick vor. Diesen besonderen, irgendwie milden Gesichtsausdruck haben die Üla-Palüs nämlich oft.
»Dürften wir bitte bestellen?«, fragt der sanfte Bärtige.
Ich weiß schon, was nun folgen wird, und kichere in mich hinein.
»Bitte ein Glas Weißwein.«
»Wir haben leider keinen. Nur Bier und alkoholfreie Getränke.«
»Warum haben Sie keinen Wein?«
»Weil wir hier im Bierzelt sind und nicht im Weinzelt.«
»Gut, dann ein kleines Bier.«
»Wir haben auch kein kleines Bier.«
»Warum nicht? Sie sagten doch, dass Sie Bier hätten.«
»Ja, natürlich, aber nur große Krüge.«
»Aber das ist ja ein Liter!«
»Es tut mir leid, aber wir haben kein kleines Bier.«
»Gut, dann ein Großes.«
»Und zu essen?«
»Ich habe keinen großen Hunger. Nur eine Portion Sauerkraut, bitte.«
Niemand bestellt am Oktoberfest eine Portion Sauerkraut. Ohne Hauptspeise. Das ist, als würden wir Bier aus Plastikbechern trinken. Aber egal! Der freundliche Herr soll sein Sauerkraut bekommen. Ich zähle nicht zu der Sorte Mensch, die andere belehren möchte. Er will es so, wie er es will, und wenn er zufrieden ist, bin ich es auch.
Seine Frau schaltet sich ein. Sie hat braunes hochgestecktes Haar und lächelt mich ebenfalls freundlich an. »Ich nehme Weißwürste mit Kartoffelknödeln.«
»Mit Knödeln?«
»Ja, haben Sie denn keine?«
Was soll ich dazu noch sagen?
»Doch, doch«, erwidere ich, »sehr gerne.«
Weißwürste essen wir Bayern immer und ausschließlich mit einer Brezel und mit Senf. Da fährt die Eisenbahn drüber. Ganz sicher nicht mit Kartoffelknödeln und auch nicht mit einem grünen Salat, den die Üla-Palüs gern dazu bestellen.
Natürlich bekam die gute Frau ihre Weißwürste mit Kartoffelknödeln, und die beiden wirkten den ganzen Nachmittag über sehr glücklich.
Es ist gut, nicht immer zu sagen, was man denkt.
Ich selbst bin ein Landei aus Bayern. Deshalb kenne und verstehe ich die deutschen Ländler, vor allem jene aus Bayern, ziemlich gut. Ich kenne die Gegenden, aus denen sie kommen, ich kenne die Leute und ihre Mentalität. Altötting, wo ich aufgewachsen bin, ist ein kleines Nest, mehr als hundert Kilometer von München entfernt.
Die bayrische Landbevölkerung ist ein Fall für sich. Die Leute sind stur. Sie mögen keine Veränderungen, und sie sind stolz auf sich und ihr Land. Sie sind direkt. Sie sagen jedem ins Gesicht, was sie denken. Alles Eigenschaften, die mir als Kellnerin nützen. Aber manchmal treiben sie es zu bunt, manchmal gehen sie zu weit und glauben, dass sie sich alles erlauben dürfen. Sind sie betrunken, zeigt sich das besonders.
»Vorsicht, Vorsicht! Immer schön langsam!«
Ich hatte ein Tablett mit fünfzehn Tellern auf der Schulter aufgeladen, als mir ein Mann, er muss um die fünfzig gewesen sein, torkelnd entgegenkam. Er murmelte einige Worte im bayrischen Dialekt: »I geh hoam …« Dabei stierte er trüb an mir und meinem vollen Tablett vorbei. Er nahm mich gar nicht wahr. Gut, dass seine Freunde in der Nähe waren. Sie hakten sich bei ihm unter und halfen ihm aus dem Zelt.
Ländler vertragen eine Menge Alkohol. Viele von ihnen stecken vier Maß und mehr ohne Probleme weg. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sie Fässer ohne Boden sind. Nichts zwingt sie in die Knie. Sie trinken literweise Bier und halten sich dennoch bis zum Schluss auf beiden Beinen. Vielleicht, weil sie es gewohnt sind und sie sich diese Fähigkeit durch jahrelanges Trinken antrainiert haben. Oder es ist genetisch bedingt. In diesen Landstrichen wurde seit Urzeiten Bier getrunken. Sie sind jedenfalls erfahrene Kämpfer gegen fies schwankende Böden.
Betrunkene vom Land sind besonders selbstbewusst, das fällt mir immer wieder auf.
Am selben Abend, als mich der Torkelnde mit dem Tunnelblick im Zelt fast umgerannt hätte, begegnete mir auf dem Heimweg ein betrunkener Gast, ebenso ein bayrischer Ländler. Das hörte ich zum einen an seinem Dialekt, er redete nämlich lallend mit sich selbst. Aber ich erkenne Bayern auch am Gang. Sie stolzieren selbstsicher und breiten Schrittes daher. Sie strahlen aus, hier zu Hause zu sein. Dahoam is dahoam. Die Welt gehört ihnen. Ganz bestimmt die auf der Wiesn und auch die ringsum.
Das lässt sich als hochmütig interpretieren, aber darin liegt auch etwas Menschliches. Etwas nahezu Kindliches. Ein Vertrauen in Gott und das Universum, das er erschaffen hat. Ein Urvertrauen in Bierkrug, Brezn und Weißwurst und in alles, das diese Segnungen hervorgebracht hat. Gott möge den Ländlern dieses Urvertrauen inmitten unserer zerrütteten Welt erhalten. Sie geben ihr damit zumindest rund um die Stelle, auf der sie mit ihren Haferlschuhen auf dem bayrischen Boden stehen, Stabilität.
Dieser besagte Ländler wartete zu später Stunde auf die S-Bahn. Ich war auf dem Heimweg. Er ging am Bahnsteig in meine Richtung. Ich dachte schon, er würde direkt auf mich zusteuern, doch das lag offenbar nicht in seiner Absicht. Er war nur betrunken und konnte nicht mehr gerade gehen. Nennen wir ihn Max, so heißen viele Bayern. Das macht es leichter.
Vom Haupteingang der Wiesn bis zur Station Hackerbrücke sind es keine zehn Minuten. Für Max musste es eine halbe Ewigkeit gewesen sein. Da stand er nun verwirrt bei einem Getränke- und Snackautomaten und musste die vielen Biere wieder loswerden, die er getrunken hatte.
Eine Toilette zu suchen, kam ihm offenbar nicht in den Sinn. Er öffnete einfach den Schlitz seiner Lederhose. Sein riesengroßer Bauch hing über den Bund, als er sein bestes Stück herausholte und in das Auswurffach des Getränkeautomaten pieselte.
Igitt! Ich drehte den Kopf zur Seite. Musste das sein? Die Menschen, die dort später Schokoriegel oder Eistee kaufen wollten, taten mir leid. Max verschwand schließlich in der S-Bahn. Der Schlitz seiner Lederhose blieb offen. So viel konnte ich noch sehen.
Auf der Wiesn gibt es viele wie Max. Stört es mich? Es ist leicht, sich über das Allzumenschliche höhnisch zu erheben. Aber Leute wie Max sind nette Gäste. Das habe ich oft genug erlebt. Sie können spendabel und freundlich sein. Wenn sie manchmal einen über den Durst trinken, gehört das auf der Wiesn dazu. Sie tun keiner Fliege etwas zuleide, sind selten aggressiv und belästigen keine Frauen. Mehr können wir Kellnerinnen nicht erwarten.
Es ist müßig, Menschen in gute und schlechte einzuteilen, aber Max und all seine Namensvetter haben das Herz oft noch am rechten Fleck. Egal, wohin sie pieseln und wohin sie hoch erhobenen Kopfes wanken.
Ein Kompliment muss ich den Ländlern noch machen, allen voran den bayrischen. Sie wissen, wie man Weißwürste richtig isst.
Es ist durchaus erlaubt und gehört sogar zum guten Ton, sie mit den Händen zu essen. Die Ländler nehmen die Weißwurst entschlossen und selbstsicher in die Hand, ziehen die Haut mit den Zähnen ab und schieben das Innere mit den Fingern der anderen Hand in den Mund. Dabei zerdrücken sie es nicht. Das wäre fast ein Sakrileg. Stattdessen zerplatzen sie es mit dem Gaumen und lassen die Wurst genüsslich auf der Zunge zergehen. Das ist bayrische Kultur in ihrer reinsten Form, die hohe Kunst des Zuzelns. Wer weiß, vielleicht ist sie sogar angeboren. Die bayrischen Ländler beherrschen diese Kunst jedenfalls am besten und ich liebe es, ihnen beim Weißwurstessen zuzusehen.
Die Freude an der Weißwurst ist ihnen anzumerken. Sie genießen das blasse Gericht mit einer gewissen Ehrfurcht, so kommt es mir zumindest manchmal vor. Die profane Hostie der blauweißen Ureinwohner. Mit ihr lassen sie sich schließlich auch ein Stück Geschichte schmecken.