Deutschland im Notstand? - Matthias Lemke - E-Book

Deutschland im Notstand? E-Book

Matthias Lemke

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Beschreibung

Einschränkungen von Grundrechten, Versammlungsverbote und Kontaktverfolgungen, Schließung von Schulen und Geschäften – im Januar 2020 hätte kaum jemand in Deutschland derart massive Eingriffe in das Alltagsleben für möglich gehalten. Doch Bund, Länder und Kommunen setzten in der seuchenrechtlichen Notfallsituation der Corona-Pandemie genau diese Maßnahmen ab März 2020 um. Matthias Lemke ordnet das Ringen mit dem Virus vor dem historischen, rechtlichen und politischen Hintergrund der deutschen Regelungen zum Ausnahmezustand ein. Er macht dabei drei Phasen des Krisenmanagements sichtbar, die über die Ereignisse des Jahres 2020 hinausweisen. Denn regieren in Krisensituationen, das zeigt sein Blick zurück, kann demokratiegefährdend sein, gerade wenn Rufe nach dem »starken Mann« oder der »starken Frau« lauter werden. Am Ende diskutiert dieses Buch anhand von sieben Thesen, wie ein demokratieverträgliches Krisenmanagement funktionieren kann. Denn die nächste Katastrophe wird kommen, ob wir wollen oder nicht.

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Matthias Lemke

Deutschland im Notstand ?

Politik und Recht während der Corona-Krise

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Einschränkungen von Grundrechten, Versammlungsverbote und Kontaktverfolgungen, Schließung von Schulen und Geschäften – im Januar 2020 hätte kaum jemand in Deutschland derart massive Eingriffe in das Alltagsleben für möglich gehalten. Doch Bund, Länder und Kommunen setzten in der seuchenrechtlichen Notfallsituation der Corona-Pandemie genau diese Maßnahmen ab März 2020 um. Matthias Lemke ordnet das Ringen mit dem Virus vor dem historischen, rechtlichen und politischen Hintergrund der deutschen Regelungen zum Ausnahmezustand ein. Er macht dabei drei Phasen des Krisenmanagements sichtbar, die über die Ereignisse des Jahres 2020 hinausweisen. Denn regieren in Krisensituationen, das zeigt sein Blick zurück, kann demokratiegefährdend sein, gerade wenn Rufe nach dem »starken Mann« oder der »starken Frau« lauter werden. Am Ende diskutiert dieses Buch anhand von sieben Thesen, wie ein demokratieverträgliches Krisenmanagement funktionieren kann. Denn die nächste Katastrophe wird kommen, ob wir wollen oder nicht.

Vita

Matthias Lemke, PD Dr., ist Politikwissenschaftler; er lehrt und forscht an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Bundespolizei, in Lübeck.

Inhalt

Vorbemerkung

Auf Sicht fahren

Freiheit und Sicherheit − Freiheit oder Sicherheit?

Warum? Und wozu?

Worum es in diesem Buch gehen soll

1. Ausnahmezustand

Definition

Idee

Umsetzung

2. Weimarer Reichsverfassung

Einordnung

Ebert

Hindenburg

Entdemokratisierung

3. Grundgesetz

Herrenchiemsee

Parlamentarischer Rat

Notstandsgesetze

Debatte

Zwischenbilanz

Äußerer Notstand

Innerer Notstand

Notstand – Ausnahmezustand als Kompromiss

Widerstand

4. Landesverfassungen

Notstandsverfassungen der Länder

Notstandsföderalismus

5. Anatomien einer Krise: Corona

Phasen – und Zyklen?

Frühphase

Akutphase

Konsolidierungsphase

Und nun?

Phasen des Krisenmanagements

Sieben Thesen zum Krisenmanagement

Gegen die Wand?

Anmerkungen

Auf Sicht fahren

1. Ausnahmezustand

2. Weimarer Reichsverfassung

3. Grundgesetz

4.  Landesverfassungen

5.  Anatomien einer Krise: Corona

Und nun?

Literatur

Vorbemerkung

Mit der Corona-Pandemie ist der Notstand in Deutschland erstmals flächendeckend Realität geworden. Er hat sich, mitunter ganz subtil, als Bestandteil unseres Alltages etabliert. Dieser Band unternimmt den Versuch, die Maßnahmen, die in Deutschland in der allerersten Pandemiephase ab März 2020 ergriffen wurden, vor dem historischen, rechtlichen und politischen Hintergrund der deutschen Regelungen zum Ausnahmezustand einzuordnen. Anhand einer solchen Anatomie der Corona-Krise lassen sich drei Phasen sichtbar machen: eine Früh-, eine Akut- und eine Konsolidierungsphase, die das Ringen mit dem Virus hierzulande durchlaufen hat. Je nach Entwicklung der Krise im Jahr 2021 könnten diese drei Phasen, wie in einem Kreislauf, erneut auftreten. Schon deswegen, weil sich Elemente der Pandemiebekämpfung wiederholen, weisen die Befunde dieses Bandes also über die Ereignisse des Jahres 2020 hinaus. Und so sind auch die abschließenden Thesen, die ich im Hinblick auf eine möglichst demokratieverträgliche Krisenreaktionspolitik vorstellen werde, auch jenseits des engen Ereignishorizontes, den dieses Buch abzudecken vermag, von Belang.

Das Manuskript für dieses Buch habe ich am 2.11.2020 abgeschlossen. Meine Analyse versucht, systematisch alle für das Thema relevanten Ereignisse einzubeziehen, die sich bis einschließlich 30.9.2020 ereignet haben. Punktuell sind darüber hinaus noch Aspekte eingeflossen, die nach diesem Datum eingetreten sind. Gerade die besondere Dynamik der zweiten Welle der Corona-Pandemie, wie sie sich in Deutschland ab Mitte/Ende Oktober 2020 abzuzeichnen begonnen hat, hat das erforderlich gemacht. So konnte ich erste, vorsichtige Vergleiche zum ersten Zyklus der Pandemiebekämpfung ziehen. Zudem werden auch künftig in der Corona-Pandemie Probleme auftreten, mit denen wir bislang noch keine Erfahrungswerte sammeln konnten: etwa die Frage, nach welchen Kriterien ein etwaiger Impfstoff verteilt werden soll, wenn er, wie anzunehmen ist, eine knappe und dringend benötigte Ressource darstellt. Oder auch die Frage, wer auf Intensivstationen darüber entscheidet, welche Patientin oder welcher Patient eine Chance auf eine Behandlung bekommt und welche oder welcher nicht. Zum Glück hat sich die Frage nach der Triage in Deutschland bislang noch nicht gestellt, aber es macht die Charakteristik der Corona-Pandemie aus, dass sich das sehr schnell ändern kann.

Damit zeigt sich gleichsam das doppelte Problem, das diesem Buch innewohnt: Ich schreibe es als betroffener, kritischer Beobachter und ich schreibe es, ohne zu wissen, was noch alles kommen wird. Das Beobachtungsobjekt dieses Buches – nämlich der sich in Politik und Recht manifestierende Umgang mit der Corona-Pandemie − ist folglich nicht abgeschlossen. Das ist für eine politikwissenschaftliche Analyse eher unüblich und zeigt den nachfolgenden Überlegungen klare erkenntnistheoretische Grenzen auf. Über das noch nicht Abgeschlossene lässt sich nicht abschließend urteilen. Insofern versteht sich diese Analyse, jenseits ihrer historischen und politikwissenschaftlichen Erläuterungen, als eine Art teilnehmende Beobachtung an einer politischen Öffentlichkeit im Ausnahmezustand, zu dem sie wiederum selber gehört. Deutschland im Notstand? soll vor diesem Hintergrund vor allem eines sein: ein Beitrag zu einer unabschließbaren Debatte, der sich eine demokratische Gesellschaft gerade in der Krise stellen muss.1 Nicht der ›starke Mann‹ oder die ›starke Frau‹ macht letztlich erfolgreiche Krisenreaktion möglich, sondern unser aller Fähigkeit und Wille, permanent engagiert nach den besten Lösungen für immer wieder neue Probleme zu suchen.

Allen, die durch kritische Fragen, Kommentare und Diskussionen am Zustandekommen dieses Buches auf vielfältige Art und Weise Anteil genommen haben, gebührt mein herzlicher Dank.

Auf Sicht fahren

Der einzig demokratieverträgliche Ausnahmezustand ist der, zu dessen Ausrufung es nicht kommt. Denn in der Katastrophe, die dem Ausnahmezustand vorausgeht, manifestiert sich Unverfügbarkeit auf ganz radikale Art und Weise. Beispiele hierfür sind leicht bei der Hand: Eine Sturmflut lässt sich nicht einfach eindämmen, ein Waldbrand nicht einfach löschen, ein Erdbeben kaum vorhersagen und noch weniger verhindern. All diesen Ereignissen und ihren Folgen ist ausgeliefert, wer sich nicht rechtzeitig zu retten vermag.

Als ebenso unverfügbar wie diese Naturkatastrophen erweist sich auch der Komet am Himmel über der südspanischen Stadt Cadíz, den Albert Camus als Urkatastrophe seines Stückes Der Belagerungszustand inszeniert hat.1 Im Angesicht des Kometen über Andalusien scheint lediglich sicher, dass nichts mehr sicher ist. In der Folge ist ganz Cadíz in Schockstarre verfallen, Angst greift um sich. Handelt es sich um den Kometen des Verderbens? Das unerwartete Naturereignis bedeute Unheil, verkündet ein selbsternannter Prophet: »Ich teile euch mit, dass wir fällig sind.« Von dieser Deutung des Ereignisses verängstigt, befolgen die Bewohner der Stadt fortan alle ihnen auferlegten Einschränkungen – von der Ausgangssperre über Versammlungsverbote bis zur Trennung der Geschlechter. Im Auftrag des Gouverneurs ergreift die Bürokratie die Macht und exekutiert das Notwendige. Die Menschen fügen sich der Regierung, die mit dem Recht identisch geworden ist. Vereinzelt gibt es Widerstand, doch der scheitert. Schließlich reißt der korrupte und autoritäre Gouverneur alle Macht an sich und errichtet ein totalitäres Regime: »Es wird schon alles wieder gut«, verspricht er.

Eben diese Hoffnung, dass schon alles wieder gut werden möge, gilt nicht nur im Falle von Naturkatastrophen. Sie gilt nicht minder stark auch angesichts menschengemachter Desaster. Ein Terroranschlag lässt sich genauso wenig ungeschehen machen wie die unkontrollierte Kernschmelze in einem Atomkraftwerk. Die jeweiligen Folgen solcher Ereignisse werden lange nachwirken. Was − neben den ganz konkreten, materiellen Nachwirkungen − den Schrecken von Katastrophen noch steigert, ist die eine Gewissheit, die sie begleitet: Sie werden passieren. Die jederzeitige, eben nicht gänzlich kalkulierbare Möglichkeit von Angst, Unglück, Zerstörung, von Leid und Tod sowie das Nichtwissen über deren Eintreten ist die Schattenseite menschlicher Existenz schlechthin, sei es nun individuell oder in Gesellschaft.

Eine solche Gefühlslage lässt sich auch im Rahmen der Corona-Pandemie feststellen. Für das Nicht-Kalkulierbare der Katastrophe hat sich dabei im öffentlichen Diskurs, mit Blick auf Wege ihrer Bewältigung, der Ausdruck des »Auf-Sicht-Fahrens« etabliert. Hierin spiegelt sich das von der Pandemie ausgehende Dilemma: Einerseits gilt es zu handeln, andererseits ist zum Zeitpunkt der Handlung weder klar, ob die Handlung den gewünschten Erfolg zeitigen wird, noch wann. So wird aus der Unverfügbarkeit der Katastrophe eine doppelte Unverfügbarkeit: Die Katastrophe fordert den Staat heraus. Indem dieser sein Sicherheitsversprechen einzulösen versucht, gerät in der Folge seine Sicherheitsdividende unter Druck. Aus Sicht der Bürger*innen wird die bis gerade noch verfassungsrechtlich gesicherte Freiheit nun ebenfalls prekär. Die doppelte Unverfügbarkeit in der Katastrophe − also das Leben angesichts der Katastrophe selbst und die in der Katastrophenabwehr unter Druck geratende Freiheit − manifestieren sich politisch wie rechtlich im Ausnahmezustand. Sein Ringen um Sicherheit geht immer einher mit der Befürchtung, zu wenig zu spät getan zu haben, was in der Folge noch weiterreichende Maßnahmen wahrscheinlich macht.

Diese Befürchtung, die sich in der doppelten Unverfügbarkeit der Katastrophe bemerkbar macht und die sich in einer maßnahmenorientierten Politik2 des ›Auf-Sicht-Fahrens‹ einen Ausgleich sucht, hat ihren Ursprung in der Konzeption moderner Staatlichkeit.

Freiheit und Sicherheit − Freiheit oder Sicherheit?

Der moderne Staat war zu allererst mit dem Versprechen von Sicherheit angetreten. Ohne ihn gibt es, der sogenannten realistischen Schule der Politikwissenschaft zu Folge, nur vorstaatliches Chaos. Die angelsächsische Frühaufklärung entwirft hierzu den sogenannten Naturzustand, der im Vergleich zum Staatszustand als defizitär, in letzter Konsequenz gar als lebensgefährlich beschrieben wird. Die Abwesenheit des Staates mündet in die überaus reale Bedrohung, jederzeit getötet werden zu können. Aus den Bedingungen permanenter Ressourcenknappheit resultiert eine an Feindschaft grenzenden Konkurrenz der Bewohner des Naturzustandes untereinander, wie sie idealtypisch Thomas Hobbes3 entworfen hat. Hobbes setzt dieser Feindschaft das Machtmonopol des modernen Staates entgegen. Dieses beruht auf der freien Abstimmung der Menschen im Naturzustand: auf dem Gesellschaftsvertrag. Wenn nur eine einzige Person über sämtliche, über die höchste Macht verfüge, so die Annahme, vermöge diese der permanenten Angst im Krieg aller gegen alle ein Ende zu setzen.

Der moderne Staat ermöglicht somit einen sicheren Lebensraum für die Menschen, die vorher, im Naturzustand, also in Abwesenheit staatlicher Sicherheitsgarantie, ständiger Unsicherheit ausgesetzt waren. Unsicherheit − und das scheint mir gerade während der Pandemie wichtig zu betonen − manifestiert sich in ganz unterschiedlicher Art und Weise. Sie ist die Bedrohung der individuellen Gesundheit ebenso, wie die drohende Erosion der bestehenden Wohlstands- und Wirtschaftsordnung. Dem Staat, und hier im engeren Sinne die Regierung, obliegt die permanente Aufgabe der Gestaltung der Lebensverhältnisse der Bürger*innen.4 Das ist sein Daseinszweck. Im Kern steht dabei die Forderung nach Sicherheit, sei es in Form von Gesundheit oder Wohlstand. Vermag der Staat dieser Kernforderung nicht nachzukommen, ist er gescheitert. Die Menschen kehren zurück in den Naturzustand, in dem alles prekär ist. Gelingt es ihm aber, Sicherheit herzustellen, dann profitieren die Menschen von der Sicherheitsdividende, also von der neu gewonnenen Freiheit. Die Ressourcen, die sie nun nicht mehr für die individuelle Herstellung von Sicherheit aufwenden müssen, können fortan in die selbstbestimmte Zwecksetzung eines jeden Menschen fließen. Freiheit als Folge von Sicherheit entspricht damit keineswegs der naiven Vorstellung, alles tun zu können, was man oder frau will. Stattdessen geht es um die individuelle, selbstbestimmte Zwecksetzung in Gemeinschaft, wie sie beispielsweise das Grundgesetz im Begriff der Menschenwürde unverrückbar festschreibt. Die Freiheitsgrundrechte als Konkretisierungen der Menschenwürde garantieren diese Sicherheitsdividende im und im Zweifelsfall auch gegen den Staat.

Kollidieren die Unverfügbarkeit der Katastrophe und der staatliche Gestaltungsanspruch miteinander, geraten Sicherheit und Sicherheitsdividende gleichermaßen unter akuten Druck. Der Staat, mit einer existenziellen Krise konfrontiert, läuft Gefahr, seiner Kernaufgabe − der Herstellung von Sicherheit und der Ermöglichung von Freiheit gleichermaßen − nicht mehr nachkommen zu können. Der Ausnahmezustand kann hier durch eine Konzentration der staatlichen Ressourcen zur Krisenreaktion Abhilfe schaffen. Er ist das Versprechen der Politik, der Unverfügbarkeit etwas entgegenzusetzen.5 Was ihn aber gleichsam für demokratisch verfasste Rechtsstaaten in der Handhabung so schwierig macht ist, das ist, dass er das gegenüber legitimen, kollektiven Sicherheitsansprüchen so fein austarierte, nicht minder legitime Gefüge von Freiheitsrechten zu Lasten der Letzteren verschiebt.6 Diese Verschiebung, man könnte auch sagen: dieses an den Rand Drängen von Freiheitsrechten, wiegt umso schwerer, weil es in der Regel unter Zeitdruck geschieht, zumeist ohne hinreichend kontroversen öffentlichen Diskurs auskommen muss − und weil, Stichwort: auf Sicht fahren, das Ergebnis einer solchen Maßnahme höchst ungewiss ist. Im schlechtesten Fall, wenn sich das autoritäre Moment der Krise durchsetzt, würde sich der Ausnahmezustand dauerhaft etablieren. Nehmen Angst und Ungewissheit überhand, dann droht die Sicherheit über die Freiheit zu siegen.

Warum? Und wozu?

Bevor es jedoch beim Versuch, während der Krise vor die Lage zu kommen, so weit kommen muss, ist es hilfreich, kurz innezuhalten und sich an den Zweck moderner Staatlichkeit zu erinnern. Dieser besteht, zumindest dem westlichen Verständnis einer liberalen Demokratie zufolge, das ich im Folgenden normativ vertreten möchte, in der Herstellung von Sicherheit und der damit verbundenen Ermöglichung von Freiheit gleichermaßen. Nötig ist dieses Innehalten, weil folglich durch den Staat beides zu erhalten ist, und weil die politische Inanspruchnahme der rechtlichen Instrumentarien des Ausnahmezustandes nicht notwendigerweise beides gleichermaßen zu beachten vermag. Dem Ausnahmezustand geht es darum, Kontrolle zu behaupten, gegebenenfalls wiederherzustellen. Es geht den konkreten Maßnahmen um das Kerngeschäft der Sicherheit, nicht primär um die Sicherheitsdividende.

Um also notwendiges Innehalten zu ermöglichen, hat Juli Zeh auf einen alltagssprachlich kaum merklichen, dennoch aber fundamentalen Unterschied zwischen zwei Wörtern hingewiesen. Über deren Bedeutungsgehalt nachzudenken, kann dazu beitragen, Ausnahmezustände, die in ihrer Praxis und ihren Konsequenzen schwer zu fassen sind, besser beurteilen zu können. In ihrem Essay Plädoyer für das Warum nimmt Zeh eine Unterscheidung der Interrogativpronomen Warum und Wozu vor, die für die Beobachtung der komplexen rechtlichen wie politischen Zusammenhänge in Krisenzeiten hilfreich sein kann. »Die ›Warum‹-Frage«, so Zeh, »forscht in die Vergangenheit. Sie erkundigt sich nach Ursachen, nach Hinter- und Beweggründen […]. Sie ist nachdenklich, […] interessiert sich für Motive, vielleicht sogar für eine moralische Gestimmtheit.« Anders die Frage nach dem ›Wozu‹: Sie »ist frecher. Schneller. Fordernder. Irgendwie zeitgemäßer. Ihr Blick richtet sich in die Zukunft. […] Was ist der Zweck? Gibt es Maßstäbe, die zu erfüllen, Prognosen, die zu verifizieren, Effizienzkalkulationen, die zu berücksichtigen wären? ›Warum‹ ist kontemplativer, ›Wozu‹ im weitesten Sinne ökonomischer Natur.«7 Der analytische Mehrwert, den diese Unterscheidung für die Analyse der Anwendung von Ausnahmezuständen birgt, liegt auf der Hand.

Ausnahmezustände bewegen sich immer auf dem Feld des Rechts und der Politik gleichermaßen. Das Verschwimmen von ›Warum‹ und ›Wozu‹ ist ihnen inhärent. Kommt es zu ihrer Ausrufung, wird vieles fundamental unsicher. Wir sollten nicht, wie Günter Frankenberg in seinem Buch Staatstechniken betont hat8, allzu viel auf Engel oder paradiesische Zustände zählen, wenn es in der nächsten politischen, sozialen, ökonomischen, ökologischen oder andersartigen Katastrophe um das Schicksal der Gesellschaft geht. Wenn wir nicht auf Engel zählen können, dann kommt letztlich alles auf die entschlossen handelnde Exekutive an. Ihr obliegt es, alle Kompetenzen so zu fokussieren, dass sie mit jeder Krise erfolgreich umzugehen vermag. Soweit die Verheißung des Ausnahmezustandes.

Angesichts dieser Unbedingtheit der Krisenreaktion lässt sich immer eine Vermischung von verfassungsrechtlicher Ermächtigung und politischer Inanspruchnahme des Ausnahmezustandes beobachten. Die Regierung wird sich mit Hilfe aller ihr verfügbaren Instrumentarien um ihr Kerngeschäft kümmern: Sicherheit. Gerade in der Krise wird das die Mehrheit der Menschen von ihr erwarten. Die Verfassung liefert dabei den Möglichkeitsrahmen des Politischen. Sie antwortet auf die Besorgnis, eben nicht auf Engel zählen zu können. Sie ist die ebenso formale wie konzeptionelle Vorwegnahme einer Krise und enthält das ›Warum Ausnahmezustand?‹. Sie enthält die Begründung der Notwendigkeit des Instruments an sich, seinen Anspruch, im Falle des Eintretens einer realen Krise Abhilfe schaffen zu können. Die konkrete politische Anwendung des Ausnahmezustandes, die in der repräsentativen Demokratie in der politischen Öffentlichkeit ebenso begründungspflichtig wie angreifbar ist, vertritt das ›Wozu Ausnahmezustand?‹. Hier geht es um den Ausnahmezustand als eine ganz eigene, konkrete Wirklichkeit, mitunter um den Ausnahmezustand als Zweck, der sich auch jenseits des eigentlichen Anspruchs bewegen kann.

Beide aufeinander zu beziehen, Anspruch und Wirklichkeit des Ausnahmezustands permanent in Abgleich zu bringen, ist demokratietheoretisch von größter Wichtigkeit. Denn ein solches analytisches Vorgehen kann dazu beitragen, dass der drängenden Wirklichkeit nicht zu viel des Anspruches des Ausnahmezustandes, nämlich die Aufrechterhaltung von Freiheit gegen alle Bedrohung, geopfert wird. Um nicht missverstanden zu werden: Kontrolle behalten zu wollen, ist ein dieser Tage häufig formulierter und legitimer Anspruch der Regierung. Er darf aber nie − whatever it takes − in Machtmissbrauch oder übermäßige Versicherheitlichung9 münden. Der Innere Notstand ist in Deutschland − ich werde darauf in Kapitel 4 noch zu sprechen kommen − noch nie angewendet worden. Damit Notstandspraktiken auch weiterhin die Ausnahme und demokratieverträglich bleiben, sind immer wieder Augenmaß und Verantwortung zu üben und zu wahren, von den politisch Verantwortlichen ebenso, wie von der Bevölkerung. Politik und politische Öffentlichkeit müssen dafür immer wieder zweierlei neu bedenken: Wozu dient das, was wir tun, ist das zielführend? Und: Warum machen wir das, was wir tun, ist das angemessen?

Worum es in diesem Buch gehen soll

Dieses Buch ist keine historische oder gar ideengeschichtliche Rekonstruktion des Ausnahmezustandes. Es ist auch keine verfassungsrechtliche Abhandlung. Vielmehr versucht es eine politik- und demokratiewissenschaftliche Deutung − soweit das jetzt bereits überhaupt möglich ist − der Ereignisse von Januar bis Ende September 2020. Der zentrale Begriff, um den sich diese Einordnung drehen wird, lautet ›Ausnahmezustand‹. Wobei der Begriff, auch das ist wichtig, hier nur umgangssprachlich, nämlich als Synonym für eine schwere Krisensituation zu verstehen ist. Verfassungsrechtlich kannte Deutschland bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie keinen Ausnahmezustand, sondern den Inneren Notstand. Dazu später noch mehr.

Politisch zur Entfaltung kam die Notstandsdemokratie in dem ihr eigenen Koordinatensystem von Angst, Freiheit und Sicherheit, als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 30.1.2020 wegen des Corona-Virus den globalen Gesundheitsnotstand ausgerufen hat. In der vernetzten Weltgesellschaft kamen in der Folge Warenströme zum Erliegen, Ausgangssperren wurden verhängt, Grenzen geschlossen und das öffentliche Leben, wie wir es vor der Krise kannten, kam zum Stillstand. Jeder Nationalstaat in dieser globalen Weltgesellschaft reagierte eigenständig auf diese doch überall spürbare Mischung aus Katastrophe, Angst, Freiheitsbedürfnis, Sicherheitsversprechen, Politik, Recht, Unverfügbarkeit der Ereignisse und Gestaltungsanspruch der Regierung. Das Mittel der Wahl war in so gut wie allen Staaten der Welt und meist nur mit wenigen Tagen oder Wochen Zeitunterschied: der Ausnahmezustand. Das gilt für die weit überwiegende Mehrheit der EU-27-Staaten und das gilt auch für Deutschland.

Das Problem, das sich hier auftut, ist mehr als ein bloß Begriffliches. Es dreht sich vielmehr um konkretes, in einer Krise zielführendes, lösungsorientiertes und demokratieverträgliches Handeln. Denn die deutsche Verfassung, das Grundgesetz, wie auch der weit überwiegende Teil der Verfassungen der sechzehn Bundesländer, kennen den Begriff des Ausnahmezustandes nicht. Wenn es den ›Ausnahmezustand‹ in Deutschland gar nicht gibt, wie kann er dann Anwendung finden? Und wenn so gut wie alle Staaten dieser Erde in der existenziellen Krise zum Ausnahmezustand greifen, warum dann ausgerechnet wir nicht? Oder tun wir es doch? Und wenn wir es tun, inwiefern ist davon das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in Deutschland betroffen? Der Versuch der Einordnung, den dieses Buch unternimmt, ruht angesichts der vorstehenden Fragen auf zwei Säulen.

Die eine beschäftigt sich in den Kapiteln 2 bis 4 mit der Frage, was genau Ausnahmezustand in Deutschland ist. Sie schaut dazu zurück in die Zeit der Weimarer Republik, in der eine erste, noch junge Demokratie auf deutschem Boden Erfahrungen mit dem unbedingten Kompetenztransfer an die Regierung in Krisenzeiten gesammelt hat. Und sie schaut auf den Lerneffekt, der sich für die Väter und Mütter des Grundgesetzes daraus ergeben hat, und zwar in zwei Etappen: einmal auf den Zeitpunkt der Entstehung der Verfassung der Bundesrepublik, in der sich der Parlamentarische Rat mehrheitlich gegen die Aufnahme von Ausnahmezustandsbestimmungen in das Grundgesetz ausgesprochen hat, und einmal in die Zeit der 1960er Jahre, als der Gesetzgeber diese Entscheidung nach langen und heftigen Debatten im Parlament und in der politischen Öffentlichkeit revidierte und mit dem Siebzehnten Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes die sogenannten ›Notstandsgesetze‹ erließ, die am 28.6.1968 in Kraft getreten sind. Im Zuge der Darstellung dieser Entwicklungen werden zentrale institutionelle und konzeptionelle Aspekte der deutschen Tradition des Ausnahme- bzw. Notstandes vorgestellt und erläutert. So wird am Ende dieses Teils des Buches deutlich werden, inwiefern das deutsche Verhältnis zum Ausnahmezustand, wenn man diesen Begriff als Sammelbezeichnung versteht, ein sehr besonderes ist, das sich im Laufe des 20. Jahrhunderts durch teils schmerzliche politische Erfahrungen entwickelt hat. Gleichsam möchte ich damit eine Grundlage für die Beurteilung der Entwicklungen legen, von denen wir alle seit Beginn der Corona-Pandemie betroffen sind.

Die zweite Säule dieses Buches nimmt in Kapitel 5 ausführlich die Maßnahmen, die Bundes- und Landesregierungen sowie kommunale Krisenstäbe zwischen März und Oktober 2020 angesichts der Corona-Pandemie ergriffen haben, in den Blick. Dabei wird es schlaglichtartig um Entscheidungen, Reden, Gesetzesvorhaben oder um alltäglich Szenerien gehen, die − fügt man sie zusammen − einen Einblick in Regierungshandeln während einer deutschlandweiten Krisensituation gewähren. Dieser Einblick bleibt notgedrungen immer ein Ausschnitt. Denn nicht nur die Auswahl der Szenen bleibt letztlich subjektiv − etwa die Rede von Kanzlerin Angela Merkel am 18.3.2020, die Verabschiedung der Novelle des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) im Deutschen Bundestag, die Ausrufung des landesweiten Katastrophenfalls in Bayern oder die Debatten um das sogenannte Epidemiegesetz in Nordrhein-Westfalen. Alle diese Schlaglichter sind nichts weiter als Segmente einer komplexen Realität, die sich in ihrer Gesamtheit kaum angemessen einfangen lässt. Gerechtfertigt erscheint mir ihre Auswahl, insofern sich in jeder dieser Szenen, in jeder Debatte, Rede oder Maßnahme, auf ganz besondere Art und Weise das Verhältnis von Bürger*innen und Regierung, von Menschen und Maßnahmen und letztlich: von Freiheit und Sicherheit widerspiegelt.

Obschon es derzeit noch zu früh ist, die politischen Maßnahmen und deren rechtliche Auswirkungen abschließend zu beurteilen, so möchte ich dennoch zu Abschluss dieses Buches versuchen, eine Einordnung der Krisenreaktionspolitik während der Corona-Pandemie in Deutschland vorzunehmen. Dabei wird es um organisatorische Fragen hinsichtlich des Katastrophenschutzes im Föderalismus ebenso gehen wie um grundsätzliche Erwägungen zum Ausnahmezustand als vielleicht bloß symbolischem Element demokratischer Politik der Gegenwart. Was hat sich hinsichtlich der Ausbalancierung von Freiheit und Sicherheit bewährt, was nicht? Mit Blick auf diese Frage werde ich einige Thesen vorstellen, die als Ausgangspunkte für weitere Diskussionen dienen können. Denn immerhin das ist sicher: Es wird viel nachzubesprechen, zu überdenken, zu reformieren und anzupassen geben − und das nicht nur was institutionelle Abläufe, sondern auch was unsere Erwartungshaltung an die Politik in der Krise anbelangt.

Vor der Auseinandersetzung mit diesen zwei Säulen bedarf es jedoch noch einer begrifflichen Klärung. Um einen gemeinsamen Ausgangspunkt für die nachfolgenden Analysen anbieten zu können, möchte ich im nächsten Kapitel zunächst ganz grundsätzlich darstellen, was das überhaupt ist, der ›Ausnahmezustand‹. Warum und seit wann gibt es ihn? Wozu ist er da? Und nicht zuletzt: Welche Arten von Ausnahmezustand lassen sich unterscheiden?

1. Ausnahmezustand

Laut Duden wird der Begriff Ausnahmezustand verwendet, um ausgelassene Feierlichkeiten, außergewöhnliche Sportereignisse oder eine nichtalltägliche emotionale Disposition in Liebesdingen zu beschreiben. Er dient als Synonym für Auf- oder Erregung, für Chaos, Unordnung, Katastrophe, für Aufstand und Bürgerkrieg − kurzum für alles, das nicht als normal, erwartbar oder langweilig, sondern als unerwartet, irgendwie außergewöhnlich und überfordernd erscheint.

Definition

Wenn in diesem Buch vom Ausnahmezustand die Rede ist, dann ist damit jedoch etwas anderes gemeint. Ausnahmezustand steht hier als Sammelbegriff für eine politische Praxis der Krisenintervention, die einen in der Verfassung verankerten Mechanismus beschreibt, oder aber sich auf Situationen, Handlungen oder Umstände bezieht, die mit diesem Mechanismus in Zusammenhang stehen. In rechtlicher Hinsicht umfasst der Begriff des Ausnahmezustandes eine Vielzahl von Krisenreaktionsmechanismen im Rahmen ausdifferenzierter Staatlichkeit. Historisch betrachtet spiegeln sich hierin beispielsweise die Erfahrung des Belagertwerdens sowie der Versuch, eben diese Belagerung zu durchbrechen, wider. Dies kommt noch heute nahezu wörtlich in den Rechtsbegriffen zum Tragen, die zur Benennung entsprechender Mechanismen Verwendung finden, etwa im deutschen Verteidigungsfall oder im französischen État de siège sowie dem État de siège fictif, welche in Artikel 36 der Verfassung der Fünften Französischen Republik festgelegt sind.

Krisenreaktion im Ausnahmezustand ist denkbar weit gefasst. Sie wird von der Krise diktiert. Egal, ob es sich um eine Naturkatastrophe, um einen Terroranschlag oder um eine Pandemie handelt − ausnahmezustandliche Maßnahmen stehen bereit, werden angepasst oder geschaffen, um angemessen, sprich schnell und effektiv, auf die Herausforderung reagieren zu können. Entsprechend vielfältig sind die Blickwinkel, aus denen heraus ein Ausnahmezustand betrachtet werden kann. In jedem Fall werden sich grund- und verfassungsrechtliche Bezugnahmen feststellen lassen, genauso gut aber auch sicherheitspolitische, finanzpolitische, sozialpolitische, gesundheitspolitische, bildungspolitische und nicht zuletzt ökonomische. Die Krisenreaktion im Ausnahmezustand ist an so gut wie jedes Politikfeld institutionell ausdifferenzierter Staatlichkeit anschlussfähig. Dies zeigt einerseits die Wirkmächtigkeit des Instruments, andererseits aber auch die Komplexität an, die analytisch mit ihm verbunden ist.

Idee

Ungeachtet dessen haben alle Ausnahmezustände einen gemeinsamen Kern. Dieser ist so alt wie die institutionell ausdifferenzierte Staatlichkeit selbst. Bereits die Römische Republik verfügte über das Instrument der dictatur, die in Krisenzeiten die Aufhebung des Kollegialitätsprinzips vorsah. Stattdessen wurde ein dictator mit einem Auftrag versehen − etwa einen Krieg zu führen oder Spiele zu organisieren. Seinen Auftrag hatte er innerhalb von sechs Monaten zu erfüllen, ansonsten verlor er sein Amt. Die Machtfülle, die mit diesem Amt einherging, erwies sich über Jahrhunderte hinweg als unproblematisch. Erst in der Spätphase der klassischen Republik, ab 133 v. Chr., offenbarte sie ihr ebenso verlockendes wie zerstörerisches Potenzial. Zunächst unter Sulla, später unter Caesar verlängerte sich die Amtszeit des dictators von einem halben auf mehrere Jahre − die dictatur wurde Normalität. An dieser neuen Normalität zerbrach schließlich die Republik.

Die Idee indes, in der Krise alle Macht in die Hände der Exekutive zu legen, überdauerte. In die Frühe Neuzeit hinübergerettet hat sie Niccolò Machiavelli. In den Discorsi, die zwischen 1513 und 1519 entstanden, schrieb er: »Meine Meinung ist, daß Republiken, die in äußerster Gefahr nicht zur diktatorischen oder einer ähnlichen Gewalt Zuflucht nehmen, bei schweren Erschütterungen zugrunde gehen werden.«1 Damit ist der Kerngedanke des Ausnahmezustandes für den modernen Staat erschlossen. Er ist die letzte Zuflucht, wenn angesichts einer drängenden Gefahr für das Überleben des Staates keine andere Zuflucht mehr bleibt. Mit John Locke und Alexander Hamilton, James Madison und John Jay, den Autoren der 1787/88 in New York veröffentlichten Federalist Papers, entsteht dann die Verbindung dieser Idee einer letzten Zuflucht zur repräsentativen Demokratie. Sei es in Form der Prärogative, die der Exekutive eine Blankovollmacht eröffnet »Gutes zu tun«2, sei es in Form einer starken Stellung des Präsidenten, denn im ständigen Ringen um Sicherheit und Freiheit sei »die Stärke der Exekutive […] ein bestimmendes Merkmal bei der Definition eines guten Regierungssystems«3. Diesen ideengeschichtlichen Bezugspunkten des Ausnahmezustandes − egal ob sie National emergency (USA), État d’urgence (Frankreich), Innerer Notstand (Deutschland) oder Kommissarische Diktatur (Plettenberg)4 heißen − wohnt dem eine gemeinsame Idee inne.

Verfassungsrechtlich betrachtet besteht diese Idee darin, der Regierung eine Vielzahl von Mechanismen zur Krisenintervention bereit zu stellen, die bereits vor dem Eintritt einer konkreten Krise rechtlich definiert sind. Sie alle sollen die Fähigkeit der Regierung verbessern, Entscheidungen zu treffen und diese durchzusetzen, sofern die Voraussetzungen für die Ausrufung einer Ausnahmesituation gegeben sind. Die Feststellung, ob Letzteres der Fall ist, obliegt in der Regel der Regierung selbst. Hier berühren, ja überlagern sich Politik und Recht: Das erklärte Ziel der Maßnahmen, darauf hat der französische Politikwissenschaftler Bernard Manin5 hingewiesen, besteht darin, durch die Stärkung der Exekutive schnellstmöglich zur Situation vor der auslösenden Krise, zur Normalität zurückzukehren. Dieses Ziel rührt an den legitimatorischen Kern moderner Staatlichkeit. Der moderne Staat gründet auf dem Versprechen von Sicherheit, um seinen Bürger*innen die Entfaltung kreativer Freiheit in Gemeinschaft zu ermöglichen, eine Freiheit, die ohne staatliche Sicherheitsgarantie nicht möglich wäre. Insofern ist der Ausnahmezustand, von seinem Ziel her gedacht, das stärkste und ultimative verfassungsrechtliche Versprechen zur Aufrechterhaltung bzw. schnellstmöglichen Wiederherstellung von Sicherheit. Denn im Naturzustand, ohne den Staat, so die Befürchtung, ist jede*r wieder auf sich alleine gestellt.

Mit dieser Zweckbestimmung einher geht eine wesentliche Vorannahme, auf der die gesamte verfassungsrechtliche Konstruktion des Ausnahmezustandes gründet, und die seine Anwendung so prekär macht. Der Ausnahmezustand setzt das voraus, was die moderne Politikwissenschaft als good governance bezeichnet und was schon in der aristotelischen Verfassungstypologie als eine am Gemeinwohl, an den gemeinsamen Interessen aller Bewohner orientierte Regierungsführung bekannt war. Die Leitunterscheidung zwischen gemeinwohlorientiert und egoistisch mündete bei Aristoteles in die Unterscheidung von Monarchie und Tyrannis. Gerade der Tyrann, und darin liegt die politische Brisanz des Ausnahmezustandes, wird es sich nicht nehmen lassen, seine eigene Macht auch gegen die Interessen aller signifikant auszuweiten, wenn er dafür die Krise als Legitimationshintergrund in Anspruch nehmen kann.

Es ist dieses Problem in der verfassungsrechtlichen Konstruktion des Ausnahmezustandes − eben auf eine aufrichtig am Gemeinwohl orientierte Regierung hoffen zu müssen –, an dem sich die Debatte über die Normalisierung des Ausnahmezustandes entzündet. Was passiert, wenn die Regierung selbst nicht an der Rückkehr zum status quo ante, bezogen auf die auslösende Krise, interessiert ist, sondern lediglich an der Erweiterung der eigenen Machtbefugnisse? Was, wenn sie das autoritäre Gelegenheitsfenster der Krise tatsächlich für einen autoritären Umbau des politischen Systems nutzt? Wer vermag sie dann noch einzufangen? Wird die Krisensituation von der Regierung genutzt, um die vor der auslösenden Krise bestehende Verfassungsordnung im Ausnahmezustand zu verändern, ist verfassungsrechtlich betrachtet eine Rückkehr zum Zustand vor der Krise nicht mehr möglich. Die Verfassung ist eine andere geworden, in der Regel eine autoritärere, die der Regierung generell mehr Kompetenzen zuweist. Dieser Mechanismus kann als Normalisierung des Ausnahmezustandes bezeichnet werden. Historische wie aktuelle Entwicklungen − von der Weimarer Republik bis zum heutigen Ungarn − zeigen, dass eine kritische Wachsamkeit, wie sie die politische Öffentlichkeit in der Demokratie leisten kann und leisten muss, gerade in der Krise unabdingbar ist, um solche Tendenzen der Normalisierung der Ausnahme zu erkennen, zu kritisieren und zu verhindern.

Umsetzung

Die konkrete institutionelle Umsetzung dieser verfassungsrechtlichen Idee ermöglicht eine Unterscheidung verschiedener Arten von Ausnahmezuständen. Die leitende Unterscheidung für die nachfolgende Typologie des Ausnahmezustandes ist die Frage, wie sich der Ausnahmezustand zur Verfassung verhält: Steht er außerhalb der Verfassung, indem er die verfassungsmäßige Ordnung aufhebt, um alles zu tun, was für eine erfolgreiche Krisenbewältigung erforderlich ist, koste es, was es wolle? Oder handelt es sich um die ›Stunde der Exekutive‹, um ein Instrument, das der Regierung jederzeit verfügbar ist, gerade dann, wenn es die Umstände erfordern? Oder gehört er der Exekutive und Legislative gleichermaßen, die einander bei der Anwendung des Ausnahmezustandes kontrollieren? Berücksichtigt man diese Unterscheidung, so kann der Ausnahmezustand als ein extra-legaler oder aber als ein legal integrierter Zustand gefasst werden. Im zweiten Fall ließen sich zudem exekutivorientierte und nicht exekutivorientierte Arrangements unterscheiden.6 Was ist mit diesen Varianten nun im Einzelnen gemeint?

Ein Ausnahmezustand kann als extra-legal bezeichnet werden, wenn seine Ausrufung die verfassungsmäßige Ordnung für die Dauer des Ausnahmezustandes aufhebt. Das paradigmatische historische Beispiel für einen extra-legalen Ausnahmezustand ist die Ernennung eines Diktators, wie sie in der klassischen Phase der Römischen Republik erfolgte. Den verfügbaren historischen Quellen römischer Geschichtsschreibung zufolge konnte der Senat einen dictator ernennen, wenn es die Umstände erforderten, also etwa, um Krieg zu führen oder um Spiele zu organisieren. War der dictator ernannt, so konnte er seinen Auftrag erfüllen, ohne dabei an die üblichen rechtlichen Regelungen gebunden zu sein, etwa das Kollegialitätsprinzip. Somit suspendierte die Ernennung des Diktators durch den Senat die Geltung der Verfassungsordnung − idealiter mit einer Beschränkung auf einen Zeitraum von sechs Monaten.

Ein Ausnahmezustand ist legal integriert, wenn im Falle seiner Ausrufung die verfassungsmäßige Ordnung nicht gänzlich, sondern lediglich in Teilen suspendiert wird. Die Verfassung selbst oder aber nachgeordnete Gesetze halten Regelungen für die Kompetenzzuschreibung an die Exekutive, für die Ausgestaltung der Gewaltenteilung sowie für die Dauer des Ausnahmezustandes ebenso bereit wie Anweisungen, welche Grundrechte in welcher Weise eingeschränkt werden dürfen. Die weitere Ausdifferenzierung dieses Typus des Ausnahmezustandes resultiert aus der Logik der Einbeziehung verschiedener Verfassungsorgane zum Zeitpunkt seiner Ausrufung. Kann die Exekutive den Ausnahmezustand eigenständig erklären oder ist sie hierfür auf die Kooperation mit anderen Verfassungsorganen, insbesondere dem Parlament, angewiesen?

Beispiele für eine exekutivorientierte, legal integrierte Variante sind der Ausnahmezustand nach Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) – hierzu nachfolgend mehr –, oder der état d’urgence, basierend auf dem Gesetz 358/55 vom 3.4.1955, wie er aktuell in Frankreich angewendet wird bzw. angewendet werden kann. Beide gründen auf einer klaren Kompetenzzuschreibung an die Exekutive, sowohl mit Blick auf die Initiativ- als auch die Handlungskompetenz. Ideengeschichtlich betrachtet ist das typische Beispiel für diese exekutivorientierte, legal integrierte Variante des Ausnahmezustandes die von Carl Schmitt so bezeichnete ›Kommissarische Diktatur‹.7

Eine weitaus weniger häufig auftretende Form des legal integrierten Ausnahmezustandes stellen jene institutionellen Arrangements dar, die der Legislative weitreichende Kompetenzen im Ausnahmefall zuschreiben. In diesen Fällen kann der Ausnahmezustand nur ausgerufen werden, wenn das Parlament oder aber zumindest Teile des Parlaments zustimmen. Dies ist etwa beim deutschen Notstand (Art. 35(2) und (3) und 91 GG) der Fall, der konzeptionell auf den Erfahrungen der Anwendung von Art. 48 WRV basiert und dementsprechend die Entstehung einer unangemessenen Machtkonzentration bei der Exekutive zu vermeiden sucht. In diesem Sinne kann diese Variante als nicht exekutivorientierter, legal integrierter Ausnahmezustand bezeichnet werden. Ungeachtet der Einbindung des Parlaments in grundsätzliche Entscheidungsprozesse gilt natürlich auch hier die Herstellung einer möglichst effektiv handlungsfähigen Exekutive als höchstes Ziel.

Was die Situation in Deutschland anbelangt, die ich in den nachfolgenden Kapiteln zunächst historisch rekonstruieren möchte, bevor wir uns dann der Krisenreaktionspolitik während der Corona-Pandemie widmen, ist interessant festzustellen, dass Erfahrungswerte sowohl mit der exekutivorientierte, legal integrierten, wie mit der nicht exekutivorientierten, legal-integrierten Variante des Ausnahmezustands vorliegen. Und zwar genau in dieser Reihenfolge. Während die Weimarer Reichsverfassung (WRV) der Exekutive weitreichende Handlungsspielräume bei der Krisenintervention einräumte, hat das Grundgesetz (GG) gerade wegen der Normalisierungserfahrungen aus der Spätphase der Weimarer Republik auf einen Ausnahmezustand zunächst gänzlich verzichtet. Und als später, 1968, dann die Notstandsgesetze verabschiedet und in das Grundgesetz aufgenommen wurden, setzte sich ein Gesetzentwurf durch, der großen Wert darauf legte, die Entscheidungskompetenzen der Regierung durch eine starke Mitbestimmungskomponente des Parlaments einzuhegen.

Vor diesem einmaligen historischen Erfahrungshintergrund wird es in den beiden nachfolgenden Kapiteln nun zunächst darum gehen, das Instrument des Ausnahmezustands, wie es in der Weimarer Republik konzipiert war, in seiner rechtlichen Anlage und der politischen Inanspruchnahme zu beschreiben. Danach werde ich skizzieren, inwieweit die Politik in der Anfangs- und Frühphase der Bundesrepublik Deutschland mit den Normalisierungserfahrungen aus Weimar gerungen hat, um sich schließlich für einen institutionell anderen Weg der Kriseninterventionspolitik auf Bundesebene zu entscheiden. Denn nur vor diesem Hintergrund lassen sich die Maßnahmen, welche während der Corona-Pandemie ausprobiert, ergriffen und diskutiert worden sind, angemessen einordnen.

2. Weimarer Reichsverfassung

Die Weimarer Reichsverfassung (WRV) als erste gesamtdeutsche demokratische Verfassung enthielt weitreichende Regelungen zum Ausnahmezustand. Auf Basis von Artikel 48 WRV konnte die Exekutive wesentliche Grundrechte einschränken und unter Umgehung des Parlamentes mit Hilfe von Notverordnungen regieren. Diese sehr weitgreifende Regelung des Ausnahmezustandes erwies sich als anfällig für Missbrauch. Die Verfügbarkeit einer extrem starken Machtposition in einer Krise von Verfassungs wegen ermöglicht der Regierung weitreichende Handlungsmöglichkeiten. Diese sind so lange unproblematisch, wie die Regierung − entsprechend der eingangs vorgestellten Definition des Ausnahmezustandes − ihr Handeln am Gemeinwohl ausrichtet. In Weimar hat sie das in der Spätphase der Republik erkennbar nicht mehr getan. Diese Entwicklungen in der politischen Praxis, im ›Wozu‹ des Ausnahmezustandes, will ich in diesem Kapitel kurz skizzieren.