Deutschland überall - Manuel Möglich - E-Book

Deutschland überall E-Book

Manuel Möglich

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Beschreibung

Ob auf dem Oktoberfest in Brasilien, beim Liederkranz in New York oder in der Brauerei in China – Deutsche und ihre Kultur findet man überall und in allen Klimazonen. Manuel Möglich macht sich auf die Suche: Er bereist alle fünf Kontinente, forscht nach den letzten deutschen Spuren in Tsingtao, unterhält sich in Westafrika mit perfekt Hochdeutsch sprechenden Namibiern über ihre Kindheit in der DDR, er fahndet in Südamerika nach der deutschen Festtagslaune und dem deutschen Fleiß. Und wie denken eigentlich die Nachfahren früherer Kolonialherren, junge und alte Auswanderer, die Abkömmlinge von einst Emigrierten über jenes Land, das ihnen nah und fern zugleich ist? Was bedeuten das deutsche Erbe, die Kultur und das Phantom der deutschen Tugenden jenen Menschen, die die heutige Bundesrepublik kaum kennen? Sind sie am Ende die deutscheren Deutschen? Ohne Scheu und mit größter Offenheit begibt sich Manuel Möglich mitten hinein in diese deutschen Parallelwelten, die wir allenfalls als Urlaubsparadiese kennen, und zeichnet ein gänzlich neues Bild von uns Deutschen. Er wirft einen frischen Blick auf sehr exotische und zugleich urdeutsche Themen – ein Buch, das uns viel darüber erzählt, wer wir sind und was die Welt über uns denkt.

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Seitenzahl: 335

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Manuel Möglich

Deutschland überall

Eine Suche auf fünf Kontinenten

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Auf allen Kontinenten, in allen Klimazonen: Manuel Möglich findet Deutsche und Deutsches in aller WeltOb auf dem Oktoberfest in Brasilien, beim Liederkranz in New York oder in der Brauerei in China – Deutsche und ihre Kultur findet man überall und in allen Klimazonen. Manuel Möglich macht sich auf die Suche: Er bereist alle fünf Kontinente, forscht nach den letzten deutschen Spuren in Tsingtao, unterhält sich in Westafrika mit perfekt Hochdeutsch sprechenden Namibiern über ihre Kindheit in der DDR, er fahndet in Südamerika nach der deutschen Festtagslaune und dem deutschen Fleiß. Und wie denken eigentlich die Nachfahren früherer Kolonialherren, junge und alte Auswanderer, die Abkömmlinge von einst Emigrierten über jenes Land, das ihnen nah und fern zugleich ist? Was bedeuten das deutsche Erbe, die Kultur und das Phantom der deutschen Tugenden jenen Menschen, die die heutige Bundesrepublik kaum kennen? Sind sie am Ende die deutscheren Deutschen?

Über Manuel Möglich

Inhaltsübersicht

MottiKarteProlog Reisen zu den fernsten «Deutschen»Namibia Hitlers und des Kaisers Geburtstag in SüdwestBrasilien Oktoberfest in Santa CatarinaTschechien Reichenberg vs. Liberec – und am Ende gewinnt die NaturSamoa Von Rauschpfeffer und einem deutschen HäuptlingChina Tsingtao – eine fast vergebliche SucheRumänien Blutleeres TranssilvanienUSA Ein Walzer in New Yorks GermantownIch danke meinen ...Abbildungen

«Wie schön Deutschland ist, wenn man ganz weit weg ist und nur immer dran denkt!»

Carl Zuckmayer

 

 

«I am the Passenger And I ride and I ride.»

Iggy Pop

PrologReisen zu den fernsten «Deutschen»

Feiern in Deutschland, das geht. Sehr gut sogar. Das Land selber feiern – das ist dagegen eine ganz andere Kiste. Als im Sommer 2014 Deutschland zum vierten Mal Fußball-Weltmeister wurde und sich die Mannschaft am Brandenburger Tor bejubeln ließ, da wusste jeder, dass Helene Fischer heute einfach überall ist. Die Feierei an diesem Tag ging allerdings nicht ganz reibungslos über die Bühne, ein Problem sollte das Land beschäftigen, und es hieß «Gaucho-Gate». Man kann sich drüber aufregen, dass sich einige darüber aufregten. Man kann sich allerdings auch darüber aufregen, dass andere sich nicht darüber aufgeregt haben. Egal auf welcher Seite man bei dieser Sache steht, unterm Strich spiegelte das letzte Kapitel des Sommermärchens einmal mehr wider, wie schwer sich die Deutschen mit sich selbst immer noch tun. Locker-flockig geht anders. Vielleicht verbindet dieses Völkchen zuallererst seine Unsicherheit.

Ebendarum habe ich mich zu diesem Reisemarathon rund um die Welt aufgemacht, obwohl es um die Bundesrepublik geht. Weil man nämlich den Wald vor lauter Bäumen oft nicht mehr sieht, lag es auf der Hand, das wilde Deutschland zu verlassen, um das große Ganze aus der Distanz besser betrachten und verstehen zu können. Von Orten aus, die eng mit der Geschichte Deutschlands verflochten sind. Bei einem Oktoberfest in Brasilien oder einer Brauereibesichtigung in China funktionierte das sehr gut, auch in den USA, Tschechien und Rumänien lief alles wie geschmiert. Nur auf Samoa hat sich der Reporter durch eine falsche Dosierung während eines Selbstversuchs mit Rauschpfeffer für kurze Zeit außer Gefecht gesetzt. Apropos «Es läuft alles wie geschmiert!», das war auch das Motto einer Karnevalssaison in Windhoek, Namibia. Am Rande des Feierepizentrums habe ich vom Treiben zwar nur einen Teil mitbekommen, doch das reichte aus, um viel zu erfahren. Im südwestlichen Afrika fiel der Startschuss für meine Suche auf fünf Kontinenten, und zwar wegen eines Gerüchts: Etliche Bewohner aus der Region Lüderitz sollen jedes Jahr im April den Geburtstag von Adolf Hitler feiern. Eingeladen war ich dazu zwar nicht, doch das hinderte mich nicht daran, einfach mal loszufahren, um nach dem Rechten zu sehen.

Dieser Reisebericht wagt den Versuch, sich unserer Heimat aus der Ferne zu nähern. Auf diese Weise, davon bin ich nach anderthalb Jahren des Reisens und Schreibens überzeugt, lässt sich mehr über Deutschland, die Deutschen und das Deutsche erfahren.

Die folgenden Seiten geben meine persönliche Wahrnehmung wieder. Man darf sich beim Lesen ärgern, gerne widersprechen oder mir beipflichten. Und möglicherweise ist einem manchmal auch einfach nur zum Lachen zumute. Wenn, dann nur zu! Lachen, das machen die Deutschen angeblich ohnehin zu wenig.

NamibiaHitlers und des Kaisers Geburtstag in Südwest

Der Frühstücksraum ist picobello. Die Einrichtung zweckdienlich. Viel helles Holz, beige Fliesen und zwei Deckenventilatoren mit integrierten Lampen. An den schneeweißen Wänden Bilder. Die Pension Uhland in der Uhlandstraße in Windhoek wird von Irmgard und Jürgen geführt. Die meisten Gäste kommen aus Deutschland und sind exotischer als das Interieur meiner Unterkunft.

Was mir bereits am Flughafen auffiel, kann ich jetzt in aller Ruhe studieren – die Vollendung des deutschen Afrikaoutfits. Es wird ein ungeschriebenes Gesetz für den richtigen Safari-Look des Namibiatouristen aus Deutschland existieren: Zunächst muss das Farbspektrum überschaubar bleiben, helle Erd- und dunklere Sandfarben bilden den Grundton, kleine Spuren von Grau scheinen akzeptabel, Muster dagegen weniger. Noch wichtiger sind Taschen. Lieber fünf zu viel als eine zu wenig. In der Regel sieht man neben den herkömmlichen Vorder- und Gesäßtaschen mindestens zwei weitere an den Oberschenkeln. Dazu kommen quasi unsichtbare Taschen, versteckt hinter wild angeordneten Reißverschlüssen. Reißverschlüsse sind von nahezu gleicher Relevanz wie Taschen. Eigentlich hat jede der atmungsaktiven Hosen mehrere Reißverschlüsse. Die essenziellsten befinden sich unter- und oberhalb des Knies, mit ihnen kann aus der langen eine kurze oder noch kürzere Hose gemacht werden. Gewagte Modelle besitzen sogar einen dritten Reißverschluss, mit dem die Funktionshose kurzerhand in eine Art Hotpants verwandelt werden kann. Offenbar notwendig für einige Herrschaften sind Belüftungsreißverschlüsse – innen an den Oberschenkeln. Beachtlich auch das untere Ende einiger Beinkleider. Wenn der Träger wegen Hitze oder starkem Schwitzen aus seiner Hose ein Dreiviertelmodell machen will, erlaubt das der Reißverschluss in der Knöchel- oder Achillesfersenregion, ohne dass die Schuhe ausgezogen werden müssen.Bei den Schuhen dominieren drei Modelle: die leichte Trekkingsandale, der klobige Wanderschuh und ein Hybrid aus beiden, eine Art futuristischer Turnschuh. Spezielle Schnürsysteme, giftige Farbspritzer und Ösen lassen über die fehlenden Reißverschlüsse und Taschen am Schuhwerk hinwegsehen. Die Oberkörperbekleidung vereint Taschen, Reißverschlüsse und Ösen auf komplizierten Westen und besteht ansonsten meist aus einem luftigen Hemd, alles gerne eine Nummer zu groß. Pi mal Daumen kommt jeder Träger einer Multifunktions-Outdoor-Look-Garderobe auf gut zwei Dutzend sichtbare Taschen – und das unmittelbar am Körper, Rucksäcke, Handygürteltaschen und Brustbeutel nicht mitgerechnet. Die Vielfalt der Herstellernamen von Deuter über Salomon bis zu Jack Wolfskin täuscht darüber hinweg, dass das nagelneue Equipment, welches man sich für teures Geld bei Globetrotter hat aufschwatzen lassen, seine uniformierten Träger letztendlich zum Verwechseln ähnlich aussehen lässt. Ich trinke einen Schluck dünnen Filterkaffee und wundere mich. Ob ich mit meinem leichten Gepäck und mit T-Shirt, Jeans und Stoffturnschuhen in Namibia womöglich in mein Verderben renne?

 

Die Deutschen in Namibia – wie es dazu kam, erklärt die Geschichte. Spätes neunzehntes Jahrhundert: Das vom Imperialismus geprägte Europa erlebt eine Welle der Expansion. Die mächtigen Staaten stehen in einem Wettstreit, sie alle wollen irgendwo anders auf dem Erdball ihre Fahne hissen, schon aus Prestigegründen. Einen deutschen «Platz an der Sonne» fordert Bernhard von Bülow 1897 als Staatsekretär des Auswärtigen im Reichstag. Drei Jahre später wird er von Kaiser Wilhelm II. zum Reichskanzler ernannt. Das heutige Namibia ist zu dieser Zeit bereits Kolonie des Deutschen Kaiserreichs.

Anders sieht das noch zu Beginn der 1880er aus, als der Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz seinen Tabakhandel auf Afrika auszudehnen plant. Die am Südatlantik gelegene Bucht Angra Pequeña, von Portugiesen 1487 entdeckt, erscheint ihm als strategisch günstiger Stützpunkt mit eigenem Hafen. Zudem soll die Region reich an Bodenschätzen sein; Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts werden Eisenbahnarbeiter zehn Kilometer landeinwärts der Küste große Diamantvorkommen finden. Da keine Nation Anspruch auf dieses herrenlose Fleckchen Erde erhebt, kauft im Mai 1883 ein Heinrich Vogelsang im Auftrag der Firma Lüderitz für hundert Pfund in Gold und zweihundert Gewehre die Bucht von Joseph Frederiks II., dem Anführer des Nama-Stammes, inklusive des Landes im Umkreis von fünf Meilen. Die Crux an der Sache: Die Nama kennen nur die englische Meile, die knapp fünfmal längere deutsche Meile dagegen nicht. Dies wohl wissend, unterbreitet Vogelsang dem Oberhaupt ein zweites Angebot über zwanzig Meilen Land. Für den Spottpreis von weiteren fünfhundert Pfund und sechzig zusätzlichen Gewehren gibt Joseph Frederiks II. seinen Besitz ab. Als der Schwindel auffliegt, ist die Empörung der Nama groß. Trotz ihrer Proteste beharrt Adolf Lüderitz auf sein vertragliches Recht. Das deutsche Auswärtige Amt bittet er fortan um Schutz, doch Reichskanzler Otto von Bismarck bleibt mit seinen Hilfezusagen vage – bis Großbritannien droht, ganze Küstenabschnitte von Südwestafrika zu annektieren. Deshalb gewährt Bismarck am 24. April 1884 Lüderitz für sein Gebiet Reichsschutz. Das ist der Auftakt zum deutschen Kolonialismus. Die erste offizielle Flaggenhissung findet im August desselben Jahres statt.

Aus Sicht der Kolonialherren entwickelt sich Deutsch-Südwestafrika zunächst prächtig. Was Joseph Conrad in seiner um die Jahrhundertwende erscheinenden Novelle «Herz der Finsternis» über die Kolonialisierung des Kongo-Freistaates schreibt, lässt sich allerdings auf den deutschen Platz an der Sonne in Südwestafrika übertragen: «Die Erde zu erobern – was meist bedeutet, sie denen wegzunehmen, die eine andere Hautfarbe oder etwas flachere Nasen haben als wir – die Erde zu erobern ist keine schöne Sache, wenn man sich’s zu sehr aus der Nähe betrachtet.»

Vor allem die Völker der Nama und Herero bekommen dies zu spüren. Sie schließen oft nutzlose Schutzverträge mit dem Reich, besitzen immer weniger Weideland, werden ihrer Existenzgrundlage beraubt und gedemütigt. Die Weißen blicken auf sie herab, sie sind in ihren Augen «Eingeborene» oder «Hottentotten» ohne Rechte, die sich zu unterwerfen haben. Am 11. Januar 1904 erheben sich die Herero unter ihrem Führer Samuel Maharero und wollen der Unterdrückung ein Ende bereiten. Einhundertdreiundzwanzig Deutsche sterben. Daraufhin schickt die Reichsregierung im Mai den Generalleutnant Lothar von Trotha nach Deutsch-Südwestafrika, einen harten Militär, der bereits in Ostafrika und China Aufstände bekämpfte. Unter ihm soll in der Kolonie Ruhe einkehren. Am Waterberg, nördlich von Windhoek, wo sich die meisten Herero aufhalten, will der General zuschlagen. Sein Plan ist es, die Aufständischen in einer Umzinglungsschlacht zu besiegen, die Führer hinzurichten und alle Anhänger einzusperren.

Nach mehreren kleineren Gefechten erfolgt exakt sieben Monate nach den Überfällen der Herero auf deutsche Farmer und Stützpunkte der Angriff. Zwar kann der Widerstand gebrochen werden, doch gelingt es von Trotha nicht, das komplette Volk der Herero einzukesseln oder gar wegzusperren. Seine Antwort auf den missglückten Vorstoß ist ein brutaler Verdrängungsfeldzug, der in einem abscheulichen Massaker endet. Am 2. Oktober wendet sich Lothar von Trotha in einer öffentlichen Erklärung an seine Gegner: «Die Hereros sind nicht mehr deutsche Untertanen […]. Das Volk der Herero muss […] das Land verlassen […]. Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero […] erschossen.» Die Schutztruppe verjagt fortan ihre neuen Feinde von Wasserstellen, selbst Frauen und Kinder werden in die Wüste geschickt, wo auf sie der Tod durch Verdursten wartet. Im Dezember 1904 wird der Schießbefehl auf Anweisung aus Berlin aufgehoben. Zur selben Zeit rebellieren im Süden des Landes bereits seit Wochen die Nama, es ist der Beginn eines Guerillakriegs, der 1907 endet. Zehntausend Nama verlieren in diesen Jahren ihr Leben. Wie viele Herero zuvor starben, ist unklar. Die Zahlen schwanken zwischen vierundzwanzigtausend und vierundsechzigtausend Menschen, andere Schätzungen gehen von achtzig Prozent des Volkes aus. Rund eintausendvierhundert Soldaten und Siedler werden Opfer der beiden Aufstände.

Am 1. August 1914 bricht in Europa der Erste Weltkrieg aus. Es dauert nicht lange, bis es auch in Deutsch-Südwestafrika zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt. Die Südafrikanische Union greift Mitte September erstmals die Schutztruppe an und besetzt Lüderitzbucht. An verschiedenen Schauplätzen im Land kommt es immer wieder zu Gefechten, die deutschen Truppen sind den Angreifern meist hoffnungslos unterlegen. So übernimmt am 9. Juli 1915 die Südafrikanische Union die Führung in der Kolonie. Deutsche Soldaten kommen in Gefangenschaft, Reservisten dürfen zurück in die Heimat. Das Ende von Deutsch-Südwestafrika wird mit der Unterzeichnung der Versailler Verträge im Juni 1919 endgültig besiegelt.

 

Zurück ins heutige Namibia. Unbekannte Orte erkunde ich gerne zu Fuß. Auf den innerstädtischen Rechtsverkehr und die Rushhour am Morgen bin ich ohnehin nicht sonderlich scharf. Beim Blinken im Mietwagen, das habe ich gleich gemerkt, mache ich meist den Scheibenwischer an, die spiegelverkehrte Anordnung der Hebel irritiert ungemein. Und mit links schalten geht auch nicht mit links. Der Wagen bleibt heute im Hof der Pension. Windhoek ist mit mehr als dreihundertzwanzigtausend Einwohnern die größte Stadt im Land, das Zentrum wirkt dennoch überschaubar. Ich starte mit meiner Sightseeingtour durch Downtown. Obwohl der Tag noch jung ist, brennt die Sonne schon mächtig auf der Haut.

Was mir nach wenigen Blocks Kopfschmerzen bereitet, ist allerdings nicht das Wetter, sondern die Art und Weise, wie die Menschen hier ihre Häuser sichern. Windhoek wirkt, als ob es aus lauter Festungen besteht. Ausnahmslos jedes Gebäude und Grundstück, egal ob klein oder groß, privat oder öffentlich, wird von massiven Mauern geschützt. Weil diese offenbar noch nicht genug Sicherheit bieten, verlaufen auf den Mauern Zäune. Manche sind aus Stacheldraht, an anderen signalisieren Warnschilder: DANGER! ELECTRIC FENCE! Vereinzelt sind auch die Fenster vergittert. Vollends absurd wird es bei einer Kindertagesstätte, dem «Kabouterland» an der Nelson Mandela Avenue. Asterix, Obelix und andere Comicfiguren lachen mich von einer bunt bemalten Wand an, die für Kinder haushoch sein muss. Das Eisentor und der Zaun unter Strom wirken an diesem Ort besonders schräg: ein Kinderknast. Je mehr Mauern und Zäune ich sehe, desto mehr rätsle ich, woher die Angst der Leute wohl kommt. Wie gefährdet und gefährlich sind die Menschen in Namibias Hauptstadt denn? Welche Sorgen plagen die ausnahmslos weißen Eltern, die ihren Nachwuchs in einen Hochsicherheitstrakt wie das «Kabouterland» stecken? Hat wer Angst vorm schwarzen Mann? Ich fühle mich auf diesen Straßen sicher, trotzdem laufe ich jetzt wachsamer herum.

Weniger System als in Sachen Festungsbau zeigen die Namibier bei den Straßennamen beziehungsweise deren Endungen: Von der Luther St biege ich ab in die Goethe Street, welche die Uhland Strasse kreuzt, dann geht es rechts in die Korner St. Wäre ich links abgebogen, stünde ich in der Corner St. Jedenfalls lande ich nach einem kurzen Marsch auf dem Prachtboulevard der Stadt, der Independence Avenue. Wie ich aus meinem Reiseführer erfahre, hieß die wichtigste Einkaufsmeile Namibias mit Restaurants, Hotels und etlichen Geschäften bis 1990 noch Kaiserstraße. Seit der Unabhängigkeit des Landes im selben Jahr ist der alte Straßenname Geschichte. Am Dienstagvormittag herrscht hier reges Treiben. Die Ärmsten der Armen, ausnahmslos schwarze Jungs, bewachen für ein paar Namibia-Dollar die bulligen Geländewagen ihrer wohlhabenden Landsleute oder der Multifunktions-Outdoor-Look-Touristen. Ich schlendere, überquere die Bahnhof Straße und komme am Hotel Thüringer Hof vorbei. Obwohl es an dieser Meile kaum mehr Mauern und Zäune gibt, wirkt Windhoeks Zentrum trotz seiner Lebhaftigkeit trostlos.

Ein Hoffnungsschimmer liegt nach einigen hundert Metern links vor mir: ein kleiner Park am Fuß eines Hügels. Bäume und Palmen spenden Schatten, von dem die Menschen angezogen werden wie Motten vom Licht. Der Rasen ist kurz gemäht. Das grüne, leicht feuchte Gras lässt darauf schließen, dass diese kleine Oase inmitten der Betonwüste gewässert wird. Auf der anderen Straßenseite ein starker Kontrast in Form wilhelminischer Architektur. Rote Dächer, vanillegelbe Fassaden und Fachwerk im Giebelbereich. Im rechten Teil des Gebäudes verkauft der Herrenausstatter Otto Mühr mehr oder weniger moderne Anzüge. Eine Tafel im Schaufenster verrät, dass er seit 1927 hier ansässig ist. Die Ladensprache allerdings ist, das verrät das Schild auch, Englisch. Direkt nebenan ein vertrautes, großes rotes A. In der Luisen Apotheke wird der Kunde auch auf Deutsch beraten, kein Zufall vielleicht, das Eckhaus im Block beheimatet die Deutsche Botschaft. In der unmittelbaren Nachbarschaft weckt das Schaufenster eines Souvenirladens mein Interesse. Neben dem üblichen Nippes überraschen mich einige Wandteller und Tassen: Darauf abgebildet sind die schwarz-weiß-rote Reichskriegsflagge mit Reichsadler und das Eiserne Kreuz. Deutsch-Südwestafrika steht in altdeutscher Schrift unter der Fahne. Alternativ gibt es auch nur den Adler mit dem Aufdruck «Deutsches Schutzgebiet».

Die Independence Avenue heißt seit mehr als zwanzig Jahren zwar nicht mehr Kaiserstraße, das Vergangene lebt dessen ungeachtet auf den Tellern und Tassen weiter. Genau wie bei Safariland Holtz in der Mall am Platz. Das Gründungsjahr steht auf einem Schild über der Tür, 1934. Die weiße Dame hinter der Kasse hätte bei der Eröffnung damals dabei sein können, ihrem mutmaßlichen Alter und den Falten nach geschätzt. Ich stehe in einem Meer aus sand- und khakifarbenen Hosen, Hemden und Westen, wie ich sie am Morgen im Frühstücksraum begutachten konnte. Die Auswahl ist enorm. In einer Ecke erspähe ich eine Insel mit schwarzen und weißen T-Shirts. Aufgedruckt sind die Motive, die ich von den Wandtellern und Tassen im Souvenirladen kenne. Safariland Holtz bietet neben Textilien auch Flaggen an. Zum Beispiel die von Namibia oder die schwarz-weiß-rote National- und Handelsfahne des Kaiserreichs. Des Weiteren auch Sticker mit der nie offiziell gewordenen Kolonialflagge von Deutsch-Südwestafrika. Fast identisch mit der Kaiserreichsfahne, hat sie in der Mitte noch ein Wappen. Der obere Teil zeigt den Reichsadler auf gelbem Grund, auf dem unteren, blauen Teil den Schädel eines Ochsen. Die Masse der Kolonial- und Kaiserreichdevotionalien ist erschlagend, aber ich lasse mir nichts anmerken und laufe die Independence Avenue noch ein wenig weiter südwärts bis zur Windhoeker Buchhandlung. Ein kleiner Laden, der, wie ich vom deutschsprachigen Verkäufer mit einem silbernen Ohrring erzählt bekomme, 1959 seine Türen öffnete. Es gibt die bekanntesten Nachrichtenmagazine und Revolverblätter aus Deutschland, Verkaufshits sind «Der Spiegel» und die «Allgemeine Zeitung», mit fast hundert Jahren die älteste Tageszeitung Namibias und die einzige deutschsprachige Tageszeitung in ganz Afrika. In der Bücherauslage vor der Kasse stapelt sich «Shades Of Grey» neben Titeln von Richard David Precht. Das überwiegende Angebot besteht allerdings aus Literatur zum Thema Deutsch-Südwest. Eine bestimmte vergangene Epoche ist immer noch sehr gegenwärtig in Windhoek.

 

Kurzfristig bekomme ich einen Termin bei Stefan Fischer, dem Chefredakteur der «Allgemeinen Zeitung». Ich spaziere durch die Schiller Straße in Richtung Eros, einem Stadtteil im Nordosten, in dem die AZ beheimatet ist. Zusammen mit zwei anderen Redaktionen ist das deutschsprachige Blatt in einer modernen, loftartigen Halle untergebracht, die man eher in Berlin-Mitte als in Windhoek erwarten würde. Im Herz des Großraumbüros steht ein turmartiges Rundkonstrukt aus schwarzem Metall mit sechs riesigen Flatscreens, die tonlos CNN und andere internationale Nachrichtensender zeigen. Ein Thema beherrscht die Bildschirme: der Anschlag auf den Boston-Marathon. Fischer, ein Mann von Anfang vierzig, hat eines der wenigen Ein-Mann-Büros. Er ist in Cottbus geboren und arbeitet seit 2001 in Namibia. Schnellen Schrittes kommt er auf mich zu, man ist gleich beim Du. Ein Scherz über die Verantwortlichen des Berliner Flughafens, nachdem er weiß, wo ich in Deutschland lebe. Seine Zeit ist knapp, das Nachrichtengeschäft ist hier nicht anders als in Europa.

Aber welche Rolle spielt das Deutsche, spielt eine deutsche Zeitung noch in Namibia?

«Deutschsprachige», erzählt Fischer, «sind eine exklusive Gruppe im Land. 2011 gab es eine letzte Volkszählung, und da kam raus, dass rund fünfzehntausend Menschen in Namibia deutsche Muttersprachler sind. Das ist weniger als ein Prozent der Bevölkerung. Es gibt natürlich noch viele andere Namibier, die Deutsch können, es gelernt haben. An privaten und auch an staatlichen Schulen wird die Sprache angeboten, bei Kindern und Jugendlichen ist sie sehr beliebt. Der Bevölkerungsrückgang der Muttersprachler ist aber das Hauptproblem, wenn es um die deutsche Sprache in Namibia geht.»

Welche Bedeutung Deutschland für die Leser der Allgemeinen Zeitung hat, möchte ich wissen.

«Wir sind keine deutsche Zeitung in Namibia, wir sind eine namibische Zeitung in deutscher Sprache. Deutschland ist für uns daher nur ein Land im Rest der Welt. Aber es gibt eine Ausnahme. Unsere Leser haben ein überdurchschnittlich großes Interesse am deutschen Sport, vor allem am Fußball. Da sind die deutschsprachigen Namibier den Deutschen ähnlich.»

«Welche Flagge hat deine Heimat?»

«Ich definiere das so: Deutschland ist meine Heimat, Namibia mein Zuhause.»

«Bist du stolz darauf, Deutscher zu sein?»

Zehn Sekunden Stille.

«Sagen wir mal so. Ich bin stolz auf meine Herkunft, mit allem, was dazugehört. Ich spreche meine Muttersprache gerne, und ich finde es toll, was die Menschen in Deutschland leisten, in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Kultur und im Sport. Da ist ein gewisser Stolz, dass ich aus Deutschland komme.»

Dann rät mir der Chefredakteur, den namibischen Karneval in Windhoek zu besuchen. Vor mehr als sechzig Jahren von deutschen Einwanderern importiert, soll er mittlerweile ein Fest für alle Namibier sein. Deutlich wird das am Programm. Früher gab es drei deutsche Büttenabende, heute nur noch einen. Dafür werden seit einigen Jahren zwei internationale Abende veranstaltet, auf Deutsch, Englisch und Afrikaans. Die Eintrittskarten für diese Veranstaltung seien sehr begehrt, und erst der Straßenkarneval! «Unser Umzug», heißt es in der ganzen Stadt. Beim Thema Karneval klingt der Mann aus Brandenburg so begeistert wie ein Rheinländer.

An der Wand neben Fischers Schreibtisch haften etliche Zettel, an einem alten Spiegel-Titelbild von 1976 bleiben meine Augen hängen: «Südwestafrika – Die Deutschen müssen raus!»

«In einer anderen Spiegel-Ausgabe», formuliere ich vorsichtig meine letzte, entscheidende Frage, «habe ich gelesen, dass auf abgelegenen Farmen in der Region Lüderitz noch der Geburtstag von Adolf Hitler gefeiert werden soll.»

«Habe ich gehört. Aber nur aus deutschen Medien. Vielleicht gibt es Farmer, die Hitlers Geburtstag feiern, aber ich habe das noch nie erlebt. Auf keiner einzigen Farm hier habe ich je ein Bild von Hitler gesehen. Dass die Deutschsprachigen in Namibia alle zurückgeblieben und konservativ sind, lese ich auch nur in Medien aus Deutschland. Ich wohne hier und habe ein anderes Bild. Ich sage ja auch nicht, weil es in einigen deutschen Bundesländern Probleme mit rechtsradikalen Veranstaltungen und Parteien gibt, leben in Deutschland zweiundachtzig Millionen Rechtsradikale.»

 

Die Stadt strotzt nicht vor Sehenswürdigkeiten. Als ein Wahrzeichen gilt die Christus Kirche. An der Ecke Independence Avenue und Fidel Castro Street lese ich auf einem braunen Schild:

Christus Kirche

Reiterdenkmal

Alte Feste

Ich folge der Beschilderung die Anhöhe hinauf. Nur ein paar Meter, und schon ist der mit roten Ziegeln gedeckte Kirchturm hinter der Kuppel zu erspähen.

«Hey, tattoo man! Where are you from?», höre ich hinter mir jemand fragen.

Ich drehe mich um: «From Germany.»

«Dann können wir auch Deutsch reden», sagt der Schwarze ohne jeden Akzent und hält mir zur Begrüßung die Ghettofaust entgegen. Mit meiner Rechten stoße ich kurz dagegen. Seine Arme und seine rechte Wange sind von Narben gezeichnet. Er trägt Jogginghose, Wollmütze und ein rotes Fußballtrikot mit der Nummer 20. Auf der linken Brust ein kleiner Aufnäher eines Fußballs, auf der rechten Brust die Deutschlandfahne, darüber das Wort Germany. Deo, so stellt er sich vor, ist fünfunddreißig. Er beginnt umgehend mit seiner Geschichte, die er so routiniert erzählt, dass er sie bestimmt vor etlichen Touristen heruntergerattert hat.

«Darf ich dir ein paar Fragen stellen?», unterbreche ich ihn zu seiner Überraschung.

Kurzes Zögern, dann antwortet er: «Na ja, okay, können wir machen. Zu hundert Prozent.»

Diese Art der Bekräftigung des gerade Gesagten – «zu hundert Prozent» – gebraucht Deo gerne. Wir gehen ein paar Schritte bis zu einer Bank, die direkt am Kreisverkehr gegenüber der Christus Kirche unter einem Baum steht. Während ich mein Aufnahmegerät suche, nähern sich fünf Burschen. Sie bieten mir selbstgemachte Schlüsselanhänger aus Kastanien zum Kauf an. Eingeritzt sind Tiere aus der namibischen Wildnis. Ich weiß nicht, was Deo zu ihnen sagt, aber sie packen ihre Ware gleich wieder ein und setzen sich zu uns. Einer von ihnen spricht ebenfalls fließend Deutsch, James, der ein Jahr älter als Deo ist. Die beiden verbindet offenkundig nicht nur die deutsche Sprache, sie teilen auch ihren Klamottengeschmack. Auch James trägt Jogginghose und ein gestreiftes Fußballtrikot ohne Aufdruck. Und beide verfolgen die Bundesliga. Der eine ist Bayern-München-Fan, der andere Anhänger von Borussia Dortmund. Sie hoffen, dass ihre Teams in der kommenden Woche gegen Barcelona und Real Madrid im Halbfinale der Champions League triumphieren, sie träumen genau wie halb Deutschland von einem deutschen Finale. «Wenn das passiert, das wird der Knacker!», meint James. Damit soll er recht behalten.

Warum sprechen die beiden so gut Deutsch?

«Also, ich habe in der ehemaligen DDR gewohnt, von 1978 bis 1990. Ich gehöre zu der ersten Gruppe der sogenannten DDR-Kinder aus Namibia. Von 1996 bis 2000 lebte ich in Wuppertal und habe dort eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker gemacht», sagt Deo.

James hat eine ähnliche Geschichte: «Ich bin mit fünf in die DDR gekommen und war neun Jahre im Land. Als ich zurück nach Namibia geschickt wurde, konnte ich meinen Abschluss an einer deutschen Schule in Windhoek machen. Das hat die Bundesregierung bezahlt. Hierherzukommen, das war ein echter Kulturschock, ich konnte ja nur Deutsch und ein bisschen Russisch.»

«Warum seid ihr nach der Wende nicht in Deutschland geblieben?»

«Wir wurden abgeschoben», sagt James.

«Wieso seid ihr damals überhaupt in die DDR gebracht worden?»

«Unsere Eltern waren SWAPO-Befreiungskämpfer von Namibia, und sie sind damals nach Angola und Sambia geflohen. Die meisten von uns wurden in diesen beiden Ländern in Flüchtlingslagern geboren. Dort haben wir gelebt, bis sich einige sozialistisch-kommunistische Länder bereit erklärten, uns aufzunehmen. Ich bin dann glücklicherweise in die DDR gekommen», erzählt Deo. «Das war für mich als Kind eine super Sache in der DDR, zu hundert Prozent. Aber zurück in Namibia habe ich gemerkt, das es eine riesige Verarsche war. Tut mir leid, dass ich so ein Wort benutze.»

«Was genau meinst du?»

«Den Kommunismus. Den sollten wir ja nach Namibia bringen, allerdings ist mir das erst später klargeworden. Es hörte sich nach einer guten Sache an, nur umsetzen lässt es sich nicht.»

«Wie sah euer Leben in der DDR aus?»

«Wir waren bei den jungen Pionieren und der FDJ. Das war Pflicht. Untergebracht waren wir in Internaten. Zusammen mit deutschen Kindern gingen wir auf eine Schule, hatten aber unsere eigenen Klassen.»

«James, würdest du nach neun Jahren in der DDR sagen, dass du typisch deutsche Eigenschaften hast?»

«Ich denke sehr deutsch. Wenn ich als Stadtführer gebucht werde, komme ich nie zu spät. Ich bin extrem pünktlich.»

«Was denkt ihr über Deutschland und die Menschen, die dort leben?»

«Hast du in Deutschland Freunde, helfen sie einem, wenn man Schwierigkeiten hat. In Wuppertal habe ich bessere Freunde gefunden als in Namibia. Die Menschen sind ehrlich. Hier hast du Freunde, solange du Geld besitzt. Das kenne ich aus Deutschland nicht. Und ich mag das Oktoberfest. Als ich meine Lehre gemacht habe, war ich einmal da. Da bekommt man diese großen Biergläser und kann abfeiern. Das ist eine super Sache, hundert Prozent.»

«Welche Verbindung habt ihr zu der deutschsprachigen Gemeinschaft in Windhoek?»

«Mit den meisten von den jungen Leuten sind wir zur Schule gegangen, die sind schwer in Ordnung. Einige von den Älteren haben bis heute noch die Mentalität von damals, in Sachen Apartheid. Es gibt immer noch Menschen, die können Schwarze nicht ab. Ich habe für eine Firma in Windhoek gearbeitet, die bis heute noch ein Klo für Weiße und eins für Schwarze hat», erklärt James und deutet zu einem Denkmal nah am Kreisverkehr. Der bronzefarbene Reiter auf einem Granitsockel ist ein überdimensionierter Soldat der Schutztruppe Deutsch-Südwestafrika, der in stolzer Haltung auf einem Pferd sitzt. In der rechten Hand ein Gewehr, in der linken die Zügel. Sein Blick schweift vom Hügel hinab ins Tal. Auf einer massiven Tafel steht der Text, der an die Opfer des Deutschen Kaiserreichs erinnert, welche in den Kolonialkriegen gegen das Volk der Herero und Nama zwischen 1903 und 1907 ums Leben kamen. An die ermordeten Schwarzen erinnert weit und breit nichts. Das Reiterdenkmal huldigt der Kolonialzeit und ist der schwarzen Bevölkerung ein Dorn im Auge, erklärt James. Exakt ein Jahr später stehe ich noch einmal an dieser Stelle. Der Reiter – verschwunden. Ich erfahre, dass das Denkmal in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Weihnachten 2013 um wenige hundert Meter weiter in den Hof der Alten Feste versetzt wurde. Gestützt von Eisenstangen, steht die Figur jetzt verloren in einer Ecke hinter Plastikflatterband. Die Pose blieb, doch jegliche Symbolik ist verflogen.

«Die Alten», erzählt James, «die seit Generationen hier leben, nennen wir Südwesterdeutsche. Die sind wie ein weiterer Stamm. Jedes Jahr feiern sie am 27. Januar dadrüben beim Reiter den Geburtstag vom Kaiser. Sie bringen die alte Kolonialfahne mit und singen das Südwesterlied.»

Ich habe noch nie davon gehört. Der Text klingt wie eine Mischung aus Hymne und Volkslied. Man hört aus der krampfhaft beschworenen Liebe zum Land ein bisschen heraus, dass die Kolonialisten selbst nicht so recht wissen, was sie hier eigentlich sollen.

Hart wie Kameldornholz ist unser Land

Und trocken sind seine Riviere.

Die Klippen, sie sind von der Sonne verbrannt

Und scheu sind im Busch die Tiere.

Und sollte man uns fragen:

Was hält euch denn hier fest?

Wir könnten nur sagen:

Wir lieben Südwest!

 

Doch unsre Liebe ist teuer bezahlt

Trotz allem, wir lassen dich nicht

Weil unsere Sorgen überstrahlt

Der Sonne hell leuchtendes Licht.

Und sollte man uns fragen:

Was hält euch denn hier fest?

Wir könnten nur sagen:

Wir lieben Südwest!

 

Und kommst du selber in unser Land

Und hast seine Weiten gesehen

Und hat unsre Sonne ins Herz dir gebrannt

Dann kannst du nicht wieder gehen.

Und sollte man dich fragen:

Was hält dich denn hier fest?

Du könntest nur sagen:

Ich liebe Südwest!

Der Kaisergeburtstag lässt mich an das Gerücht denken, das ich zum Aufhänger für meine Reise genommen habe. Wenn hier Menschen jedes Jahr den Geburtstag von Kaiser Wilhelm II. feiern, haben die Jungs ja vielleicht auch davon gehört, dass im Südwesten des Landes Hitlers Geburtstag gefeiert wird? «Nein, aber vorstellen kann ich es mir.»

Wo fühlt man sich eigentlich zu Hause, wenn man als Namibier in Deutschland aufwuchs?

«Ich kenne beide Welten, in mir lebt eine Mischung aus der afrikanischen und deutschen Kultur. Ich fühle mich in Windhoek wohl», sagt James.

Deo gefällt Deutschland eindeutig besser. Die Menschen seien dort einfach viel sozialer. An Namibia kritisiert der geborene Ovambo die ständig aufflammenden Konflikte unter den Stämmen. Vielleicht ein Hinweis, um all seine Narben zu erklären. «Außerdem lebt meine Schwester in Köln, sie ist mit einem Deutschen verheiratet. Ich kann mir nicht leisten, einfach hinzureisen, aber ich will irgendwann ganz zurück nach Deutschland, und dafür spare ich.»

Voller Stolz redet Deo über mein Geburtsland, über die Deutschen und ihre Sekundärtugenden. Zu hundert Prozent. So positiv, beinahe schon verliebt, wie er die Orte seiner Kindheit und Jugend beschreibt, kann nur ein Patriot seine Heimat sehen. Vielleicht wurde er zum deutschen Patrioten, als ihm klar war, dass er wohlmöglich nie wieder nach Deutschland zurückgehen kann.

 

Zwei Tage später verschwindet Windhoek hinter mir im Rückspiegel des Toyotas. Schon nach wenigen Minuten auf der Nationalstraße B1 Richtung Süden wirkt Namibias Ballungsgebiet wie eine austauschbare Kulisse irgendeiner Stadt. Hinter einem Hügel taucht sie endgültig ab. Und vor mir erscheint die wundervolle Weite, die Wildnis. Berge, Sträucher, hier und da einzelne Bäume. Etwas Grün. Wer Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg für dünn besiedelt hält, sollte mal hierherkommen. Fünfhundert Kilometer bis Keetmanshoop, fünfhundert Kilometer Natur in Cinemascoope. Von etwa siebzehnhundert Höhenmetern runter auf tausend Meter über dem Meeresspiegel. Parallel zu der sagenhaft gut asphaltierten B1 verlaufen zehn Meter links und rechts neben der Straße klapperige Zäune. Es gibt nahezu keinen Verkehr. Ich fahre hundertzwanzig, kratze also an der zulässigen Höchstgeschwindigkeit.

Je südlicher ich komme, umso strohiger wird das Gras. Es ist April, die Regenzeit Anfang des Jahres fiel komplett aus. Wo sonst Wasser fließt, führen kleine Brücken über vertrocknete Flussbette aus Staub und Sand. Der ausgedörrte Boden ist zerfurcht. Die Berge erscheinen unwirklicher, je flacher sie werden. Auf halbem Weg nach Rehoboth wirken sie immer mehr wie überdimensionale Maulwurfshügel in einem verbrannten Garten. Halb elf ist es, die Klimaanlage läuft auf Hochtouren. Das Thermometer im Armaturenbrett zeigt eine Außentemperatur von dreißig Grad an. Ich stelle das Radio an und bleibe kurz bei einem deutschsprachigen Sender hängen, der das Beste aus den 70ern, 80ern, 90ern und von heute spielt. Die Songs und die Jingles von Hitradio Namibia könnten auch bei jedem x-beliebigen Dudelfunk in Deutschland laufen. Auf einem anderen Kanal eine Moderation auf Englisch. Verlost werden Karten für Karnevalsveranstaltungen in Windhoek. Ich drücke wieder auf Suchlauf. Jetzt ein Gespräch auf Afrikaans; klingt fast wie Niederländisch, einzelne Wörter kann ich verstehen.

«Eva sagte, ich habe Mundgeruch», höre ich eine tiefe Stimme in meiner Muttersprache aus den Boxen zu mir sprechen.

Ich bleibe dran. Zwei Männer unterhalten sich auf NBC in der Sendung «Blick in die Welt» über Kujaus falsche Hitler-Tagebücher, die der Stern vor dreißig Jahren veröffentlichte. Hitler zieht ja immer. Das weiß man heute auch bei NBC und natürlich beim Focus, aus dem die Moderatoren ständig zitieren. Der Anschlusstitel: «Paint It Black» von den Stones, danach Syd Barrett und The Velvet Underground. Die neue Sendung zur vollen Stunde beginnt mit der «Tragischen Ouvertüre» von Brahms. Der Radioempfang reißt irgendwo im Nichts der Wüste ab. Im Osten roter Sand, die Ausläufer der Kalahari. Ich halte an, am Straßenrand macht sich eine Pavianherde über Müllreste her. Als ich aussteige, ergreifen die fünf Affen die Flucht und schwingen sich galant über den zwei Meter hohen Zaun. So schön die Leere anfangs war, nun ist jede Abwechslung willkommen, jede Kurve auf der schier endlos gerade verlaufenden B1 gleicht einem Fest. In Marienthal kaufe ich bei Spar eine kalte Cola und fülle den noch dreiviertelvollen Tank des bronzefarbenen Corollas mit Sprit.

Zweihundertdreißig lange Kilometer später erreiche ich endlich Keetmanshoop. Ein Transitstädtchen auf dem Weg nach Südafrika oder zum Fish River Canyon. Ein äußerst verschlafenes Nest mit vielen staubigen Straßen, wie aus einem Westernfilm.

 

Frisch, fromm, fröhlich, frei – das Turnerkreuz mit den vier roten F klebt unübersehbar an jeder Glastür der Bleibe, in der ich die Nacht verbringe. An Glastüren, so viel ist schnell sicher, mangelt es hier nicht. Auf dem kurzen Weg von der Rezeption zu meinem Zimmer gehe ich durch drei davon, alle mit den mächtigen roten Aufklebern geschmückt. Weitere sehe ich am Eingang der Gästezimmer. Ich bin begeistert, dass ich im tiefen Süden Namibias an Turnvater Jahn erinnert werde. Ob seine F ein Anzeichen dafür sind, dass ich auch hier Deutschsprachigen begegnen werde? Ein wenig aufgeregt nutze ich hochmotiviert die letzte Stunde Tageslicht, um die Nachbarschaft zu erkunden und noch ein paar Fotos zu schießen. Doch weit komme ich nicht. Vor dem Haupteingang des Gästehauses steht ein zierlicher, keine zwei Meter hoher Köcherbaum mit verzweigter, rundlicher Krone. Wegen dieser seltenen Pflanze steuern Touristen diese Region an, denn nordöstlich der Stadt sind in einem ganzen Köcherbaumwald so viele Exemplare wie nirgends sonst im Land zu finden. Sagt jedenfalls meine Reiselektüre. Doch weniger der Baum erregt meine Aufmerksamkeit als vielmehr ein beleuchtetes Schild an der zartgelben Fassade des Hauses. Darauf steht in altdeutschen Lettern:

Schützenhaus

Knobelklub 1907

Restaurant

Mitgliederkneipe

«Du machst viele Bilder», höre ich eine junge Stimme auf Englisch sagen.

Ich drehe mich um und sehe einen jungen Schwarzen. Er macht einen freundlichen Eindruck und wirkt wie zur Arbeit gekleidet. Seine Uniform besteht aus einem weißen Oberhemd, schwarzen, etwas zu großen Buntfaltenhosen und der dazu passenden Weste. Auf der linken Brust eine goldene Stickerei in altdeutscher Schrift: Schützenhaus Keetmanshoop. Ronny arbeitet erst seit zwei Monaten als Kellner im Restaurant des Hauses. Ohne dass ich ihn frage, erzählt er von seinem Monatsgehalt, sechshundert Namibia-Dollar, etwa fünfzig Euro.

«Sechshundert Dollar?» Ich bin nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden habe.

Ronny wiederholt die Zahl in einer Weise, die unmissverständlich deutlich macht, dass das auch in Namibia nicht allzu viel ist. Mein äußerst funktional eingerichtetes Einzelzimmer mit Frühstück kostet pro Nacht fünfhundert Dollar. Trotzdem findet Ronny seine Arbeit in Ordnung und die meisten Gäste auch. Nur manche von den Alten sollen etwas komisch sein.

«Wie komisch?», frage ich.

Er zögert einen Augenblick, wirkt beinahe verlegen um eine Antwort, aber erklärt dann mit knappen Worten, dass eben ein paar der Alten immer noch so denken wie früher. Ich befrage ihn nach Deutschland. Überraschenderweise fällt ihm nichts dazu ein. Wirklich gar nichts! Auch der Türöffner Fußball verfehlt seine Wirkung.

«Ich schaue Premier League und bin Fan von ManU. Und von der brasilianischen Nationalmannschaft.»

Ronny schlägt mir vor, dass ich in der Bar des Hauses doch ein Bier trinken könnte. Ob er denkt, dass ich als Deutscher Bierliebhaber sein muss? Seine Idee überzeugt mich jedenfalls sofort. Durch eine weitere Glastür mit Turnerkreuz geht es zurück ins Schützenhaus, Richtung Bar. Die Fichtenholzdecke im Flur der Rezeption erinnert an einen muffigen Hobbyraum vergangener Tage. Ein gerahmtes Schwarzweißfoto, es zeigt das Porträt eines Mannes mit Hemd und Fliege. Starrer Blick, kühle Ausstrahlung. Darunter in einer alt anmutenden Handschrift:

MAX BRANDENBURG

GRUENDER DES TURNVEREINS

«GUT HEIL 1907»

Turnverein, Knobelklub und Schützenhaus. Langeweile dürfte hier vor hundert Jahren bei all den Vereinen und Aktivitätsmöglichkeiten nicht geherrscht haben, obwohl Max Brandenburgs Miene das nicht gerade vermuten lässt.

Ronny stoppt vor einer dunklen Flügeltür aus Eichenholz. Überraschenderweise prangen daran nicht die vier F, sondern ein Schild in deutscher und englischer Sprache: Bis hierhin und nicht weiter. Oder tatsächlich:

PRIVAT

GÄSTE UND MITGLIEDER

Hinter dieser Tür ist die Bar, signalisiert Ronny mit einer Handbewegung. Ich nicke, drücke die Klinke und trete wie durch eine Zeitschleuse hinein in eine andere Welt. Mit jedem Schritt wächst das Gefühl, zurück in mein Heimatdorf in der hessischen Provinz der frühen 80er katapultiert worden zu sein. Dieser mir unbekannte Ort in Namibia gleicht auf den ersten Blick etwas Vertrautem, das in meinem Gedächtnis unter dem Begriff urdeutsche Dorfkneipe abgespeichert sein könnte. Das Inventar und die Anwesenden: alles wie aus einer vergangenen Zeit, in der Kneipen noch von Wirten und nicht von Innenarchitekten eingerichtet wurden. Ein gefülltes Regal mit Weinen und Spirituosen. Dazwischen kleine Metalltafeln. Auf denen steht Underberg, CASH ONLY oder Our house wine is Jägermeister.

An der Bar sitzen zwei Männergruppen. Alle hier sind weiß, man kennt sich. Mein nickender Gruß in die Runde bleibt unbeantwortet. Die Leichtigkeit des Nachmittags ist urplötzlich verschwunden, mir schnürt es ein wenig die Luft ab. Ruhig bleiben, erst mal ankommen und mit der neuen Situation warmwerden. Nur nicht von der Ignoranz der Herren irritieren lassen, es gilt dranzubleiben, zu handeln: Ran an die Theke!

Über dem gesamten Tresen thront die abgesetzte, mit Eichenholzplatten vertäfelte Decke. Hier und da strahlen eingelassene Halogenspots aus dem Holz. Die Lichtkegel zerschneiden die verrauchte Luft. An der Stirnseite des hölzernen Konstrukts hängt mitten über der Bar eine Deutschlandfahne mit dem Bundesadler. Zwei Sachen gehen mir beim Anblick der Flagge durch den Kopf. Gibt es Deutschlandfahnen auch in DIN-Normgrößen? Und: Wenn ich mich beim Wirt und seinen offenbar befreundeten Gästen als Deutscher zu erkennen gebe, sammele ich dann vielleicht Pluspunkte? Unter anderen Umständen würde ich mich zurückhalten, aber als reisender Reporter scheint es einen Versuch wert. Mit Hust- und Räusperlauten versuche ich, auf mich aufmerksam zu machen. Ich scheitere und beschließe, in die Offensive zu gehen.

Mit «Entschuldigung!» und «Hallo!» will ich den Wirt locken. Der, ein Mann Mitte sechzig, mit grauem, gepflegtem Vollbart und schmalem Haarkranz, lehnt mit verschränkten Armen drei Meter weiter lässig an der massiven Theke. Er redet mit den Gästen Afrikaans und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Schon gar nicht von einem unbekannten Deutschen. Ich brauche noch einige Bestellversuche auf Englisch, bis sich der Chef des Hauses erbarmt und aus dem Bierhahn ein großes Hansa Draught zapft.

Seine Konversation ist knapp: «Zwanzig Dollar.»

Schon ist er wieder in seiner Ecke. Ich will mich nicht so einfach geschlagen geben und lege nach, ich muss geradezu, weil jeder Hocker am Tresen belegt ist und ich ziemlich verloren rumstehe. Ich wäre in diesem Moment gerne Raucher, denn dann könnte ich mich wenigstens auf eine Kippenlänge beschäftigen. Aber ich muss den bitteren Moment der