Deutschlandglotzen - Gerhard Stadelmaier - E-Book

Deutschlandglotzen E-Book

Gerhard Stadelmaier

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Beschreibung

Einer statistischen Erhebung aus dem Jahr 2019 zufolge sitzen die Deutschen durchschnittlich nahezu ein Viertel ihrer Wachzeit vor dem Fernseher. Und das, obwohl die Jüngeren sich längst dem Internet zugewandt haben. Wen laden die Deutschen sich da alltäglich in ihr Wohnzimmer, wer betritt die Bühne ihres Zimmertheaters? Wie wird das Publikum bei der Stange gehalten, Einfluss auf sein Alltagsleben ausgeübt? Welche dramaturgischen Techniken und Tricks kommen dabei zum Einsatz? Gerhard Stadelmaier verbrachte wochenlang ganze Tage vor dem Fernsehbildschirm, ließ all das auf sich wirken, was die Öffentlich-Rechtlichen ihrem gebührenpflichtigen Publikum zu bieten haben, um Antworten auf diese Fragen zu finden. Überraschende Parallelen taten sich ihm dabei auf zwischen Shakespeares Bühnenhelden und dem Personal des »größten deutschen Staatstheaters«.

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Reihe zu Klampen Essay

Herausgegeben von

Anne Hamilton

Gerhard Stadelmaier,

Jahrgang 1950, studierte Germanistik und Geschichte in Tübingen. Bis 2015 war er leitender Redakteur für Theater und Theaterkritik bei der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« und prägte während dieser Jahre die deutsche Theaterkritik. Von 2002–2008 hatte er eine Professur an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main inne. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen »Parkett, Reihe 6, Mitte« (2020), »Liebeserklärungen. Große Schauspieler, große Figuren« (2012), »Umbruch« (Roman, 2016), und »Don Giovanni fährt Taxi« (Noveletten, 2020). Bei zu Klampen ist von ihm erschienen:

»Regisseurstheater. Auf den Bühnen des Zeitgeists« (2016).

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Avantpropos

Der kleine rote Ball oder: Wer sitzt auf dem Königsthron?

Lage und Sprache der Nation oder: Treibt sie zu Paaren!

Wer guckt, wird beguckt oder: Die Gouvernantentanten im Stuhlkreis

Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Mops oder Pornotheker

Es gabat a Leich’ oder: Hier dürfen Familien Verbrecher jagen

Dazu haben sie die tiefen Blicke oder: Das Drama, zum Teufel, höret nimmer auf

Ich bin ein Komiker, holt mich hier raus! oder: Die beleidigten Hofnarren

All jenen gewidmet, die ihre Fernbedienung verlegt haben.

Avantpropos

Warum sehen wir fern? Offenbar, weil es uns nach Nähe verlangt. Nach Gesellschaft. Nach bewegten und bewegenden Gefährten. Nach dem, was die älteren, naiveren Leute früher »eine Ansprache« genannt haben. Ein Besucherservice, der uns ins Haus schneit. Unvergessen die Abschiedsworte Robert Lembkes nach jeder »Was bin ich?«-Sendung: »Ich hoffe, Sie laden uns wieder zu sich ein, wenn es heißt ›Was bin ich?‹.« Das ist lange her. Und Zuschauer unter vierzig werden sich nicht mehr daran erinnern. Und heute würden sich alle halbtot lachen über die »Welches Schweinderl hätten S’ denn gern?«-Frage des großen Rate-Onkels in seinem bayerischen Gemütsbariton, kleine niedliche farbige Porzellanborstentiere betreffend, in die bei jeder Vermutungsfrage des »Gehe-ich-recht-in-der-Annahme?«-Rate-Teams, die nicht dazu führte, den Beruf des jeweiligen Kandidaten herauszubekommen, jeweils ein Fünfmarkstück plumpste, und Mark oder D-Mark oder ganz einfach DM, liebe Kinder, das war das Geld, mit dem man damals um sich schmiss, als es noch keinen Euro gab. Die Frage aber bleibt: Wen lädt man sich da ins Haus, wenn man fernsieht? Wen lässt man in unser Kammer- und Zimmertheater, in dem der Bildschirm die Bühne darstellt? Wer betritt sie? Welche Figuren, welche Typen, welche Masken treten da auf? Was für Stücke werden aufgeführt? Und in welcher Sprache? In welchen Spielformen und mit welchen Dramaturgien? Macken und Marotten? Ticks, Tricks und Techniken? Und wenn sie dorthin schauen, wo unsere Augen nicht hinreichen, und von Taten, Sachen, Vorgängen erzählen, die nur sie sehen, ähnlich den Mauerschauern in den alten Theaterstücken, wie wahr scheinend oder nur illusionär ist dann das Geschau der Mauerschauer, die Dioptrieschärfe ihrer Augen?

Dabei ist das Fernsehen ein altes Medium. Oder umgekehrt: Es ist kein junges Ding mehr und vor allem kein Ding für die Jungen. Zwar ist es allen Deutschen, in seinen Formaten wie in seinen Figuren, gegenwärtig. Und es hält auch, noch vor dem Hörfunk, die Mediennutzerspitzenposition. Nur die Vierzehn- bis Neunundzwanzigjährigen, also die noch ganz Jungen und diejenigen Jungen, die schon ein bisschen dem Alterungsprozess sich entgegenängstigen, nutzen das Internet häufiger als ihren Fernseher. Die asoziale, von kapitalistischster Datenausbeutung bestimmte Massenmedienkrake mit ihrer scheinsozial und vor allem anonym bemalten Maske ziehen sie der öffentlich-rechtlich bespielten Kammertheaterbühne vor. Der Rest ist ein gut sortiertes Älterenheim, das sich da vor den öffentlich-rechtlichen Geräten versammelt.

Wenn nun aber doch 95 Prozent aller deutschen Haushalte eines oder mehrere Fernsehgeräte in der Wohnung stehen haben, und jeder Deutsche, und eben auch insgesamt quer durch die Alters- und Generationenstufen, nach einer statistischen Erhebung von 2018 (seither wird sich da wenig geändert haben) über die Jahre hin durchschnittlich 221 Minuten am Tag fernsieht, das sind fast vier Stunden – dann sitzen die Deutschen ungefähr ein Viertel ihrer Wachzeit vor dieser Bühne. Ganz abgesehen davon, dass jeder deutsche Haushalt, gleichgültig ob ihm nach Fernsehen ist oder nicht, per Gesetz dazu verdonnert ist, eine Zwangsabgabe, eigentlich eine Steuer, altmodisch »Rundfunkgebühr« genannt, monatlich zu entrichten. Die Deutschen also dem Fernsehen gar nicht entkommen können. Und wenn sie dann zu Bett gehen, beschleicht sie manchmal das unangenehm heimliche Gefühl, nicht sie sähen fern, sondern das Fernsehen sähe ihnen zu. Es komme ihnen näher, als es ihnen lieb wäre. Es wisse mehr (fast alles) über sie, als sie über es zu wissen sich je zugetraut hätten. Es hätte sie im Griff. Es steuere ihr Alltagsgehabe und überhaupt ihren ganzen Gedanken- und Gefühlshaushalt mit »Tue dies, denn es tut dir gut!« oder »Lass jenes bleiben, das schadet dir!«. Kurz: es beaufsichtige sie. Aber dieses Gefühl verschwindet immer wieder so albtraumschnell, dass sie seine Ursache der Bühne und ihren Figuren kaum anrechnen. Es nicht als Folge einer Inszenierung wahrnehmen. Wer das möchte, der muss den Theaterkritiker in sich wecken. Der sich, um es sich einfach kompliziert zu machen, aufs große deutsche Staatstheater der sogenannten Öffentlich-Rechtlichen (ARD und ZDF) kapriziert und konzentriert. Einen Versuch (frz.: essay) ist das auf jeden Fall wert.

Der kleine rote Ball oder: Wer sitzt auf dem Königsthron?

Am Abend des 19. April 2020, einem Sonntag, knapp vor 21 Uhr 45, war es dann so weit: Der kleine rote Ball rollte durchs Bild. Er hatte seit Mitte Januar die weitere, vorzugsweise fernöstliche oder italienische, später auch die französische und amerikanische, mindestens seit Anfang März die deutsche Welt in Bann und Atem und Zwang und Todesangst massenhaft gefesselt gehalten. Hatte zu Wirtschaftskollapsen, medizinischen Tragödien, Grenzschließungen, Quarantänen, Ansteckungshorribilitäten, Leichentransporten mittels Militärfahrzeugen und Sonderzügen geführt. Erzwang Betriebs- und Schul- und Kindergartenschließungen, Absagen von Festivals, von Konzerten, Opern, Schauspielen, Sportveranstaltungen, Parteitagen, Kongressen bis weit in den Herbst hinein. Verdonnerte Millionen zur Arbeit von zu Hause aus. War schuld daran, dass zum ersten Mal in unserem bewusst gelebten Dasein es keine Passionsmusiken und Gottesdienste in der Karwoche gab, dass diese »Woche, Zeugin heiliger Beschwerde!« (Mörike) zu einer absolut leeren lähmenden Beschwernis wurde, worauf auch keine Osternachtsfeier samt Osterfeuer, kein Hochamt am Hochfest der Auferstehung Jesu Christi, keine feierliche lateinisch gesungene und mit Mozart- und Engelsstimmen musizierte Orchestermesse folgte, keine Feier der Erstkommunion eine Woche später.

Das verfluchte kleine rote Ding veranlasste Panikkäufe, Klopapier- und Mehlhortungshysterien. Forderte nie gekannte Abstands-, Maskenzwang- und Händewasch- und Desinfektionsregeln. Schuf ganz neue Wichtigkeitswörter, wie zum Beispiel »Risikogruppe« und »systemrelevante Gruppen«, als sei nicht jeder fürs gesellschaftliche Leben relevant, das sie nennen mögen, wie sie wollen, gerne auch »System«. Zog aber auch Gutes nach sich: Weil plötzlich die blödsinnige Abschiedsfloskel »Tschüss!«, was ja eigentlich nichts weiter als eine Verballhornung des schönen alten »Adieu« ist, wenn nicht ganz verschwand, so doch teilweise ersetzt wurde durch den neuen Gruß der Stunde »Bleiben Sie gesund!«. Aber leibhaftig gesehen hatte den kleinen roten Ball bis dahin niemand außer vielleicht ein paar Virologen unter ihren Supermikroskopen. Aber nun rollte er durchs Fernsehbild. Das heißt, er rollte nicht. Gezeigt wurde, dass er schwamm: durchs Schluss-Bild eines »Tatorts«. Und da bei der Erstausstrahlung eines »Tatorts« im Schnitt neun Millionen Zuschauer auf die Bildschirmbühnen bei sich zu Hause schauen, schwamm der kleine rote Ball auch durch neun Millionen theatralisch einsame Köpfe.

Zwar hatten sich ganz gewiss mehr als die üblichen neun Millionen »Tatort«-Zuschauerköpfe schon ein Bild vom kleinen roten Ball gemacht, benannt »das Virus«. Manche wechselten auch vom »das« in »der Virus«, als sei’s ein lebensvolles Subjekt statt eines tückisch das Leben attackierenden Nicht-Lebewesens, das als Hintergrund-Bühnenbild bei fast keiner informationellen Fernsehsendung fehlte in diesen allumfassenden Katastrophen-Tagen, an dessen vielen Unglückseligkeiten allein dieser kleine rote Ball schuld war. Und ganz gewiss war der »Tatort« aus Frankfurt bereits ein Jahr zuvor gedreht worden, als noch niemand etwas vom kleinen roten Ball und seiner tödlichen Gefährlichkeit wusste oder auch nur wissen wollte. Und natürlich trug der kleine rote Frankfurter »Tatort«-Ball auch nicht auf seiner Oberfläche diese vielen gewürznelkenhaften horrorniedlichen Pustel-Noppen, die der kleine rote Virus-Ball, von dem man sich sonst immer nur ein virologisches schematisches Vergrößerungshintergrundbild gemacht hatte, im Fernsehen jener Tage von morgens bis mitternachts auf allen Kanälen zuverlässig trug. Aber gerade deshalb taugte er wunderbar zum Stellvertreter. In einem pandämonischen Königsdrama. Nicht umsonst trägt das Virus den wunderschönen lateinischen Namen »Corona«, was ja einen Ehrenkranz, auch eine Art Krone bedeutet.

Man sah in diesem »Tatort« also einen erst mäßigen, dann immer reißender werdenden Bach, der über den Flur des Frankfurter Polizeipräsidiums strömte. Und den kleinen roten Ball mit sich riss. Polizeipräsidiumsflure, in die durch schadhaft reparierte Dächer und Wände Wassermassen dringen, zeigen an, dass die Welt der Ordnungen und Sicherungen und also der beruhigenden Verfolgung alles Bösen aus allen Dichtungsfugen sein muss. Und kein Hamlet in Sicht, der, »oh Pein und Gram, zur Welt sie einzurichten kam«. Was ja sowieso immer schiefgeht. Sodom und Gomorrha am Main. Apocalypsis cum figuris. Der Titel: »Die Guten und die Bösen«. Das System: in Auflösung begriffen. Das Polizeipräsidium eine marode Baustelle voller Fallen, Tür-Wirrnisse, Flur-Leerstellen, fehlender Wände, kreischender Sägen, wummernder Elektro-Hämmer, mit lauter Nicht-Orten für unmögliche Verhöre in einem düsteren, ausweglosen Drama mit verkaterten Polizisten, die ihre mit Erbrochenem besudelten Hemden mangels Umkleideräumen auf dem Präsidiumsparkplatz wechseln müssen – und einem sturen Kollegen, der sich umstandslos als Mörder und Folterer bekennt.

Er hatte den mutmaßlichen Vergewaltiger seiner Frau, die sich nach dem ihr zugefügten Verbrechen von ihm scheiden ließ und Selbstmord beging, erst gefesselt, ihm mit brennenden Zigaretten ganze Hautpartien versengt und ihn dann mit einer Plastiktüte erstickt: »Um das System zu retten« und mit seiner bösen Tat »die Guten zu rechtfertigen«, die mitsamt ihrem Rechtssystem den Vergewaltiger und Frauenschänder damals aus Mangel an handfesten Beweisen hatten laufen lassen müssen. Dieser Polizist heißt Matzerath wie der kleine Oskar aus der »Blechtrommel«, und die längst pensionierte Kommissarin, die in irgendeinem leeren, düsteren Archiv-Untergeschoss des Präsidiums sitzt wie eine Parze, die versucht, die Aktenlebensfäden der unerledigten Fälle noch einmal aufzuwickeln, bevor sie die Verjährungsfrist abknipst, heißt Bronski. Als ermittele – wenigstens den Namen nach – die halbe Günter-Grass-Kaschubei in einem Frankfurt a. d. Danziger Bucht. Bewohnt von lauter bösen Würgegeistern aus früherer böser Zeit, die jetzt zugreifen und zudrücken. Als gäbe es kein Morgen.

Die Bronski wurde von Hannelore Elsner gespielt. Eine ihrer letzten Rollen vor ihrem Tod im April 2019. Eine Figur, still, zäh, nur noch von der pergamentdünnen Haut ihres aus allen Erloschenheiten in brennender Zähigkeitssorge aufflackernden Willens zusammengehalten, der nicht mehr viel Zeit hat. Der kleine rote Ball gehörte dem Hund der Bronski, der ihn vor sich herjagte, mit dem Maul danach schnappte, ihn einzufangen versuchte. So dass die Kamera allzu oft auf Bodenhöhe mit dem kleinen roten Ball bleiben zu müssen glaubte: als sei er, nicht die anderen, am wenigsten der Hund, die Hauptsache. Und am Ende schwamm er so triumphal wie wellentänzelnd hohnvoll davon – hinaus in die Welt. In die hinein er alles Unheil mitnahm und sie damit infizierte. Und nahm auch in der Welt Platz. Auf einem Herrscherthron. Dem ein Jahr später die ganze bewohnte Welt untertan war, und natürlich auch die Fernsehsender dieser Welt. Und der diese ganze Welt in einen tiefen, weiten Stillstand, einen tranceähnlichen Schlaf versetzte. Sie zur absoluten Passivität und Bewegungslosigkeit verdammte, gleichgültig, ob Demokratien oder Diktaturen, Präsidialzarenreiche oder Gottesterrorstaaten, autokratisch Links- oder Rechtsunterdrückte, Arme oder Reiche. Er machte sich dabei natürlich wieder unsichtbar. So unsichtbar eben wie eine Metapher, die sich in ein Virus zurückverwandelt. Aber er herrschte sichtbar und gründlich und gnadenlos: gekrönt als König Corona.

Kann gut sein, dass er, wenn dieses Buch erschienen sein wird, längst wieder vom Thron verstoßen sein wird. Weshalb hier das Imperfekt durchaus sinnvoll scheint. Obwohl es eine – auch und gerade auf allen Fernsehkanälen – verbreitete ideologische Gewissheit gab, die behauptete, nichts werde »nach Corona« noch so sein wie »vor Corona«. Und also der Königsthron auf Jahre hinaus vom kleinen roten Ball besetzt bleiben würde. Man muss aber mit der menschlichen und vor allem mit der medialen Vergesslichkeit, ja Gleichgültigkeit und Leichtsinnigkeit durchaus rechnen: dass nämlich auch »nach Corona« alles beim alten bleiben wird. Wie nach allen Katastrophen bisher noch immer alles beim alten geblieben ist. Kann aber auch genauso gut sein, dass er noch lange Zeit herrschen wird. Auf seine Art.

»Man muß spüren, daß die Welt des Gewöhnlichen plötzlich anhält, in Schlaf versinkt, in Trance, in einem schrecklichen Waffenstillstand erstarrt; die Zeit muß gelöscht, alle Verbindung zur Außenwelt gekappt sein, und alles muß, zurückgezogen in sich selbst, in eine tiefe Ohnmacht fallen, das Irdische vergessend.« So beschwört Thomas de Quincey in seinem 1823 erschienenen Essay »Über das Klopfen an die Pforte in Shakespeares ›Macbeth‹« den Zustand einer unheimlichen Quarantäne: »Mord und Mörder müssen isoliert werden – abgeschnitten durch einen unermeßlichen Graben von dem gewöhnlichen Auf und Ab des menschlichen Treibens und eingeschlossen in eine tiefe Abgeschiedenheit.« Thomas de Quincey, ein »al fresco«, also außerhalb der üblichen gesellschaftlichen Grenzen lebender romantisch verzweifelt frei vazierender Schreibgeist, der sich nicht nur in seinen »Bekenntnissen eines englischen Opiumessers« und seinem berühmtesten Werk »Mord als schöne Kunst betrachtet« (1853) vom Abseitigen, Irrationalen, Verbotenen fasziniert zeigt, hat dabei das nächtliche Gemetzel im Auge, das Macbeth und seine Lady am schlafenden König Duncan verübten, der auf Macbeths Burg zu Gast war.

Ein Mord, der noch viele Morde nach sich ziehen wird, ganze Hekatomben von Toten. »An jedem neuen Morgen heulen neue Witwen, / Und neue Waisen wimmern; neuer Jammer / Schlägt an des Himmels Wölbung, daß er tönt…«, klagt Macduff (IV/3) über den mörderischen Krieg, den Macbeth gegen alle und alle Welt angezettelt hat (in der Schlegel-Tieckschen deutschen Übersetzung). Es ist wie eine Seuche, eine Selbstansteckung in Macbeth (und in seiner Lady), eine virale Hirn- und Gedankenentzündung: »O Zeit! Vor eilst du meinem grausen Tun! / Nie wird der flücht’ge Vorsatz eingeholt, / Geht nicht die Tat gleich mit. Von Stund an nun / Sei immer meines Herzens Erstling auch / Erstling der Hand. Und den Gedanken gleich / Zu krönen, sei’s getan, so wie gedacht.« Und ein Arzt, eine Art Schloss-Psychiater, diagnostiziert: »Von Greueln flüstert man – und Taten unnatürlich / Erzeugen unnatürliche Zerrüttung.« (V/2) Was aber De Quincey nicht weiter interessiert. Er bleibt bei diesem einen Moment stehen. Und er beschreibt in Worten, die wie von den Opiaten getränkt wirken, die man aus den Blumen des Bösen destilliert, einen absoluten moralischen Lockdown. Der erst durch das Pochen an die Pforte wieder gelöst und gelockert wird, als Macduff und Lenox kommen, und mit ihnen wieder die normale Welt Einzug hält. Oder was die Welt so für normal hält.

Wobei der Schloss-Pförtner, der beinahe so berühmt geworden ist wie der Titelheld des Dramas, beim Wahrnehmen des Pochens einen grandiosen Monolog hält, auf den De Quincey allerdings nicht näher eingeht, ihm genügt allein die Tatsache des Pochens, der Pförtner als Figur und Person ist ihm gleichgültig. In diesem Monolog rätselt der Pförtner, indem er sich, noch immer halbtrunken vom Besäufnis der letzten Nacht, die Hosen anzuziehen versucht, wer da wohl Einlass begehre: ein Pächter, der sich »in Erwartung einer reichen Ernte aufhing?«; »ein Zweideutler, der in beide Schalen gegen jede Schale schwören konnte, der um Gottes willen Verrätereien genug beging und sich doch nicht zum Himmel hinein zweideuteln konnte?«; »ein englischer Schneider, hier angekommen, weil er etwas aus einer französischen Hose gestohlen?«. Sein Resümee: »Hier ist es zu kalt für die Hölle; ich mag nicht länger Teufelspförtner sein.« Nämlich für kapitalistische Selbstmörder, rabulistische Jesuiten, nationalistische Diebe. Aber immerhin Leute von Welt. Wenn auch Schelme. Von draußen. Und es ist wie eine Erlösung. Die Tragödie nimmt endlich ihren effektvollen Lauf – bis hin zur Vernichtung des falschen, mörderischen Königs. Auf freiem Feld. Im Offenen. Aber, wie gesagt, mit Hekatomben von Toten.

Am Abend des 18. März 2020 war es im großen deutschen Königsdrama umgekehrt. An die Fernsehpforte klopften mit fast hysterischer Munterkeit und rasselnd und tempolustig gehörigen Lärm machend: lauter Prothesen. Krücken. Hilfsmittel. Wunderdinge. Lebensretter. Erlöser. Befreier. Herkommend aus den Feldlazaretten der großen Gesundheitsschlachten. Draußen vor dem Tor. Zuerst ein von einem lustigen, in Reibeisen-Baritonlage sprechenden Mops begleitetes Wesen namens Voltaren: das als einzureibendes Gel die Befreiung von allen Gliederschmerzen verhieß. Wir werden ihm in einem späteren Kapitel noch einmal begegnen. Dann ein Mascara-XL-Volumen-Ding, das langes, schönes Wimpernwachstum versprach. Dann gleich noch ein Schmerz-Gel, das eine am Meeresstrand samt Hund und Mann ins Bild kommende ältere, wiewohl immer noch schöne, reife Frau im Regenmantel zur alles Gute garantierenden Folge hatte, die sich als zuvor Nackte das Gel in die Schulter gerieben hatte und nun, trenchcoatbedeckt, vor schäumenden Meereswellenkämmen als eine Soft-Erotikerin der Dankbarkeit mit dementsprechendem über die Schulter geworfenen Augenaufschlag selig bekannte: »Doc, ich liebe dich!« Wogegen es die darauf folgende jüngere, ihre notbergende Verkrampfung nur mühsam unter lächelnder Kontrolle haltende Frau schwerer hatte, ein Latschenkiefer-Konzentrat zur Reduzierung der Fußhornhaut so zu präsentieren, dass man ihrem mühsam einstudierten zähnebleckenden Jubellaut »Meine Hornhaut is wech!« genau den Glauben schenken mochte wie dem meckernden Gelächter einer bebrillten grauschlaffen Frühgreisin, die nach Einnahme eines legalen pharmazeutischen Dopingmittels namens Vitasprint verkündete, »ich könnte die Welt aus den Angeln heben«. Dem dann ein in grenzdebilen Lächelorgien fast versinkendes Strahlemädchen die Wunderkrone aufsetzte, indem sie sich auf neidisches Befragen durch eine Lächelorgien-Kollegin offenbar mit einem Hyaluron-Präparat eingerieben hatte, das ihr eine »natürliche Hautbräune« sicherte und den »Spaß daran, nun endlich auch im Winter mehr Haut zu zeigen«. Dabei war schon hellster Frühling.

Und all diese an die große deutsche Fernsehpforte herrisch pochenden Prothesen, auf deren Werbegelder die öffentlich und rechtlich und mit einer unterschiedslos erhobenen milliardenschweren Zwangsabgabe finanzierten Sendeanstalten eigentlich nicht angewiesen sein sollten, die also eine gewisse willkürliche, aufdringliche Rolle spielten, verlangten Einlass, begehrten Öffnung, riefen: »Platz da für die Wunden und Siechen! Die wir wieder heilen!« Doch das Tor blieb zu. An diesem Abend sogar demonstrativ. Gleich nach der Hyaluron-Mamsell kam eine Deutschlandfahne halb und eine Europaflagge zu einem Viertel ins Bild. Die starre Kamera war durch ein großes Fenster des Berliner Kanzleramts auf den Reichstag gegenüber gerichtet, konzentrierte sich aber auf die deutsche Bundeskanzlerin, die im dunkelblauen Blazer, mit einer dezenten Kette um den Hals und sanft toupierter Bob-Frisur an einem großen Schreibtisch vor dem Fenster Platz genommen hatte. Und die Königsdramen-Verhältnisse umkehrte. Der König, der »bloody dog« und »scheußliche Tyrann«, wurde ausgeschlossen. Er musste draußen bleiben. Zumindest sollte er das. Es wurde ein Bann über ihn verhängt. Und wie im deutschen Regisseurstheater, im künstlerischen wie im politischen, üblich, kam es in der Tragödie, die hier ihren Gang nahm, zu einem fundamentalen Figuren- und Charakterverwechslungstausch.

»Nimm etwas Wasser und wasch von deiner Hand das garst’ge Zeugnis«, verlangt ja Lady Macbeth (II/3) von ihrem Mann (nach dem Mord an Duncan). Und später fragt der Arzt, wie gesagt eine Art Schlosspsychiater, als er die Lady schlafwandeln sieht (V/2): »Was macht sie nun? Schaut, wie sie sich die Hände reibt.« Und die Kammerfrau der Lady klärt auf: »Das ist ihre gewöhnliche Gebärde, daß sie tut, als wüsche sie sich die Hände; ich habe wohl gesehen, daß sie es eine Viertelstunde hintereinander tat.« Wenig später bringt sich die böse Lady Macbeth um. So hält sie Abstand zur Welt. Und wäscht ihre Hände in Schuld: bei Shakespeare (1606). Bei Angela Merkel (2020) wird die böse Lady zur guten, vorsehenden, sorgenden Kanzlerin, die das Land, das ganze große Schloss Deutschland, gegen den bösen viralen Terror- und Infektionskönig abschließt, das Tor, die Pforte verrammelt, »zu Hause bleiben«, »Abstand halten« (»im Moment ist Abstand der Ausdruck von Fürsorge«), »niemand ist verzichtbar«, »jeder wird gebraucht«, »gemeinsam schützen und helfen« als Losungen ausgibt und den »Lock-« oder auch »Shutdown«, bezeichnend das radikale Herunterfahren alles gesellschaftlichen Lebens, in den allgemeinen Umgangssprachschatz befördert – aber alles mit dem hauptsächlichen internen Rettungsvorschlag grundiert, den ihr die Lady vorgesprochen zu haben scheint: Hände waschen! Nicht gerade eine »Viertelstunde hintereinander«, aber mindestens 30 Sekunden. Für viele Deutsche, die nicht bis 30 zählen, aber dafür ein kompliziertes englisches Geburtstagslied gut singen können, wird danach in vielen aufklärenden Fernseh-Gesprächsrunden und -interviews der Rat gegeben, sich so lange die Hände zu waschen, bis man zweimal hintereinander »Happy Birthday« gesungen habe. Je lauter man das tut, desto länger dauern die 30 Sekunden …

Was sich als Folge dieser und noch anderer, gleichartiger, wenn auch nicht so gewichtig staatsbewegender Ansprachen der Kanzlerin ergab, war ein großes, beispielloses, folgsames allgemeines Zusammenrücken: ein Volk!, eine Republik!, eine Disziplin! Eine anscheinend durch alle Schulen der Vernunft und der Aufklärung gegangene Einsicht in die Notwendigkeit, sich zurückzunehmen, bestimmte, genau definierte Grundrechte nicht wahrnehmen zu können, zum Beispiel das Recht auf Versammlungs- und Reisefreiheit. Quer durch alle gesellschaftlichen Schichten. Die Angst vor dem Tod durch die Heimtücke der unkontrollierbaren, weltweit und ja Kontinente und Länder wie nichts überrollenden Feldzüge des Königs Corona hatte die Menschen, die ja die einzigen Tiere sind, die wissen, dass sie sterben müssen, paradoxerweise in Abermillionen Einsamkeiten und Voneinanderabsonderungen und Abstandshaltungsregeln zusammengeschweißt. Enge in großer Distanz. Wenigstens eine Zeitlang. Ungefähr vier Wochen. Dann war die Zusammenrückgeduld vielerorts aufgebraucht. Aber gleichwohl hüpften in jeder Werbepause seitdem die Comic-Mainzelzipfelmännchen des ZDF auf Springbällen durch die Szene, über die »Abstand halten« geschrieben ward oder »Wir bleiben zu Hause« oder »Nicht in Gruppen rausgehen« oder »Bleibt gesund« oder »Hände waschen«. Es war, als hätte der Ausnahmezustand, in den die Republik versetzt und gezwungen wurde, Monsieur Alcèste aus Molières »Menschenfeind«, wenigstens so, wie ihn Botho Strauß bearbeitet hat, aufs Menschenfreundlichste, also aufs Paradoxeste gerechtfertigt: »Menschen sind mein Schlimmstes!« verkündet der Alcèste des Botho Strauß. Er meint es grundsätzlich, weil au fond und aus Existenzgrundsatz misanthropisch. Das Schlimmste freilich, was die Gefahr einer Ansteckung angeht, ist dem Menschen der andere, vom Virus womöglich befallene Mensch. Die Distanz, der mit abwehrenden Ekelgesten garnierte Abstandswille, den Alcèste zelebriert, wird, wenn das Böse in Virus-Gestalt so sichtbar unsichtbar allgemein in der Welt ist, zur wenn nicht schon menschenfreundlichen, so doch wenigstens menschenschonenden Regel.

Aber dann der per »Tagesschau«- und »heute«-Nachrichten eingeblendete Gegensatz zur deutschen Regelschule: die wilde Kriegserklärung aus nahfernem Freundesland: »Nous sommes en