Deutschlands schrägste Orte - Pia Volk - E-Book

Deutschlands schrägste Orte E-Book

Pia Volk

0,0
11,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

EIN FÜHRER ZU DEN SELTSAMSTEN ORTEN DEUTSCHLANDS

Alles vermessen, entdeckt, bekannt – gibt es in Deutschland überhaupt noch Plätze zum Staunen und Wundern? Die Geographin und Journalistin Pia Volk hat sich zwischen Wattenmeer und Allgäu, zwischen dem Frankfurter Mainufer und dem Sorbenland umgesehen und ist dabei auf lauter seltsame und seltsamste Orte gestoßen: eine Eiche mit eigener Adresse, ein fortgespültes Atlantis in der Nordsee, ein Kronleuchter in der Kölner Kanalisation, die letzte noch erhaltene Grenzschleuse für sowjetzonale Agenten.

Pia Volk ist einen Pfad entlanggewandert, der über das Gelände eines Atomkraftwerks führt, und hat einen Truppenübungsplatz durchquert auf dem Weg zu mächtigen Gräbern, von denen niemand weiß, wie sie gebaut wurden. Sie ist über eine mit Hohlräumen durchsetzte Felslandschaft gesprungen, in der alles Wasser verschwindet, und hat sich erklären lassen, wie man von einem Kirchturm auf das wohl gigantischste Ereignis der deutschen Erdgeschichte schließen kann. Sie hat sich sorbische Märchen angehört, saterfriesische Sprichwörter und Töne, die Jahre anhalten. Über all diese bizarren Landschaften, exzentrischen Welten und obskuren Objekte berichtet sie. Spannend und unterhaltsam führt sie zu geographischen und historischen Kuriositäten und lehrt uns, das eigene Land mit neuen Augen zu sehen.

  • Geheime Plätze, obskure Objekte, bizarre Landschaften – Deutschland abseits bekannter Pfade
  • Die beschriebenen Orte sind über ganz Deutschland verteilt
  • Für alle geographisch und historisch Interessierten

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Pia Volk

Deutschlands schrägste Orte

Ein Fremdenführer für Einheimische

Mit Illustrationen von Lukas Wossagk

C.H.Beck

Zum Buch

Geheime Plätze, obskure Objekte, bizarre Landschaften – Deutschland abseits bekannter Pfade

Alles vermessen, entdeckt, bekannt – gibt es in Deutschland überhaupt noch Plätze zum Staunen und Wundern? Die Geographin und Journalistin Pia Volk hat sich zwischen Wattenmeer und Allgäu, zwischen dem Frankfurter Mainufer und dem Sorbenland umgesehen und ist dabei auf lauter schräge und seltsamste Orte gestoßen: eine Eiche mit eigener Adresse; ein fortgespültes Atlantis in der Nordsee; ein Kronleuchter in der Kölner Kanalisation; die letzte noch erhaltene Grenzschleuse für sowjetzonale Agenten. Sie ist über eine mit Hohlräumen durchsetzte Felslandschaft gesprungen, in der alles Wasser verschwindet, und hat sich erklären lassen, wie man von einem Kirchturm auf das wohl gigantischste Ereignis der deutschen Erdgeschichte schließen kann. Sie hat sich sorbische Märchen angehört, saterfriesische Sprichwörter sowie Töne, die Jahre anhalten. Über all diese bizarren Landschaften, exzentrischen Welten und obskuren Objekte berichtet sie. Spannend und unterhaltsam führt sie zu geographischen und historischen Kuriositäten und lehrt uns, das eigene Land mit neuen Augen zu sehen.

Über die Autorin

Pia Volk schreibt. Meist stolpert sie eher zufällig über ihre Themen, trifft Menschen, die sie außergewöhnlich findet, hört von Orten, die seltsam sind, oder ihr werden Geschichten erzählt, die sie innehalten lassen. Ihre Texte sind in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, der Süddeutschen Zeitung, der Zeit und in vielen verschiedenen Magazinen erschienen. Als Erzählerin hört man sie bei Deutschlandfunk Nova. Pia hat Geographie und Ethnologie studiert und nach ihrem Abschluss ein Journalistikstudium absolviert. Von Leipzig aus erkundet sie die große, weite Welt.

Inhalt

Vorwort

Obskure Objekte

Bräutigamseiche – 54° 08ʹ 10.6ʺ nördlicher Breite; 10° 33ʹ 20.5ʺ östlicher Länge

Haus des Karl Junker, Lemgo – 52° 01ʹ 33.7ʺ nördlicher Breite; 8° 55ʹ 03.1ʺ östlicher Länge

Frankfurter Küche in der Siedlung Römerstadt – 50° 09ʹ 05.8ʺ nördlicher Breite; 8° 37ʹ 52.0ʺ östlicher Länge

Nonnenchor im Kloster Wienhausen – 52° 34ʹ 50.2ʺ nördlicher Breite; 10° 11ʹ 07.1ʺ östlicher Länge

Sieben Steinhäuser – 52° 48ʹ 03.0ʺ nördlicher Breite; 9° 47ʹ 49.9ʺ östlicher Länge

Schwerbelastungskörper – 52° 29ʹ 03.0ʺ nördlicher Breite; 13° 22ʹ 17.9ʺ östlicher Länge

Wunderland Kalkar – 51° 45ʹ 52.8ʺ nördlicher Breite; 6° 19ʹ 37.9ʺ östlicher Länge

Under Cover

Kronleuchtersaal in der Kölner Kanalisation – 50° 57ʹ 02.5ʺ nördlicher Breite; 6° 57ʹ 48.4ʺ östlicher Länge

Emilianusstollen, Wallerfangen – 49° 19ʹ 49.9ʺ nördlicher Breite; 6° 40ʹ 47.4ʺ östlicher Länge

Oppenheimer Keller – 49° 51ʹ 11.5ʺ nördlicher Breite; 8° 21ʹ 17.6ʺ östlicher Länge

Hilfskrankenhaus Gunzenhausen – 49° 07ʹ 06.1ʺ nördlicher Breite; 10° 45ʹ 53.9ʺ östlicher Länge

Ferropolis – 51° 45ʹ 33.3ʺ nördlicher Breite; 12° 26ʹ 48.1ʺ östlicher Länge

Deutsches Zusatzstoffmuseum – 53° 32ʹ 27.1ʺ nördlicher Breite; 10° 01ʹ 15.2ʺ östlicher Länge

Grenzschleuse im Schifflersgrund – 51° 17ʹ 09.5ʺ nördlicher Breite; 9° 59ʹ 32.0ʺ östlicher Länge

Bizarre Landschaften

Nördlinger Ries – 48° 51ʹ 13.3ʺ nördlicher Breite; 10° 29ʹ 13.2ʺ östlicher Länge

Gottesacker – 47° 21ʹ 40.4ʺ nördlicher Breite; 10° 06ʹ 04.0ʺ östlicher Länge

Stinksteinwand am Hohen Meißner – 51° 12ʹ 45.2ʺ nördlicher Breite; 9° 52ʹ 15.6ʺ östlicher Länge

Flächennaturdenkmal 0036SK – 51° 28ʹ 14.7ʺ nördlicher Breite; 11° 46ʹ 08.4ʺ östlicher Länge

Das Nizza, Frankfurt am Main – 50° 06ʹ 24.5ʺ nördlicher Breite; 8° 40ʹ 29.0ʺ östlicher Länge

Peperlake, Lüdinghausen – 51° 46ʹ 29.4ʺ nördlicher Breite; 7° 26ʹ 37.8ʺ östlicher Länge

Vorstellungswelten

Christliche Gemeinde der Heiligen Dreifaltigkeit Ost-West – 48° 10ʹ 01.6ʺ nördlicher Breite; 11° 32ʹ 53.9ʺ östlicher Länge

Neu-Brasilien – 51° 18ʹ 52.2ʺ nördlicher Breite; 12° 18ʹ 52.1ʺ östlicher Länge

St. Burchardi, Halberstadt – 51° 54ʹ 03.4ʺ nördlicher Breite; 11° 02ʹ 32.9ʺ östlicher Länge

Güglingen – 49° 04ʹ 01.8ʺ nördlicher Breite; 8° 58ʹ 34.2ʺ östlicher Länge

Walhalla – 49° 01ʹ 52.9ʺ nördlicher Breite; 12° 13ʹ 26.7ʺ östlicher Länge

Tropical Islands, Krausnick – 52° 02ʹ 20.7ʺ nördlicher Breite; 13° 44ʹ 55.0ʺ östlicher Länge

Wolpertinger-Diorama – 48° 08ʹ 18.6ʺ nördlicher Breite; 11° 34ʹ 17.9ʺ östlicher Länge

Bielefeld – 52° 01ʹ 13.6ʺ nördlicher Breite; 8° 31ʹ 54.6ʺ östlicher Länge

Verplante Flächen

Mestlin – 53° 34ʹ 47.5ʺ nördlicher Breite; 11° 55ʹ 32.4ʺ östlicher Länge

Mödlareuth, Bayern und Thüringen – 50° 24ʹ 55.1ʺ nördlicher Breite; 11° 52ʹ 59.9ʺ östlicher Länge

Alt Rhese – 53° 29ʹ 53.3ʺ nördlicher Breite; 13° 09ʹ 48.6ʺ östlicher Länge

Prora – 54° 26ʹ 22.1ʺ nördlicher Breite; 13° 34ʺ 30.7ʺ östlicher Länge

Mannheim – 49° 29ʹ 15.6ʺ nördlicher Breite; 8° 27ʹ 55.8ʺ östlicher Länge

Rembertikreisel, Bremen – 53° 04ʹ 37.4ʺ nördlicher Breite; 8° 49ʹ 09.6ʺ östlicher Länge

Flughafen Berlin Brandenburg «Willy Brandt» – 52° 21ʹ 54.0ʺ nördlicher Breite; 13° 30ʹ 44.0ʺ östlicher Länge

Enklaven und Exklaven

Büsingen am Hochrhein – 47° 41ʹ 47.5ʺ nördlicher Breite; 8° 41ʹ 14.7ʺ östlicher Länge

Schwarzenberg – 50° 32ʹ 47.8ʺ nördlicher Breite; 12° 47ʹ 32.3ʺ östlicher Länge

Klein Glienicke – 52° 24ʹ 34.6ʺ nördlicher Breite; 13° 06ʹ 24.6ʺ östlicher Länge

Saterland/Seelterlound – 53° 06ʹ 24.2ʺ nördlicher Breite; 7° 40ʹ 40.1ʺ östlicher Länge

Ralbitz/Ralbicy – 51° 18ʹ 04.6ʺ nördlicher Breite, 14° 14ʹ 54.9ʺ östlicher Länge

Orte, die bewegen

Ökumenische Autohofkapelle Schwabhausen – 50° 53ʹ 53.1ʺ nördlicher Breite; 10° 43ʹ 34.2ʺ östlicher Länge

Autobahntorso im Söhrewald – 51° 14ʹ 48.9ʺ nördlicher Breite; 9° 36ʹ 45.0ʺ östlicher Länge

Treidelpfad über das Gelände des AKW Neckarwestheim – 49° 02ʹ 29.0ʺ nördlicher Breite; 9° 10ʹ 24.4ʺ östlicher Länge

Steinhuder Hecht am Wilhelmstein – 52° 27ʹ 38.7ʺ nördlicher Breite; 9° 18ʹ 26.9ʺ östlicher Länge

Entmagnetisierungsstelle Lauterbach – 54° 19ʹ 30.78ʺ nördlicher Breite; 13° 35ʹ 22.20ʺ östlicher Länge

Memmertfeuer, Insel Juist – 53° 40ʹ 30.4ʺ nördlicher Breite; 6° 59ʹ 42.4ʺ östlicher Länge

Vogelinsel Trischen – 54° 03ʹ 52.7ʺ nördlicher Breite; 8° 41ʹ 20.9ʺ östlicher Länge

Verschwundene Gebiete

Arngast – 53° 29ʹ 11.2ʺ nördlicher Breite; 8° 11ʹ 02.4ʺ östlicher Länge

Emmauskirche, Borna – 51° 07ʹ 31.6ʺ nördlicher Breite; 12° 29ʹ 49.5ʺ östlicher Länge

Elsbachsee – 51° 35ʹ 13.8ʺ nördlicher Breite; 6° 51ʹ 44.4ʺ östlicher Länge

Bohrloch 1004 – 53° 00ʹ 45.4ʺ nördlicher Breite; 11° 20ʹ 01.1ʺ östlicher Länge

VEB Kulturpark Berlin (heute Spreepark) – 52° 29ʹ 07.1ʺ nördlicher Breite; 13° 29ʹ 27.1ʺ östlicher Länge

Saarschleife – 49° 29ʹ 45.2ʺ nördlicher Breite; 6° 33ʹ 27.1ʺ östlicher Länge

D.A.N.K.E.

Literatur

Vorwort

Dieses Buch ist in einer Zeit entstanden, in der Covid-19 nicht nur meinen Aktionsradius ziemlich einschränkt. Bis 2019 war ich als Journalistin jeden Monat irgendwo anders. Flughäfen waren mein zweites Zuhause. Ich weiß, welcher wann umgebaut wurde, wo man am besten übernachten kann, ohne in ein Hotel zu müssen, und wie viel Wartezeit man wo benötigt, um die Passkontrolle hinter sich zu bringen. Ich kann Fachgespräche über die Vorzüge des A380 führen (dem ich nachtrauere), über Sitzabstände und Entertainmentprogramme unterschiedlicher Airlines. Mein ökologischer Fußabdruck wird mich auf direktem Weg in die Hölle bringen.

Ich reise gerne, weil ich gerne Dinge lerne. Das kann man natürlich auch aus Büchern. Aber schon während meines Geographiestudiums hatte ich oft das Gefühl, dass Wissen durch mein Hirn spaziert, sich umschaut, denkt: «Ach, kein Stuhl mehr frei», und sich aus den Ohren wieder hinausschleicht. Wenn ich aber irgendwo anders bin und Menschen mir von ihrem Leben erzählen und wie sie von dem Ort geprägt wurden, an dem sie aufgewachsen sind, oder wie sie versuchen, die Gegend zu prägen, in der sie jetzt leben, dann entwickle ich ein Verständnis, das über angelesenes Wissen hinausgeht. Vor Ort habe ich keine Daten und Fakten gelernt, ich habe den Ort gespürt. Und diese Gefühle bleiben. Sie begleiten mich durch meinen Alltag und helfen mir, die Welt ein bisschen besser zu verstehen.

Ich bin oft ins Ausland gereist, weil ich dachte, da gäbe es jede Menge mehr zu lernen und zu erfahren als in Deutschland. Vielleicht hat mich auch nur der Geschichtsunterricht in der Schule gelangweilt, mit all den Namen und Zahlen, die ich mir sowieso nie merken konnte. Für mich hießen alle Karl, Friedrich, Therese, und jeder war über achtzehn Ecken mit jedem verwandt. Manchmal half das, manchmal aber stritten sich die Familien die ganze Zeit, und irgendwann fing immer irgendjemand einen Krieg an. Deshalb stehen in Deutschland im Prinzip überall Burgen, es gibt überall Wein und Bier, und alle bestehen darauf, dass genau ihr Dialekt der schönste im Land ist …

Für einige Menschen mag Deutschland schon lange eine Wundertüte gewesen sein, aber ich bin lieber ins Flugzeug nach Honolulu oder sonstwo gestiegen. Doch die Recherche zu diesem Buch hat mir gezeigt, dass meine Sichtweise sehr einseitig war. Jetzt erwische ich mich dabei, dass mir jemand vom Outback Australiens vorschwärmt, der roten Erde und der Kargheit – du weißt es doch, du hast da mal gelebt, Pia. Und ich denke dann: Ja, stimmt, aber das findest du auch am Bahnhof Teutschenthal in Sachsen-Anhalt, wenn auch in kleinerer Form. Man muss auch nicht nach New York fliegen, um sich in den Häuserblöcken zu verirren, die alle gleich aussehen und 7th Street und 13th Avenue oder so heißen. Mannheim reicht vollkommen, da ist es dann eben D4, 11. Jaja, schon klar, die Hochhäuser fehlen, aber die hat ja Frankfurt am Main, das eine Stunde südlich liegt. Das entspricht der Entfernung vom südwestlichsten Punkt New Yorks auf Staten Island zum nordöstlichsten in der Bronx. Zwischen Mannheim und Frankfurt liegen diverse andere Städte, die zusammengenommen jede Menge Theater und Kulturprogramm haben, ohne die strikten Alkoholgesetze der USA. Und schon richtig, die Pariser Katakomben führen einem auf eindrucksvolle Weise vor, was alles im Verborgenen unter unseren Städten liegt – aber das tut auch das Kellersystem unter Oppenheim – minus die aufgereihten Schädel, die ja nicht unbedingt ein ansehnlicher Anblick sind.

Unser Land ist voller ungewöhnlicher Orte, und jeder lässt einen auf ganz eigene Weise staunen: Wir haben kleine Atlantisse, untergegangene Orte in Seen und an den Küsten. Wir haben Parks mit Maschinen, so groß wie Reihenhaussiedlungen und so komplex, man würde sich nicht wundern, würden sie morgen ein Eigenleben entwickeln und die Herrschaft übernehmen. Wir haben einen Baum mit Postadresse, eine aus Trümmern gebaute, illegale Kirche, einen Wanderweg über das Gelände eines Atomkraftwerks und Megalithgräber auf Europas größtem Truppenübungsplatz, bei deren Besuch man sich erst versichern muss, dass nicht geschossen wird.

Bei uns ist es viel seltsamer, als es das Klischee von Bier, Brot und Blasmusik vermuten lässt. Natürlich wusste ich das irgendwie. Aber nun habe ich dafür Belege gesammelt. Ich habe gelernt, wie grün das Ruhrgebiet ist, und mich ein bisschen in das Wendland verliebt, wo Atommüll zwischengelagert wird.

Nachdem ich über das Gelände des Atomkraftwerks Neckarwestheim gewandert bin, wollte ich nicht um das ganze Gelände herumlaufen, um zu meinem Auto zu gelangen. Deshalb habe ich mich auf der Suche nach einer Abkürzung in die Büsche geschlagen, durch ein kleines Wäldchen, habe frische Wildschweinspuren entdeckt, habe mir panikartig ein Weg zwischen den Bäumen hinausgebahnt, nur um vor einer mit Elektrozaun gesicherten Rinderweide zu stehen. Zurück zu den Wildschweinen wollte ich nicht, also bin ich über den Zaun geklettert (Entschuldigen Sie, Herr und Frau Landwirtin!), habe versucht, möglichst unbemerkt am Rindvieh vorbeizukommen, um auf der anderen Seite auf genau dem Feldweg zu gelangen, den ich auch erreicht hätte, hätte ich den offiziellen Weg genommen. Als ich es später einer Person aus dem Rathaus erzählte, sagte sie, es sei doch schön, dass man hier noch kleine Abenteuer erleben könne. Und ja, das stimmt, vermutlich hätte ich das in Amerika nicht probiert. Oder falls doch, hätte ich es vielleicht nicht überlebt.

Im Tropical Island, wo es Deutschlands größten Indoor-Regenwald gibt, habe ich mich mit dem hausinternen Feuerwehrmann unterhalten und mir vorgestellt, wie es wäre, wenn der Amazonas-Regenwald auch hausinterne Feuerwehrmänner hätte.

Zum Leuchtturm Arngast, zu dem normalerweise regelmäßig ein Schiff fährt, bin ich (Covid-19 hatte die Fahrten reduziert) mit einem Wattführer hingelaufen. Er sagte mit irgendwann, er habe uns ein Boot für die Rückfahrt organisiert. Ich dachte an eine kleine Schaluppe, aber dann fuhr die Fähre vor, darauf der Kapitän und eine bunte Mischung von Menschen – Kinder, Campingplatzbewohner, Leute, die zufällig am Hafen waren. Niemand von uns hatte erwartet, dass dieses Boot fahren würde, es war für alle eine Überraschung. Und weil wir auf die Flut warten mussten, haben wir auf dem Schiff gegrillt und uns des Lebens gefreut, und der Kapitän hat mir auf Karten erklärt, wie man anhand der Leuchttürme navigiert.

Deutschland war mir noch nie so fremd wie während dieser Recherche. Es war spontan, überraschend, leicht, unbeschwert, selbstironisch. Es war schön, lustig und entspannt. Ich habe jede Menge Erzählungen gehört, die so ganz und gar nicht zu den essentialistischen Vorstellungen von Tradition, deutscher Seele und Heimat passen. Schon immer gab es Ereignisse, die in Sackgassen endeten; Visionen, die im Moment ihrer Verwirklichung bereits überholt waren, und Zufälle, die zu unkonventionellen Lösungen geführt haben. Sie zeigen, dass auf dem Territorium, das man Deutschland nennt, seit jeher Menschen gelebt haben, die in irgendeiner Form einen Sprung in der Schüssel hatten, nicht in die Zeit gepasst haben oder umgekehrt, die Zeit nicht mehr zu ihren Ideen. Manchmal ist auch nur die Natur ihren eigenen Regeln gefolgt. Einige dieser Ideen, Ereignisse oder Visionen haben sich in die Landschaft eingeschrieben. Sie haben Spuren hinterlassen und über einige davon lesen Sie in diesem Buch.[1] Es soll dazu anregen, wieder nachzufragen: Wieso? Weshalb? Warum? Und könnte es nicht auch ganz anders sein oder gewesen sein? Es ist ein Aufruf zum Neugierigsein, dazu, ganz schamlos Menschen auf die Nerven zu gehen und am Ende den Kopf zu schütteln und zu denken: Wow! Deutschland, echt schräg.

Fußnoten

1 Wenn Sie selbst Orte kennen, die ungewöhnlich, seltsam oder verschroben sind, mailen Sie mir: [email protected]

Obskure Objekte

Bräutigamseiche

54° 08ʹ 10.6ʺ nördlicher Breite; 10° 33ʹ 20.5ʺ östlicher Länge

Im Dodauer Forst in Schleswig-Holstein steht eine alte, knorrige Eiche. Sie sieht aus wie aus einem Märchenfilm. Sie hat einen massigen Stamm und eine große, in die Höhe strebende Krone, die an eine aufsteigende Wolke erinnert. Ein Ast ist abgestorben, man erkennt die verharzte ovale Narbe am Baum. Wenn man genau schaut, sieht man, dass die obere Krone mit Drahtseilen stabilisiert wurde. Um sie herum wachsen gertenschlanke Kiefern und Fichten, neben ebenso gradlinigen Buchen. Die alte Eiche ist besonders. Nicht nur ihres Wuchses wegen. Auch, weil sie eine eigene Adresse hat: Bräutigamseiche, Dodauer Forst, 23701 Eutin. Menschen auf der Suche nach der großen Liebe schreiben an die Eiche. Im Grunde fand hier Online-Dating statt, lange bevor man wusste, was das Internet überhaupt ist. Denn die Eiche konnte Geheimnisse für sich behalten. Nur wer wusste, wo er zu suchen hatte, fand sie.

Wo diese Geschichte beginnt, lässt sich nur annähernd rekonstruieren. Es spielen mit: ein Mann, eine Frau, ein Baum und Menschen, die noch keine Vorabendserien oder Netflix schauen, sondern sich die Geschichten dazu selbst ausdenken. Am Ende des 19. Jahrhunderts betreibt die Frau des Försters, Magda Witt, im Dodauer Forst ein Café. Ob sie dafür überhaupt eine Lizenz hatte, weiß heute niemand mehr. Aber die wunderbaren Lauben, in denen man dort sitzen konnte, und die leckeren, selbstgebackenen Kuchen sorgten dafür, dass selbst aus dem fernen Hamburg Menschen anreisten, um hier die lauen Sommernachmittage zu verbringen. In den umliegenden Ortschaften ließ man die Pferde anspannen, um am Sonnabend oder Sonntag dort einzukehren.

Ganz in der Nähe des Cafés steht die knorrige Eiche. Dort, so erzählten sich die Gäste, habe Minna Ohrt, die Tochter des vorherigen Försters, Briefe für ihren Geliebten hinterlassen. Dieser war Carl August Wilhelm Schütte-Felsche, den alle nur Willy nannten, Sohn des Leipziger Fabrikanten Adolphe Schütte-Felsche. Der Vater leitete gemeinsam mit seiner Frau Johanna in Leipzig ein Schokoladenimperium, in das 1886 der ältere Sohn Oskar Wilhelm Adolph, zwei Jahre später Willy selbst eingestiegen war. Es gibt Schokoladenpapiere, auf denen der Dodauer Forst abgebildet ist. Heimlich sollen sich die beiden Briefe geschrieben haben und im Astloch der alten Eiche hinterlegt haben – so lange, bis der Förster letztendlich von der Verbindung überzeugt war und in die Heirat einwilligte. Nur, sagen die Nachkommen der Familie Schütte-Felsche, stimmt diese Geschichte nicht.

Willys Großvater väterlicherseits hatte eine Halbschwester, die mit dem Förster Ohrt in Eutin verheiratet war. Auf einem der vielen Familienfeste in Eutin begegneten sich deren Tochter Minna Ohrt und Willy Schütte-Felsche. Sie verliebten sich und heirateten 1891. Das Fest sollte eigentlich im Forsthaus stattfinden, aber weil das Wetter so schön war, verlegten sie es an die alte Eiche. Es gibt dieses eine Foto der Hochzeitsgesellschaft. Minna und Willy stehen vor der alten Eiche. Ihre Krone ist noch ausladender, der fehlende Ast noch stabil und kräftig. Um sie herum versammeln sich rund dreißig Menschen, alle haben den ernsten Blick, den man damals noch auf Fotos hatte, weil man sehr lange unbeweglich stehen musste, damit das Bild nicht verwackelte. Minna trägt ein ausladendes weißes Kleid, einen Hochzeitsstrauß in der linken Hand, der eher nachlässig nach unten hängt. Mit dem rechten Arm hat sie sich bei Willy eingehängt, der eine Kopfbedeckung zwischen den Fingern klemmen hat. Er sieht stolz aus, sie wirkt etwas angespannt. Ob es der glücklichste Tag ihres Lebens ist, kann man zumindest nicht an ihren Gesichtern ablesen.

Die Nachkommen der Schütte-Felsches sagen heute, die Geschichte über die heimliche Liebe und die Briefe seien mehr der Fantasie als der Realität entsprungen, Beweise existieren nicht. Was man aber weiß, ist, dass die Sommergäste in Eutin sich die Geschichte von der Eiche, die Menschen zusammenbringt, erzählten. Man taufte sie Bräutigamseiche. Warum es nicht Brauteiche oder Liebeseiche geworden ist, weiß niemand. Jene, die sich einen Partner wünschten, hinterließen ihre sehnsuchtsvollen Briefe, in der Hoffnung, dass sie jemand fand, der einen ähnlichen Wunsch hegte. Seit 1927 wird die Eiche offiziell von der Post bedient. Seit 1993 hat sie eine eigene Postleitzahl.

Mittlerweile weiß man von mindestens dreizehn Paaren, die sich durch die Eiche gefunden haben. Es ist eine Art virales Marketing, bei dem eine fiktive Idee ihr eigenes Leben entwickelt und Realität wird. Die Bräutigamseiche trägt ihren Namen zu Recht, nur eben wahrscheinlich nicht aufgrund von Willy Schütte und Minna Ohrt.

Noch heute kann man in das Astloch greifen und Briefe finden. Ein 42-jähriger Mann sucht eine Frau, die mit ihm Motorrad fährt. Seinen Brief hat er getippt und Fotos von sich dazugelegt. Eine 76 Jahre alte Dame hat eine Postkarte geschrieben, eine Landschaft ist darauf. Die Handschrift ist zittrig und sieht aus, als habe sie mal Sütterlin gelernt. Ihr Wunsch ist so einfach und doch so herzergreifend: Sie wünscht sich jemanden, der bleibt.

Haus des Karl Junker, Lemgo

52° 01ʹ 33.7ʺ nördlicher Breite; 8° 55ʹ 03.1ʺ östlicher Länge

Was treibt einen Künstler an? Warum leben manche von ihnen in Saus und Braus in Berlin, London und New York? Andere ziehen sich in die Einöde zurück und schaffen monumentale Werke. Manche davon kann man aus genau diesem Grund nicht übersehen: Sie sind zu groß, um ignoriert zu werden. Über alles andere lässt sich streiten. In Lemgo, 80 Kilometer südwestlich von Hannover, steht ein solches Werk. Es ist ein quadratisches Holzhaus, das über und über mit Ornamenten versehen ist. Stellt man die Augen etwas unscharf, könnte man sich einbilden, dass es einst von dicken Reben überwuchert war, die es dann gesprengt hat. Zurück blieben armdicke Holzstücke, die sich über, um und durch das Haus ziehen. Doch tatsächlich ist das Haus nicht verhext, in ihm hat der Mann gelebt, der es erschaffen hat: Karl Junker.

Im Grunde weiß man über ihn so gut wie nichts. Er wurde am 30. August 1850 in Lemgo geboren. Seine Mutter starb, als er knapp drei Jahre alt war, ein Jahr später auch sein Bruder. Als er sieben ist, folgte den beiden der Vater. Alle drei raffte die Tuberkulose hin. Der Großvater wurde der Vormund. Alleinerziehende Väter waren damals mehr als ungewöhnlich, geschweige denn alleinerziehende Großväter. Die Großmutter war bereits 14 Jahre vor Junkers Geburt verstorben. Man weiß nicht, wer sich um Junker in diesen jungen Jahren gekümmert hat, ob es tatsächlich der Großvater war oder Nachbarn, der Pfarrer oder sonst wer. Es gibt nur wenige gesicherte Daten über ihn. Er lernte Tischler und ging auf Wanderschaft: Berlin, Hamburg, München, Italien. In München schrieb er sich in der Akademie der Künste in der Naturklasse ein. In der Casa Baldi in Olevano Romano bezeichnete er sich selbst als Maler aus München. In den 1880er Jahren kehrte er nach Lemgo für einen Auftrag zurück, kurze Zeit später zieht er wieder dorthin und beginnt mit fast 40 Jahren den Bau des Hauses, in dem er 22 Jahre lang leben, malen, schnitzen, kochen, schlafen, leben, aber nicht lieben wird, bis er am 25. Januar 1912 an den Folgen einer Lungenentzündung stirbt.

Das Haus sieht von außen etwas verschroben aus, eine Mischung aus Fachwerkhaus und Gruselkabinett. Als habe sich jemand bemüht, etwas Freundliches, Schönes zu bauen, aber in jedem Stück spiegelt sich seine düstere Seele. Junker hatte das Geld zum Bau des Hauses vom Großvater geerbt, und tatsächlich war das Unterfangen keine impulsive, spontane Aktion, sondern das Ergebnis detaillierter Planung. Sogar ein Modell des Hauses hat er vorab geschnitzt. Als er es realisierte, bemalte er all die hölzernen Elemente in Rot, Blau, Ocker und Grün, die er stellenweise mit metallisch glänzendem Lack überzog. Man fragt sich, ob es nicht noch anstrengender gewesen ist, in dieser überbordenden Buntheit zu leben als in der Düsterheit, die das Innere heute ausstrahlt. An einigen Stellen kann man die Farbtöne noch erahnen, aber überwiegend steht man vor dunklem Holz, das grob behauen und geschnitzt wurde. Holz hat eine eigene Ausstrahlung, es ist wuchtig, nimmt Räume ein, an einigen der Möbelstücke und Ornamente erkennt man noch die Kerben, die das Schnitzmesser hinterlassen hat. Wie mögen nur seine Hände ausgesehen haben?

Das Haus von Karl Junker ist maßlos, in einfach allem: dem Holz, den Ornamenten, den Farben, der Größe. Junker lebte alleine hier, hatte aber Schlafzimmer, Kinderzimmer, Arbeitszimmer, Salon, Küche. Ein Haus für eine Familie, er indes lebte in einer Kammer unterm Dach. Das Treppenhaus ist vertäfelt, und über der Vertäfelung laufen Ornamente und Holzstücke, die miteinander verbunden sind. Man fühlt sich wie in einem düsteren, rosenüberwucherten Gang irgendwo in einem verwunschenen Wald. Im gesamten Haus verteilt findet man christliche Szenen und germanische Symbole. Um was ist es ihm gegangen? Lässt sich aus diesem Werk wirklich auf etwas schließen? Die Menschen in Lemgo haben ihn für einen exzentrischen Eigenbrötler gehalten, der oft grimmig dreinsah, aber vor allem zu Kindern sehr nett war. Gegen Eintritt führte er Menschen durch sein Haus. Eine Zeit lang ließ er sich Mittagessen kochen. Aber hauptsächlich arbeitete er an seinen Ideen, dem Haus, den Möbeln, Einbauten, Architekturmodellen, Bildern.

Nachdem er gestorben war, hat sich 90 Jahre lang niemand so richtig um das Haus gekümmert. Die Nachbarn hatten den Schlüssel und gaben ihn gegen Eintritt zur Besichtigung heraus. Alte Menschen aus Lemgo erinnern sich, wie sie als Kinder im Haus herumgeturnt sind, einem Abenteuerspielplatz gleich, ihre Namen in das Holz geritzt und gekritzelt haben. 1962 hat die Stadt das Haus gekauft und 2004 saniert. So dass nun jeder hindurchstreifen und sich darüber wundern kann, über dieses Werk, das sich keinem Stil zuordnen lässt, über den Künstler, über den man fast nichts weiß, und über die Schönheit, die diesem Mysterium innewohnt.

Frankfurter Küche in der Siedlung Römerstadt

50° 09ʹ 05.8ʺ nördlicher Breite; 8° 37ʹ 52.0ʺ östlicher Länge

Es gibt Dinge in unserem Alltag, die wir nicht hinterfragen: Warum sieht ein Stuhl aus, wie er eben aussieht? Wer hat die Form einer Toilettenschüssel entwickelt? Wieso ist in Küchen der Mülleimer meist unter der Spüle? Ist eben praktisch, könnte man sagen, wie eben so eine ganze Küche praktisch ist. Nur war das nicht immer so. Wie man eine Küche ideal einrichtet, darüber hat zum ersten Mal Margarete Schütte-Lihotzky in den 1920er Jahren nachgedacht. Der Frankfurter Stadtbaurat und Planungsdezernent Ernst May hatte sie beauftragt. Er plante, innerhalb von fünf Jahren 5000 Wohnungen «für das Existenzminimum» zu bauen, Sozialbauten würde man heute sagen. Aber statt sie möglichst kostengünstig schnell hochzuziehen, hat Ernst May minutiös geplant und planen lassen. Das macht die zehn Siedlungen, die zwischen 1926 und 1936 in verschiedenen Stadtteilen Frankfurts wie ein Kranz um das Zentrum herum entstanden sind, so ungewöhnlich.

Zehn Prozent aller Wohnungen ließ Ernst May in der Siedlung Römerstadt im Stadtteil Heddernheim errichten, rund acht Kilometer nördlich des Zentrums: 1220 Wohnungen, davon 663 Einfamilienhäuser. Als die Siedlung 1928 fertig wurde, war sie die erste vollelektrifizierte Siedlung Deutschlands. Geplant war, dass der Mietpreis 25 Prozent eines Arbeitereinkommens nicht übersteigen sollte, allerdings waren es später 37 Prozent, weshalb im Wesentlichen Angestellte die Ein- und Mehrfamilienhäuser bezogen.

Wandert man heute aufmerksam durch die Straßen der Siedlung Römerstadt, begreift man schnell die Struktur: An den Straßenenden stehen jeweils dreistöckige Gebäude, die ursprünglich in einem Rotton gestrichen waren, einige sind es auch heute noch. Dahinter beginnt die Reihe mit sich gegenüberliegenden zweistöckigen Reihenhäusern. Nach hinten heraus haben alle einen eigenen Garten. Auch entlang der Gartenwege kann man spazieren. Dort sieht man manchmal Schilder: «Wir schneiden unsere Hecken selbst». Seit 1972 steht das Ensemble unter Denkmalschutz, es unterliegt daher Auflagen: Hecken dürfen nicht höher als 80 Zentimeter sein. Regelmäßig lässt die Wohnungsbaugesellschaft sie kürzen.

An anderen Stellen ist man dabei, den alten Zustand möglichst wiederherzustellen. Ernst May hatte Fenster mit blauen Rahmen einbauen lassen, seine Türen hatten ein Glasfenster und darunter ein zweites, das man einer Durchreiche gleich öffnen konnte. Die Fronten der Häuser, die nach Südosten ausgerichtet sind, waren weiß gestrichen, um das Licht zu reflektieren, und hatten einen Vorgarten. Jene, die mehr Schatten hatten, waren in einem dunkleren Beige gestrichen mit einem kurzen ummauerten Eingangsbereich. Ernst May baute im Stil der Neuen Sachlichkeit – klar, nüchtern und reduziert, monoton und anonym ist es hier trotzdem nicht.

Hinter jedem Detail in seinen Siedlungen steckten eine Idee und eine Vision. Er plante minutiös, weil er geprägt war von den Mietskasernen vom Anfang des 20. Jahrhunderts, die eng und lichtlos waren und in denen sich Krankheiten schnell ausbreiteten. In ihren Küchen kochten Menschen nicht nur, sondern wuschen sich und ihre Wäsche, hingen sie darin auf, und meistens schlief dort auch mindestens ein Familienmitglied. Dazu kamen die Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs, in dem mehrere tausend Menschen in der Stadt Frankfurt, in der Ernst May auch aufgewachsen war, verhungert waren. Die Gärten waren deshalb nicht Ort der Erholung, sondern dienten der Versorgung. May stellte für sie sogar einen Bepflanzungsplan auf. Für die Menschen in den Mehrfamilienhäusern ließ er eine Kleingartenanlage errichten. Was er nicht einkalkulierte – einfach, weil er es nicht voraussehen konnte –, war, wie schnell Autos zum Massenprodukt werden sollten. Keines der Häuser hat eine Garage. Als die ersten Menschen dort einzogen, fuhren Busse im Drei-Minuten-Takt in Richtung Zentrum. Heute parken Autos eng an eng auf den Straßen.

Alle von ihm erbauten städtischen Wohnungen hatten mehrere Besonderheiten. Neben dem eigenen Garten für jede Familie und der Elektrifizierung gab es auch Warmwasser. Im Bad hing ein Boiler, der nachts aufheizte, so dass man tagsüber fließend warmes Wasser hatte, auch das war in der Zwischenkriegszeit ungewöhnlich. Standard wurde Warmwasser erst Ende der 1950er Jahre in Deutschland.

Am ungewöhnlichsten aber war, dass alle Wohnungen mit einer Küche ausgestattet waren. Es war sozusagen die erste Serieneinbauküche der Welt. Wie sie damals aussah, kann man heute im Haus der Ernst-May-Gesellschaft sehen. Sie hat eines der Häuser angemietet und in seinen ursprünglichen Zustand zurückgebaut. Sechseinhalb Quadratmeter groß ist die Küche: 3,44 mal 1,87 Meter. Um herauszufinden, wie man bequem kochen und agieren kann, hat die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky sich in Mitropa-Speisewagen umgesehen. Inspiriert von dem Buch «The New Housekeeping. Efficiency Studies in Home Management», hat sie ausgemessen, wie lang welche Wege sind. Sie hat aufgelistet, welche Tätigkeiten wie ausgeführt werden. Im Grunde hat sie die Ideen der Arbeitsteilung, die Frederick Winslow Taylor sich ausgedacht und Henry Ford an den Fließbändern seiner Autofabriken streberhaft umgesetzt hat, auf die Küchenarbeit angewandt. Mit dem Ergebnis, dass eine Frau in ihrer Küche nur 8 Meter für den Weg vom Schrank, zur Arbeitsfläche, zum Herd und Esstisch zurücklegen musste, während es in einer Standardküche der damaligen Zeit 19 Meter waren.

Schütte-Lihotzky konzipierte das Nebeneinander von Spülwasser, Klarwasser und Abtropfgestell. Jeder noch so kleine Bereich wurde in einen Schrank umgewandelt, wie jener über der Tür zum Wohnraum, oder der schmale Raum neben der Tür, der zu einem Besenschrank wurde. Unter der Anrichte installierte sie Abstellflächen, die man herausziehen konnte, um die Anrichte zu vergrößern. Damit man beim Kochen Mehl, Salz und andere Zutaten nicht umständlich aus Vorratsgläsern holen musste, nutzte sie das System der Schütten. Sie wurden aus Aluminium, einem Rohstoff ohne viel Eigengewicht, gefertigt, bis auf jene für Salz und Mehl. Die Salzschütte bestand aus wasseraufsaugendem Kiefernholz, jene für Mehl aus Eiche, dessen Gerbstoffe den Mehlkäfer fernhielten. Der Herd war elektrisch – ein absolutes Novum, von dem Ernst May sich nicht sicher war, wie es angenommen werden würde. Deshalb hat er Öfen installieren lassen, die man sowohl mit Kohle als auch mit Strom betreiben konnte. Er antizipierte die Sorgen der Bewohner und integrierte Lösungen in seine Konzepte. Ein Bügelbrett ließ sich von einer Wand herunterklappen und am Herd ablegen, wo das Bügeleisen erhitzt oder eingestöpselt werden konnte. Die Küchen strich man in Blau- und Grüntönen, weil man herausgefunden hatte, dass sich Fliegen nicht gerne auf solche Oberflächen setzten.

Die Bewohner Frankfurts waren anfangs skeptisch gegenüber den neuen Siedlungen und ihrer Ausstattung. Deshalb organisierte im Frühjahr 1927 das Frankfurter Hochbauamt eine Ausstellung über «Die neue Wohnung und ihren Innenausbau». Ein Teil davon war verschiedenen Küchentypen für unterschiedliche Haushaltsgrößen gewidmet, gefertigt aus unterschiedlichen Materialien und als Bonus die Speisewagenküche. Es bestand so viel Interesse, dass anschließend eine Beratungsstelle für rationelle Kücheneinrichtungen am Hochbauamt eingerichtet wurde.

«Jede denkende Frau muss die Rückständigkeit bisheriger Haushaltsführung empfinden und darin schwerste Hemmung eigener Entwicklung und somit auch der Entwicklung ihrer Familie erkennen», schrieb Margarete Schütte-Lihotzky 1927 in einer Schrift für die Reichsforschungsanstalt über die von ihr entwickelte Küche. Dabei vergaß sie, dass für viele Menschen die Küche nicht nur Ort notwendiger Hausarbeit war, sondern auch Lebensmittelpunkt. Kinder liefen umher, Großmutter und Mutter standen nebeneinander und kochten gemeinsam, während die Nachbarin den neuesten Klatsch erzählte. Schütte-Lihotzkys Küche aber entbehrte jeglicher sozialer Elemente: Sie war nicht gemütlich und so unflexibel, dass man sie auch nicht gemütlich machen konnte. Aus dem lebendigen Treffpunkt war ein Haushaltsfließband geworden, das auf Schritt- und Griffersparnis auf minimalem Raum getrimmt worden war. Aber die verstaubte Gemütlichkeit aus Großmutters Zeiten stellten die Menschen anderweitig her. Ernst May hatte die Häuser für ein minimalistisches, fast spartanisches Möbeldesign entworfen. Nur die Wände waren tapeziert. Die Menschen aber zogen mit ihren massiven Schrankwänden und Polstergarnituren in die 86 Quadratmeter großen Viereinhalbzimmer-Wohnungen ein.

Nach der Weltwirtschaftskrise 1930 ging Ernst May in die Sowjetunion. Bis dahin hatte er nicht die geplanten 5000 Wohnungen gebaut, sondern 10.000. Sie waren bezugsfertig oder bereits bezogen, weitere 2000 waren im Bau. Die Frankfurter Küche war so erfolgreich, dass der französische Arbeitsminister sie in 260.000 Wohnungen einbauen lassen wollte. Sie wurde von den Amerikanern und den Schweden aufgegriffen, von wo aus sie in den 1950er Jahren, während des Wirtschaftswunders, in die deutschen Häuser und Wohnungen zurückkehrte.

Nonnenchor im Kloster Wienhausen

52° 34ʹ 50.2ʺ nördlicher Breite; 10° 11ʹ 07.1ʺ östlicher Länge

Wenn ich meine Hosen- oder Jackentasche ausleere, finden sich darin Taschentücher, Einkaufszettel, ein Plastikstöpsel von Kopfhörern, Kaugummis, ein Lippenfettstift, ein Taschenmesser, Tampons, ein paar Münzen, eine Einkaufswagenmarke, Krümel, von denen ich mich frage, wie sie da überhaupt hineinkommen. Schlüssel, Bonussammelkarten, Ohrringe (oder Teile davon), Anstecker, Aufkleber, Sonnenbrille, herausgerissene Sudokus, der Zettel eines Glückskekses. Manchmal auch Notizen, die ich mir gemacht habe. Immer mal wieder fällt mir etwas davon aus der Tasche, ohne dass es mir in der Regel auffällt. Und wenn ich doch einmal etwas vermisse, so finde ich es nicht wieder, weil ich mich kreuz und quer durch die Welt bewege.

Bei den Frauen, die über Jahrhunderte im Kloster Wienhausen gelebt haben – erst Nonnen, seit der Reformation evangelische Stiftsdamen –, war das anders. Was ihnen seit dem 14. Jahrhundert aus den Taschen ihrer Tracht gefallen ist, hat sich unter dem Fußboden im Nonnenchor des Klosters angesammelt.

Das Kloster Wienhausen wurde um 1230 von Agnes von Landsberg gegründet. Es war eine Zeit, in der überall Männer zwischen den Menschen und Gott vermittelten: Beichtväter, Laienpröpste, Prediger. In dieser Zeit der intensiven religiösen Suche begannen Frauen Klöster zu gründen. Ende des 14. Jahrhunderts wird es über 300 von ihnen geben. Wienhausen ist eines davon.