Deutschlands verschwundene Orte - Pia Volk - E-Book

Deutschlands verschwundene Orte E-Book

Pia Volk

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Beschreibung

Unter der Oberfläche Deutschlands liegen die Reste unzähliger verschwundener Städte, Handelszentren, Dörfer und Industrieanlagen: ein versunkenes, unbekanntes Deutschland. Pia Volk hat sich auf die Suche nach diesen Orten gemacht. Sie erzählt von ihrer einstigen Bedeutung und ihrem Untergang und besichtigt in Wäldern, auf Feldern, im Watt oder in Asphaltwüsten die Überreste einstiger Größe. Ein kurzweiliger Atlas für alle, die schon immer ahnten, dass unter unseren Füßen eine versunkene Welt liegt. Auf dem Grund des Bodensees finden sich Reste großer Pfahlbausiedlungen aus prähistorischer Zeit. An der Ostsee lag die kosmopolitische Siedlung Haithabu, ein Knotenpunkt zwischen Skandinavien, dem Baltikum und Westeuropa. Die nordfriesische Stadt Rungholt versank im 14. Jahrhundert in einer Sturmflut. Als man schon glaubte, sie existiere nur in den Sagen, fand man ihre Überreste im Watt. Von dem großen jüdischen Ghetto an der Außenseite der Frankfurter Stadtmauer, das bis ins 19. Jahrhundert existierte, sind heute nur noch Reste erhalten. Im 20. Jahrhundert mussten Ortschaften der innerdeutschen Grenze oder Stauseen weichen, und bis heute werden Dörfer für den Braunkohleabbau weggebaggert. Pia Volk beschreibt kenntnisreich das Schicksal von 30 exemplarischen Orten, die von unseren Landkarten verschwunden sind, und lässt uns über ein versunkenes Deutschland staunen, das hier und da noch an die Oberfläche ragt.

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Volk, Pia: Deutschlands verschwundene Orte

Pia Volk

Deutschlands verschwundene Orte

Ein Atlas

Mit Illustrationen von Lukas Wossagk

C.H.Beck

Zum Buch

Unter der Oberfläche Deutschlands liegen die Reste unzähliger verschwundener Städte, Handelszentren, Dörfer und Industrieanlagen: ein versunkenes, unbekanntes Deutschland. Pia Volk hat sich auf die Suche nach diesen Orten gemacht. Sie erzählt von ihrer einstigen Bedeutung und ihrem Untergang und besichtigt in Wäldern, auf Feldern, im Watt oder in Asphaltwüsten die Überreste einstiger Größe. Ein kurzweiliger Atlas für alle, die schon immer ahnten, dass unter unseren Füßen eine versunkene Welt liegt.

Über die Autorin und den Illustrator

Pia Volk, Geographin, Ethnologin und Journalistin, erkundet von Leipzig aus seltsame Orte und Geschichten. Ihre Texte sind u.a. in der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung», der «Süddeutschen Zeitung» und der «ZEIT» erschienen. Bei C.H.Beck erschien von ihr bereits «Deutschlands schrägste Orte» (C.H.Beck Paperback 2023).

Lukas Wossagk ist Illustrator und Grafiker. Er hat verschiedene Bücher für C.H.Beck illustriert. Seine größte Leidenschaft gilt der Seefahrt und maritimen Motiven.

Inhalt

Vorwort

1. Krokodile, Tapire und Laufvögel

Im Geiseltal in Sachsen-Anhalt – Verschwunden: vor 45 Millionen Jahren

2. Auf Rentierjagd im Tunneltal

Ahrensburg bei Hamburg – Verschwunden: vor 9600 Jahren

3. Die WG der Toten

Oldendorf in der Lüneburger Heide – Verschwunden: vor 4200 Jahren

4. Frühe Netzwerkerinnen

Das Lechtal bei Augsburg – Verschwunden: vor etwa 3700 Jahren

5. Das Prunkgrab an der Autobahnraststätte

Leubingen bei Erfurt – Verschwunden: vor etwa 3500 Jahren

6. Atlantis auf dem Grund des Bodensees

Unteruhldingen – Verschwunden: etwa 800 v. Chr.

7. Die reichen Frauen der Kelten

Heuneburg an der Donau – Verschwunden: 400 v. Chr.

8. Gallischer Krieg im Hunsrück

Dollberg und Hermeskeil – Verschwunden: 51 v. Chr.

9. Macht kaputt, was euch kaputt macht

Die Kriegergräber von Nienbüttel – Verschwunden: um 200 n. Chr.

10. Eine Hundert-Zimmer-Villa auf dem Land

Reinheim an der französischen Grenze – Verschwunden: im 3. und 4. Jahrhundert n. Chr.

11. Die römische Latrine im Parkhaus

Rottenburg am Neckar – Verschwunden: Mitte des 3. Jahrhunderts

12. Da liegen Hirsch und Pferd begraben

Rullstorf an der Elbmarsch – Verschwunden: 800 n. Chr.

13. Persische Münzen in slawischen Äckern

Görke an der Peenemündung – Verschwunden: im 10. Jahrhundert

14. Melting Pot zwischen Nord- und Ostsee

Die Hafenstadt Haithabu – Verschwunden: 1066

15. Reichtum, von dem nichts blieb

Der Altenberg im Siegerland – Verschwunden: 1297

16. Als die Magdalenenflut das Dorf wegschwemmte

Die Wüstung Winnefeld – Verschwunden: 1342

17. Die Siedlung, die das Meer sich holte

Rungholt im nordfriesischen Watt – Verschwunden: 1362

18. Das erste Ghetto Europas

Die Frankfurter Judengasse – Verschwunden: 1796

19. Von Berlin nach Koblenz

Telegrafenstation Nr. 18 Neuwegersleben – Verschwunden: 1849

20. Wo das Eisen unter dem Gras lag

Oberhausen und seine Schwerindustrie – Verschwunden: 1877

21. Der doppelte Marinehafen

Wilhelmshaven und Qingdao – Verschwunden: 1918

22. Adrema-Matritzen, die Personalakten der Nazis

Treuenbrietzen in Brandenburg – Verschwunden: 1945

23. Die polnische Exklave

Maczków im Emsland – Verschwunden: 1948

24. Abgerissen, zerbombt, gesprengt

Berlins mittelalterlicher Stadtkern – Verschwunden: im 19. und 20. Jahrhundert

25. Ein Ort für Displaced Persons

Das Lager Pöppendorf bei Lübeck – Verschwunden: 1951

26. Karl Marx ohne Kirche

St. Pauli in Leipzig – Verschwunden: 1968

27. Verschwunden zwischen Deutschland und Deutschland

Jahrsau in der Altmark – Verschwunden: 1970

28. Abgebaggert

Breunsdorf in Sachsen – Verschwunden: 1995

29. Das Dorf, das zweimal verschwand

Diepensee unter dem BER – Verschwunden: 1370er und 2004

30. Der Palast weicht dem Schloss

Berlin-Mitte – Verschwunden: 2008

Dank

Literatur

1. Krokodile, Tapire und Laufvögel Im Geiseltal in Sachsen-Anhalt

2. Auf Rentierjagd im Tunneltal Ahrensburg bei Hamburg

3. Die WG der Toten Oldendorf in der Lüneburger Heide

4. Frühe Netzwerkerinnen Das Lechtal bei Augsburg

5. Das Prunkgrab an der Autobahnraststätte Leubingen bei Erfurt

6. Atlantis auf dem Grund des Bodensees Unteruhldingen

7. Die reichen Frauen der Kelten Heuneburg an der Donau

8. Gallischer Krieg im Hunsrück Dollberg und Hermeskeil

9. Macht kaputt, was euch kaputt macht Die Kriegergräber von Nienbüttel

10. Eine Hundert-Zimmer-Villa auf dem Land Reinheim an der französischen Grenze

11. Die römische Latrine im Parkhaus Rottenburg am Neckar

12. Da liegen Hirsch und Pferd begraben Rullstorf an der Elbmarsch

13. Persische Münzen in slawischen Äckern Görke an der Peenemündung

14. Melting Pot zwischen Nord- und Ostsee Die Hafenstadt Haithabu

15. Reichtum, von dem nichts blieb Der Altenberg im Siegerland

16. Als die Magdalenenflut das Dorf wegschwemmte Die Wüstung Winnefeld

17. Die Siedlung, die das Meer sich holte Rungholt im nordfriesischen Watt

18. Das erste Ghetto Europas Die Frankfurter Judengasse

19. Von Berlin nach Koblenz Telegrafenstation Nr. 18 Neuwegersleben

20. Wo das Eisen unter dem Gras lag Oberhausen und seine Schwerindustrie

21. Der doppelte Marinehafen Wilhelmshaven und Qingdao

22. Adrema-Matritzen, die Personalakten der Nazis Treuenbrietzen in Brandenburg

23. Die polnische Exklave Maczków im Emsland

24. Abgerissen, zerbombt, gesprengt Berlins mittelalterlicher Stadtkern

25. Ein Ort für Displaced Persons Das Lager Pöppendorf bei Lübeck

26. Karl Marx ohne Kirche St. Pauli in Leipzig

27. Verschwunden zwischen Deutschland und Deutschland Jahrsau in der Altmark

28. Abgebaggert Breunsdorf in Sachsen

29. Das Dorf, das zweimal verschwand Diepensee unter dem BER

30. Der Palast weicht dem Schloss Berlin-Mitte

Vorwort

Dies ist ein Buch über Orte, die verschwunden sind. Viele von ihnen sind deshalb so spannend, weil dort Menschen etwas sehr Großes gebaut haben (wie den Ringwall von Otzenhausen), sehr viel gekämpft haben (wie die Toten auf dem Gräberfeld von Nienbüttel zeigen) oder sehr reich geworden sind (wie die Menschen auf dem Altenberg oder in Reinheim). All das geschah in einer bestimmten Zeit unter bestimmten Umständen. Kurzum: Es ist in den Lauf der Geschichte eingebettet.

Als ich noch zur Schule ging, war Geschichte für mich ein Fach, in dem man vor allem eines können musste: gut auswendig lernen. Man musste die Namen der Herrschenden und die Jahreszahlen in die richtige Reihenfolge bringen und konnte so relativ einfach, wie ich fand, eine gute Note bekommen. Ein Verständnis für Geschichte habe ich dabei nicht entwickelt. Es waren zu viele Namen, zu viele Daten und zu viele Zahlen. Sie haben den Blick auf den Kontext verstellt. Es gibt genügend Bücher, die Geschichte genau so erzählen. Ich möchte das nicht wiederholen.

Einige Orte in diesem Buch zeigen schon, wer wann wie gegen wen kämpfte, sie erzählen Herrschaftsgeschichte nach. Wie das Militärlager im Hunsrück, an dem Caesar den Kelten gegenüberstand, oder Qingdao, der nach dem Vorbild Wilhelmshaven gebaute einzige deutsche Überseehafen. Andere Orte habe ich gewählt, weil sie Auskunft geben über Details aus der deutschen Geschichte, die man sonst selten mitbekommt. Überall im Ostseeraum findet man zum Beispiel persische und zentralasiatische Münzen, die aus dem Mittelalter stammen. Wie sie dorthin gekommen sind, erzähle ich anhand von Görke in Mecklenburg-Vorpommern, wo man einen Münzschatz gefunden hat. Während der Nazi-Diktatur gab es über 30.000 Zwangsarbeiterlager. Wie soll man unter den Orten des Grauens einen auswählen? Ich habe mich für eine Waffenfabrik mit angeschlossenem Lager in Treuenbrietzen entschieden. Dort hat man ADREMA-Matrizen gefunden, Datenträger im Verwaltungssystem der nationalsozialistischen Diktatur, sie zeigen die logistischen Strukturen des Vernichtungsapparats.

Die Auswahl unterlag keinen objektiven Kriterien, ich habe Orte gewählt, von denen ich fand, dass sie besonders waren oder man von ihrer Geschichte etwas Ungewöhnliches lernen kann. Dabei habe ich versucht, bekannte mit weniger bekannten Orten zu mischen. Es hätte auch der Schatz von Manching sein können, aber es sind die Münzen von Görke geworden. Statt Garzweiler steht nun Breunsdorf exemplarisch für Orte, die der Kohle weichen mussten. Die römische öffentliche Toilette in Rottenburg fand ich erstaunlicher als den Römerschatz in Weißenburg. Dass es in der Grube Messel Fossilien in unglaublicher Zahl gibt, weiß man, aber dass es aus dem Geiseltal ähnlich beeindruckende Funde gibt, eher nicht. Statt von den Sprengtrichtern der US-Armee auf dem Görauer Anger in Bayern erzähle ich die Geschichte einer polnischen Enklave in der Britischen Besatzungszone. Jeder dieser Orte wurde von Lukas Wossagk bebildert, und seine Illustrationen sind so individuell wie die Orte: mal die Karte eines Dorfes, mal eine architektonisch anmutende Studie, mal die Darstellung einer möglichen Szene. Nie sind es allerdings archäologische Rekonstruktionszeichnungen der verschwundenen Orte.

Den Begriff «Orte» habe ich sehr weit gefasst. Manchmal schreibe ich über Siedlungen, manchmal auch nur über Teile davon oder über einzelne Gebäude. Nicht immer geht es um historische Relevanz oder um das bloße Verschwinden. Manche der Orte in diesem Buch faszinieren durch ihre geografische Lage. Rungholt ist in einer Sturmflut untergegangen, weil es an der Nordseeküste lag. Die St. Antony-Hütte im Ruhrgebiet entstand dort, wo man das Eisenerz im Gras aufsammeln konnte.

Weil ich Kuriositäten mag, sind hier wieder seltsame Orte versammelt, wie das Grab eines Hirsches aus der Zeit der Altsachsen oder dieser frühbronzezeitliche reiche und vermutlich ranghohe Mensch, der nun seine eigene Autobahnraststätte hat. Ich frage mich, ob es in der Steinzeit das Konzept einer Familie gab und was eigentlich eine authentische Altstadt ausmacht. Anstatt mich in Details zu verlieren, geht es mir darum, den größeren Zusammenhang zu zeigen. Warum ist etwas passiert? Warum in diesem Moment? Wozu hat das geführt?

Ganze Ortschaften verschwinden vor allem bis zum Mittelalter, danach geht es zunehmend um Ortsteile, die sich verändern, oder Gebäude, die abgerissen werden. Aber auch im 20. Jahrhundert sind komplette Siedlungen dem Erdboden gleichgemacht worden, allerdings immer geplant. Jahrsau musste aus politischen Gründen weichen, die deutsch-deutsche Grenze war zu nah. Breunsdorf aus wirtschaftlichen, die Kohle lag unter dem Dorf. Bei Diepensee waren es logistische Gründe, weil der Berliner Flughafen erweitert werden musste.

Obwohl die Orte sehr unterschiedlich sind, gibt es Gemeinsamkeiten. Oft findet man gar keine Spuren vom Dorfleben selbst, sondern Überreste von Friedhöfen, den Orten der Toten. Ich habe beschlossen, auch über diese zu schreiben, denn wo es einen Friedhof gegeben hat, kann eine Siedlung nicht weit gewesen sein, auch wenn man (noch) keine Hinweise von ihr gefunden hat. Auch anhand von Grabbeigaben aus vorchristlicher Zeit kann man sehr viel lernen über die Menschen, die einen Ort bevölkert haben.

Von keltischen Orten kennt man kaum Namen, denn die Kelten haben keine Dokumente hinterlassen. Was wir über sie wissen, kommt meist von den Griechen und Römern, die die Kelten (oder jede andere Kultur als die eigene) zur Kategorie der Barbaren zählten. Auf das Hörensagen haben sich auch die Menschen im Mittelalter häufig verlassen. In jedem Städtchen scheint es damals Menschen gegeben zu haben, die über Gott lästerten, weshalb dieser Gott eine Katastrophe schickte und das Städtchen unterging.

Ist eine Siedlung verschwunden, dann oft auch, weil die Steine der Häuser von den Menschen aus umliegenden Dörfern geholt und für die Errichtung anderer Gebäude verwendet wurden. Deshalb sind häufig nur Fundamente erhalten geblieben oder Schatten von Häusern, weil an dieser Stelle das Gras anders gewachsen, der Boden anders beschaffen ist. Entdeckt man hingegen besonders viele Überreste einer Siedlung, dann meist deshalb, weil sie unter Wasser stand und sich organisches Material unter Sauerstoffentzug nicht zersetzt hat. Und findet man besonders beeindruckendes Material, dann kann man sich fast sicher sein, dass Nazis aller Generationen die Stätte als Beweis für irgendein Deutschtum genutzt haben, obwohl es das in der besagten Zeit noch gar nicht gegeben hat.

Der älteste Ort, von dem ich erzähle, existierte 45 Millionen Jahre vor heute, der jüngste verschwand 2008. Um ihre Geschichten zu recherchieren, musste ich mich mit volkskundlichen Mythen (wie bei Rungholt und dem Altenberg), mit Religionsgeschichte (wie bei der Judengasse und der St.-Pauli-Kirche), mit historischen Dokumenten und archäologischen Funden beschäftigen. Jede Methode hat ihre Tücken. Man kann zum Beispiel, wenn es Überreste aus Holz gibt, deren Baumringe vergleichen, um eine Jahreszahl herauszufinden. Aber ein Baum kann, nachdem er gefällt wurde, noch jahrzehntelang herumliegen, bevor man aus ihm eine Grabkammer zimmert. Anhand der Zähne kann man feststellen, wo ein Mensch geboren und aufgewachsen ist, aber nicht, wohin es ihn als Erwachsenen getrieben hat. Je nachdem, wer ein Ereignis niedergeschrieben hat, wird man eher die eine oder die andere Seite eines Streits geschildert bekommen.

Wir stellen uns Geschichte gern als etwas Geradliniges vor, aber Dinge geschehen gleichzeitig. Manche Entwicklungen werden weitergetragen, andere nicht. Viele Ereignisse hinterlassen gar keine Spuren. Manchmal spült eine Flut alles hinfort. Oder ein Krieg macht die letzten Chancen auf Erkenntnis zunichte.

Ich habe deshalb noch nie so viel über das geschrieben, was man nicht weiß, was man vermutet, was man sich erzählt, worüber es plausible Thesen gibt oder wo es schwerfällt, andere Thesen als die zu entwickeln, die gängigen Vorstellungen folgen. Im Grunde ist jede Geschichte in diesem Buch eine Detektivgeschichte. Es geht dabei immer um einen Ort, der verschwunden ist, manchmal um die Menschen, die ihn wiederentdeckt haben, viel häufiger aber um das, was sie dabei gefunden haben. Beginnen wir mit der Spurensuche!

1. Krokodile, Tapire und Laufvögel

Im Geiseltal in Sachsen-Anhalt

Verschwunden: vor 45 Millionen Jahren

Ungewöhnliche Tiere bevölkerten die subtropischen Wälder und Sümpfe Sachsen-Anhalts vor 45 Millionen Jahren.

Diese Geschichte beginnt zu einer Zeit etwa 45 Millionen Jahre vor heute. Die großen Dinosaurier sind schon gut 20 Millionen Jahre ausgestorben. Die Landmassen sind in etwa an Ort und Stelle, nur die Antarktis ist noch mit Südamerika verbunden und der Indische Subkontinent noch eine riesige Insel im Ozean. Grönland hat sich 10 Millionen Jahre zuvor von Europa losgelöst, ein ungestümer, rauer Vorgang, Vulkane brachen aus. Über ihre Schlote gelangte flüssiger Gesteinsbrei aus dem Erdinneren an die Oberfläche. Die darin eingeschlossenen Gase entwichen. Kohlendioxid reicherte sich in der Atmosphäre an. Genau wie heute führte dieser hohe CO2-Gehalt dazu, dass sich das Klima wandelte: Weltweit stieg die Temperatur um mindestens 6 Grad Celsius.

Hätten damals im Gebiet von Deutschland Menschen gelebt, wären sie durch subtropischen Wald gestapft, hätten sich durch Sümpfe kämpfen müssen und wären unterwegs von einem Krokodil angefallen worden. Sie hätten vielleicht versucht, einen großen Laufvogel, eine Art Strauß mit dickerem Schnabel, zu zähmen und sich aus den schillernden Panzern von Käfern Schmuck zu basteln. All diese Lebewesen gab es auf dem Territorium, das heute Deutschland ausmacht. Oder besser: auf einem kleinen Teil davon, 20 Kilometer südwestlich von Halle, dort nämlich, wo heute der Geiseltalsee liegt.

Es ist ein künstlicher See, der an seiner tiefsten Stelle 78 Meter misst. Seinen Namen hat er von dem Bach Geisel, der wenige Kilometer oberhalb des heutigen Sees entspringt. Ein Radweg führt um den See herum, durch eine verbuschte Graslandschaft, in der vereinzelt Bäume stehen. Immer wieder weisen Schilder auf Dörfer hin, die es hier nicht mehr gibt. Denn in der Mulde, die heute der See einnimmt, lagerte ursprünglich Braunkohle: 1,4 Milliarden Tonnen auf einer Fläche von kaum 60 Quadratkilometern, 16 Kilometer in der Länge und zwischen 0,5 und 5 Kilometern in der Breite. Als die Braunkohle aus dem Boden geholt wurde, verschwanden die Dörfer. Dabei kam aber etwas ganz Unerwartetes zum Vorschein: Reste einer Millionen Jahre alten Landschaft mit ihrer ganz eigenen Flora und Fauna.

Bereits 1908 fand man in der Grube Cecilie das Skelett eines 3 Meter langen Tieres, größer als ein Schwein, aber kleiner als eine Kuh, eines Vierbeiners mit Hufen und einem langgezogenen Schädel. Das Lophiodon, so sein Name, ähnelt heutigen Tapiren. Die Knochen waren bei der Entdeckung bräunlich-rot und unterschieden sich farblich kaum von der sie umgebenden Kohle. Erstaunlich, dass sie überhaupt auffielen. Über die Jahre tauchten immer wieder Knochen, Zähne, Schneckenhäuser und andere Fossilien auf.

Es ist ungewöhnlich, Fossilien von Wirbeltieren in Kohle zu finden, denn Kohle selbst besteht aus Resten von Pflanzen, die in der sumpfigen Landschaft zersetzt worden sind. Moorgewässer erhalten ihre rötlich-braune Färbung von Huminsäure, sie löst alles auf, was calcium- und karbonathaltig ist: Knochen, Zähne, Muschelschalen. Nur Haut und Weichteile bleiben erhalten, sie werden gegerbt. Deshalb wirkt der Körper einer Moorleiche eingefallen, als hätte etwas ihn leergesaugt und nur die Hülle übrig gelassen. Gelangt Sauerstoff an die Haut, wird auch sie durch Bakterien zersetzt. Nach vielen tausenden Jahren wird so in der feuchten Landschaft abgestorbenes organisches Material zu einer torfartigen Schicht. Auf ihr lagern sich weitere Sande, Steine, Gerölle ab, deren Druck den Torf zu Kohle verfestigt. Fossilien? Fehlanzeige! Außer eben im Geiseltal.

Eineinhalb Millionen Jahre dauerte es, bis sich Kohle hier gebildet hatte. Allerdings unter ganz besonderen Bedingungen. Da, wo die Geisel und andere Bäche entspringen, die in das Tal hineinfließen, treffen zwei Gesteinsschichten aufeinander. Die Schicht, die der Erdoberfläche näher liegt, ist wasserdurchlässig. Sie besteht aus Kalkstein. Man erkennt noch heute leicht, wo er unter der Erde liegt, denn hier haben sich Böden gebildet, auf denen man hervorragend Wein anbauen kann, so wie an einigen Hängen am See. Fällt Regen auf den Kalkstein, löst die dabei entstehende Kohlensäure Teile des Gesteins. Es entstehen Klüfte und Spalten, durch die weiteres Wasser gespült wird, das weiteren Kalk löst und mit sich talabwärts nimmt. Das karbonathaltige Wasser floss in das Geiseltal, wo es auf das saure Sumpfwasser traf. Man kann sich das vorstellen wie zwei Kräfte, die sich gegenseitig aufheben: Das karbonathaltige Wasser neutralisiert die Huminsäure. Die Knochen, Zähne und andere Teile der verstorbenen Lebewesen wurden nicht zersetzt, sondern in der Kohle erhalten.

1925 beschloss die Universität Halle-Wittenberg, systematisch zu graben. Seitdem hat man bis zur Flutung des Sees im Jahr 2011 Schätzungen zufolge insgesamt über 200.000 Überreste von Wirbeltieren entdeckt, viele davon nur Fragmente. 5000 Säugetierreste sind näher bestimmbar, 2000 bis 2500 Fische, 2000 Reptilien, 100 bis 500 Amphibien, 200 Vögel.

Die Fossilien fand man dort, wo es einst Wasser gegeben haben muss: an Trinkstellen und Bächen. Einige Wasserlöcher waren an ihren Ufern sehr steil. Es liegt daran, dass sie die sichtbaren Öffnungen von Höhlensystemen waren, die im Untergrund lagen. An den trichterförmigen Öffnungen stillten die Tiere ihren Durst, rutschten ab und ertranken. Man fand hier die Skelette vieler verschiedener Arten aufeinandergestapelt. Ganz ähnlich an den Bachläufen, nur dass die Tiere hier im Morast stecken blieben oder von Krokodilen hineingezogen wurden. Man hat ein pferdeartiges Tier gefunden, in dessen Knochen noch Krokodilzähne steckten.

Eine dritte Todesfalle, besonders in der Trockenzeit, waren Wasserlöcher, die heute eher Leichenfeldern gleichen. Es sind weite Flächen, rund 80 Meter lang und 100 Meter breit, mit einer sehr geringen Kohleschicht von nur 20 bis 30 Zentimetern. Auf ihnen befanden sich wie auf einem Friedhof Mengen von toten Lebewesen. Man geht davon aus, dass an diesen Stellen einst Mulden lagen, in denen sich in der Trockenzeit das Restwasser der Regenzeit gesammelt hatte und stehen blieb. In Dürrezeiten kamen Tiere, um zu trinken, starben aber an Ort und Stelle. Andere Leichen wurden mit den Wassermassen der Regenzeit eingespült.

Je größer die Tiere sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, ein vollständiges Skelett zu finden, und desto aufwendiger ist es, es zu bergen. Von dem tapirähnlichen Lophiodon hat man zwar über hundert Exemplare ausgegraben, aber nur drei bis vier davon sind vollständige Skelette. Dafür hat man viele sehr feine, zarte Dinge geborgen: Laub mit erhaltenem Chlorophyll, Insekten mit bunt schillernden Flügeldecken, als Latex erhaltene fellartige Baumrinde, Eierschalen mitsamt dem das Nest bewachenden Krokodilweibchen. Der Großteil der Pflanzen, schätzungsweise 5000 bis 7000 Objekte, wurde an das Naturkundemuseum Berlin gegeben, weil es damals die größere Expertise besaß. 50.000 Funde verblieben in Halle. Eine Auswahl davon kann man heute dort im Geiseltalmuseum sehen.

Das Museumsgebäude ist ein massiver, festungsartiger Bau, der am Domplatz thront. Der Raum, in dem das Museum untergebracht ist, wurde zwischen 1537 und 1539 als Allerheiligenkapelle gebaut. Mit seinen hohen Wänden und dem altarartigen Erker wirkt er noch immer Ehrfurcht einflößend und passt eigentlich genau für das Imposante, was es hier zu sehen gibt.

Gleich wenn man eintritt, steht man vor dem mannshohen Skelett eines Vogels. Es erinnert weniger an das eines Straußes oder Emus, obwohl es ein großer Laufvogel war. Vielmehr hat es etwas von einem langgestreckten Dodo, der Körper wirkt kompakt, die Beine stämmig und der Schnabel massiv, dem eines Tukans gleich. Gastornis heißt die Gattung, die es sowohl in Europa als auch in Nordamerika gab. Insgesamt hat man rund drei Dutzend Fragmente von neun Individuen im Geiseltal gefunden. Nirgendwo in Europa gibt es mehr.

Gleich neben ihm steht das Skelett eines Krokodils, allerdings mit längeren Beinen, die direkt unter dem Körper stehen, nicht wie bei heutigen Krokodilen seitlich am Körper. Am Ende der Beine finden sich auch keine Krallen, sondern runde Zehen, die auf Hufe hindeuten. Man geht davon aus, dass dieses Landkrokodil namens Boverisuchus magnifrons einer der gefährlichsten Räuber der damaligen Zeit war. Vermutlich konnte es bis zu 40 Stundenkilometer schnell rennen. Seine Zähne ähneln denen von Raubdinosauriern, die ihre Beute damit fein säuberlich zerschneiden konnten. Heutige Krokodile können zwar fest zubeißen, zerreißen aber ihre Opfer. Das Boverisuchus magnifrons ist nur eines von hundertzwanzig Krokodilskeletten des Geiseltals, darunter fünf verschiedene Arten. Das ist sehr ungewöhnlich, heute trifft man selten mehr als zwei Krokodilarten auf dem gleichen Areal. Aber im Geiseltal besetzte jedes eine spezielle Nische. Einige lebten an Land, andere in kleineren Seen, wieder andere waren im offenen Gewässer zuhause. Einige fraßen Fische, andere eher Landsäugetiere, wieder andere hatten sich auf Schnecken, Muscheln und Flusskrebse spezialisiert.

Die Spezialisierung auf sehr eng definierte Lebensräume hat damit zu tun, dass das Geiseltal vor 45 Millionen Jahren sehr vielfältig war: eine Mischung aus den Everglades in Florida und den subtropischen Wäldern, wie man sie in Indonesien oder Malaysia findet. Hinzu kommt, dass nur wenige Reptilien das große Artensterben 20 Millionen Jahre zuvor – darunter auch die Dinosaurier – überlebt hatten, zum Beispiel Schildkröten, Krokodile, Eidechsen und Schlangen. Andere Tiere begannen sich in den Nischen einzurichten, die zuvor von Dinos besetzt waren. Vor allem Säugetiere entwickelten unzählige Spezialisierungen. So lebte hier damals ein Tier, das eine Mischung aus Känguru, Spitzmaus und Ameisenbär war: das Leptictidium. Es hatte lange Hinterläufe, einen noch längeren Schwanz und eine rüsselartige Nase. Es war ohne Schwanz nur 20 bis 40 Zentimeter groß, bewegte sich springend fort und ernährte sich überwiegend von Insekten.

Fische und Vögel hat man kaum gefunden, Nagetiere noch seltener, sie standen erst am Anfang ihrer Entwicklung. Andere Tiere, die man fand, haben sich bis heute kaum verändert: Fledermäuse, Schlangen, Käfer. Letztere sind besonders faszinierend, weil ihre Panzer noch immer perlmuttartig in allen Farben des Regenbogens schimmern.

2. Auf Rentierjagd im Tunneltal

Ahrensburg bei Hamburg

Verschwunden: vor 9600 Jahren

Dunkle Haut und blaue Augen hatten die Jäger, die am Ende der letzten Eiszeit unweit von Hamburg Rentiere erlegten.

Vor 12.700 Jahren lebten über einen Zeitraum von dreitausend Jahren wenige Kilometer hinter der nordöstlichen Stadtgrenze von Hamburg Menschen, die Rentiere jagten. Man stellt sich da gerne hellhäutige, behaarte Männer vor, in Rentierhäute gehüllt, die sich mit Speeren bewaffnet an das Wild heranpirschen. Ziemlich alles an diesem Bild ist falsch. Wir haben keine Ahnung, ob damals nur Männer jagten oder auch Frauen. Wir wissen nicht, welche Form von Bekleidung sie trugen, aber angesichts des Klimas trugen sie sehr wahrscheinlich welche. Um 12.700 vor heute befanden wir uns am Ende der letzten Eiszeit, mit Temperaturen, die denen im heutigen nördlichen Skandinavien ähnelten.

Ganz sicher waren die Menschen damals dunkelhäutig. Forschende haben Skelette aus der Steinzeit untersucht und konnten in der DNA keine Gene finden, die heute für helle Haut verantwortlich sind. Diese entstanden erst vor etwa 5000 Jahren. Nur über die Augenfarbe lässt sich streiten. Das Blau entwickelte sich vor 10.000 bis 6000 Jahren. Es könnte also sein, dass die letzten Rentierjäger und -jägerinnen im 10. Jahrtausend vor heute bereits blaue Augen hatten.

Es ist evolutionsmäßig logisch, dass die Menschen dunkle Haut gehabt haben müssen, denn der erste Mensch, der aufrecht ging, lebte vor rund 2 Millionen Jahren auf dem afrikanischen Kontinent, am Rande des Regenwalds. Aus diesem Homo erectus entstanden zwei Arten, von denen wir Gene in uns tragen: der Neandertaler und der Homo sapiens. Die beiden entwickelten sich parallel nebeneinanderher. Vor rund 50.000 Jahren verließ der Homo sapiens Afrika und traf in Europa auf den Neandertaler, der dort schon länger unterwegs war. Manchmal, sehr selten, zeugten sie gemeinsam Kinder. Zwei Prozent der DNA der heutigen europäischen Menschen stammen von den Neandertalern. Der oder die letzte dieser Art starb vor rund 27.000 Jahren. Es blieb: der Homo sapiens sapiens. Wir.

Unsere Vorfahren waren dunkelhäutig und anfangs braunäugig. Die blaue Augenfarbe entstand 10.000 bis 6000 Jahre vor heute. Die letzten Rentierjäger könnten bereits blaue Augen gehabt haben. Sie wanderten durch die Landschaft und ernährten sich von dem, was am Wegesrand wuchs oder ihnen über den Weg lief. Und das waren unter anderem Rentiere. Das Gebiet nordöstlich von Hamburg, wo heute Ahrensburg liegt, war damals eine von Seen durchsetzte, geröllige Landschaft, aus der niedrige Hügel herausragten. Die massiven Gletscher der Eiszeit – sie reichten bis ins nahe Hamburg-Rahlstedt – hatten sie geformt. Als sie abschmolzen, war das Wasser unter dem Eis abgeflossen, zwischen Gletscherboden und Erdoberfläche, und hatte das gelöste Geröll mit sich genommen. Wasser und Geröll höhlten zusammen sowohl den Gletscher als auch den Boden aus: Es entstanden gleichzeitig ein Tunnel im Eis und eine Rinne in der Landschaft darunter, die sich mit der Zeit zu einem Tal erweiterte. Das war nicht nur in Ahrensburg so, es ist eine typische nacheiszeitliche Landschaftsentwicklung. Man nennt diese Form der Täler deshalb Tunneltäler, auch wenn man Jahrtausende später keinen Tunnel mehr sieht. In den Tälern hielten sich stellenweise noch Eisblöcke, die irgendwann ebenfalls schmolzen und kleine Seen entstehen ließen, die man als Toteis-Seen bezeichnet.

Das Ahrensburger Tunneltal ist 7 Kilometer lang und zwischen 200 und 400 Meter breit. Man kann es gut erkennen, wenn man heute von Ahrensburg nach Hamburg-Rahlstedt fährt: Die parallel zur Straße verlaufende Bahntrasse liegt einige Meter tiefer als die Asphaltstrecke; nur die Masten der Oberleitungen ragen heraus. Sie wurde Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Talsohle des Ahrensburger Tunneltals gebaut.

In diesem Tal gingen über drei Jahrtausende lang immer wieder Menschen auf Rentierjagd, und ihre Technik veränderte sich im Laufe der Zeit, wie wir noch sehen werden. Man hat unzählige zu Speer- und Pfeilspitzen behauene Steine gefunden. Und außerdem etwas, das weltweit einmalig ist: Pfeilschäfte. Bis dahin hatte man keine Vorstellung, wie ein Pfeil als Ganzes aussah. Diese Pfeilschäfte waren aus Kiefernholz und bestanden aus zwei Teilen: einem 75 bis 80 Zentimeter langen Hauptschaft, an dem vermutlich Federn zur Steuerung angebracht waren, und einem 15 bis 20 Zentimeter langen Vorschaft, in dem die Pfeilspitze aus Flintstein steckte. Sie hatten eine 3 bis 4 Zentimeter lange, komplexe Steckverbindung in Form von Schwalbenschwänzen. Die Verbindungsstelle umwickelte man mit einer Tiersehne.

Diesen sensationellen Pfeilschäfte-Fund hat in den 1930er Jahren Alfred Rust geborgen, ein gelernter Elektrotechniker und Hobbyarchäologe. Menschen hatten in der Gegend bei Ahrensburg immer wieder Steine gefunden, die aussahen, als seien sie bearbeitet worden. Die faszinierten Rust, er meinte, diese Speer- und Pfeilspitzen müssten aus einer Zeit etwa 18.000 bis 12.000 Jahre vor heute stammen. Flintsteine geben allerdings keine Auskunft darüber, wann sie jemand hergestellt hat. Dazu braucht man organisches Material, Knochen, Geweihe oder Holz, denn nur sie taugen zur Altersbestimmung. Am Rande einer Hügelkuppe bei Meiendorf begann Rust zu graben. Die Ausbeute war enttäuschend: Rund viertausend bearbeitete Flintsteine holte er aus dem Boden – aber sonst nichts.

Knochen, Geweihe und Holz bleiben am besten im Wasser und in Feuchtgebieten erhalten. Beides hat es hier vor Jahrtausenden zuhauf gegeben. Rust wusste das, weil er das Tunneltal und seine eiszeitliche Entwicklung mit den Toteis-Seen kannte. Seiner Meiendorfer Kuppe war eine moorige Senke vorgelagert, und so begann er dort ab 1933 zu graben. Auf einer Fläche von 1000 Quadratmetern, was etwa vier Tennisplätzen entspricht, entdeckte er in 4 bis 6 Metern Tiefe über zweitausend Geweih- und Knochenreste, nicht nur von Rentieren, sondern auch von Wildpferden, Schneehasen, Füchsen, Dachsen, Vielfraßen und verschiedenen Vögeln. Die Geweihe waren zum Teil bearbeitet, dazu fand er auch passende Werkzeuge aus Flintstein. Ein Jahr später unternahm Rust eine zweite Grabung am Rande eines verlandeten Toteis-Sees. Es ist ein sumpfiges, feuchtes Gebiet, das die Einheimischen Stellmoor nennen. Rust entdeckte dort über dreißigtausend Artefakte, die sich in zwei unterschiedlichen Schichten im Boden häuften. In der höher liegenden Schicht fand er das, was weltweit einmalig war und noch immer ist: die rund hundert hölzernen Pfeilschäfte.

Allerdings gibt es sie nicht mehr. Rust hatte sie in das Museum Vaterländischer Althertümer in Kiel geschickt, den Vorgänger des heutigen Archäologischen Landesmuseums. 1944 wurde das Museum von Bomben getroffen. Alle Pfeilschäfte verbrannten. Eine Tragödie! Jahrzehntelang versuchte man, aus Rusts Aufzeichnungen zu rekonstruieren, wie sie aussahen, wie die Teile zusammenpassten und hielten. Dann tauchte in Rusts Nachlass eine Schachtel auf – mit einem einzigen Pfeil! Er ist mit Konservierungsmitteln verunreinigt, aber man geht davon aus, dass er aus derselben Grabung und damit Zeit stammt wie die verbrannten Artefakte. Auf dieser Grundlage hat man die Pfeile nachgebaut und sie mit Federn zur Steuerung ausgestattet. In Experimenten ließ sich damit über 30 Meter relativ treffsicher schießen.

Weil Rust Werkzeuge, Pfeilspitzen und Geweihe in zwei unterschiedlichen Bodenschichten gefunden hatte, schloss er daraus, dass im Tunneltal nicht nur eine, sondern zwei Kulturen gelebt haben. Er hatte recht. Die ältesten Funde sind 12.700 Jahre alt, dies ließ sich nun anhand des organischen Materials feststellen. Man bezeichnet die Menschen, von denen sie stammen, als Hamburger Kultur.

Rust war nicht der Einzige, der im Ahrensburger Tunneltal gegraben hat. In den 1960er und 1970er Jahren war dort Gernot Tromnau unterwegs und in der jüngsten Vergangenheit Ingo Clausen. Funde aus all diesen Grabungen befinden sich im Museum Schloss Gottdorf in Schleswig. Ein Teil von ihnen ist ausgestellt. In den Vitrinen reihen sich zum Beispiel bearbeitete Flintsteine aneinander: Pfeilspitzen, feine Bohrer und kleinere Klingen, aber auch massive, keilförmige Steine, die Macheten der Steinzeit sozusagen. Einige der Werkzeuge hielt man in der Hand oder der Faust, andere steckte man in ein Loch in einem Geweihstück oder befestigte sie mit einer Tiersehne daran, so dass sie einem Schnitzmesser oder Beitel glichen.

All das haben die dunkelhäutigen Menschen hinterlassen, die im Tunneltal am Rande der kleinen Seen saßen und sich den Bauch mit Rentierfleisch vollstopften. Sie lebten hier aber nicht ständig, sondern nur im Herbst, wenn die Rentiere auf ihren Wanderungen vorbeikamen. Dass alle Tiere im Herbst erlegt wurden, kann man anhand bestimmter Knochenfugen, des Zahndurchbruchs und der Geweihe feststellen. Es macht Sinn: Im Herbst sind die Tiere wohlgenährt nach dem Sommer, die Brunft steht kurz bevor. Ihre Geweihe sind mächtig und widerstandsfähig. Außerdem ist die Luft bereits kühl und trocken, so lässt sich das Fleisch trocknen und haltbar machen. Die Menschen der Hamburger Kultur jagten sehr wahrscheinlich allein oder in kleinen Gruppen. Sie pirschten sich an die Rentiere heran oder lauerten ihnen auf und trafen sie seitlich oder von schräg hinten. Im Frühjahr und Sommer jagten sie Wildpferde und Vögel, die sie als Nahrungsmittelreserve mit in das Tunneltal brachten, wie die Funde von Pferde- und Vogelknochen beweisen.

Wie so ein Camp der Hamburger Kultur aussah, weiß man nicht. Aber wir wissen, dass die Menschen sehr effizient arbeiteten und sparsam mit ihren Ressourcen umgingen. An vielen Knochen fanden Forschende Schnittspuren, die vom Filetieren stammen, auch an eher fleischarmen Körperstellen. Unterkiefer wurden aufgebrochen, um das Knochenmark auszuschlürfen. Sie verwendeten Klingen wieder: Brach zum Beispiel an einer Stelle ein Zinken, drehte man die Klinge um und nutzte die andere Seite. Neben all diesen Hinweisen auf ein funktionales Leben fand man aber auch einen Stab aus Rentiergeweih mit eingeschnitzten schnörkeligen Verzierungen, an einem Ende kann man ein kleines bärtiges Gesicht erkennen. Er lässt erahnen, dass die Menschen der Hamburger Kultur auch einen Sinn für Schönheit hatten, vermutlich auch ihre eigenen Mythen und Vorstellungen von Göttern und Welten jenseits der unsrigen, denn der Stab ähnelt Gegenständen, die in anderen Kulturen in schamanistischen Zeremonien verwendet wurden.

Dann verschwand die Hamburger Kultur, weil sich das Klima änderte. Um 12.700 vor heute befanden wir uns am Ende der letzten Eiszeit. Die mächtigen Gletscher über Nordeuropa waren abgeschmolzen. Das im Eis und Permafrost gebundene CO2 wurde freigesetzt, was die Erwärmung verstärkte. Den Rentieren wurde es zu warm, sie verlagerten ihre Wanderroute weiter nach Norden. Die Menschen der Hamburger Kultur folgten ihnen.

Bald bedeckte Wald die Landschaft um Ahrensburg. Aber keine tausend Jahre später kühlte es sich erneut ab, und zwar sehr plötzlich. Vermutlich dauerte es nur fünfzig bis achtzig Jahre, bis aus einer Landschaft, die der unseren ähnelte, wieder eine eisige Steppe wurde und im Ahrensburger Tunneltal wieder Jäger und Jägerinnen den Rentieren auflauerten. Man spricht von der Ahrensburger Kultur. Auch sie kamen im Frühherbst zum Jagen. Sie hatten als Proviant Trockenfleisch von Schwänen, Gänsen und Pferden dabei, die sie an anderen Orten erlegt hatten.

Rust fand 255 solche Knochenreste. Und er holte unglaublich viele Rentierteile aus dem Boden: 7083 Fragmente von Knochen, 5426 von Geweihen und 15 fast vollständige Skelette – von insgesamt etwa 650 getöteten Rentieren. Das ist eine sehr hohe Zahl, man glaubt deshalb, dass die Menschen der Ahrensburger Kultur, anders als die der Hamburger Kultur, nicht auf die Pirsch gegangen sind. Sie veranstalteten Treibjagden, bei denen sie bis zu siebzig Tiere auf einmal erlegten. Auf die Rentiere schossen sie von vorne und von oben. Das hat eine Wissenschaftlerin anhand der Menge, der Position und der Winkel der Einschussstellen in den Knochenteilen festgestellt. Retteten sich die verletzten Rentiere ins Wasser, folgten die Jäger und Jägerinnen ihnen. Sie benutzten Harpunen, vermutlich nicht um zu fischen, sondern um auf eben diese schwimmenden Rentiere zu schießen.

Vielleicht konnten die Ahrensburger auf diese verschwenderische Art jagen, weil sie diese Pfeile nutzen, die besonders holzsparend waren. Holz war zu jener Zeit noch Mangelware. Schossen sie mit ihren zusammengesteckten Pfeilen auf ein Tier, blieb nur die Spitze im Tier stecken. Die Sehne, die beide Teile zusammenhielt, löste sich und das hintere Pfeilende mit den Federn fiel ab. Um den Pfeil wieder verwenden zu können, musste man nur die kurze Pfeilspitze ersetzen.