"Mama, sind wir bald da?" - Pia Volk - E-Book

"Mama, sind wir bald da?" E-Book

Pia Volk

4,6

Beschreibung

Pia Volk, Autorin und alleinerziehende Mutter, folgt der Stimme ihres Herzens. Als ihr Sohn Paul zweieinhalb Jahre alt war, haben beide gemeinsam die Wüste Australiens von Süden nach Norden durchquert. Mit vier ging es die Ostküste der USA entlang, so ungefähr jedenfalls: von den Niagarafällen über Boston und Cape Cod nach Orlando Candyland. Mit fünf kannte Paul die Nachtzüge nach Schweden und so ziemlich jedes Verkehrsmittel in Thailand auch jene, die nie einen TÜV sehen werden. Nun ist er acht Jahre alt und die Welt ist für ihn grenzenlos. Neulich sagte er: Mit einem Flugzeug kann man überall hinkommen, man muss nur einen Koffer packen und losfahren. Ein bezauberndes Buch über zwei, die sich aufmachen, das Leben zu erfahren.

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Seitenzahl: 324

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Pia Volk

MAMA, SIND WIR BALD DA?

Mein Sohn und ich undwie wir die Welt eroberten

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotive: © Sabine Braun / Shutterstock /

Designbüro Gestaltungssaal

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80108-2

ISBN (Buch) 978-3-451-30927-4

Für Paulund alle Liebenden

Inhalt

Vor den Reisen

„Das kannst du doch nicht machen!“Teneriffa und die Entdeckung der Freiheit

Doooog – caaar – good boy – nnnnnein!Australien und die Erfindung der Planlosigkeit

„Ich kann nicht mehr!“Schweden oder: Alles hat seine Grenzen

„Essen die auch Kinder?“Thailand oder wie man Geschichten erfindet

„Let miracles happen every day“Die Philippinen oder: Ansichten über Armut

„Bei den Seepferdchen bekommen die Männer Babys“Palau oder: Geschlechterkampf im Paradies

„Das kenne ich von meinem Nintendo“Japan und die verkehrte Welt

„O mein Gott!“Israel oder die Kunst, von Kindern zu lernen

„Immer musst du alles bestimmen!“Kanada und der Abschied von der Kontrolle

„Ist doch nicht schlimm“Kalifornien oder wie Kinder größer werden

VOR DEN REISEN

»Mit einem Flugzeug kann man überall hinkommen, man muss nur seinen Koffer packen und losfahren«, sagte Paul, mein neunjähriger Sohn, neulich zu mir. Sicher ist Reisen mit Paul besonders einfach, denn er spricht Englisch – er braucht mich nicht als Dolmetscher. Die Welt ist für ihn grenzenlos. Über zwei Mal haben er und ich bisher die Erde umrundet, würde man all die geflogen und gefahrenen und gelaufenen und ersessenen Kilometer zusammenrechnen. Als er zwei war hat er die Wüste Australiens von Norden nach Süden durchquert, mit sechs hatte er die Verkehrsmittel Thailands kennengelernt, auch jene, die nie einen TÜV sehen werden, mit acht hat er in einem Wasserflugzeug die Post zu den Inseln vor der Westküste Kanadas gebracht.

Paul hat seinen Nintendo verloren und ich meine Taucherbrille. Gegenseitig haben wir uns ab und an um den Verstand gebracht, aber nie um den Humor. Manieren, Bedenken und Klischees haben wir über Bord geworfen und an anderer Stelle wieder aufgesammelt. Gefunden haben wir weder Weisheit noch die große Liebe. Stattdessen haben wir gelernt, mit wie wenig man auskommen kann: Ein Freund und eine paar gute Geschichten sind genug.

Dieses Buch erzählt unsere Geschichten und diejenigen der Menschen, die wir unterwegs trafen. Auf den folgenden Seiten findet sich keine Anleitung zum Backpacker-Urlaub. Vielmehr handelt es vom Mutterwerden und von der Entstehung einer wunderbaren Verbindung. Es ist ein Buch

über den Wandel, der in einem selbst beginnt von dem Moment an, da der Bauch immer runder wird und man sich ängstlich beginnt zu fragen: Wie wird es sein, wenn aus dem »Ich« ein »Wir« geworden ist?

Ich möchte meinen Sohn glücklich machen, ich will ihn lachen sehen und Unsinn reden hören. Ich möchte, dass er unbeschwert ist, alles für möglich hält, selbst, wenn ihm die halbe Welt erzählt, er wäre verrückt. Ich wünsche mir, dass er seine Träume verfolgt, und wenn er auf einem Weg nicht weiterkommt, sich einen anderen sucht. Er soll an sich glauben und nicht an das Bild, das andere sich von ihm machen.

Um mein Kind glücklich zu machen, muss ich als Erstes selbst glücklich sein. Als Mutter bin ich in meinem Alltag ständig in Bewegung, erst unterwegs komme ich zur Ruhe, kann nachdenken über das, was ich jeden Tag halb mechanisch verrichte, und über die Vorstellungen, die ich bewusst und unbewusst mit mir herumschleppe.

Reisen ist meine Art, Antworten zu finden. In der Fremde wird es möglich, Erwartungen zu überwinden und eigene Maßstäbe zu setzen. So habe ich es geschafft, den Zweifel auszusperren und die Verzweiflung erst recht. Reisen ist mein Weg zum Glück.

Klischees? Weg damit. Jeder kann sein, was und wie er möchte, solange er damit keinem anderen schadet. Wenn alles gleich bleiben soll, ist es der Mensch, der sich ändern muss, denn die Welt wird es nicht für ihn tun.

Als Mutter bin ich die Welt für einen Menschen und erschaffe eine Welt für mein Kind, baue sie aus Worten und Gefühlen. Unsere Reisen zeigen unsere Welt. Sie erzählen von der Unplanbarkeit des Lebens und der Schönheit des Zufalls, aber auch von den Momenten des Ausgeschlossenseins, des Haderns und der Angst.

Mit jedem Schritt wachsen wir ein bisschen mehr zusammen, verstehen uns besser, kommen uns näher und gleichzeitig entfernt sich Paul von mir, wird reifer, findet eigene Antworten auf seine Fragen, muss mir die Welt erklären, aus der ich herausgewachsen bin. Am Ende haben wir gemeinsam etwas erschaffen, das größer ist als »Ich« und »Er«: ein »Uns«.

Nie ist man jemandem so nahe, wie wenn man ihn auf Händen durch die Welt trägt. In diesem Sinne ist dieses Buch eines über die Liebe.

»DAS KANNST DUDOCH NICHT MACHEN!«

Teneriffa und die Entdeckung der Freiheit

Ich würde Paul gerne den Krokodilen zum Fraß vorwerfen. Sieben Jahre alt ist er und steht vor mir auf einem Holzsteg, mitten im Dschungel, in Gummistiefeln. Um ihn herum wachsen Würgefeigen wie bleiche Skelette aus dem Matsch, Bäume, die sich um andere Bäume winden, wie in einer innigen Umarmung, und ihren Wirtsbaum dabei ersticken. Unter dem Steg rennen ab und zu Warane hindurch, Echsen so groß wie Paul. Er trampelt mit den Füßen so fest und wütend auf den Steg, dass es sich anhört wie ein Trommelwirbel, als wollte er verkünden: »Achtung, gleich geht’s los!« Was losgeht, ist das Fußballspiel unten am Fluss, dort, wo Krokodile im Wasser vor sich hin dämmern. Heraus kommen sie nicht, durch den Matsch zu latschen ist ihnen viel zu anstrengend.

Paul ist übrigens mein Sohn. Er und ich sind in Malaysia, auf der Insel Borneo, ich sitze vor unserer Hütte und schaue der Paul-Show zu. Am Vortag sind wir angekommen in diesem Dschungelcamp ganz ohne B- und C-Promis. Aber auch ohne fließend Wasser, es sei denn, man zählt den Fluss dazu. Strom gibt es, produziert von einem kleinen Generator, aber er reicht nur für ein paar Glühbirnen und wird um Mitternacht abgestellt. Unsere Hütte hat Maschendraht statt Fensterglas, eine Tür fehlt. Jeweils sechs Leute können in einer schlafen. Wir bekommen Bettlaken, die wir zwischen den Matratzen aufhängen können, für etwas Privatsphäre. Nachts balancieren Buschratten über die Wäscheleinen. Neun solcher Hütten gibt es im Camp, sie stehen auf Stelzen und sind über einen Holzsteg miteinander verbunden, auf dem Paul steht und Theater macht. Ich bin wütend auf Paul, ich würde gerne in Ruhe den Geräuschen des Urwaldes lauschen, den Affenrufen und dem Plätschern des Wassers unter mir. Stattdessen höre ich das wütende Trommelfeuer von Pauls Füßen auf dem Steg.

Bis grade eben war noch alles wunderschön. Paul turnte auf den Würgefeigen herum, als seien es Klettergerüste, und setzte schwarzgrauen Eichhörnchen nach. Doch dann haben ihn die großen Jungs – Malaysier um die zwanzig Jahre, die dieses Dschungelcamp leiten – zu einem Fußballmatch eingeladen. Paul war vollkommen hin und weg, bis er feststellte, dass ich sein Trikot zu Hause vergessen hatte. Das heilige Trikot! »Paul, man kann ohne Trikot Fußball spielen, habe ich mal gehört«, sage ich nun zum dritten Mal. Aber Paul schüttelt vehement den Kopf. »Hast du im Fernsehen schon mal jemanden ohne Trikot spielen sehen?«, fragt er mich. »Nein«, antworte ich, »aber hast du schon mal jemanden im Fernsehen mit Gummistiefeln spielen gesehen?« Paul denkt nach und fängt dann wieder an, auf dem Steg herumzutrampeln und den Waranen einzuheizen. Er könnte ruhig zugeben, dass ich recht habe. Im Fernsehen werden schließlich wirklich keine Spiele übertragen, die irgendwo im Urwald stattfinden, wo die Häuser auf Stelzen stehen, man sich das Abendessen aus dem Fluss angelt und über einem Feuer brät, das man mit Elefantendung entzündet hat, und wo man aufpassen muss, dass die Affen einem das Essen nicht vom Rost klauen. Am Ende ist Pauls Lust aufs Fußballspielen dann aber doch größer als der Frust über das fehlende Trikot. Paul zieht sich ein T-Shirt linksherum an, mit dem Aufdruck auf dem Rücken, und stapft den Steg hinunter zum Fußballfeld, das nichts weiter ist als ein rechteckiger Platz, der etwas weniger im Matsch versinkt als der Rest des Camps. Und ich habe endlich meine Ruhe.

Dieser kleine Zwischenfall ist übrigens Pauls schlimmste Erinnerung an die dreimonatige Reise, die ihn und mich auf Bali, die Philippinen und nach Tokio führte. Paul und ich reisen schon seit Jahren durch die Weltgeschichte, und natürlich passierten dabei immer wieder Dinge, an die man sich später nicht so gerne erinnert: verdorbene Mägen, Schlafmangel, vom Weg abkommen. Im Vergleich zu der Sache mit dem Trikot waren das für Paul jedoch lediglich belanglose Kleinigkeiten. Er hatte schließlich bereits mit Haien am Riff geschnorchelt, war im selbst gebauten Bambusboot über meterhohe Wellen balanciert und hat in den Krater eines aktiven Vulkans geblickt, aus dem unerträglicher Schwefelgestank aufstieg.

Zugegeben: Bevor man mit einem Kleinkind verreist, macht man sich Sorgen über alles Mögliche. Oft halten einen all die Sorgen sogar davon ab, die Reise überhaupt erst anzutreten. Zumindest war es früher bei mir so. Als ich Mutter wurde, schulterte ich mitnichten meinen Rucksack, schrie: »Juchhe, endlich habe ich einen Reisepartner für die nächsten fünfzehn Jahre, der sich nicht mal von mir scheiden lassen kann!«, und begann, die Welt zu erkunden. Im Gegenteil: Als ich Mutter wurde, hatte ich das Gefühl, ab sofort alles anders machen zu müssen. Mir kam es so vor, als ob mit der Mutterschaft ein neues Set an Werten und Moralvorstellungen frei Haus geliefert würde, ob ich es nun bestellt hatte oder nicht. Es ähnelte den kleinen Paketen von diversen Babyprodukte-Herstellern mit Windel- und Breiproben, die man nach der Geburt geschickt bekommt. Zum einen fragt man sich bei den Geschenken, woher die Fabrikanten die Adresse haben, zum anderen, warum sie sie nicht gleich an das Kind adressiert haben. Die Sachen sind immer für das Baby, an praktische Dinge für die Mutter, wie zum Beispiel Ohrstöpsel, denkt keiner. Immerhin kann man ab einem bestimmten Alter die Kauringe gemeinsam nutzen, das Baby für die kommenden Zähne, die Mutter, weil sie aufgrund des vielen Weinens, Stillens oder Schlafentzugs auf dem Zahnfleisch geht.

Immer öfter ging es in Gesprächen mit Freunden nicht mehr um die Kinofilme, die ich gesehen hatte, oder die Konzerte, auf die man gemeinsam gehen wollte. Vielmehr kreiste alles um die Frage: »Hast du schon …?« Hast du schon eine Wiege gekauft? Und eine Wippe? Und die Schubladen gesichert? Und ein Stillkissen besorgt? Und ein Tragetuch? Und. Und. Und. Meist endete die Fragerei mit einem guten Ratschlag: »Ich habe nämlich gelesen/von einer Freundin gehört, dass in einem Tragetuch die emotionale Bindung eines Babys sich besonders gut entwickelt.« Dabei war es vollkommen gleich, ob mich das interessierte. Schwangeren darf eben jeder einen guten Ratschlag erteilen, und zwar ungefragt und zu allem: nicht zu viel essen und nicht zu wenig, nicht zu scharf und nicht zu heiß, nicht zu viel von diesem und nicht zu wenig von jenem. Ich hatte weniger das Gefühl, von innen zu einer Mutter zu reifen, als von außen zu einer Mutter gemacht zu werden.

So begab es sich, dass ich meine alte Haut abstreifte und eine neue bekam. Ich lernte das oberste Gebot der Mütter: Du sollst dein Kind glücklich machen – und begann, meinen Alltag nach den Bedürfnissen von Paul auszurichten. Ich lernte, auf dem Rücken zu schlafen, damit er auf meinem Bauch schlafen konnte, denn dort schlief er am besten. Ich lernte, jede Tätigkeit einarmig auszuführen, denn auf Mamas Arm ist es am bequemsten. Ich lernte, Gespräche zu führen und gleichzeitig, mit den Augen sozusagen, mit Paul zu kommunizieren. Ich lernte, dass man als Mutter unter allen Umständen, immer, überall und zu jeder Tageszeit Hüterin des Kindeswohls und nur in den wenigen Minuten, in denen man sich nicht um das Kind kümmern muss, eine Frau mit eigenen Bedürfnissen ist.

Eines meiner stärksten Bedürfnisse ist es jedoch, zu reisen und die Welt zu entdecken. Ich war schon immer eine Weltenbummlerin gewesen und hatte Rucksackreisen geliebt. Ich bin durch Island getrampt, habe Kuba erkundet und Sri Lanka für mich entdeckt. Die Reisen waren für mich immer gerade deshalb so schön, weil sie nicht organisiert waren. Frei von jeglichen Verpflichtungen buchte ich in meiner Prä-Elternschafts-Ära einen Flug, und los ging es. Ich hatte nur eine vage Ahnung, wo ich enden könnte, denn alles war möglich. Wenn ich es nicht bis zum nächsten Hotel schaffte, dann schlief ich eben am Busbahnhof oder versteckte mich als blinder Passagier in der Gepäckablage eines Zuges. Hauptsache, es regnete nicht rein. Pläne konnten nicht schiefgehen, weil es keine gab. Aber nun, als Mutter, dachte ich: »Rucksackreisen? Nee, das kannst du doch nicht machen – mit Kind.«

Heute, nachdem ich acht Jahre lang mit Übergepäck auf zwei Beinen namens Paul kreuz und quer über diesen Planeten gewandert bin, kann ich sagen: Doch, man kann. Und zwar sehr gut. Das heißt, solange man immer ein Fußballtrikot dabeihat. Aber das wusste ich damals, als frisch gebackene Mutter, noch nicht. Vielmehr versuchte ich, mich mit dem Gedanken abzufinden, die Weltenbummelei für die nächsten fünfzehn Jahre an den Nagel zu hängen.

Leider versagte ich kläglich. Was, wie ich zu meiner Verteidigung anführen möchte, vor allem am deutschen Wetter lag. In dem Jahr nämlich, als Paul geboren wurde, hatte der Sommer Deutschland mal wieder übersehen – er kam einfach nicht. Und ich war ein Nervenbündel, das zwischen Herd und Bett pendelte. Mein Sohn trank im Drei-Stunden-Rhythmus. Er hing eine Stunde lang an meiner Brust, nuckelte genüsslich, schlief ein, füllte die Pampers, ruhte eine Stunde und begann von vorne. Tag und Nacht. Leider gehörte ich nicht zu den Müttern, die wieder einschliefen, wenn sie ihr Kind angedockt hatten. Mein Schlaf reduzierte sich auf vier Stunden pro Nacht, und mein Leben reduzierte sich auf die grundlegenden Dinge: Essen, Trinken, Einkaufen. Jeden Tag fühlte ich mich etwas weniger wie ein Mensch und etwas mehr wie eine Maschine. Und die Sonne, nach der ich mich so sehr sehnte, weil sie für mich gleichbedeutend mit Erholung und Entspannung ist, ließ sich nirgends blicken. Irgendetwas musste sich ändern! Und da es viel einfacher ist, den Ort zu ändern, an dem man sich befindet, als das eigene Verhalten, wurde ich schwach und beschloss, einfach abzuhauen und in die Sonne zu fliegen. Um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, richtete ich meine Urlaubsplanung an den vermeintlichen Bedürfnissen meines Kindes aus: maximale Sicherheit, minimaler Stress, professionelle Betreuung. Und so wurde meine erste Reise mit Paul eine Pauschalreise. Es war der erste Pauschalurlaub meines Lebens.

Buchung und Organisation dauerten keine zwei Stunden. Das Einzige, für was ich mich entscheiden musste, war, wo ich mein All-inclusive-Paket genießen wollte. Es sollte nicht zu weit weg liegen, denn immerhin sollte dies Pauls erster Flug werden. Viele Kinder bekommen Ohrenschmerzen bei Start und Landung, das wusste ich. Bei Kleinkindern, die zuhören können, ist das kein Problem, weil man ihnen zur Druckminderung einfach einen Lutscher oder Kaugummi in den Mund stecken und ihnen erklären kann, dass sie nun ordentlich kauen oder lutschen und schlucken müssen. Aber Paul war damals vier Monate alt und konnte noch nicht mal geradeaus schauen, geschweige denn zuhören. Ich fragte mich, wie lange ich es mit einem schreienden Baby auf dem Schoß aushalten würde, bevor ich selbst anfangen würde, zu heulen, und entschied, dass die Obergrenze bei vier Stunden lag. Das schränkte die Auswahl möglicher Reiseziele immerhin schon einmal ein wenig ein.

Am Ende entschied ich mich für Teneriffa. Ich wollte Erholung für mich und Sicherheit für Paul und dachte, ich könnte beides dort finden. Paul schlief während des Fluges dann übrigens wie ein Stein. Ich hatte für ihn ein Babybett gebucht, ein korbartiges Gebilde mit dünner Matratze, das an der Rückwand der Bordküche eingehängt wurde.

Zu meinem Erstaunen war unser Hotel eine deutsche Enklave: ein halbes Dutzend kleiner Häuser, vier- oder fünfstöckig, im mediterranen Stil, die sich lieblich um einen Pool gruppierten. Die wenigen spanischen Vokabeln, die ich hörte, prasselten gleich morgens auf mich ein, denn ich hatte ein Zimmer genau über der Bühne bekommen, auf der die Animateure den Urlaubern einheizten. Die Lautsprecher hingen direkt neben unserem Fenster. »Buenos días, señoreeees y señoraaaaas – einen wunderschönen guten Moooorgen! Um zehn Uhr startet unsere Aqua-Aerobic, und bis dahin genießen Sie unser fantastisches Frühstück. Hasta luegoooo!« Ein Urlaub unter Gleichsprachigen – auch das war neu für mich. Ich war den Klang fremder Sprachen gewöhnt, den Geruch unbekannter Gewürze und den Anblick ungewöhnlicher Kleidungsstücke. Aber auch hier gab es eine Welt zu entdecken, die mir neu war: die des Animationstouristen.

In jedem schattigen Eckchen fand sich ein Tisch mit Häppchen und Naschereien, an denen man sich zwischen den Buffets, die morgens, mittags und abends aufgefahren wurden, laben konnte. Es herrschte »all you can eat« all day long. Auch das Entertainment hatte nie Pause. Ich fand es zunächst amüsant, fragte mich aber auch, ob ich mein Gehirn für all das nicht besser an der Rezeption hätte abgeben sollen. Abend für Abend gab es eine Karaoke-Show, die ich von meinem Logenplatzzimmer aus ausgezeichnet beobachten konnte. Das Spektakel begann kurz nach Sonnenuntergang am Swimmingpool. Die Liegen wurden beiseitegeräumt und weiße runde Plastiktische und Stühle gruppierten sich an deren Stelle. Ein Animateur quasselte ununterbrochen: »In wenigen Minuten starten wir unsere Karaoke-Show! Kommen Sie, kommen Sie! Wir haben 874 Songs zur Auswahl!« Man meinte, ein leichtes Seufzen durch das Publikum gehen zu hören, wenn er endlich aufhörte mit seinem Marktschreier-Monolog. Irgendwann betrat ein Urlauber die Bühne, griff zum Mikrofon, hielt es in der Hand wie eine Eiswaffel, die er sich nicht zu essen traute, und starrte auf einen Bildschirm auf dem Boden. Im Hintergrund lief die Instrumentalversion eines Klassikers an. Aus dem Mund des prototypischen Urlaubers kamen kurz darauf Laute, die nur das geübte Ohr verstehen konnte: »Äiiii schussssst kaalt tuuu sääi äi loooow juuu.« Abgesehen von seiner Frau interessierte es niemanden so wirklich, was und wie er intonierte. Wie mutig die Sänger und Sängerinnen doch sind, dachte ich mir, und gleichzeitig stieg mir die Schamesröte ins Gesicht. Hätte mich jemand gefragt, hätte ich gesagt, es sei wohl ein leichter Sonnenbrand, den ich mir zugezogen hatte.

Für mich war das alles neu. Zuvor hatte ich meine Urlaube in Hostels verbracht, wo man abends in der kleinen Küche selber kocht und ganz nebenbei von anderen Reisenden hört, wie sie in der australischen Hitze mit dem Auto liegen blieben. An Orten, wo die Unterhaltung darin bestand, ausgelesene Bücher aus kleinen Regalen zu ziehen und das eigene dort zu lassen. An Plätzen, wo man burmesischen Interpretationen englischer Lieder lauscht und nicht weiß, ob es schief klingt, weil die Leute nicht singen können oder weil die burmesische Sprache so einen eigenen Singsang hat. Aber damit war ja nun Schluss. Ich musste ein Animationstourist werden – Anpassung, das musste doch irgendwie möglich sein!

Leider musste ich feststellen, dass mich meine Rucksackreisen schon zu sehr verdorben hatten, als dass ich in diesem Ambiente hätte entspannen können. Wenn keine Karaoke-Musik lief, wurden Aqua-Aerobic, Wasserball und Kunstschwimmen am Pool mit handelsüblicher Bum-bum-Musik unterlegt. Oder ich hörte die Stimme eines Animateurs, die gegen die dumpfen Beats ankämpfte bei dem Versuch, Pauschaltouristen Samba beizubringen. Vielleicht war es auch Salsa. Wenn die Animateure tanzten, sah es aus, als wollten sie Sex in vertikaler Ausrichtung praktizieren. Wenn dann die Pauschaltouristen loslegten, sah es aus wie eine pantomimische Verrenkung, die darstellen sollte, wie es sich anfühlt, ein Bleistift zu sein, der mathematische Gleichungen auf die Tanzfläche kritzelt. Tanzen lernen? Nein, lieber hätte ich versucht, den Satz des Pythagoras neu abzuleiten.

Doch nicht nur mein (Fremd-)Schämen stand meiner Erholung im Weg, auch mein Kind, wegen dem ich den Urlaub eigentlich gewählt hatte. Das Hotel war zwar kinderfreundlich, doch Paul war noch kein Kind, er war ein Baby. Die richtigen Kinder hatte man irgendwo versteckt, an einem Ort namens »Miniklub«. Ein Aufpass-Service für all jene Wichte, die ihrem Willen noch keinen Ausdruck verleihen konnten, gab es nicht. Wer nur schreit, muss bei Mama bleiben. So wie mein Sohn. Ich war somit noch immer 24/7 im Mama-Business – und es war anstrengender denn je.

Paul wusste schließlich nichts vom Urlaubmachen, er war ja grade mal vier Monate alt. Er tat, was er immer tat: essen, trinken, pinkeln, kacken, schlafen, strampeln, die Augen rollen und alles von vorne. So elementar kann das Dasein sein. Wie oft habe ich mir während der Reise seine buddhistische Lebenshaltung gewünscht! Nur eines machte Paul anders als daheim: Er schlief kaum noch. Warum auch? Es gab ja so viel Neues zu entdecken: all die Aufregung! Die Musik den ganzen Tag lang! Die bunten Farben! Er wurde trotzig und motzig. Wie Babys eben manchmal so sind. Ich konnte ihn nicht einmal für jene zwei Minuten alleine lassen, die ich brauchte, um meinerseits ein größeres Geschäft zu erledigen – ein Fall, der häufiger eintritt, wenn man 24 Stunden hauptsächlich mit Essen verbringt.

Nach wenigen Tagen trat ich die Flucht aus dem Resort an. Leider konnte man auf der Insel abgesehen von Shoppen und Sonnenbaden ohne Auto nicht viel unternehmen. Wer zum Sonnenbaden an den Strand wollte, kam praktischerweise an zahllosen Boutiquen und Straßenhändlern vorbei. Es war eben alles inklusive. In jedem Geschäft gab es den gleichen Kram: Postkarten mit einem Kamel, das eine Sonnenbrille trägt, Schnorchelausrüstungen, Plastikarmbänder und eine Auswahl an schreiend-bunten T-Shirts mit Aufdrucken von comicartigen palmenbesetzten Inseln und dem Schriftzug »Teneriffa«. Die Hälfte des Krams hing auf Ständern, die auf dem Gehweg standen. Die Touristen bildeten einen Strom, der sich um die Ständer herumwand. Ab und an blieb ein Pärchen stehen und versenkte sich in die bunte Konsumwelt. Zwischen den Auslagen und den Touristen flanierten Straßenhändler. Sie hatten ihr gesamtes Sortiment auf ihrem Körper verteilt. An ihren Armen hingen jeweils fünf Uhren, auf den Köpfen saßen drei Mützen, und an ihrem Shirt steckte ein Dutzend Sonnenbrillen nebeneinander. Während man um die Postkarten- und Krimskramsständer ganz gut herumnavigieren konnte, hatte man bei den Händlern das Problem, dass sie im Gegensatz zu den Ständern trainiert waren, eben dies zu verhindern. Im Gegenteil, sie liefen auf mich zu. Trat ich einen Schritt nach rechts, um ihnen aus dem Weg zu gehen, gingen sie einen nach links. So kamen wir immer wieder auf Kollisionskurs, bis sie vor mir standen und mir ihr »Sunglasses, ma’am?« entgegenschmetterten. »No, thanks!«, schrie ich zurück. »Are you sure? You will look veeery beautiful«, antworteten sie, und schon hatte man eine Brille auf der Nase, über der eigenen Brille drüber. Bis ich am Strand ankam, hatte ich ungefähr acht Brillen auf der Nase gehabt und einen Riesenhals.

Ich hätte mich am liebsten gleich in die Wellen gestürzt, aber das hätte Paul vermutlich nicht so gut gefunden. Außerdem musste ich darüber wachen, dass möglichst wenige Sonnenstrahlen seine Haut trafen. Ein zugegeben schwieriges Unterfangen an einem Urlaubsstrand. Aber die Haut von Babys produziert nun mal viel weniger Melanin, den Stoff, der der Haut die braune Tönung verleiht und vor Sonnenbrand schützt. Legt man ein Baby fünf Minuten in die Sonne, ähnelt es einem Lachsfilet. Deswegen hatte ich in Deutschland ein Strandzelt gekauft, um stets meinen eigenen Schattenspender dabeizuhaben. Dazu schmierte ich Paul mit Sonnenschutzcreme Lichtschutzfaktor 250++ ein. Das ist dieses Zeug, wo die Creme die Konsistenz von Wandputz hat, den man aufspachteln muss. Paul hasste die Creme, und auf seiner Haut bildeten sich rote Pünktchen.

Der Strand war nicht sehr belebt, einige Menschen lagen hier und dort auf ihren bunten Handtüchern, aber mit gediegenem Abstand voneinander. Niemand tat etwas. Es gab keine Beachvolleyballspieler und niemanden, der versuchte, mir mit Breakdance-Moves zu imponieren. Der Strand wirkte wie ein Standbild. Bald wusste ich, warum. Teneriffa ist eine Vulkaninsel, die natürliche Farbe des Sandes ist Schwarz bis Dunkelgrau. Der dunkle Sand ist heiß. Barfuß darauf herumturnen kann man nur mit zentimeterdicker Hornhaut an den Füßen. Auf einem Handtuch liegend war es grade so erträglich – in einem Strandzelt aber wurde es unerträglich. Ich fühlte mich wie in einem Backofen mit Umluftfunktion, denn zu der Hitze kam der Wind, das himmlische Kind. Die Wärme kam von allen Seiten, und der Wind wälzte sie im Zelt umher. Mit ihm kam auch der Sand. Der Wind trieb den Sand vor sich her, hinein in unser Strandzelt. Im Zelt suchten sich die Sandkörner ein neues Zuhause. Sie bevorzugten Nischen und Zwischenräume, besonders gerne nisteten sie sich in Pauls Babyspeck-Falten ein. Nach nicht allzu langer Zeit ähnelte Paul einem postmodernen Kunstwerk: ein weißer Körper mit schwarzen und roten Punkten. Rot waren die Hitzepickel, die er unter dem Sonnencremeputz entwickelt hatte, schwarz waren die Sandkörner. Irgendwann begann Paul, sich schreiend über all die Strapazen zu beschweren. Mir blieb nichts anderes übrig, als mit meinem Paul-Kunstwerk auf dem Arm ins Hotel zurückzukehren.

Ich war genervt, und zwar so richtig. Vom Urlaub waren noch zehn Tage übrig, und wenn das so weiterging, würden Paul und ich gestresster zu Hause ankommen, als wir losgefahren waren. Ich suchte meinen Gästebetreuer auf. Er hieß Peter oder Martin, auf jeden Fall war er Deutscher. Er hätte Mitte zwanzig sein können oder auch Ende vierzig, seine Haut war tief gebräunt, er hatte ein freundliches Lächeln, das niemals aus seinem Gesicht verschwand. Jeden Mittwoch, zur Stunde der Siesta, saß er auf dem Rattansofa gegenüber der Rezeption und hielt seine Sprechstunde ab. Die bestand im Wesentlichen darin, Pauschaltouristen Ausflüge ins Inselinnere zu verkaufen. »Ich würde gerne das Zimmer wechseln«, sagte ich zu ihm. Immerhin hatte er sich mir als die Person vorgestellt, die uns den Urlaub so angenehm wie möglich machen würde. Am liebsten hätte ich ein Zimmer mit schalldichter Tür und schalldichten Fenstern, aber das sagte ich nicht. Peter oder Martin strahlte mich an, und ich fragte mich, ob er vielleicht an einer Fehlfunktion der Gesichtsmuskulatur litt. Schließlich fragte er mich, ob mein Zimmer nicht sauber sei, ob etwas entwendet wurde, ob mir das Zimmer nicht gefalle. Ich schüttelte den Kopf, während ich vor ihm auf einem Stuhl saß und Paul hin- und herwiegte. »Nein, das Zimmer befindet sich über der Bühne, und es ist einfach sehr laut«, sagte ich. Peter oder Martin lächelte noch etwas breiter und sagte, das tue ihm leid, aber das Hotel sei leider ausgebucht. Ob ich mir jedoch mal überlegt habe, die Anlage zu verlassen, er könne mir einen entspannenden Gruppenausflug in einen Vogelpark anbieten oder vielleicht zu den Pyramiden von Guímar.

Ich war so verblüfft, dass dieser Kerl es schaffte, noch aus einer Beschwerde ein Verkaufsgespräch zu machen, dass ich aufhörte, Paul zu wiegen, der sich umgehend mit Geschrei beschwerte. Ich ließ Paul weinen und brüllte über seinem Lärm. »Tut mir leid, eigentlich macht er Mittagsschlaf, aber das geht ja nun nicht, wegen der Musik, Sie hören es ja selbst. Es ist eben zu laut für ihn. Was machen wir denn nun?« Der Gästebetreuer blätterte in seinen Unterlagen. Sein Lächeln schrumpfte um einige Millimeter. Ein paar Schweißtropfen erschienen auf seiner Stirn. Er stand auf, ging hinüber zur Rezeption und redete mit dem Herrn hinter dem Tresen. Sie gestikulierten wild. Dann telefonierte er und gestikulierte weiter. Als er aufgelegt hatte, griff er über den Tresen, nahm einen Schlüssel und verschwand. Paul schrie unterdessen weiter sehr laut und sehr hoch, aber ich konnte seine verbale Unterstützung diesmal sehr gut gebrauchen. Nach einer Weile kehrte mein Betreuer zurück und wedelte mit dem Schlüssel vor meinen Augen herum. »Das Zimmer ist grade frei geworden, die Gäste sind heute Morgen abgereist. Sie können mit Ihrem Sohn hinein, ich werde veranlassen, dass man Ihr Gepäck vor die Tür stellt.« Da wusste ich zum ersten Mal: Paul und ich würden einmal ein wunderbares Team sein.

Das neue Zimmer war tatsächlich leiser. Endlich konnte ich das Tohuwabohu aussperren, um in Ruhe darüber nachzudenken, wie um alles in der Welt ich eigentlich auf dieser Insel und in diesem Hotel gelandet war. Warum hatte ich so viel Geld ausgegeben für Kram, den ich noch nie gemocht hatte? Und woher kam eigentlich diese Vorstellung: »Rucksackreisen mit Kind – das kannst du nicht machen«?

Sicher, meine Rucksackreisen waren immer etwas chaotisch und improvisiert verlaufen, und diese Unvorhersehbarkeit stand im Widerspruch zu meiner Mutterrolle. Wenn man eines während einer Schwangerschaft lernt, dann ist es planen und überwachen. Alle paar Wochen muss man zu einer neuen Untersuchung, wird ein neues Bildchen gemacht, wird man gewogen und vermessen. Der eigene Körper, der über Jahre hinweg einfach nur funktioniert hatte, wird ein potenzielles Risiko. Im Schwangerschaftsfahrplan gibt es für alles einen Normalwert. Es gab Krankenhausreviews und Hebammen-Notfallnummern. Unvorhersehbarkeit gab es scheinbar nicht mehr. Alles war sicher.

Wieso jedoch sollte der Primat der Sicherheit bedeuten, dass man mit einem Kind, wenn überhaupt, dann nur pauschal und rundumversorgt verreisen kann? Könnte ich nicht auch Rucksackreisen so planen, dass sie sicher sind? Busfahrpläne studieren, Entfernungen vermessen, Hostelreviews lesen, Notfallnummern notieren? Aber wenn nun doch etwas passiert, dachte ich und begann, dem Streit zweier Seelen in meiner Brust zu lauschen. Da gab es die alte Pia, die weltoffene, abenteuerlustige Weltenbummlerin auf der einen und die neue, sich sorgende Mutter Pia, die versuchte, möglichst allem und jedem gerecht zu werden, auf der anderen Seite.

Auf einer selbst organisierten Reise hat man keinen persönlichen Betreuer, der auf einen aufpasst, sagte Pia-Mamia. Nun, den hat man zu Hause auch nicht, entgegnete Abenteuer-Pia. Der Gästebetreuer scheint mir außerdem eher ein Spaßmakler zu sein als jemand, der dich im Notfall in ein Taxi setzen und zum nächsten Krankenhaus schicken würde, argumentierte die Reiselustige in mir weiter. Überhaupt: Wozu sollte man dem Arzt oder der Polizei eigentlich einen Besuch abstatten müssen? Nun, Paul könnte verschwinden, schaltete sich Pia-Mamia wieder ein, in einer Menschenmasse am Busbahnhof. Er könnte auf dem Markt verloren gehen oder gar entführt werden! So wie Madeleine McCann, das Mädchen, das 2007 in Portugal verschwand. Aber die Abenteurerin in mir schüttelte nur den Kopf. Madeleine McCann, rief sie aus, war mit ihren Eltern im Urlaub in einer Ferienanlage gewesen, in einer solchen, wie wir gerade sind!

Im Internet fand ich eine alte Statistik, einen Bericht aus dem Jahr 2002 vom US-Justizministerium. Er besagt, dass jedes Jahr 797 500 Kinder unter 18 Jahren vermisst werden. Von diesen waren 203 900 Opfer von Familienentführungen, bei 58 200 war kein Familienangehöriger involviert. Der größte Teil waren Kinder, die weggelaufen sind. Nur 115 Fälle waren stereotype Entführungen, bei der jemand, der das Kind nicht kennt, es mitnimmt, Lösegeld fordert, es tötet oder einsperrt. Von diesen 115 Vorfällen endeten 57 Prozent mit der Rückkehr des Kindes. Die anderen 43 Prozent hatten kein glückliches Ende. Das Justizministerium schreibt auch, dass bei 80 Prozent der Entführungen durch Fremde der erste Kontakt und/oder die Entführung selbst im Umkreis von 500 Metern um das Zuhause des Kindes stattfand. Das heißt, die Kinder werden von ihrem Entführer beobachtet, bevor es zur Tat kommt. Im Urlaub verschwinden ist eher unwahrscheinlich. Da konnte auch Pia-Mamia nicht widersprechen. Aber was, wenn du und Paul doch unterwegs krank werdet oder ihr euch eine Lebensmittelvergiftung zuzieht, wollte Pia-Mamia wissen. Sie leierte Zahlen herunter:

Von 100 000 Reisenden bekommen 50 000 gesundheitliche Probleme, 8000 gehen zu einem Arzt, 5000 müssen im Bett bleiben, 300 müssen in ein Krankenhaus während oder nach der Reise, 50 müssen mit dem Flugzeug evakuiert werden und einer stirbt. Die meisten Touristen bekommen Durchfall. Ein bis zwei Drittel aller Reisenden in weniger entwickelten Regionen verbringen einige Zeit auf Klos. Meistens passiert es in den ersten beiden Wochen der Reise und hält durchschnittlich vier Tage an. Wer soll euch helfen, wenn ihr nicht mehr vom Klo runterkommt? Nun, antwortete Abenteuer-Pia, hier steht das Buffet doch auch stundenlang in der Sonne rum. Ein gemachtes Nest für Fliegen und Konsorten, oder? Auch Durchfall bekommen kann man überall. Ob nun vom Hähnchenschenkel im All-inclusive-Hotel oder von der Tom-Ka-Gai-Suppe von einem Imbiss auf den Straßen von Bangkok, was spielt das für eine Rolle? Außerdem habe ich ja nicht vor, mit Paul in den Meningitisgürtel von Afrika zu reisen.

Darauf fiel Pia-Mamia erst mal nichts ein. Abenteuer-Pia witterte ihre Chance und setzte nach: Egal, ob Rucksackreise oder Pauschalurlaub – auf beiden Reisen erleben Kinder viel Neues, erleben andere Geschmäcker, hören andere Sprachen, riechen andere Blumen. Für Kinder ist alles neu – egal, wohin ins Ausland man reist. Ihre Sinne könnten bei der einen wie auch bei der anderen Reisevariante überlastet werden. Paul wäre vermutlich ruhiger, wenn wir nicht in einem Hotel wären, das versuchte, uns 24 Stunden am Tag zu entertainen. Überforderung des Kindes – auch das ist kein Argument. Warum also? Warum sind wir hier?

Die beiden Pias stritten weiter, und ich schlief neben Paul ein. Wir machten einen gemeinsamen Mittagsschlaf, den ersten seit Tagen. Und als ich später erwachte, wusste ich endlich, was das Problem war: Ich war nicht mehr ich. Als ich Mutter wurde, bekam ich nicht einfach ein Kind. Ich wurde anders – oder vielmehr dachte ich, ich müsste anders werden. All die Anforderungen, Verpflichtungen und Erwartungen, die an mich herangetragen wurden, wollte ich erfüllen. Ziemlich schnell geriet ich an den Rand meiner Kräfte. Ich wurde eine windelwechselnde Milchmaschine, die rund um die Uhr arbeitete. Schlaf war zu einem Mythos geworden. Ich hatte so viel Zeit mit Kochen verbracht, um die Kalorien wieder reinzuholen, die mein Sohn aus mir raussaugte, dass ich genauso gut eine Wohnung hätte mieten können, die nur aus einer Küche bestanden hätte.

Aber als ich in diesem Hotelbett aufwachte und Paul ruhig und zufrieden neben mir lag, begriff ich: Paul ist es gleich, wo er ist und was er tut – solange wir zusammen sind. Mein Körper ist sein Zuhause. Natürlich nicht mehr im wörtlichen Sinn, wohl aber im emotionalen. Und ich wäre so gern ein Ruhepol für ihn gewesen, doch wahre Ruhe kommt von innen. In mir drin jedoch herrschte Chaos. Pia-Mamia in mir sagte: »Nein, das kannst du nicht tun«, und Abenteuer-Pia in mir sagte: »Ich will es aber tun. Und ich kann es auch.«

Lange Zeit hatte die Mutter die Oberhand gehabt. Doch nun merkte ich, dass auch die Abenteuer-Pia zu ihrem Recht kommen musste. Ein Kind kann man nicht glücklich machen, indem man ihm alles gibt. Indem man es stillt, bis die Brustwarzen bluten, indem man es trägt, bis man Arme wie Arnold Schwarzenegger hat, indem man es zum Lachen bringt, bis einen böse lachende Clowns im Traum heimsuchen. Glücklich sein ist kein Zustand, den man von außen herbeiführen kann. Glück hat man oder bekommt man. Aber glücklich ist man. Die Verantwortung fürs Glücklichsein, die mit der Mutterrolle geliefert wird, ist keine Pflicht dem Kind, sondern zuerst sich selbst gegenüber. Ich aber war auf dem besten Wege, eine griesgrämige Mutter zu werden, die in zwanzig Jahren ihren Sohn auffordern würde: »Sei doch mal bitte glücklich, ich habe doch ALLES für dich getan!« Er wird den Kopf hängen lassen und ein gequältes Lächeln aufsetzen, mich auf die Wange küssen und mit einem schlechten Gewissen von dannen ziehen. Nein, ich wollte nicht, dass Paul und ich so enden. Ich wollte, dass er Glücklichsein für den normalsten Zustand der Welt hält. Ich wollte, dass er glaubt, man könne alles, wenn man es nur wolle. Egal, ob man nun Mutter ist, Bauarbeiter oder Professor.

Sollte man die eigenen Bedürfnisse dem Kind zumuten? Ja, bitte! Seit acht Jahren mache ich das nun. Und nach Tag fünf auf Teneriffa fing ich damit an.

DOOOOG – CAAAR – GOOD BOY –NNNNNEIN!

Australien und die Erfindung der Planlosigkeit

Ich hörte mich schon »Er war’s! Er war’s!« antworten, wenn mich ein australischer Zollbeamter fragen würde, wer meinen Rucksack gepackt habe. Dabei würde ich auf Paul zeigen. Der eineinhalbjährige Knirps würde in seinem Buggy sitzen und den klassischen Hundeblick aufsetzen, der »Ich weiß nicht, wovon du redest« bedeutet. Der Zöllner würde den Rucksack öffnen, und es würden Playmobil-Figuren, Puzzleteile, Autos, Knete, Bücher und noch mehr Autos herauspurzeln. Jede der einzelnen Figuren würden die Zöllner auseinanderbauen, auf der Suche nach etwas Verdächtigem. Denn wer reist schon mit einem Rucksack ohne Kleidungsstücke, aber voller Plastikkram durch Australien?

So stellte ich mir unsere Einreise vor, während ich versuchte, unsere Sieben- oder auch Siebentausendsachen zu packen. Mein Nervenzusammenbruch stand kurz bevor, ebenso wie der Abflug. Der Wanderrucksack und Pauls Kinderkoffer waren gepackt, aber ich wusste schon längst nicht mehr, was drin war, weil Paul einiges darin versteckt und anderes wieder ordnungsgemäß an den angestammten Platz zurückgeräumt hatte. Er hatte mich beim Packen beobachtet. Eine Zeit lang saß er auf seinem Windelpopo, während ich Schränke öffnete, Schubladen aufzog, Sachen einpackte, auf dem Bett stapelte und doch wieder in ein Regal zurückräumte. Irgendwann stand er auf und tat es mir nach. System? Ordnung? Paul doch egal. Dinge müssen in den Koffer rein, andere müssen raus. So einfach ist das. Was also hätte ich antworten sollen, wenn man mich gefragt hätte: »Did you pack your suitcase on your own?«

Indes, das ist nie geschehen. Im Gegenteil. Als unsere Maschine in Melbourne landete, empfing mich eine Frau in Flughafenuniform am Gepäckband mit der Frage »Are you and your child travelling on your own?« Eine Antwort war überflüssig, denn meine tiefen Augenringe und mein vollgekleckertes T-Shirt sprachen für sich. Sie stellte sich als Flughafenassistentin vor und war der Traum einer jeden Mutter: jemand, der einem an den Augen ablesen kann, wann man Hilfe braucht, und der auch noch fähig ist, die nötigen Arbeitsschritte einzuleiten, um die Situation zu einem gelungenen Ende zu führen.

Die Dame zerrte meinen Rucksack und Pauls Koffer vom Gepäckband, holte unseren Buggy und das Babybett aus der Sondergepäckabteilung, schaffte es, den Buggy aufzuklappen (ein echtes Kunststück angesichts der vielen Hebelchen, die man an solch einen Gefährt betätigen muss, damit alle Riegel ineinandergreifen, der CERN-Teilchenbeschleuniger kann nicht komplizierter sein), bugsierte uns durch den Zoll, bei der Passkontrolle marschierten wir an der Schlange vorbei bis hinaus zum Busfahrer. Der sprang von seinem Sitz auf und sagte: »Wait, I’ll give you a hand, love!«, verstaute das Gepäck und den Kinderwagen, und als ich vor dem Hostel aus dem Bus stieg, standen zwei junge Männer auf, die an den Tischen im Café nebenan saßen, und trugen meinen Kram zur Rezeption. Australien! Herzlich willkommen im Land der freundlichen Menschen!

Ich wünschte, meine Eltern hätten das miterlebt. Sie hatten mich verrückt gemacht mit all den Geschichten über Dinge, die schiefgehen könnten. »Warum musst du so weit weg reisen?«, fragten sie mich. Nun ja, unsere erste Fernreise war kein Tingeltangel-Urlaub. Ich war zum Forschen nach Australien gekommen. Ich hatte ein Stipendium erhalten, um eine kleine Studie für meine Magisterarbeit über Aborigines zu machen, über ihr Land und wie es im australischen Gesetzbuch geschützt wird. Ich hatte Jahre zuvor eine Weile in Australien studiert und hatte darüber in der Zeitung gelesen. Erst in einer, dann in einer anderen, dann begann ich, Bücher darüber zu lesen, und ehe ich mich versah, steckte ich schon mittendrin in der Recherche. Nach Australien zurückzugehen, um mit den Menschen dort zu reden, war nur der letzte Schritt.