Deutschlands Veteranen - Julia Egleder - E-Book

Deutschlands Veteranen E-Book

Julia Egleder

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Beschreibung

Seit dem Beginn von Auslands- und Kampfeinsätzen der Bundeswehr in den 1990er Jahren kehrten über 300.000 Soldatinnen und Soldaten als Veteranen heim. Zurück in eine Gesellschaft, die ihren Kampfeinsatz zwar legitimierte, eine Wertschätzung aber vermissen lässt. 19 Betroffene erzählen, wie sie der Kampfeinsatz geprägt hat. Die berührenden Geschichten zeigen, wie eine solche Erfahrung das Leben positiv oder negativ verändern kann. Zusätzliche Fachbeiträge vertiefen das Wissen des Lesers über diese Einsätze.

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Marcel Bohnert · Julia Egleder

DEUTSCHLANDS VETERANEN

(ÜBER-) LEBEN NACH DEM EINSATZ

Dieses Buch erscheint mit freundlicher Unterstützung der Soldaten und Veteranen Stiftung sowie des Bildungswerks des Deutschen BundeswehrVerbandes.

 

Ein Gesamtverzeichnis der lieferbaren Titel schicken wir Ihnen gerne zu. Bitte senden Sie eine E-Mail mit Ihrer Adresse an:

[email protected]

Sie finden uns auch im Internet unter: www.mittler-books.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-8132-1038-5 (epub)

© 2023 von Mittler im

Maximilian Verlag GmbH & Co. KG

Stadthausbrücke 4, 20355 Hamburg, Deutschland

Ein Unternehmen der

Alle Rechte vorbehalten.

Fotos: © Christian Spreitz, © Kay Stübner (S. 46)Gestaltung: Fred Münzmaier

INHALT

Einführung

Vorwort

TEIL 1

Rund um den Einsatz: Fakten, Folgen und Forderungen

Streitkräfte in der Zeitenwende: „Vollumfänglich einsatzbereit!“

Die Auslandseinsätze der Bundeswehr: Zahlen, Daten und Fakten

Leben nach Afghanistan: Der Einsatz als identitätsstiftende Erfahrung

Afghanistaneinsatz: „Der Bundestag ist zur kritischen Aufarbeitung verpflichtet“

Folgen der Auslandseinsätze: Mentales Wachstum, aber auch psychische Erkrankungen

Die politische Arbeit des Deutschen BundeswehrVerbandes als Motor der Einsatzversorgung für Veteranen

TEIL 2

Im Einsatz: 19 Menschen und ihre Geschichte

Maik Mutschke

Achim Gasper

Katharina Gasper

Jens Ruths

Christiane Rusch

Stephan Kremer alias Mazibora

Andreas Rückewoldt

Adrian Rückewoldt

Lana Steinmacher

Meik Briest

Kay Stübner

Steffi Schenke

Jared Sembritzki

Stefan Huss

Dunja Neukam

Michael Bartscher

Wolf Gregis

Daniel Seibert

Stefan Deuschl

TEIL 3

Angesichts des Einsatzes: Fürsorgepflicht, Anerkennung und Würdigung

Mehr Sichtbarkeit und Wertschätzung: Veteranenkultur mitgestalten

Epilog: Schulter an Schulter mit Veteranen!

Danksagung und persönliche Anmerkungen

TEIL 4

Anhang: Hilfen, Austausch und Gedenken

Hilfsangebote für Veteraninnen und Veteranen

Angebote der Bundeswehr

Ausgewählte Angebote weiterer Organisationen

Behandlungs- und Therapieangebote

Vereine, Organisationen und Zusammenschlüsse

Aktionen und Events

Gedenkorte

Ehrenmale der Teilstreitkräfte

Denkmäler in den Einsatzländern

Social Media

Die Autoren

Vertiefende Literatur

„Veteranenpolitik und -kultur stehen in Deutschland noch am Anfang. Wir Angehörige der Bundeswehr müssen daran arbeiten, dass Politik und Gesellschaft sich für uns interessieren. Wertschätzung und Anerkennung setzen Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit voraus. Und Sichtbarkeit wird erst durch Austausch und Diskurs möglich, den wir proaktiv und nicht nur in dem begrenzten Kosmos der Bundeswehr voranbringen sollten. Die häufig noch negative Assoziation mit dem Wort „Veteran“ muss ersetzt werden durch eine realistische und aktuellere Version. Mein Gefühl ist, dass allmählich tatsächlich eine Veteranenkultur entsteht und diese auch in Politik und Bundeswehr angekommen ist. Interessen und Forderungen von Veteranen finden mehr Gehör als noch vor ein paar Jahren. Wenn dieser Kurs weiter forciert wird, und das gelingt nur mit der aktiven Mithilfe der Veteranen, dann sind wir auf einem guten Weg.“

Stabsfeldwebel Naef Adebahr

wurde im Karfreitagsgefecht schwer verwundet.Heute ist er Truppenpsychologiefeldwebel an derSportschulederBundeswehrinWarendorf.

„Die Politik hat einiges wiedergutzumachen. Unsere Soldatinnen und Soldaten, die in Einsatzgebieten wie dem Kosovo, Afghanistan und Mali ihr Leben sowie ihr seelisches Wohlergehen aufs Spiel setzten, erhielten nicht die angemessene Anerkennung und Wertschätzung – geschweige denn die notwendige Unterstützung. Dank des unermüdlichen und beharrlichen Engagements von Veteranenvereinigungen zeichnet sich jedoch eine positive Veränderung ab. Dennoch ist der Weg hin zu einer von der Gesellschaft unterstützten Veteranenkultur noch weit. Um dieses Ziel zu erreichen, genügen einmalige politische Signale nicht. Es bedarf einer tiefen Integration der Veteranenpolitik in die Verteidigungs-, Sozial- und Gesundheitspolitik.“

Kerstin Vieregge

MitgliedderCDU/CSU-FraktiondesDeutschenBundestages

„Hunderttausende Männer und Frauen wurden von unserem Land in die Einsätze geschickt. Ihnen zuzuhören und ihren besonderen Dienst anzuerkennen, ist unser aller demokratische Pflicht. Es ist an der Zeit!“

Johannes Clair

Bestsellerautor,traumatisierterAfghanistan-Veteran

„In früheren Zeiten verehrt, in der Berliner Republik lange ignoriert, finden Einsatzveteranen endlich mehr Aufmerksamkeit. Politik und Gesellschaft scheinen endlich zu verstehen, was es heißt, Soldat zu sein.“

Prof. Dr. Sönke Neitzel

Militärhistoriker,UniversitätPotsdam

EINFÜHRUNG

Vor dem Ende des Kalten Krieges lautete der Hauptauftrag der Bundeswehr Landes- und Bündnisverteidigung. Einsätze außerhalb des Bündnisgebietes der NATO erfolgten bis zu dieser Zeit ausschließlich bei Naturkatastrophen, etwa um Hilfe zu leisten oder Hilfsgüter zu transportieren. Das erste „Out of area“-Engagement, also außerhalb des NATO-Raums, fand 1992/1993 in Kambodscha statt. Hier kam auch der erste deutsche Soldat bei einem Auslandseinsatz ums Leben, als er von einem Unbekannten erschossen wurde.

Heute engagiert sich die Bundeswehr als Armee weltweit. Die Einsätze auf dem Balkan, in Afghanistan und Mali waren gekennzeichnet durch Gräueltaten und erhebliche Gefahren. Sie schweißten die Soldatinnen und Soldaten zusammen – brachten sie aber zugleich an ihre Grenzen und prägten sie auch nach der Rückkehr. Kaum wahrgenommen in ihren Bedürfnissen und von Gesellschaft und Politik oftmals alleine gelassen, begann für viele Veteraninnen und Veteranen der schwerste Kampf meist nach Einsatzende. Der „Krieg im Kopf“ erschwerte die Rückkehr in den normalen Alltag und belastete auch die Familie, etwa wenn traumatisierende Erlebnisse nicht richtig verarbeitet werden konnten, die Anerkennung von Einsatzschäden verwehrt wurde oder mit hohen bürokratischen Hürden belegt war.

Für eine verbesserte Veteranenpolitik setzt sich unter anderem der Deutsche BundeswehrVerband ein, ein wertvoller Mitakteur bei der Entstehung dieses Buches, dessen fachlicher Input eine fundierte Einschätzung der Thematik ermöglicht. Er versteht sich als Interessenvertretung aller Menschen in der Bundeswehr; im Fokus seiner Arbeit stehen unter anderem die Themen Betreuung und Fürsorge sowie Wertschätzung und Anerkennung.

Dieses Buch skizziert im ersten Teil anhand von Expertenbeiträgen Hintergründe, Zielsetzungen und Folgen der Auslandseinsätze und zeigt auf, welche Herausforderungen mit der Neuausrichtung der Bundeswehr einhergehen. Zudem werden Ansätze zur kritischen Aufarbeitung der Einsätze diskutiert. Was es aus medizinischer Sicht für die Soldatinnen und Soldaten bedeutet, wenn die Seele am Limit ist, verdeutlicht ein Beitrag zu Einsatzfolgen wie Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS). Auch das Thema Einsatzversorgung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wird in den Blick genommen.

Im zweiten Teil, dem Schwerpunkt des Buches, kommen die Veteraninnen und Veteranen selbst zu Wort, wie auch einige ihrer Angehörigen. Sie erzählen ihre individuelle Geschichte – unterschiedlich in ihren Erlebnissen und Schicksalen, aber verbunden durch die Erfahrung von Kameradschaft und starkem Füreinander-Einstehen. Anhand von Interviews sind 19 Porträts entstanden, die durch die große Offenheit der Veteraninnen und Veteranen berühren. Sie zeigen eindringlich, dass nicht nur die Auslandseinsätze selbst großen Mut erfordern und den Betroffenen enorm viel abverlangen, sondern auch die Bewältigung des Erlebten oder der Umgang mit Einsatzschäden danach – bei der Rückkehr in Deutschland, häufig sogar noch viele Jahre später.

Welche Verbesserungen in Bezug auf die Versorgung notwendig sind und wo Politik und Gesellschaft gefordert sind, wird im dritten Teil des Buches behandelt. Ergänzend dazu finden sich im Anhang Hilfsangebote für Veteraninnen und Veteranen, Angehörige sowie Austausch- und Gedenkmöglichkeiten.

Die körperlichen und seelischen Verwundungen der in diesem Buch Porträtierten resultieren aus der Lebenswelt von Soldatinnen und Soldaten. Zugleich lassen sie sich aber auch ganz allgemein auf die Gesellschaft übertragen. Vor Gefühlen wie Einsamkeit, Überforderung und finanziellen Sorgen ebenso wie vor Verletzungen, Krankheit oder Todesangst ist niemand gefeit. Viele der in diesem Buch porträtierten Veteraninnen und Veteranen nannten als Motivation, zur Bundeswehr zu gehen, dass sie etwas Gutes tun, etwas bewegen wollen. Sie wurden auch gefragt, was sie sich von Politik und Gesellschaft wünschen. Nahezu alle Einsatzsoldaten antworteten hier „mehr Anerkennung und Wertschätzung“ für ihre lebensgefährlich gewordenen Aufgaben. Die Bereitschaft, sich für Schutz und Sicherheit einzusetzen und hierfür die Gesundheit oder sogar das Leben zu riskieren, sollte nicht als Selbstverständlichkeit erachtet werden. Sie verdient Respekt und Anerkennung – zumindest aber Fürsorge und ein stärkeres Bewusstsein dafür. Hierzu möchte dieses Buch Denkanstöße geben.

VORWORT

Oberst André Wüstner

BundesvorsitzenderdesDeutschenBundeswehrVerbandes

Für die meisten Menschen in Deutschland war das Thema „Veteranen“ ein Phänomen der Vergangenheit, ein Überbleibsel aus den dunkelsten Tagen der Geschichte. Doch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wandelte sich die Bundeswehr, eben noch „Armee der Einheit“, zur „Armee im Einsatz“. Menschen meiner Generation wurden zur „Generation Einsatz“, mit dem scharfen Ende unseres Berufs konfrontiert, mit Gefahr, Verwundung und Tod. Zugleich mussten sie das „freundliche Desinteresse“ großer Teile der Gesellschaft erleben. Ja: Auch mich hat diese Zeit geprägt, ich war im Einsatz auf dem Balkan und in Afghanistan. Auch ich habe Kameraden verloren, gute Freunde, ich weiß um das Leid der Hinterbliebenen und sehe, wie viele mit körperlichen und seelischen Verwundungen Zurückgekehrte noch heute darum ringen, ins Leben zurückzufinden. Auch ich habe lange gebraucht, um Erlebtes zu verarbeiten.

Veteranen, das sind aber nicht nur die Angehörigen der „Generation Einsatz“. Zu keinem Zeitpunkt durften wir diejenigen Kameradinnen und Kameraden aus den Augen verlieren, die – übrigens auch schon viele Jahre vorher – ihre Aufträge erfüllt haben. In Afrika, im Mittelmeer, in der Ostsee, zu Wasser, auf dem Land und in der Luft. Sie verdienen in gleichem Maße Anerkennung und Wertschätzung. Wir als Berufsverband haben daher immer eine umfassende Definition vertreten. Unser Motto ist: die einen wertschätzen, ohne die anderen auszugrenzen. Weil der Auftrag die Klammer und Kameradschaft das Fundament ist, galt es, Spaltungsgefahren innerhalb der Bundeswehr von vornherein keine Chance zu lassen. Unabhängig davon gibt es Menschen, die in ihrer Eigenschaft als „Veteran“ besser als bisher wahrgenommen und anerkannt werden wollen. Das ist absolut nachvollziehbar, insbesondere wenn man sich mit diesen Kameradinnen und Kameraden und ihren Geschichten auseinandersetzt. Daher haben wir als Berufsverband diesen Wunsch von Anfang an aufgegriffen. Als eine Art „Dachverband“ vernetzen wir eine Vielzahl kleinerer Verbände, Organisationen und Stiftungen. Wir helfen, wo notwendig, und kämpfen um weitere Verbesserungen. Getreu unserem Selbstverständnis als starker Akteur in Politik und Gesellschaft „der eine für alle“: Heimat für alle Menschen der Bundeswehr und damit auch der Verband, der sich bereits seit mehreren Jahrzehnten für Betreuung und Fürsorge sowie Wertschätzung und Anerkennung in besonderem Maße einsetzt. Wir sind stolz und glücklich, einer besonders exponierten Gruppe von Veteranen zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen zu können – als Partner der Invictus Games 2023.

Im Angesicht der veränderten Weltlage wird dem Veteranenthema in der öffentlichen Wahrnehmung ein neuer Aspekt hinzugefügt: die Soldatinnen und Soldaten, die an der NATO-Ostflanke stationiert sind und unter Inkaufnahme von Härten sowie Entbehrungen alles daransetzen, durch Abschreckung dafür zu sorgen, dass Russland seine Aggressionen keinesfalls auf das Bündnisgebiet ausweitet. Auch sie gilt es entsprechend wahrzunehmen. Dazu trägt auch dieses Buch bei. Ich danke allen Mitwirkenden und wünsche uns allen viel Erfolg bei der Erreichung gemeinsamer Ziele.

„Schwerwiegende Erfahrungen in Gefechten, mit Tod und Verwundung lassen sich auch noch lange nach dem Einsatz für Soldatinnen und Soldaten nicht einfach abhaken. Sie prägen und verändern.“

DR. ANJA S E I F F ERT

TEIL 1

RUND UM DEN EINSATZ:

FAKTEN, FOLGEN UND FORDERUNGEN

STREITKRÄFTE IN DER ZEITENWENDE:

„Vollumfänglich einsatzbereit!“

Die Bundesrepublik will ihre Armee so begrenzt wie nur irgendwie einsetzen. Während des Kalten Krieges war es undenkbar, dass westdeutsche Streitkräfte außerhalb des NATO-Bündnisgebiets mehr tun, als humanitär zu helfen. Nach dem Sieg über den Kommunismus und dem Ende des Ost-West-Konflikts, vor allem aber in den Nullerjahren, wurde der Auftrag der Bundeswehr auf das Internationale Krisenmanagement reduziert. Ich habe die Berichterstattung noch vor Augen, wonach zum Beispiel das Deutsche Heer keinen Panzerabwehrhubschrauber Tiger brauche, auch Kampfpanzer schienen aus der Zeit gefallen – ganz zu schweigen von schwerer Artillerie. Die Bundeswehr wurde zur „Armee im Einsatz“.

Das war einerseits richtig, denn zum ersten Mal in ihrer Geschichte befand sich die Bundeswehr im Kampfeinsatz. Im Jahr 1997, im Rahmen der Evakuierungsoperation „Libelle“, wurden deutsche Staatsbürger aus Tirana, Albanien, ausgeflogen. Das Feuergefecht war das erste nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Luftwaffe flog 1999 im Rahmen der Operation Allied Force Einsätze gegen Jugoslawien, Deutschland war Teil eines Krieges, um einen Völkermord zu verhindern. Im Rahmen der Kosovo Forces (KFOR) rückte die Bundeswehr mit einem massiven Truppenaufgebot in den Kosovo ein, um die öffentliche Ordnung zu gewährleisten. Vorbehalte gegen schweres Gerät gab es damals – anders als in Afghanistan – noch nicht. Das ist das Stichwort: Im Dezember 2001 begann der bislang wohl prägendste Einsatz. Kameraden des Kommandos Spezialkräfte (KSK) kämpften mit unseren amerikanischen und britischen Verbündeten in der Schlacht um Tora Bora in Afghanistan. Zehntausende Soldatinnen und Soldaten sollten ihnen an den Hindukusch nachfolgen. Die NATO hatte nach dem 11. September 2001 zum ersten Mal seit ihrer Gründung den Bündnisfall ausgerufen.

Andererseits verlor die Bundeswehr insgesamt jedoch massiv an Einsatzbereitschaft und büßte grundlegende militärische Fähigkeiten ein, die für die Landesund Bündnisverteidigung essenziell sind – man denke nur an die Heeresflugabwehr. Sicherheitspolitisch kurzsichtig wurde die Friedensdividende in den Sozialstaat umgeleitet. Die Armee im Einsatz war eine „Bonsaiarmee“, eine Armee zur Dekoration, zu klein und zu spezialisiert für die Landes- und Bündnisverteidigung, zur reinen Kontingentgestellung für Krisen- und Konfliktmanagement. Mit der Neuausrichtung der Bundeswehr ab 2010 setzte ein Niedergang ein, von dem wir uns bis heute nicht erholt haben.

Das geschah nicht im luftleeren Raum. Auf der Afghanistan-Konferenz 2010 beschlossen die Alliierten zwar, die Truppenpräsenz nochmals zu erhöhen, gleichzeitig sollte jedoch die Verantwortung den Afghanen schrittweise zurückgegeben werden. Damit gestand die internationale Gemeinschaft praktisch ein, dass sie am Hindukusch keinen Blumentopf mehr zu gewinnen glaubte. Afghanistan, als Friedhof der Großmächte verschrien, wurde seinem Ruf gerecht.

In Deutschland wurde das Afghanistan-Engagement immer auf den Bundeswehreinsatz verengt. In diesem Sinne wurde die Bundeswehr für das Scheitern verantwortlich gemacht. Tatsächlich waren die Streitkräfte nur ein Instrument von mehreren. Auch Politikern, Diplomaten und Entwicklungshelfern ist es in 20 Jahren nicht gelungen, einen auch nur halbwegs funktionierenden afghanischen Staat aufzubauen. Dabei fand der berühmte „Vernetzte Ansatz“, der das Zusammenwirken wichtiger Regierungsressorts beschreibt, wohl nirgends so viel Zuspruch wie im Bundeswehrfeldlager Kundus. Obwohl die Bundeswehr ihre Aufträge so gut erfüllte, wie sie durfte, lieferte ihr vermeintliches Scheitern in Afghanistan den hierzulande vielerorts willkommenen Vorwand, sie weiter zu vernachlässigen. Ganz nach der Devise: Seht her, Bündnisverteidigung brauchen wir nicht, Krisenmanagement können wir nicht. Welch ein Irrtum!

Aus diesem sicherheitspolitischen Albtraum erwachte Deutschland auch im Frühjahr 2014 nicht, als Russland die Krim besetzte und einen mehr oder weniger hybriden Krieg gegen die Ukraine begann. Die Bundeswehr hatte da gerade noch rund 170.000 Männer und Frauen unter Waffen. Der Verteidigungshaushalt wies mickrige 32,4 Milliarden Euro aus.

Zwar wurde auf dem NATO-Gipfel in Wales 2014 das ZweiProzent-Ziel bestätigt und in Deutschland die Trendwenden Haushalt, Personal und Material ausgerufen, aber auf den Kasernenhöfen, den Fliegerhorsten und Marinestützpunkten war davon wenig zu spüren.

Auch bündnispolitisch versagte unser Land. Ausgerechnet die Bundesrepublik Deutschland, die während des Kalten Krieges vehement auf der Vorneverteidigung beharrt hatte, dass also Westdeutschland im Falle eines Angriffs des Warschauer Pakts direkt an der innerdeutschen Grenze verteidigt worden wäre, blockierte eine dauerhafte Stationierung von NATO-Verbänden in den osteuropäischen Mitgliedstaaten. Man verwies auf die NATO-Russland-Grundakte, die eine solche Dislozierung untersage. Allerdings gilt dieser Passus im „gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld“ – mit Stand von 1997.

Stattdessen erfand die NATO neben der „Very High Readiness Joint Task Force“ noch „Enhanced Forward Presence“ als „Stolperdraht“. Zur Abwehr eines großangelegten russischen Angriffs auf das Baltikum und/oder Polen sind diese Verbände aber zu klein, sie könnten letztlich nur die Auslösung des Bündnisfalls sicherstellen. Die Strategie der NATO beschränkt sich also bis heute darauf, im Falle eines groß angelegten russischen Angriffs die verlorenen Gebiete wieder zu befreien. Was das für die Menschen in den besetzten Gebieten bedeuten würde, haben wir im ukrainischen Butscha gesehen. Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz also – richtigerweise – versichert, man werde jeden Quadratzentimeter des Bündnisgebiets kollektiv verteidigen, dann ist diese Zusicherung zum gegenwärtigen Zeitpunkt militärisch nicht wirklich unterlegt.

Die amerikanischen Truppen, die für die Rückeroberung notwendig wären, würden zum Beispiel in Bremerhaven ankommen, ehe sie mit deutschen, britischen, niederländischen und weiteren NATO-Kräften an die Front im Osten verlegen würden. Geübt worden wäre das im Rahmen des Manövers „Defender Europe 20“, das aber im März 2020 aufgrund der Corona-Pandemie abgebrochen wurde. Im Ernstfall müsste die „Drehscheibe“ Deutschland, die die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung sicherzustellen zugesagt hat, mit massiven Schlägen durch Drohnen, ballistische Raketen, Marschflugkörper und Hyperschallflugkörper rechnen, wie sie derzeit die Ukraine erleiden muss.

Unter diesem Eindruck hat Bundeskanzler Olaf Scholz die European Sky Shield Initiative ins Leben gerufen, um die Luftverteidigung zu stärken. Das entbehrt nicht der Ironie. Bereits die US-Administration um Georg W. Bush wollte Anfang der 2000er-Jahre in Osteuropa einen Raketenabwehrschirm – zum Schutz Europas vor iranischen Marschflugkörpern – aufbauen. Weil Russland aber protestierte, wurden auch diese Pläne von Deutschland (und Frankreich) blockiert. In puncto Luftverteidigung bestünden „Fähigkeitslücken und Bedarfe zum Fähigkeitsausbau“, schreibt das Bundesministerium der Verteidigung heute.1 Eine schöne Umschreibung der Tatsache, dass dieses Land den Schutz seiner Bürger systematisch vernachlässigt hat und beispielsweise Einrichtungen wie das Bettenhochhaus der Berliner Charité, wo unter anderem die Geburtsmedizin untergebracht ist, wohl nicht geschützt werden könnten.

Seit Russlands Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich die Lage grundlegend verändert. Mit dem Sondervermögen erhält die Bundeswehr zumindest eine Anschubfinanzierung für das, was sie laut Weißbuch 2016, ihrer Konzeption und dem Fähigkeitsprofil 2018 eigentlich können soll. Die „Zeitenwende“, von der Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 sprach, war eine verspätete Erkenntniswende der Politik. Die Bundeswehr hat – wieder einmal – ihre Hausaufgaben im Rahmen ihrer Möglichkeiten gemacht.

Gelingt die Zeitenwende, wird die Bundeswehr erstmalig in ihrer Geschichte professionelle Beiträge zum internationalen Krisen- und Konfliktmanagement sowie der Bündnisverteidigung gleichrangig leisten können – wie im Weißbuch 2016 formuliert, aber bis heute nicht annähernd umgesetzt. Damals war der Großteil der Streitkräfte außerhalb des Vereinigten Königsreichs stationiert, bekanntlich vor allem in Deutschland, und zugleich weltweit im Einsatz. Für die Bundeswehr bedeutet das, dass sie zukünftig sicherlich zu großen Teilen in Osteuropa disloziert sein wird, um eine glaubhafte Abschreckung sicherzustellen. Parallel wird sie weiter in Auslandseinsätze entsendet. Europa ist nach wie vor von Krisen und Konflikten umgeben, die zum Teil durch Russland befeuert werden. Dem muss sich Deutschland widersetzen, um eine innenpolitische Destabilisierung zu verhindern. Die Zögerlichkeit, wie sie die Politik zu Beginn des Afghanistaneinsatzes an den Tag gelegt hat, können wir uns dann aber nicht mehr leisten. Unser Land muss endlich den Mut finden, auch robust vorzugehen, wenn es die Lage verlangt, um nie die Initiative zu verlieren.

Von der neuen Wirklichkeit werden mehr Soldatinnen und Soldaten betroffen sein als früher. Alte Trennungen und Begriffe sind nicht mehr anwendbar. Bezeichnungen wie „Einsatzveteranen“ oder Aufteilungen wie die von „Generation Truppenübungsplatz“ und „Generation Einsatz“ oder zwischen „Drinnies“ und „Draußies“ werden zusehends ineinander übergehen, da sich die Bundeswehr der Zeitenwende immer im Einsatz befinden wird, selbst dann, wenn Einheit X formal im Grundbetrieb arbeitet. Diesen neuen Zustand müssen wir verinnerlichen und mit Stolz nach außen verkörpern.

Stabsfeldwebel Thomas SchwappacherStellvertreterdesBundesvorsitzendendesDeutschenBundeswehrVerbandes

1 unter: https://www.bmvg.de/de/aktuelles/european-sky-shield-die-initiative-im-ueberblick-5511066 (letzter Aufruf: 7. Juni 2023).

DIE AUSLANDSEINSÄTZE DER BUNDESWEHR: ZAHLEN, DATEN UND FAKTEN

Traurige Bilanz: Todesfälle in der Bundeswehr

Die Bundeswehr beteiligt sich seit 1992 an mandatierten Auslandseinsätzen außerhalb des NATO-Bündnisgebietes. Seitdem sind 116 deutsche Soldaten im Einsatz und in anerkannten Missionen ums Leben gekommen. Der bislang höchste Blutzoll war in Afghanistan zu beklagen: 59 deutsche Soldaten ließen dort ihr Leben, davon fielen 35 im Gefecht oder bei Anschlägen. In Bosnien-Herzegowina und im Kosovo starben insgesamt 49 Bundeswehrangehörige, die meisten bei Unfällen.

Anzahl der seit 1992 ums Leben gekommenen deutschen Bundeswehrsoldaten nach Einsatzgebieten

EINSATZGEBIET

MISSION

TODESFÄLLE

Afghanistan

ISAF/Resolute Support

59

Mali

MINUSMA

3

Irak

Ausbildungsunterstützung

1

Kosovo

KFOR

29

Adria

Sharp Guard

1

Bosnien

SFOR/EUFOR

20

Georgien

UNOMIG

1

Kambodscha

UNTAG

1

Litauen

EFP

1

Quelle:Bundeswehr(Stand:Juli2022)

KAMBODSCHA BIS MALI: AUSGEWÄHLTE EINSÄTZE IM RÜCKBLICK

Einsätze bis 1990

Bis zur Wiedervereinigung 1990 lautete der Auftrag der Bundeswehr Landes- und Bündnisverteidigung. Einsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Territoriums gab es lediglich bei Naturkatastrophen. So leisteten etwa deutsche Transportflieger oder Pioniere wiederholt Hilfe bei Dürrekatastrophen und Erdbeben oder transportierten Hilfsgüter in Katastrophengebiete.

Seit 1959 war die Bundeswehr auf diese Weise in mehr als 50 Ländern im Auslandseinsatz. Viele Soldaten betrachteten bis 1990 aber auch ihre Tätigkeit in den Luftverteidigungsgefechtsständen der NATO oder bei Übungen und Manövern als Einsatz. An Friedensmissionen der Vereinten Nationen beteiligte sich die Bundeswehr damals jedoch nicht.

Kambodscha 1991 bis 1993: Erster „Out of area“-Einsatz der Bundeswehr

Der erste Einsatz der Bundeswehr „out of area“, also außerhalb des Bündnisgebiets der NATO, war in Kambodscha. In der Hauptstadt Phnom Penh sollten deutsche Sanitäter in den Jahren 1992 und 1993 mit einem Lazarett die medizinische Versorgung der UN-Blauhelme absichern. Da sie damit kaum ausgelastet waren, übernahmen sie auch die Versorgung der einheimischen Bevölkerung.

Dabei kam Feldwebel Alexander Arndt als erster deutscher Soldat in einem Auslandseinsatz ums Leben; er wurde von einem Unbekannten erschossen.

Somalia 1993 bis 1995

Von 1993 bis 1995 unterstützten deutsche Soldaten mit einem gemischten Versorgungsbataillon die „United Nations Operation in Somalia II“. Ziel war es, im Norden des Landes eine indische Brigade der Blauhelme zu versorgen. Da diese nicht zum Einsatz kam, leisteten die deutschen Soldaten Aufbauhilfe für die örtliche Bevölkerung.

Der Jugoslawien-Konflikt: zunächst Einsatz in Bosnien

Der seit 1990 eskalierende Konflikt im zerfallenden Jugoslawien brachte die deutsche Außenpolitik in eine Zwangslage. Mit der schnellen Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens im Dezember 1991 hatte sie den Konflikt dieser Staaten mit Restjugoslawien verschärft. Ein Jahr später entstand mit der Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas der nächste Brennpunkt, diesmal als ethnischer Konflikt zwischen den bosnischen Muslimen und den Serben. Die Vereinten Nationen sahen dieser Entwicklung lange tatenlos zu. Die „United Nations Protection Force“ konnte weder den Konflikt entschärfen, noch hatten ihre Truppen ein Mandat, gegen die „ethnischen Säuberungen“ durch die bosnischen Serben einzuschreiten.

Die Bundesrepublik Deutschland erklärte sich 1992 bereit, die United-Nations-Truppen mit einer logistischen Basis in Kroatien sowie Aufklärungsflugzeugen zu unterstützen. Später half die Bundeswehr auch bei der Überwachung eines Embargos mithilfe von Schiffen im Mittelmeer („United Nations Operation Sharp Guard“). Der Konflikt konnte jedoch auch durch Flugverbotszonen nicht befriedet werden.

Mit dem Friedensabkommen von Dayton zwangen europäische Staaten und die USA im Dezember 1995 die Kriegsparteien zum Frieden in Bosnien-Herzegowina. Zur Überwachung entsandten die Vereinten Nationen danach die Implementation Force (IFOR). Die Bundeswehr beteiligte sich mit einem Heereskontingent zur Versorgung der beteiligten Streitkräfte und überwachte mit Aufklärungstornados die Flugverbotszone.

Deutlich gefährlicher waren die Versorgungsflüge der Luftwaffe in das von bosnischen Serben belagerte Sarajevo: Zwischen Juli 1992 und Juni 1996 brachten deutsche Transportflugzeuge über eine Luftbrücke Versorgungsgüter, Lebensmittel und Medikamente in die Stadt.

Der nächste Einsatz auf dem Balkan: Kosovo

Die westlichen Staaten entschlossen sich aufgrund massiver Gräueltaten an der albanischen Mehrheitsbevölkerung im Kosovo im März 1999 zum Luftkrieg gegen die Truppen des serbischen Diktators Slobodan Milošević im Kosovo, um dessen Regime zum Einlenken zu zwingen. Die Bundeswehr bekämpfte dabei die jugoslawische Luftverteidigung, überwiegend mit TornadoKampfjets. Es war der erste Kampfauftrag für die Armee im Einsatz. Doch ein Mandat der Vereinten Nationen lag nicht vor.

Erst nach vier Monaten endete dieser Krieg mit einem Einlenken der Milošević-Regierung. Die Bundeswehr schickte Truppen im Rahmen der Kosovo Force der NATO (KFOR), um den Friedensprozess abzusichern. Ursprünglich beteiligten sich an der KFOR-Mission über 40 Staaten mit einer Truppenstärke von etwa 48.000 Soldaten. Zu Beginn waren etwa 6.000 deutsche Soldaten eingesetzt. Deutschland übernahm genau wie Frankreich und Italien die militärische Führung über eine Region des Kosovos. Gemeinsam mit etwa 4.000 weiteren Soldaten aus Bulgarien, Georgien, den Niederlanden, Russland, Slowakei, Schweden, Schweiz, Türkei und Österreich wurde die Multinationale Brigade Süd gebildet, die unter deutschem Kommando stand und das Hauptquartier in Prizren hatte.

Im Zuge der Befriedung des Konflikts wurde auch das deutsche Kontingent stark verkleinert. Im Jahr 2022 dienten lediglich noch etwa 80 Soldaten der Bundeswehr unter dem Mandat der KFOR.

Der „Krieg gegen den Terror“: Afghanistan

Am 11. September 2001 griffen islamistische Terroristen mit vier entführten Passagierflugzeugen das World Trade Center in New York und das US-Verteidigungsministerium in Washington an. Tausende Tote waren zu beklagen. US-Präsident George W. Bush erklärte den „Krieg gegen den Terror“ und gegen das Netzwerk al-Qaida. Dieses Netzwerk hatte zuvor bereits an anderen Orten Terroranschläge auf US-Einrichtungen begangen und sich zu den Anschlägen von 9/11 bekannt.

Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder erklärte wenige Tage später im Deutschen Bundestag die „uneingeschränkte Solidarität“ Deutschlands mit den USA. Die NATO rief erstmals in ihrer Geschichte den Bündnisfall nach Artikel 5 der NATO-Charta aus. Afghanistan, der zentrale Rückzugsort von Al-Qaida, war weder dazu bereit noch in der Lage, die Drahtzieher der Anschläge auszuliefern.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschloss daher die Entsendung einer International Security Assistance Force (ISAF). Sie sollte den Aufbau staatlicher Strukturen in Afghanistan absichern. Das Land befand sich damals zu großen Teilen unter der Herrschaft der Taliban. Tatsächlich gelang es zunächst, deren Einfluss zurückzudrängen und eine neu eingesetzte Zentralregierung und das Parlament zu unterstützen. Die Bundeswehr war seit Februar 2002 Teil des ISAF-Einsatzes, stellte Teile einer multinationalen Brigade in Kabul und betrieb den Flughafen in der Hauptstadt. Später wurde sie in den Norden verlegt und übernahm die Verantwortung für das Regionalkommando Nord und die dortige Stabilisierungsoperation.

Zur Hochzeit im Januar 2012 schickte die Bundeswehr knapp 5.000 Soldaten gleichzeitig nach Afghanistan. Im Jahr 2010 wurden die Kontingente erheblich aufgestockt. Im Januar 2012 waren 50 Länder mit 129.895 Soldaten an der ISAF beteiligt, davon 90.000 Soldaten aus den USA.

Anfänglich waren die Einsätze in Afghanistan wie zuvor auf dem Balkan Stabilisierungseinsätze. Es galt, Friedensprozesse abzusichern, staatliche Strukturen aufzubauen und den Aufbau der lebensnotwendigen Infrastruktur zu fördern. In Afghanistan stand dieser Stabilisierungseinsatz aber von Anfang an unter Druck: Die anfangs scheinbar vertriebenen Taliban kämpften immer härter gegen die als Eindringlinge empfundenen ISAF-Soldaten. Anschläge auf Soldatinnen und Soldaten der ISAF häuften sich. Ab 2008 folgten auch im deutschen Verantwortungsbereich offene Angriffe.

Die deutschen Soldatinnen und Soldaten empfanden die zunehmenden Gefechtshandlungen als „Krieg“, während Politiker noch von „Stabilisierungseinsatz“ sprachen. Über die Wirklichkeit in Afghanistan gab es unterschiedliche Wahrnehmungen. Der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg sprach Ende 2009 als Erster von „kriegsähnlichen Zuständen“ in Afghanistan und bezeichnete den Einsatz nach den Gefechten 2010 als „Krieg“. Erst unter dem Druck dieser Einschätzungen waren die Bundeswehrführung und die Bundesregierung bereit, schwere Waffen wie etwa Haubitzen und Schützenpanzer nach Afghanistan zu verlegen. Der ISAF-Einsatz war der bisher intensivste Einsatz der Bundeswehr. Rund 93.000 Soldatinnen und Soldaten kamen am Hindukusch zum Einsatz, viele von ihnen wurden mehrfach entsandt. Der ISAF-Einsatz endete im Jahr 2014. Ihm folgte als reine Beratungsmission „Resolute Support“. Der internationale Einsatz in Afghanistan endete mit einer Rückeroberung des gesamten Landes durch die Taliban und dem überstürzten Abzug der internationalen Truppen. Wenige Wochen nach dem offiziellen Ende des Engagements im Juni 2021 rettete die Bundeswehr im Rahmen einer elftägigen Evakuierungsoperation vom 16. bis 26. August noch über 5.000 Menschen mit einer Luftbrücke aus der afghanischen Hauptstadt Kabul.

Die Friedensmission in Mali

Die Bundeswehr befindet sich derzeit auch in Mali. Sie ist Teil der „Minusma“-Mission der Vereinten Nationen, die ein Friedensabkommen im Land absichern soll. Von 2015 bis 2023 waren durchschnittlich circa 1.000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr gleichzeitig für die United-Nations-Mission hauptsächlich im Camp Castor nahe Gao tätig. Sie sicherten das Feldlager ab, patrouillierten die Region und lieferten Aufklärungsergebnisse (etwa per Heron-Aufklärungsdrohne) für die United-Nations-Mission. Der Abzug aus Mali ist für das Jahr 2024 geplant. Neben der „Minusma“-Mission der Vereinten Nationen war die Bundeswehr auch bis Herbst 2022 an der Ausbildungsmission European Union Training Mission Mali beteiligt. Dabei bildeten deutsche Soldaten und Soldatinnen gemeinsam mit Soldaten aus anderen Staaten malische Streitkräfte aus, damit diese ihre Heimat selbst schützen könnten.

Aktuell beteiligt sich die Bundeswehr an zwölf Einsätzen von der Westsahara bis zum Horn von Afrika.

(Stand:Sommer2023)

LEBEN NACH AFGHANISTAN:

Der Einsatz als identitätsstiftende Erfahrung1

Die Bundeswehr als Armee im Einsatz braucht überzeugende Kommunikations- und Ausdrucksformen, um Einsatzerlebnisse auch symbolisch in ihren Alltag zu integrieren – vor allem solche mit direktem und indirektem Gewaltbezug. Größere öffentliche Aufmerksamkeit zieht die Traditionsbildung in der Bundeswehr in der Regel nur dann auf sich, wenn in populären Medien von skandalisierbaren Vorfällen die Rede ist. Das kann durchaus die Aufgabe erschweren, zeitgemäße Traditionen als Ausdruck der eigenen Identität zu prüfen und dabei Bekanntes auch kritisch zu hinterfragen.

Von Soldatinnen und Soldaten wird erwartet, dass sie sich im Einsatz auch gefährlichsten Situationen stellen und bereit sind, zur Erfüllung ihres Auftrags sogar Leib und Leben zu riskieren. Hier gewinnt gemeinschaftliche Verbundenheit dramatisch an Bedeutung, wie die Ergebnisse unserer Studie zeigen. In riskanten Einsätzen, die mit lebensbedrohlichen Situationen, mit Tod und Töten, Verwundung und Versehrtheit verbunden sind, bilden ihre Einheiten nicht bloß Handlungsgemeinschaften im üblichen Sinne. Vielmehr werden sie zu zeitlich befristeten Überlebensgemeinschaften, die sich gegenseitig dabei helfen, die Gefahren, Belastungen und Risiken des Einsatzes gemeinsam zu überstehen.

In diesen zu anspruchsvollen und riskanten Aufgaben verpflichteten Gemeinschaften bilden sich weitergehende Bedürfnisse: Es gilt, Zusammenhalt und Wertschätzung lebendig zu gestalten und diese auch in symbolischen Handlungen auszudrücken. Welche Maßnahmen, Rituale und Symbole als Ausdruck der eigenen Identität sowohl angemessen als auch hilfreich sein können, ist für Soldatinnen und Soldaten aber gar nicht so leicht zu beurteilen.

Die Verantwortung für militärische Traditionsbildung liegt nicht allein bei der Bundeswehr als Organisation, sondern ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das Selbstverständnis an gesellschaftliche Entwicklungen zu binden, ist Kernbestand der Inneren Führung2 . Menschen in einer posttraditionalen Gesellschaft, die sich durch vielfältige Identitäten und Identifikationsangebote auszeichnet, unterscheiden sich natürlich auch in ihren Einstellungen zu Traditionen – und diese werden unter ihren Mitgliedern stets neu verhandelt. Auch das kann die Suche nach ausdrucksstarken Traditionen speziell für Einsatzsoldaten erschweren, die mit ihren oft einschneidenden Gewalterlebnissen in unserer kriegsfernen Gesellschaft zurechtkommen müssen.

Im Idealfall, wenn diese Aushandlungsprozesse gelingen, entstehen gemeinsam getragene Traditionsbestände. Dies setzt Dialogprozesse im Verhältnis von Bundeswehr und Gesellschaft voraus – auch zu den so wichtigen Fragen für Soldaten nach dem „Warum?“ und „Wofür“. Gerade in lebensbedrohlichen Einsätzen stellt sich diese in verschärfter Form: „Wofür riskiere ich eigentlich mein Leben?“ Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee, insofern erwarten Soldatinnen und Soldaten zu Recht eine überzeugende Antwort von Politik und Gesellschaft, deren Werte und Interessen sie in Einsätzen ja zu vertreten haben.

Die Debatte über den Umgang mit der eigenen Einsatzgeschichte ist bisher hauptsächlich bundeswehrintern geführt worden. Nicht ganz zu Unrecht, könnte man meinen, es ist nur die Bundeswehr, die sich der Besonderheit des Soldatseins versichert. Nur: So einfach ist es nicht, denn die Bundeswehr wird mit Mandat des Bundestages in die Einsätze entsandt. Die über das Parlament vertretene Gesellschaft trägt daher Mitverantwortung. Es ist auch unsere Geschichte in der Bundesrepublik, die hier verhandelt wird. Den meisten Soldatinnen und Soldaten, die wir im Rahmen unserer Begleitstudie zum 22. deutschen Kontingent ISAF3 (International Security Assistance Force – ISAF) befragt haben, ging es allerdings meist gar nicht so sehr um die Geschichte. Sie fragten sich vielmehr, wie die eigene Gesellschaft zum scharfen Ende ihres Berufsbildes stand und welchen (auch symbolischen) Ort sie als Soldatinnen und Soldaten eigentlich mit ihren Gewalterlebnissen in unserer Gesellschaft haben. Gerade dafür wünschten sich in den zahlreichen Interviews und Gesprächen viele mehr Halt und Orientierung von Politik und Gesellschaft.

Grundgesetz und Prinzipien der Inneren Führung setzen den verbindlichen Rahmen, in dem diese Fragen verhandelt werden können. Welche Vorbilder sich die Bundeswehr geben und woran sie sich orientieren soll, darf jedoch nicht allein unter Eliten in Politik und Bundeswehr debattiert werden. Vielmehr muss dies auch in der „Schlammzone“ diskutiert werden. Die Erkenntnisse unserer Langzeitstudie zum Afghanistaneinsatz (ISAF) unterstützen diese Forderung: Es waren überwiegend Jüngere sowie eher niedrigere Dienstgrade bis zur Ebene Kompaniechef, die von Kämpfen, von Tod und Töten, Verwundung und Versehrtheit erzählten. Der Afghanistaneinsatz hat daher für sie erhebliches Identifikationspotenzial. Die Geschichte, die hierzulande über den Afghanistaneinsatz erzählt werden wird, müsste demnach auch eine Geschichte von unten sein.

Einsatzerfahrungen

Die eigene Geschichte der Bundeswehr soll laut neuem Traditionserlass aus dem Jahr 2018 traditionsstiftend sein. Für den Blick nach vorn lohnt also ein Blick zurück auf die Einsätze. Die Bundeswehr weist eine längere Geschichte von Auslandseinsätzen auf, als weithin in der Öffentlichkeit angenommen wird. Es begann mit internationalen Hilfs- und Katastropheneinsätzen in den 1960er-Jahren. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden die Einsätze für die Bundeswehr zunehmend komplexer und riskanter; erstmals wurde sie in bewaffnete Missionen entsandt. Der Afghanistaneinsatz steht dafür wie kaum ein anderer Einsatz. Weltweit war die Bundeswehr seit Anfang der 1990er-Jahre an mehr als 200 kleineren oder größeren Einsätzen im Ausland beteiligt. Diese reichen von internationaler Katastrophenhilfe über humanitäre Missionen und Evakuierungseinsätze bis hin zu Stabilisierungs- und Kampfeinsätzen in asymmetrischen Szenarien, in denen Freund und Feind für die Soldatinnen und Soldaten oft nicht zu unterscheiden sind. An Fakten ließe sich demnach einiges zusammentragen. Was fehlt, ist jedoch ein in Bundeswehr und Gesellschaft gemeinsam getragenes Deutungsnarrativ für die meisten dieser Erfahrungen.

Auch in der Bundeswehr verfügt nicht jeder über Einsatzerfahrungen. Es sind häufiger dieselben Gruppen, die immer wieder in einen Einsatz gehen. Das galt auch für das von uns begleitete Kontingent. Viele zählten zu den besonders Einsatzerfahrenen der Bundeswehr. Im Schnitt hatten sie bereits zuvor dreimal an einem Auslandseinsatz teilgenommen. Trotzdem besaßen nur die wenigsten von ihnen Kampferfahrungen. Die Einsatzrealität in Afghanistan war damals geprägt durch Anschläge, Hinterhalte und Gefechte. Am Ende berichtete dann auch mehr als die Hälfte des Kontingents, mit feindlichem Beschuss konfrontiert gewesen zu sein. Fast ebenso viele hatten den Tod von Kameraden miterlebt, und etwa ein Fünftel hatte in Gefechten offensiv gegen Aufständische gekämpft. In diesen Gefechten sind sieben deutsche Soldaten gefallen, und 28 wurden teilweise schwer verwundet. Diese Erfahrungen schweißten die Einheiten zusammen und prägten den Horizont der Soldatinnen und Soldaten des Gesamtkontingents auch nach der Rückkehr.

Einsatzkulturen

Die Einsatzwelten waren für die Soldatinnen und Soldaten sehr unterschiedlich, je nachdem, wo sie eingesetzt waren und welche Aufgabe sie hatten. Während die einen ihren Einsatz häufiger in der räumlich abgeschirmten Alltags- und Lebenswelt der Feldlager verbrachten und nur selten Kontakt zu Land und Leuten hatten, bewegten sich andere überwiegend außerhalb der Feldlager inmitten der Bevölkerung oder im freien Gelände. In diesen Gemeinschaften entwickelten sich auch eigene Handlungs- und Verhaltensweisen, Rituale und Symbolisierungen. Besonders Gewalterfahrungen verstärken das Bedürfnis nach symbolischen Handlungen. Diese sollten in der bedrohlich unsicheren Situation des Einsatzes dabei helfen, mit positiven wie negativen Erfahrungen besser umgehen zu können. Meist handelte es sich um völlig unspektakuläre Üblichkeiten, wie das Anfahren des Ehrenhains vor der Patrouille. Ein ganz anderes Beispiel liefert die sogenannte Feuertaufe nach einem erstmalig überstandenen Gefecht. Die tiefere Bedeutung dieser Rituale liegt in der Kompensation durch Integration. Die Rituale schaffen einen Ort, um mit den Erlebnissen besser umgehen zu können, vermitteln Orientierung, Sicherheit und Vertrauen und ermöglichen so gemeinschaftliche Verbundenheit. Natürlich können sie auch Abgrenzungsfunktion haben, indem sie die Besonderheit zu anderen Gruppen herausstellen und so zur Profilierung der eigenen Identität beitragen. Die Beispiele aus dem Einsatz sind zahlreich, etwa wenn von „Drinnies“ und „Draußies“, von „Generation Truppenübungsplatz“ und „Generation Einsatz“ oder von „Kalten Kriegen“ und „Neuen Kriegern“ die Rede ist. Integration und Abgrenzung sind die zwei Seiten der Vergemeinschaftung. Gemeinsam ist ihnen jedoch der Erfahrungsraum Einsatz.

Einsatzprägungen und einsatzspezifische Symbolisierungen in der Bundeswehrkultur

Schwerwiegende Erfahrungen in Gefechten, mit Tod und Verwundung lassen sich auch noch lange nach dem Einsatz für Soldatinnen und Soldaten nicht einfach abhaken. Sie prägen und verändern, wie unsere Forschungen zeigen, die Soldatinnen und Soldaten persönlich, aber auch die Bundeswehr. Insbesondere schärfen sie den Blick für die Bedeutung einer fordernden Ausbildung und eines belastbaren Gruppenzusammenhalts. Die eigentliche Verarbeitung der Erfahrungen findet aber meist erst nach der Rückkehr nach Deutschland statt. In der langfristigen Perspektive kamen die Soldatinnen und Soldaten mit den Beanspruchungen des Einsatzes auch überwiegend gut zurecht. Persönliche Veränderungen stellten für das Kontingent aber nicht die Ausnahme, sondern die Regel dar. Die Veränderungen fielen jedoch höchst unterschiedlich aus. In der Mehrzahl berichteten die Soldatinnen und Soldaten von positiven Effekten für die eigene Person, etwa davon, dass der Einsatz sie selbstbewusster gemacht habe, dass sie ihr Leben heute mehr zu schätzen wüssten oder dass sie sich für psychisch belastbarer hielten. Die persönliche Stärkung war aber nur die eine Seite. Auf der anderen Seite litt etwa jeder Zehnte des Kontingents an bleibenden seelischen oder körperlichen Verwundungen. Dennoch: Den Einsatz auf negative psychische Folgen begrenzen zu wollen, geht an der Lebensrealität vieler Afghanistan-Veteranen vorbei. Zu tief sind andere Lebensbereiche berührt. Das kann extrem belastend, aber auch eine Bereicherung sein. Vor allem aber brauchen die Erlebnisse eine Verankerung im Leben, auch zur Aufrechterhaltung von Integrität und Identität.