Dich gibt es nicht. Wenn doch, dann komm! - Hermann Wohlgschaft - E-Book

Dich gibt es nicht. Wenn doch, dann komm! E-Book

Hermann Wohlgschaft

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Beschreibung

»Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn.« Dieser Beginn in Julian Barnes' Roman ›Nichts, was man fürchten müsste‹ könnte als Motto für weite Teile der deutschen Gegenwartsliteratur gelten. Als katholischer Theologe sucht Hermann Wohlgschaft nach Spuren der Transzendenz, nach Leuchtzeichen des Göttlichen, in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Sein zentrales Anliegen ist der theologische Dialog mit poetischen Texten. Mit den sehr unterschiedlichen Gottesbildern in den Werken zahlreicher prominenter Autoren und Autorinnen setzt er sich intensiv auseinander und kommt zu einem spannenden Ergebnis.

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Seitenzahl: 1080

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Hermann Wohlgschaft

Dich gibt es nicht,wenn doch, dann komm!

Hermann Wohlgschaft

Dich gibt es nicht, wenn doch, dann komm!

Gott in derdeutschsprachigenGegenwartsliteratur

Dank

Elisabeth und Werner Kittstein sowie Eva-Maria Kautz danke ich für die kritische Begleitung während der Entstehung des Buchs, Marianne Hermann und Eva-Maria Kautz für das Mitlesen der Korrekturen, Anni Eschenbach, Helmut Friedl, Judith Jäger, Stefan Lutterbüse, Sigrid Pflug, Kyrilla Schweitzer, Peter Seidel und Gretl Uhl für wichtige Gesprächsbeiträge, die in das Buch mit eingeflossen sind.

Kaufering, im März 2024

Hermann Wohlgschaft

Der Umwelt zuliebe verzichten wir bei diesem Buch auf die Folienverpackung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2024

© 2024 Echter Verlag GmbH, Würzburg

Umschlag: Vogelsang Design, Jens Vogelsang, Aachen

Coverfoto: stock.adobe.com, © vidoc

Innengestaltung: Crossmediabureau, Gerolzhofen

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN

978-3-429-05940-8

978-3-429-06665-9 (PDF)

978-3-429-06670-3 (ePub)

Inhalt

Einführung

›Gott‹ als literarisches Thema

Dichtung und Theologie

›Warten auf Godot‹

Thomas Bernhard

›Wittgensteins Neffe‹

Keine transzendente Instanz

Elias Canetti

›Das Buch gegen den Tod‹

»Die Auferstandenen klagen Gott an«

›Die Befristeten‹

Die »Unsterblichkeit«

»Der stolze Glaubenslose«

Dieter Wellershoff

Die radikale Fraglichkeit des Seins

Die »Wörtlichkeitsfalle«

Keine Gewissheiten

Siegfried Lenz

›Landesbühne‹

»Etwas Tröstliches zum Schluss«

Ein Lobpreis der Phantasie

Von Freundschaft und Liebe

›Oh when the Saints go marchin’ in‹

›Ein Entwurf‹

Die Wirkmacht der Imagination

Günter Grass

›Beim Häuten der Zwiebel‹

Katholische Herkunft

Soldat bei der Waffen-SS

Ein »gottloser Katholik«?

Die Franziskaner in Düsseldorf

Schwester Raffaela und der Hunger nach Sinn

Martin Walser

›Muttersohn‹

Geheimnisvolle Energien

›Salve Regina‹

›Mein Jenseits‹

»Egal ob es Gott gibt oder nicht, ich brauche ihn.«

›Ein sterbender Mann‹

Der »Todeskandidat«

Peter Härtling

›Bozena‹

›Der Gedankenspieler‹

Die Ärztin und ihre Tochter

An der Todesschwelle

Fließende Grenzen

Helga Schubert

›Vom Aufstehen‹

Ein Kindergebet

Die Heilkraft der Religion

›Ein Stundenbuch der Liebe‹

Poesie als Verkündigung

Peter Handke

Eine »Dämonengeschichte«

Der »Gute Zuschauer«

›Zwiegespräch‹

Das »lebendige Wort«

›Die Ballade des letzten Gastes‹

Ein Trauergesang

Der alte Dorfpfarrer

»Alles ist Gnade«

Wilhelm Genazino

›Die Liebesblödigkeit‹

»Zitternd, aber zufrieden«

Die »Undurchschaubarkeit« des Lebens

›Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze‹

Ein infantiler Frauenheld

Die Erlösung

Friedrich Christian Delius

Gegen Prüderie und Sündenangst

›Die Liebesgeschichtenerzählerin‹

Der fromme U-Boot-Kapitän

Ein »Ringen« um den Glauben

Elke Heidenreich

›Alles kein Zufall‹

Der Jakobskampf

›Ihr glücklichen Augen‹

»Ein großer Gott der Seele«

»Vierzehn Engel um mich stehn …«

Pascal Mercier

Der verborgene Gott

Erfülltes Leben

Die größere Hoffnung

Botho Strauß

Neuer Glaubensmut

›Saul‹

Klage und Zuversicht

Bernhard Schlink

›Olga‹

Schuld und Versagen

Vergebliche Liebesmüh

Kein Leben nach dem Tod?

›Die Enkelin‹

Sigrun

›Atheistisches‹ Christsein?

Glaube, Hoffnung, Liebe

Ulla Hahn

Eine Sucherin

Bilder der Zuversicht

›Tage in Vitopia‹

Visionäre Poesie

Perspektiven der Hoffnung

Sehnsucht nach Harmonie

Religiöser Synkretismus?

Gabriele von Arnim

›Das Leben ist ein vorübergehender Zustand‹

Eine liebende Frau

Chiffren für Gott

Das Lächeln der Toten

Martin Suter

Ein literarischer Schwindel

Die Rückkehr des Lieben Gottes

›Lila, Lila‹

›Melody‹

Eine komplexe Liebesgeschichte

»Ein großer, unglücklich Liebender«

Fiktion und Wirklichkeit

»Tempus fugit, amor manet.«

Bodo Kirchhoff

›Die Liebe in groben Zügen‹

Ein Kampf um die Liebe

Francesco und Chiara

»Unruhig ist unser Herz …«

›Verlangen und Melancholie‹

Hinrichs Frauen

Theologische Fragen

›Widerfahrnis‹

Vom Tode bedroht, ins Leben gerufen

Die transzendente Dimension

Monika Helfer

›Die Bagage‹

Zweifel an Gott

Eine Recherche nach dem Vater

Die religiöse Dimension

›Löwenherz‹

»Schlafesruh«

Michael Köhlmeier

Biblische Geschichten

Die eschatologische Verheißung

Der ›ungläubige‹ Thomas

›Der Mann, der Verlorenes wiederfindet‹

»Wie kommt das Böse in die Welt?«

Ein Verkünder des Evangeliums

Das Gegenbild eines Hasspredigers

›Matou‹

Ein hoch gebildeter Schelm

Siebenmal in dieser Welt

Und was kommt zuletzt?

Thomas Hürlimann

›Abendspaziergang mit dem Kater‹

An der Grenze

Ein Platoniker

Die große Perspektive

›Der Rote Diamant‹

Bruder Frieder

Der Untergang der Mönche

Das ›Ewig Weibliche‹

Hanns-Josef Ortheil

Umkehr zum Glauben

Der schwebende Engel

Die Stimme des Herzens

›Ombra‹

Eine ›Nahtod‹-Erfahrung

Martin Mosebach

Ein Erzkatholik

Rätselhafte Phänomene

Herr Krass und sein Hofstaat

Ein barmherziger Samariter

Fragwürdige Gottesbilder

Zur Botschaft des Romans

›Taube und Wildente‹

Hintergründige Transzendenz?

Aufgeschobene Erlösung

Patrick Roth

›Magdalena am Grab‹

Die Verwandlung

›Gottesquartett‹

Umfassendes Heil

Ralf Rothmann

›Im Frühling sterben‹

»Uns bleibt die vage Hoffnung …«

›Die Nacht unterm Schnee‹

Der verdeckte »Wille zur Liebe«

»Nun fliegt, fliegt in den Himmel!«

Sibylle Lewitscharoff

Ein offener Himmel

Ab in die Hölle

Ein Vorgefühl der Erlösung

»Fürchte dich nicht!«

Christoph Ransmayr

Ein Zerrbild von göttlicher Allmacht

Die Transzendenz der Liebe

Zeit und Ewigkeit

›Der Fallmeister‹

Metaphysische Tiefe

Arnold Stadler

›Rauschzeit‹

Prinzip Sehnsucht

Der Glaube und das Glücksverlangen

›P. S. I love you‹

Petra Morsbach

›Gottesdiener‹

Spirituelle Lebendigkeit

Isidors Traumfrau

Keine Siegerfigur

›Der Elefant im Zimmer‹

Andreas Knapp

Religiöse Lyrik

Vom Recht der Utopie

Felicitas Hoppe

Eine Reise durch Amerika

»Das Grab ist leer!«

Wenn Gott mich anschaut

›Fährmann, hol über!‹

›Die Nibelungen‹

Satirische Zuspitzung

Ein Schrei nach Erlösung

Norbert Gstrein

›Die kommenden Jahre‹

Ein religiöser Background

Die Allgegenwart des Todes

›Der zweite Jakob‹

Schuldgefühle

Religiöse Widersprüche

Ulrike Draesner

›Vorliebe‹

Die Physikerin und ihr Pfarrerfreund

›Schwitters‹

Zweite Frau und neue Liebe

Die unsterbliche Seele

Heinz Strunk

›Ein Sommer in Niendorf‹

Aggressiver Atheismus

Ein Beziehungsdebakel

Ein fragwürdiges Finale

Lutz Seiler

›Sonntags dachte ich an Gott‹

›Kruso‹

Eine Männerfreundschaft

Die Gegenwart der Verstorbenen

Leuchtzeichen der Ewigkeit

Die »Auferstehung der Toten«

›Stern 111‹

Ein Künstler- und Liebesroman

›The Wanderer‹

Dörte Hansen

›Altes Land‹

» … dass sie dich behüten auf all deinen Wegen«

»Großer Gott, wir loben dich«

Die Feddersens

»Schöner fremder Mann«

»Befiehl du deine Wege …«

»Junge, komm bald wieder«

›Zur See‹

Der Inselpastor

Quälende Glaubenszweifel

Psalm 139

Zsuzsa Bánk

›Die hellen Tage‹

Die Güte des Seins

›Sterben im Sommer‹

»Hallo Papa, hallo da oben«

Ewald Arenz

Die Kette der Wiedergeburten

Von Engeln und Dämonen

Zum theologischen Gehalt

»Nil pluriformius amore«

Die große Liebe

Und am Ende der Tod?

Robert Seethaler

›Ein ganzes Leben‹

›Der letzte Satz‹

Der sterbende Komponist

›Das Café ohne Namen‹

»Heilige Maria, bitte für uns!«

Eva Menasse

Juden in der Wiener NS-Zeit

›Dunkelblum‹

Religiöse Hintergründe

Gott und Teufel

Arno Geiger

Zerbrochene Lebensgeschichten

Und wo ist Gott?

›Das glückliche Geheimnis‹

Der Heilige Gral

Christian Lehnert

Eine Suchbewegung auf Gott zu

Das Halleluja der Engel

Marion Poschmann

›Die Sonnenposition‹

Ein »Gottesproblem«

›Die Kieferninseln‹

Mystische Elemente

»Anstiftung zur Kontemplation«

Judith Hermann

Autobiographisches Schreiben

›Daheim‹

Wirklich ›daheim‹?

Juli Zeh

›Über Menschen‹

Der »Dorf-Nazi«

Gote stirbt

Gote lebt weiter

Daniel Kehlmann

›Die Vermessung der Welt‹

Ein vieldeutiger Roman

Eine ambivalente Einstellung zur Religion

Ein Atheist

Ein Priester ›ohne Glauben‹

»Die Sache mit Gott«

›Tyll‹

Ein ›Religionskrieg‹

Christentum im dunklen Mittelalter

Unterschwellige Botschaften

Daniela Krien

Eine Amour fou

Keine Zukunft in dieser Welt

»Unbedingt werden wir auferstehen …«

›Der Brand‹

Beziehungskrisen

Der Gottesbezug

Tamar Noort

Eine »Gottdemenz«

Auf der Flucht vor dem göttlichen Anruf

Ein Licht in der Dunkelheit

»Es ist ein Riss in allem …«

Iris Wolff

›Die Unschärfe der Welt‹

Der nahe und der ferne Gott

»Homo desiderium dei«

Nora Bossong

›Schutzzone‹

Das katholische Bekenntnis

Clemens J. Setz

›Der Trost runder Dinge‹

Verstörende Wahngebilde

Wenn die letzte Stunde schlägt

Benedict Wells

›Hard Land‹

Im Angesicht des Todes

Die unsterbliche Nähe

Das Resümee

»Jenseitsvergessenheit« in der heutigen Literatur?

Was meinen wir, wenn wir ›Gott‹ sagen?

Ein transzendentes Hoffnungspotenzial

Anmerkungen

Personenregister

Einführung

Ich kreise um Gott,

um den uralten Turm …

Rainer Maria Rilke

Meinungsumfragen zeigen, dass für viele Menschen in den westlichen Industrieländern der Glaube an einen gütigen und mächtigen Gott bedeutungslos oder nebensächlich geworden ist. Die Antwort auf die Frage »Glauben Sie an Gott?« hängt freilich in hohem Maße von konkreten, oftmals verengten, sehr anthropomorphen, vielleicht egozentrischen Vorstellungen von Gott ab. Die unterschiedlichen Gottes-Bilder gehen wiederum – in vielen Fällen – auf persönliche Erlebnisse, auf schlimme oder gute Erfahrungen zurück.

Was meinen wir eigentlich, wenn wir ›Gott‹ sagen? An eine göttliche Instanz zum Beispiel, die alle meine Wünsche erfüllt, wenn ich nur lange genug darum bettle, glaube ich nicht. An einen Gott, der unmittelbar eingreift ins Weltgeschehen und die ›Guten‹ offensichtlich belohnt und die ›Bösen‹ auf der Stelle bestraft, glaube ich ebenso wenig. Auf eine umfassende göttliche Liebe aber, die ich zwar nicht begreifen kann, die aber auf mir unverständlich verschlungenen Wegen letztendlich alles zum Guten führt, hoffe ich umso mehr.

Meinem Eindruck nach wollen viele Menschen an einen liebenden Gott glauben, können es aber aus unterschiedlichen Gründen nur schwer oder gar nicht. Diese nicht einfach ›ungläubige‹, aber doch sehr zweifelnde Einstellung findet sich in zahlreichen Werken der modernen Literatur. In den Büchern exzellenter Vertreter der deutschsprachigen Poesie der Gegenwart begegnen wir agnostischen oder atheistischen Positionen, in den Werken anderer – ebenso hochrangiger – Autoren einer tiefen Sehnsucht nach der Anwesenheit eines rettenden Gottes. In den Schriften nur weniger Schriftsteller/innen zeigt sich ein weitgehend ungebrochenes Vertrauen auf die heilende Wirksamkeit eines jenseitigen Gottes inmitten unserer diesseitigen Welt.

›Gott‹ als literarisches Thema

Der Dichter und Philosoph Friedrich Nietzsche beschrieb in seiner Aphorismensammlung ›Die fröhliche Wissenschaft‹ (1887) den ›tollen Menschen‹, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündet und unaufhörlich ruft: »Ich suche Gott! Ich suche Gott!« Wahrlich nicht triumphalistisch, vielmehr verzweifelt klingt es, wenn der ›tolle Mensch‹ ins offenbar Leere hinausschreit: »Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? (…) Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?«1

Geradezu prophetisch verkündete Friedrich Nietzsche, der Sohn eines evangelischen Pfarrers, den »Tod« Gottes. Etwa seit den 1960er Jahren scheint in der deutschsprachigen ›Hochliteratur‹ die Rede von Gott mehr und mehr zu verstummen. Vertreter der »skeptischen Generation« (Schelsky), bedeutende Autoren wie Siegfried Lenz, Günter Grass oder Martin Walser (der in seinen Spätwerken freilich ganz andere, religiöse, die sichtbare Wirklichkeit transzendierende Töne anschlägt) verzichteten – so der katholische Theologe und Literaturexperte Jan-Heiner Tück – »auf die Trost- und Sinnspendungsangebote der Religion«.2 Doch vollständig verloren ging die Gottesperspektive in der Gegenwartsliteratur keineswegs. Im Gegenteil: Die emotionale Suche nach Gott, nach seiner Präsenz im menschlichen Leben, kehrt bei vielen Literaten des 21. Jahrhunderts, manchmal in höchster Dringlichkeit, zurück.

Der Literaturwissenschaftler und Philosoph Rüdiger Safranski – bekannt geworden durch seine Biographien, etwa über Nietzsche, Goethe und Schiller – sagte in einem Interview (2021) über sich selbst, dass er ein »unterschwellig religiöser Mensch« sei. »Zwar nicht kirchlich gebunden, aber unzufrieden damit, dass das Metaphysische, das Sakrale und auch das Spirituelle im gesellschaftlichen Alltag und im allgemeinen Diskurs kaum eine Rolle spielt. Diese Eindimensionalität behagt mir nicht.«3

Auch in der postmodernen Literatur ist ›Gott‹ zunehmend wieder zum Thema geworden. So bekannte 2005 der Schriftsteller und Poetikdozent Andreas Maier (geb. 1967) in einem Zeitungsinterview: »Irgendwann habe ich damit angefangen, mir die Verwendung des Wortes Gott zu gönnen. Wenn man sich dieses Wort verbietet, hat man extreme Schwierigkeiten, bestimmte Dinge zu sagen.«4

Andreas Maier, Träger vieler Literaturpreise, steht mit diesem Bekenntnis nicht allein. Herausragende Vertreter der heutigen Literatur sprechen ganz unbefangen von Gott, wenn es um existenzielle Themen, um letzte Dinge, um tiefste Erfahrungen geht. Die deutsch-schweizerische, 1980 in Neunkirchen geborene Lyrikerin und Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Nora Gomringer zum Beispiel sagte im Interview mit einem evangelischen Journal: »Wie alles in der Schöpfung empfinde ich mich als Ausdruck einer göttlichen Zugewandtheit. Ich hatte auch nie eine Vertrauenskrise mit Gott.«5

Zumindest die Frage nach Gott ist in der Gegenwartsliteratur nicht verstummt. So liebte der in Oberlind in Thüringen aufgewachsene, mit vielen Literaturpreisen dekorierte Dramatiker und Schriftsteller Tankred Dorst (1925–2017) das Mysteriöse und den religiösen Mythos. Dorst war einer der produktivsten Autoren des deutschen Gegenwartstheaters. Als Dramatiker bevorzugte er die literarische Form der Parabel, die das Publikum zum Nachdenken anregen soll. Dabei erwies er sich als hellwacher Beobachter, der sich keine Illusionen machte über den »entsetzlichen Zustand der Welt«.6 Ein ausdrückliches Gottesbekenntnis war ihm kaum zu entlocken, aber religiösen Fragen gab er durchaus Raum.

Die Transzendenzerfahrung des Menschen mitten im Leben, aber auch die vergebliche Suche, die ungetröstete Verzweiflung, die reale Welt mit all ihren Schrecklichkeiten boten Dorst – etwa im mythischen Antikriegsstück ›Merlin oder Das wüste Land‹ (1981) – einen unerschöpflichen Fundus für die Theaterarbeit. Vor allem im – gemeinsam mit Dorsts Ehefrau Ursula Ehler verfassten – Drama ›Die Geschichte der Pfeile. Ein Triptychon‹ (1996)7 werden, besonders drängend sogar, ethische und religiöse Themen angesprochen: Aufrichtigkeit und Heuchelei, Mut und Verzagtheit, vornehmlich aber das persönliche Gebet und die mögliche Selbstverwirklichung des Menschen im Glauben an Gott. Die Metapher der Pfeile macht dabei – so der katholische Pastoraltheologe und Literaturkenner Erich Garhammer – »deutlich, wie sich Menschen auch heute noch vom Glauben treffen oder eben nicht mehr treffen lassen«.8

Dichtung und Theologie

Tankred Dorst redet als Dramatiker von Gott. Andere Autoren der Gegenwart indessen vermeiden das Wort ›Gott‹ und berühren dennoch einen Erfahrungshorizont, der die Welt des Sichtbaren und Greifbaren überschreitet. Wieder anderen scheint die religiöse ›Erfahrung‹ einfach nicht zugänglich. So erklärte der 1933 im erzgebirgischen Oelsnitz geborene, vielfach ausgezeichnete, international renommierte Schriftsteller und Lyriker Reiner Kunze in einem Gespräch mit der katholischen ›Herder Korrespondenz‹ (1987): »Ich achte den Glauben anderer, mir selbst aber ist Gotteserfahrung bis heute nicht zuteil geworden. Sollten Sie allerdings darin, dass ich für jedes Erwachen dankbar bin, auch wenn ich nicht weiß, wem, ein religiöses Empfinden erblicken, so habe ich dagegen nichts einzuwenden.«9

Tatsächlich, mit vielen interessanten Belegen entdeckt der mit Kunze befreundete Theologe Erich Garhammer eine »nicht possessive Sprache für Gott«, eine »Poesie mit offenem Himmel« in Kunzes Gedichten.10 Garhammer sieht bei Kunze »Resonanzen auf Transzendentes«: gewiss keinen ausformulierten Glauben, dafür »eher ein Staunen, ein Gefühl der Dankbarkeit und der Kongruenz von Glaube und Leben«.11 Mit Fug und Recht kann man sagen: Reiner Kunze fühlt sich zwar nicht im Besitz einer absoluten Wahrheit. Doch seine metaphorische Dichtung ist, so Erich Garhammer, »durchaus von Engeln und himmlischen Mächten bevölkert«;12 sie beinhaltet Raum für eine Wirklichkeit jenseits aller vordergründigen Realität.

Vielleicht haben Autoren wie Reiner Kunze einfach einen so mächtigen Respekt vor dem unauslotbaren Geheimnis der Gottheit, dass sie nur sehr zögerlich, nur indirekt, nur in äußerster Behutsamkeit von Gott reden. Als ›ungläubig‹, als ›gottlos‹ ist Reiner Kunzes Poesie sicher nicht einzustufen. Ähnlich differenziert muss die religiöse Haltung des in Kaufbeuren geborenen, in einem katholischen Elternhaus aufgewachsenen Schriftstellers, Lyrikers, Übersetzers und Herausgebers Hans Magnus Enzensberger (1929–2022) betrachtet werden.

Der Enzensberger-Biograph Jörg Lau erkennt in des Dichters Werk ein »zögerndes Geöffnetsein« für »letzte Dinge und letzte Fragen«. Enzensberger sei zwar »ungläubig geblieben«, aber »fromm ist er gleichwohl geworden, weltfromm, schöpfungsfromm«.13 Der katholische Religionspädagoge Georg Langenhorst bezeichnet Enzensbergers Annäherungen an die Transzendenz als »ironische Mystik, die sich die Vokabel ›Gott‹ verweigert, und gerade so auf diese Leerstelle verweist«.14 Denn indirekt bringt Enzensberger – wie Langenhorst an vielen Textstellen belegt – die Dimension ›Gott‹ literarisch sehr wohl ins Spiel.

Biblische Motive und kirchlich-traditionelle Sprachspuren ziehen sich »quer durch Enzensbergers Werk«.15 Dem christlichen Glauben wird durch diesen Autor weder eine klare Absage erteilt noch eine einfache Bestätigung gegeben. Auch direkte Anknüpfungen an die theologische Sprache – in ironischer Brechung allerdings – scheut Enzensberger nicht. Eine ausdrückliche »Nennung Gottes« wird man freilich, so Georg Langenhorst, »bei Enzensberger selbst im Modus der Ironie kaum antreffen. Er bevorzugt den indirekten Zugang zur Benennung von Transzendenz.«16

Postmoderne Autoren wie Kunze oder Enzensberger verstehen sich selbst nicht als gläubige ›Theisten‹, sondern als Suchende. Es gab zu allen Zeiten die vermeintlichen Groß-Wahrheitsbesitzer, bei ›Theisten‹ wie auch bei erklärten ›Atheisten‹. Angesehene Schriftsteller/innen der Gegenwart zählen sich in der Regel nicht zu dieser Kategorie. Was religiöse Themen betrifft, stellen sie keine unbewiesenen Behauptungen auf; aber nicht wenige Autoren nähern sich dem Geheimnis, der göttlichen Transzendenz, sehr vorsichtig an.

Meine Fragestellung lautet: Wie reden heutige Schriftsteller/innen, sofern die Religion für sie überhaupt ein Thema ist, von Gott? In meiner Darstellung kommen prominente Literaten der Gegenwart aus dem deutschen Sprachraum zu Wort. Zu einer Auswahl gezwungen, begrenze ich meine Ausführungen auf Autor/innen, die hohe literarische Auszeichnungen erhielten. Meine Auswahl ist insofern subjektiv und willkürlich, als ich nur solche Texte bespreche, die ich für besonders aussagekräftig halte und mit denen ich mich eingehend auseinandergesetzt habe. Freilich fanden die meisten der von mir besprochenen Erzählungen oder Romane beachtliche öffentliche Anerkennung, und viele von ihnen wurden zu Bestsellern. So gesehen kann meine Auswahl wohl doch als repräsentativ gelten.

Mein zentrales Anliegen ist der theologische Dialog mit poetischen Texten. Von Berufs wegen bin ich Theologe und Seelsorger, kein Germanist, kein Literaturwissenschaftler. Meiner Fachkompetenz entsprechend will ich die ausgewählten Texte nicht nach literarästhetischen Gesichtspunkten analysieren, sondern nach existenziellen Aspekten ausloten und theologisch hinterfragen. Die Gefahr, in Erzählungen oder Gedichte etwas hineinzuinterpretieren, was der Autor gar nicht sagen will, sehe ich durchaus. Aber in den meisten Fällen sind literarische Texte derart vieldeutig, dass sie zu unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Deutungen geradezu einladen.

Es geht mir nicht darum, bekannte Dichter und Dichterinnen für meine eigene Theologie, für meinen Glauben an einen barmherzigen Gott, zu ›vereinnahmen‹. Was Autor/innen für sich persönlich glauben oder nicht glauben, kann ohnehin nicht mein Thema sein. Zwar äußern sich manche Autoren in Interviews sehr offen über ihre Einstellung zur Religion. Solche Aussagen sind interessant, und ich zitiere sie gerne. Gleichwohl kann ich ins Innerste ›meiner‹ Autoren nicht hineinschauen. Aber ich kann aufzeigen, wie in poetischen Werken, vermittelt durch literarische Figuren, von Gott – verschlüsselt oder offenkundig – die Rede ist.

›Warten auf Godot‹

Inmitten einer leidenden Schöpfung, inmitten einer ungerechten, vielfach verletzten Welt an einen gnädigen Gott zu glauben, ist alles andere als selbstverständlich. In seinem Glauben sehr angefochten war zum Beispiel der katholische Theologe, Bibelübersetzer und Schriftsteller Fridolin Stier (1902–1981). Dennoch – aller Leiderfahrung zum Trotz hat er am Vertrauen festgehalten, am Vertrauen auf die geheimnisvolle Gegenwart eines barmherzigen, eines rettenden Gottes. Seine Tagebuch-Aufzeichnungen schließen mit der Anrufung des biblischen Gottesnamens (Ex 3,14): »ICH BIN DA!«17

Ist er wirklich da, dieser Gott? Der irische Schriftsteller und Dramatiker Samuel Beckett (1906–1989), der neben Sartre, Anouilh und Ionesco einer der bekanntesten Vertreter des ›Absurden Theaters‹ ist, hat diese Frage im Bühnenstück ›Warten auf Godot‹ (1953) zum Thema gemacht. Dieses Werk des Bibellesers Beckett enthält ein Geschehen fast ohne Handlung. In zerlumpten Klamotten warten die beiden Landstreicher Estragon und Wladimir auf einen Unbekannten namens Godot, der die Erlösung aus einem sinnlosen Dasein verspricht. Doch das Warten scheint vergebens, Godot wird wahrscheinlich nicht kommen.

Hast du nicht gehört, was der Junge gesagt hat?

Nein.

Er hat gesagt, dass Godot morgen bestimmt kommt.

Also brauchen wir nur hier zu warten.18 (…)

Morgen hängen wir uns auf. Es sei denn, daß Godot käme.

Und wenn er kommt?

Sind wir gerettet.19

So heißt es in einem bedrückenden, sich quälend hinziehenden, schier hoffnungslosen Dialog zwischen Wladimir und Estragon. Steht Godot für Gott? Diese Deutung liegt sehr nahe. Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff bezeichnet – in ihrem Roman ›Das Pfingstwunder‹ (2018) – die »nimmerendende Suche« als »Becketts Generalthema«: Es ist »eine Suche, die zwar dem Sinn, letztendlich der Erlösung zustrebt, diese aber nicht erlangen kann«.20

An anderer Stelle schreibt Sibylle Lewitscharoff:

Samuel Beckett war (…) kein Gottesleugner, sondern ein verzweifelt intensiver Gottsucher, darin Kafka ähnlich. Beider Texte sind ja von A bis O durchwittert von der Verzweiflung über den beharrlich sich ihnen entziehenden Gott. Das ist eine echtere, innigere Religiosität als so mancher Fromme sie besitzt, der sich in seiner Gottesnähe suhlt und sich dadurch anderen Menschen haushoch überlegen fühlt.21

Nicht anders sieht es der Theologe und Psychotherapeut Wunibald Müller. In seinem Buch ›Warten auf G. Bekenntnisse eines Suchenden‹ beschreibt er – mit Bezug auf Beckett und andere Skeptiker – seine persönliche Entscheidung, »nicht länger wie bisher selbstverständlich davon auszugehen, dass es Gott gibt«.22 Müller verweist auf Agnostiker wie den US-amerikanischen Psychoanalytiker Irvin D. Yalom, einen der bekanntesten Vertreter der existenziellen Psychotherapie. Der damals 87-jährige Wissenschaftler schrieb an Müller, dass Gott nur eine menschliche Projektion sei, dass es Gott also in Wirklichkeit nicht gebe.

Andererseits weiß sich Müller tief verbunden mit gläubigen Katholiken wie dem amerikanischen Trappisten und Mystiker Thomas Merton (1915–1968), dem niederländischen Priester und Psychologen Henri Nouwen (1932–1996) oder dem Schweizer Theologen und Sozialtherapeuten Pierre Stutz (geb. 1953). Das sind bzw. waren hoch gebildete Leute, die sich mit den Argumenten gegen den Gottesglauben sachkundig auseinandersetzten, ohne ihre Überzeugung von Gottes Dasein und Liebe preiszugeben. Ich selbst kenne in meiner nächsten Umgebung viele Frauen und Männer, die weder dumm noch verklemmt sind und dennoch an Gott nicht im Geringsten zweifeln.

Wunibald Müller aber, der auch literarisch sehr bewandert ist und mit dem ich viele intensive Gespräche über Gott und die moderne Poesie führte, kennt den Zweifel nur zu gut. Er will auch seine eigenen Zweifel akzeptieren: »Ich will diese Spannung – Gott gibt es nicht, Gott ist nicht da und es gibt Gott, Gott ist da – aushalten.«23 Trotz aller Zweifel aber ist Müller ein durch und durch spiritueller Mensch. Er bekennt, und diesem Bekenntnis schließe ich mich an:

Selbstverständlich gibt es Gott nicht. So selbstverständlich, wie ich es bisher geglaubt habe, gibt es Gott jedenfalls nicht (…); da gibt es viele Fragen. Ganz abgesehen davon, dass es ihn natürlich nicht so gibt, wie es zum Beispiel einen Wald oder ein Haus gibt. (…) Ich kann nicht mit dem Kopf entscheiden, ob ich an Gott glaube oder nicht. Ich kann nur sagen, feststellen, wahrnehmen, was mich »trägt«. Ich fühle mich umfangen von einer Kraft, von der etwas ausgeht, das mich gelassen sein lässt. Diese Kraft, so erlebe ich es jedenfalls, ist nicht ein Es, eine anonyme Kraft. Sie ist – ich getraue es mich fast nicht auszusprechen – reine Liebe. Nichts als Liebe. (…) So folge ich jetzt dem Impuls, mich, mein Leben, ganz, Gott, DIR, meinem Gott zu überlassen. (…) So will ich gegen alle intellektuellen Einwendungen meiner Seele Folge leisten. Selbst wenn ich falschliegen sollte. Meine Sehnsucht aber ist nicht falsch. Sie ist echt. Da gibt es für mich keinen Zweifel.24

Thomas Bernhard

Des Menschen Sehnsucht nach reiner Liebe, die wir ›Gott‹ nennen, kann aus meiner Sicht nicht falsch sein. Aber man kann emotional und intellektuell bestreiten, dass diese transzendente Liebe wirklich existiert. So hat der – unter anderem mit dem Georg-Büchner-, dem Adolf-Grimme- und dem Grillparzer-Preis geehrte – österreichische Schriftsteller, Lyriker und Dramatiker Thomas Bernhard (1931–1989) nicht zu Unrecht den Ruf eines ausfälligen, militanten Atheisten.

Bernhards Lebensgeschichte war von Anfang an mit sehr schwierigen Vorbedingungen belastet. Später kamen schwere somatische Erkrankungen und psychische, vermutlich manisch-depressive, Störungen hinzu. Thomas wurde in Heerlen in den Niederlanden als uneheliches Kind der Haushaltshilfe Herta Bernhard (1904–1950), einer Tochter des österreichischen Heimatschriftstellers Johannes Freumbichler (1881–1949), geboren. Die überforderte Mutter gab Thomas in die Obhut ihrer Eltern in Österreich. Seit seinem sechsten Lebensmonat wohnte der kleine Junge bei seinen Großeltern in Wien und ab 1935 in Seekirchen am Wallersee, nahe bei Salzburg.

1946 brach Thomas Bernhard seine Schullaufbahn am Salzburger Akademischen Gymnasium ab und absolvierte eine Kaufmannslehre in einem Kolonialwarenladen in Salzburg. Seine berufliche Zukunft, seine Entwicklung zum Schriftsteller, wurde vom geliebten Großvater Freumbichler entscheidend beeinflusst und gefördert.

Bernhard zählt zu den international bekanntesten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts. Berühmt wurde er durch seine – meist von Claus Peymann inszenierten – Bühnenstücke: Dramen wie ›Ein Fest für Boris‹ (1970) und ›Der Ignorant und der Wahnsinnige‹ (1972), Schauspiele wie ›Die Macht der Gewohnheit‹ (1974) und ›Der Theatermacher‹ (1984). Außerdem schrieb Bernhard vielbeachtete Romane wie ›Verstörung‹ (1967), ›Der Untergeher‹ (1983) und ›Auslöschung. Ein Zerfall‹ (1986). Insgesamt ist kaum zu übersehen: Bernhards Gefühl, von seiner Mutter verlassen und von seinem Vater – den er nie kennenlernte – verleugnet worden zu sein, spiegelt sich indirekt in seinem literarischen Werk.

›Wittgensteins Neffe‹

Thomas Bernhard gilt weithin als kaltschnäuziger, maßlos überheblicher, selbstgerechter Spötter. Als »Nestbeschmutzer« wurde er von seinen österreichischen Landsleuten beschimpft.1 Und eine »finstere Wollust«2 bescheinigte der Literaturkritiker Reich-Ranicki dem boshaften Übertreibungskünstler Thomas Bernhard. In seiner autobiographischen Erzählung ›Wittgensteins Neffe. Eine Freundschaft‹ (1982) aber hat der Autor eine tiefe menschliche Beziehung dokumentiert, die Reich-Ranicki zur anerkennenden Aussage veranlasste, nie habe Bernhard »menschenfreundlicher, nie zärtlicher geschrieben«.3

Thomas Bernhard zeichnet in ›Wittgensteins Neffe‹ das Selbstporträt eines übermäßig empfindlichen, pathologischen, depressiven, sich selbst isolierenden, suizidgefährdeten Menschen. Tatsächlich hat Bernhards Großvater in den Jahren 1945 und 1948 in einem Notizbuch zwei Suizidversuche seines 14-bzw. 17-jährigen Enkels vermerkt. Bernhard selbst erzählt von seiner »krankhaften Melancholie«, gegen die er jahrelang zu kämpfen hatte. »Und ich war damals sehr oft nahe daran gewesen, meinem Leben überhaupt einen eigenhändigen Schluß zu machen. Jahrelang war ich in nichts anderes als in eine fürchterliche geisttötende Selbstmordspekulation hineingeflüchtet gewesen, die mir alles unerträglich gemacht hat, mich selbst am unerträglichsten (…).«4 Durchaus selbstkritisch fügt der Autor seinem Psychogramm hinzu: »Ich war damals auch von allen verlassen gewesen, weil ich sie alle verlassen hatte, das ist die Wahrheit, weil ich (…) ja nichts mehr wollte, aber doch zu feige gewesen bin, den Selbstschluß zu machen.«5

In seinen schlimmsten Lebensphasen war Bernhard alles zuwider, er hasste sogar die freie Natur, denn »ich habe ihre Bösartigkeit und ihre Unerbittlichkeit am eigenen Körper und in der eigenen Seele kennengelernt und da ich ihre Schönheiten immer nur gleichzeitig mit ihrer Bösartigkeit und ihrer Unerbittlichkeit betrachten kann, fürchte ich sie (…).«6

Gleichsam als Rettung in der größten Not empfand Bernhard seine Begegnung mit dem Mathematiker und Musikkenner Paul Wittgenstein, einem Großneffen des berühmten Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889–1951). In der Erzählung ›Wittgensteins Neffe‹ gibt sich Bernhard Rechenschaft über seine Freundschaft mit Baron Paul Wittgenstein in den Jahren 1967 bis 1979. Diese Freundschaft war, so Bernhard, »die wertvollste von allen meinen Beziehungen zu Männern, die einzige, (…) auf die ich unter keinen Umständen hätte verzichten wollen«.7

Was Thomas Bernhard und Paul Wittgenstein miteinander verband, war eine gemeinsame Krankheitsgeschichte, aber auch die große Liebe zur Musik. Die Freunde verbrachten zusammen unzählige Musikabende, sie hörten Orchesterwerke von Mozart und Schumann, sie genossen Beethovens Streichquartette und sie diskutierten leidenschaftlich über die Wiener Oper. Paul intonierte ganze Wagner-Arien, vorzugsweise aus ›Tristan und Isolde‹. Überdies liebten Thomas und Paul den romantischen Dichter Novalis und Philosophen wie Pascal und Schopenhauer. Bernhard erzählt, dass er mit Paul die wunderbarsten Gespräche über Philosophie, Politik und Mathematik geführt habe.

Vor allem aber streicht Bernhard heraus: Sie beide, Thomas wie Paul, waren »verrückt« im psychiatrischen Sinne, »nur bin ich zu meiner Verrücktheit auch noch lungenkrank geworden«.8 Bernhards Prognose ist düster, »denn wie der Paul an seiner krankhaften Selbst- und Weltüberschätzung zugrunde gegangen ist, werde auch ich über kurz oder lang an meiner eigenen Selbst- und Weltüberschätzung zugrunde gehen.«9 Ohne sich selbst zu schonen, schreibt Bernhard: »Wie der Paul immer wieder ein Höchstmaß an Aufsässigkeit gegen sich und seine Umwelt erreicht hat und in die Irrenanstalt eingeliefert werden mußte, habe ich selbst immer wieder ein Höchstmaß an Aufsässigkeit gegen mich und gegen meine Umwelt erreicht und bin in eine Lungenanstalt eingeliefert worden.«10

Das Fazit: Beide, Thomas und Paul, konnten sich »selbst und die Welt nicht mehr ertragen«.11

Keine transzendente Instanz

Die Erzählung ›Wittgensteins Neffe‹ hat keine Kapiteleinteilung, noch nicht einmal Absätze, das Buch stellt einen einzigen Monolog dar, einen schier endlosen Redefluss des Ich-Erzählers Bernhard. Selbstzerfleischung und bissiger Humor wechseln ab mit wesentlich milderen, vernünftigen, ja einfühlsamen und menschlich sehr anrührenden Erzählpartien.

Bernhard ist, wie er dankbar vermerkt, keineswegs völlig allein. Er hat zwar keine Frau und keine Kinder, dafür aber seinen »Lebensmenschen«, die nach dem Tod des Großvaters »existenzentscheidende« Weggefährtin, der er »nicht nur sehr viel«, sondern seit Jahrzehnten »mehr oder weniger alles« verdankt:12 seine fast vierzig Jahre ältere »Lebensfreundin« Hedwig Stavianicek, geb. Hofbauer (1894–1984).

Zwölf Jahre lang fand er in Paul Wittgenstein seinen besten Freund, der allerdings schon zu Beginn dieser Freundschaft »totkrank gewesen und vom Tod gezeichnet« war.13 Bernhard klagt: »Jährlich mindestens zweimal in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens hatte mein Freund (…) unter den fürchterlichsten Umständen in die Irrenanstalt Am Steinhof gebracht werden müssen (…).«14

Mit einem Höhepunkt in der Krankheitsgeschichte der beiden Protagonisten nimmt Bernhards Erzählung ihren Anfang: Nach einer Krebsoperation erholt sich Bernhard in einer Lungenklinik auf dem Wilhelminenberg in Wien, während Paul Wittgenstein in einer nahegelegenen psychiatrischen Klinik behandelt wird.

Den einen oder anderen Seitenhieb auf die katholische Kirche kann sich Bernhard bei dieser Gelegenheit nicht verkneifen. Sein Bettnachbar im Wiener Krankenhaus war ein Theologiestudent, »ein durch und durch verzogener Charakter«, dem er aber, weil er lernfähig war, »sehr bald viele Ungezogenheiten« abgewöhnen konnte.15 Deutlich schlechter noch als die Theologen kommen in Bernhards Darstellung die Ärzte weg, speziell die Psychiater: An der »sogenannten Geisteskrankheit« Pauls »hat sich die Hilflosigkeit der Ärzte und der medizinischen Wissenschaften insgesamt auf das deprimierendste bewiesen«.16

Finanziell war Paul zunächst durch das riesige Vermögen seiner Familie gut gesichert. Er konnte jedoch mit Geld nicht umgehen und verarmte binnen kurzer Zeit. Der Patient war, so Bernhard, »auf die Gnade seiner Verwandtschaft« angewiesen, »die ihm aber diese Gnade (…) bald entzogen hat, weil ihr der Begriff der Gnade immer fremd gewesen ist«.17 Treu zur Seite stand dem Kranken indessen seine wesentlich ältere, intelligente und charmante Frau Edith, »die ihm letzten Endes immer die Nächste und tatsächlich auch bis zu seinem Tode die Geliebte gewesen war«.18 Edith starb wenige Wochen vor Paul, der diesen Schlag nicht verkraftete; »so konnte er jetzt, nach ihrem Tod, ohne sie überhaupt nicht mehr existieren«.19

Über all die Jahre hinweg nahm Bernhard Anteil am langsamen Sterben des Freundes. Angesichts des finalen körperlichen und geistigen Verfalls des Barons aber hat Bernhard, wie er selbst bekennt, Verrat an der Freundschaft geübt. Den total vereinsamten, »von seiner Depression beherrschten«,20 vom nahen Tod gezeichneten Paul ließ er im Stich. Nach dem Tod des verlassenen Freundes allerdings gestand Bernhard voller Reue und Scham: »Ich hatte ihn nicht mehr ausgehalten, fortwährend dachte ich, dass ich ja schon nicht mehr mit einem Lebendigen, sondern mit einem längst Toten zusammensitze und ich habe mich von ihm zurückgezogen.«21

In seiner Selbstanklage gab Thomas Bernhard unumwunden zu:

Ich ertrug lieber mein schlechtes Gewissen als die Begegnung mit ihm [Paul]. Ich beobachtete ihn und ging (…) nicht auf ihn zu, ich fürchtete ihn auf einmal (…), was ich mir nicht verzeihe. (…) Ich bin ganz einfach kein guter Mensch. Ich zog mich von meinem Freund zurück wie seine anderen Freunde auch, weil ich mich, wie diese, vom Tod zurückziehen wollte. Ich fürchtete die Konfrontation mit dem Tod.22

Bernhard hat den Freund nicht mehr besucht »aus Angst, mit dem Tod unmittelbar konfrontiert zu sein«.23 Seine Schuldgefühle werden ihn fortan begleiten. Dazu bemerkt der Theologe und Literatur-Sachverständige Jan-Heiner Tück, der Bernhards Erzählung ›Wittgensteins Neffe‹ eingehend besprochen hat: Paul Wittgenstein, der dem Freund hätte verzeihen können, »ist nicht mehr da, und der Ausblick auf eine absolute Instanz, welche den Akteur durch Absolution von seiner Handlung (die hier eine Unterlassung ist) lösen könnte, scheint versperrt. So mündet die Reue darüber, dem todkranken Freund vorzeitig den Rücken gekehrt zu haben, ein in einen literarischen Versuch posthumer Wiedergutmachung.«24

Eine reale Wiedergutmachung aber scheint ausgeschlossen. Denn zu einem Gott, der umfassende Liebe ist und jede von Herzen bereute Schuld vergibt, hatte Thomas Bernhard offenbar keinen Zugang.

Elias Canetti

Im Gegensatz zu Thomas Bernhard hielt der aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Bulgarien stammende deutschsprachige Schriftsteller, Dramatiker und Aphoristiker Elias Canetti (1905–1994) das Reden von Gott – auch in literarischen Texten – für möglich und sinnvoll, ja für unverzichtbar. Die bei Canetti eng miteinander verknüpften Begriffe ›Gott‹ und ›Tod‹ bilden den Kern vor allem seiner privaten Notizen.

Seine ersten Lebensjahre verbrachte Canetti in Bulgarien und später in England. Nach dem frühen Tod seines geliebten Vaters im Jahre 1912 zog Elias mit seiner Mutter und seinen zwei Brüdern nach Wien; 1916 zog er um in die Schweiz und 1921 nach Deutschland. In Frankfurt am Main schloss er seine Schulausbildung mit dem Abitur ab. Seit 1924 lebte er wieder in Wien, wo er Naturwissenschaften studierte und 1929 in Chemie promovierte. 1938 emigrierte er mit seiner ersten Ehefrau Veza Taubner-Calderon (1897–1963), einer österreichischen Schriftstellerin und Übersetzerin, nach England, wo er die britische Staatsbürgerschaft erwarb. Bis Ende 1971 wohnte er in London. 1971 heiratete er in Zürich seine zweite Ehefrau, die 28 Jahre jüngere Schweizer Kunstrestauratorin Hera Buschor (1933–1988). Von 1972 bis zu seinem Tod lebte er vorwiegend in Zürich.

Zu Canettis wichtigsten Werken gehören das satirische Bühnenstück ›Hochzeit‹ (1932), der große Roman ›Die Blendung‹ (1935), das Drama ›Die Befristeten‹ (1956), die anthropologische Studie ›Masse und Macht‹ (1960), die Essays ›Das Gewissen der Worte‹ (1975) sowie die persönlichen Aufzeichnungen ›Das Geheimherz der Uhr‹ (1987) und ›Die Fliegenpein‹ (1992). Nach den Auszeichnungen mit dem Georg-Büchner-, dem Nelly-Sachs-, dem Gottfried-Keller- und dem Franz-Kafka-Preis und vielen weiteren Literaturpreisen erhielt Canetti 1981 den Nobelpreis für Literatur.

›Das Buch gegen den Tod‹

In seinem posthum erschienenen ›Buch gegen den Tod‹, das private Aufzeichnungen aus den Jahren 1942 bis 1994 enthält, setzte sich Canetti mit vielen zeitgenössischen Autoren auseinander, darunter mit Thomas Bernhard. In einer kurzen Notiz (1970) schrieb er: »Ich glaube, ich mag Bernhard nicht. Ich glaube, er wünscht allen den Tod.«1 Im Weiteren heißt es in Canettis Tagebuch: »Jeder frägt mich nach Thomas Bernhard, jeder will wissen, was ich von ihm halte. (…) Thomas Bernhard ist wie ich vom Tod besessen. Allerdings ist er (…) einem Einfluss unterlegen, der meinen verdeckt, nämlich dem von Beckett. (…) Er gibt wie dieser dem Tod nach, er stellt sich nicht gegen ihn. Er sieht ihn überall und verdammt alle widerstandslos zu ihm.«2

Gerade auch zum existenziellen Thema ›Tod‹ vertrat Canetti eine durchaus andere Ansicht als Thomas Bernhard (der sich mit dem Tod nicht konfrontieren lassen wollte). Der unaufhörliche Protest gegen den Tod, das unbedingte Nein zum Tod zieht sich obsessiv durch Canettis gesamtes Schreiben. Ja, zeitlebens blieb er ein ›Tod-Feind‹: ein Autor, der sich mit dem Tod nicht nur nachhaltig beschäftigte, sondern ihn philosophisch und existenziell ›bekämpfte‹.

Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch, der sich mit Canetti gelegentlich in Zürich getroffen hat, bemerkte 1967 lakonisch in seinem Tagebuch: »Elias Canetti, zwei Tage zu Besuch, ist gegen den Tod überhaupt, also gegen jedes Denken, das den Tod anerkennt.«3 Diese Obsession mag biographische Hintergründe haben. Den Beginn der Judenverfolgung in Wien hatte Canetti noch erlebt. Wie schon erwähnt, entkam er 1938 zusammen mit Veza, seiner körperbehinderten Frau, nur knapp der Verhaftung.

In seinem Nachwort zu Canettis ›Buch gegen den Tod‹ schrieb der Schweizer Germanist Peter von Matt: »Neben der Erinnerung an den plötzlichen Tod des Vaters, den der Siebenjährige erlebt hatte, waren diese Vorgänge, denen keine Vorstellungskraft wirklich gewachsen ist, der Anstoß zu Canettis Projekt gegen den Tod. Es war wie ein mythischer Befehl.«4

Aufgrund seiner intensiven Auseinandersetzung mit der Unausweichlichkeit des Todes galt Canettis Interesse in hohem Maße den Religionen und den unterschiedlichen (christlichen oder außerchristlichen) Glaubensformen. Zwar mochte Canetti keine zu forsche, keine protzig auftrumpfende Gottesrhetorik. Im Gegenteil, er haderte sein Leben lang mit Gott, genauer gesagt: mit den negativen Vorstellungen, die er sich von Gott gemacht hatte. Gleichzeitig aber war er der Meinung: Ohne ›Gott‹ und ohne Unendlichkeitsperspektive würden wesentliche Dimensionen des menschlichen Daseins ausgeblendet oder nicht hinreichend zur Geltung kommen.

Womit sich Canetti nie abfinden konnte, war die schlichte Tatsache des Sterbenmüssens. So schrieb er am 15. Juni 1942 in seinen privaten Aufzeichnungen über seine Mutter Mathilde Canetti (1886–1937), mit der ihn eine außerordentlich innige Beziehung verband:

Heute vor fünf Jahren ist meine Mutter gestorben. (…) Mir ist es, als wäre es gestern geschehen. (…) Ich will sie aus dem Sarg zurückholen, und müßte ich jede Schraube mit den Lippen wieder aufdrehen. Ich weiß, daß sie tot ist. Ich weiß, daß sie verfault ist. Aber ich werde es nie wahrhaben. Ich will sie wieder lebendig machen. Wo finde ich ihre Teile? Am meisten von ihr steckt noch in meinen Brüdern und mir. Aber das ist nicht genug. Ich will jeden Menschen finden, den sie gekannt hat. Ich will alle Worte wiederhaben, die sie je gesagt hat. (…) Ich will die Spiegel zusammenstückeln, die einmal ihr Bild geworfen haben. Ich will jede Silbe kennen, die sie hätte sagen können, in jeder Sprache.5

Nicht nur den Tod seiner Mutter, nein, den Tod überhaupt – den Tod der Menschen wie auch den Tod der Tiere – fand Canetti unerträglich. Aus dem Jahr 1943 stammt Canettis Notiz: »Wenn ein Rat, den ich zu geben hätte, ein technischer Rat, den Tod auch nur eines einzigen Menschen zur Folge hätte, könnte ich mir kein Recht mehr auf mein Leben zubilligen.«6

In jedem lebendigen Wesen, auch in jedem Tier, sah Canetti etwas unbedingt Wertvolles, dem niemals Gewalt angetan werden dürfe. Im Alter von 76 Jahren schrieb er: »Und obwohl er mir bald bevorsteht: Am meisten empört mich, dass andere den Tod erleiden.«7 Auch zehn Jahre später, den eigenen Tod schon vor Augen, betonte Canetti sein »Gefühl vom Wert jedes einzelnen Lebens. Keines dürfte verlorengehen, kein einziges.«8

Mit Bezug auf den gewaltfreien Widerstand gegen den Nationalsozialismus schrieb Canetti allerdings (in einer Notiz aus dem Jahr 1980): »Ein Opfertod, den ich anerkenne, vor dem ich die tiefste Ehrfurcht empfinde, ist der der Sophie Scholl. Dieser einzige Tod ist erlaubt.«9

»Die Auferstandenen klagen Gott an«

Canettis Aufzeichnungen und Tagebuchnotizen geben naturgemäß die Augenblicksstimmungen des Aphoristikers wieder und können sich, je nach der Gemütsverfassung Canettis, gelegentlich auch widersprechen. Gleichwohl lassen sie eine Grundtendenz des Autors sehr gut erkennen.

In seinen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1981 zitiert Canetti, offensichtlich mit voller Zustimmung, den französischen Existenzphilosophen Jean-Paul Sartre: »So ist der Tod niemals das, was dem Leben seinen Sinn verleiht. Er ist im Gegenteil das, was ihm grundsätzlich jede Bedeutung nimmt. Wenn wir sterben müssen, hat unser Leben keinen Sinn, weil seine Probleme ungelöst bleiben und weil sogar die Bedeutung der Probleme ungelöst bleibt.«10

Auch aus meiner Sicht hätte Sartre in diesem Zitat durchaus Recht – vorausgesetzt, der Tod hätte das letzte Wort und es gäbe kein ›Danach‹, keine, wann auch immer folgende, ›Auferstehung der Toten‹. Wenn mit dem Tod ›alles aus‹ wäre, dann hätte – wie Canetti zu Recht unterstreicht – das menschliche Leben tatsächlich keinen Sinn, jedenfalls keinen bleibenden Sinn.

Aber ist mit dem Tod denn wirklich ›alles aus‹? Canettis diesbezügliche Aussagen und Andeutungen sind, wie sich zeigen wird, mehrdeutig und zum Teil recht widersprüchlich.

Zweifellos wünschte sich Canetti, mit sehnsüchtigem Verlangen, ein persönliches Fortleben nach dem Tod. In diesem Wunschtraum sah er sich bitter enttäuscht von Gott. In zahlreichen Passagen seiner privaten Aufzeichnungen gibt er Gott die Schuld am Tod, an der radikalen Endlichkeit der Schöpfung. Im Jahr 1952 notierte er: »Die beiden Worte in meinem Leben, die ich am meisten gebraucht habe – sonderbar genug, – sind Gott und Tod. Öffentlich, zu andern, habe ich immer den Tod auf den Lippen. Bei mir selbst, in meinen Aufzeichnungen ist es wieder und wieder Gott, der meinem Stift entschlüpft, meist gegen meinen Willen und in Sätzen, die oft ganz sinnlos sind. Ich beginne zu glauben, daß diese beiden Worte, Gott und Tod, für dasselbe stehen, dasselbe sind.«11

Wenn Canetti ›Gott‹ praktisch gleichsetzt mit dem Tod als dem absoluten Ende jeglichen Lebens, impliziert dies natürlich den größtmöglichen Vorwurf gegen Gott. So schrieb Canetti im Kriegsjahr 1942: »Und Gott sieht zu, wie ein Mensch dem andern wegstirbt.«12

1947 hielt er im Notizbuch fest: »Die Auferstandenen klagen plötzlich in allen Sprachen Gott an: das wahre Jüngste Gericht.«13 Und noch 1993, ein Jahr vor seinem Tod, schrieb Canetti: »›Gott‹, nur das Wort, ist nie ganz für mich gestorben. Ich gebrauche es noch immer, in unerwarteten Momenten, nie in Ergebung, nie in Glauben, von jeder Dankbarkeit abgelöst, zornig, um dieses Zornes willen vorhanden, so mag einer Wespe zumute sein, die siebenhundert Mal gegen die Scheibe stößt und dann (…) in die Freiheit entlassen wird.«14

Peter von Matt kommentiert diese und ähnliche Äußerungen Canettis: »Gott hat den Tod geschaffen, und das kann Canetti, obwohl er nicht an Gott glaubt, Gott nicht verzeihen.«15 Dass Canetti überhaupt »nicht an Gott« glaubte, würde ich allerdings nicht behaupten. Aber es wird sicherlich stimmen: Canetti zweifelte sehr an einem liebenden Gott.

In einer Notiz aus dem Jahr 1942 hat Canetti an die Stelle des ersten göttlichen Gebots im biblischen Dekalog (Ex 20,3: »Du sollst keine fremden Götter neben mir haben.«) ein neues »Erstes Gebot« gesetzt: »Du sollst nicht sterben.«16 Dazu erläutert Peter von Matt: »Auch in diesem winzigen Diktum steckt der Vorwurf an Gott, den Tod geschaffen zu haben, mithin der erste und oberste Täter zu sein. Aber die Pointe des Satzes ist nicht, daß Gott diesen Akt zurücknimmt, sondern daß er die Abschaffung des Todes zur Aufgabe des Menschen erklärt.«17

Mit dieser Aufgabe aber wäre der sterbliche Mensch nun wirklich überfordert. Den Tod »abschaffen« kann niemand. Es sei denn, er wäre Gott.

›Die Befristeten‹

Elias Canetti rennt mit seiner literarischen Kampagne gegen den Tod unaufhörlich gegen eine Wand an. Auch in seinem 1956 in Oxford uraufgeführten und 2014 in München neu inszenierten Drama ›Die Befristeten‹ will Canetti den Tod nicht akzeptieren. Zu diesem surrealistisch anmutenden Bühnenstück – wie auch sonst zu Canettis literarischem Werk – bemerkte Peter von Matt: »Die Verschiebung des streng diskursiven Denkens ins Groteske und Phantastische gehört wesentlich zu Canettis Einbildungskraft.«18

In seinem Drama ›Die Befristeten‹ entwirft der Autor eine merkwürdige Vision: Jeder Mensch kennt den genauen Zeitpunkt seines Todes.19 Von einer zentralen, offenbar allwissenden Instanz – »Kapselan« genannt – bekommt jedes Kind bei der Geburt eine Kapsel mit seinem Sterbedatum umgehängt. Überdies wird die Lebensdauer im Namen der Menschen festgeschrieben. Die Namen lauten wie die Anzahl der Jahre, die die Leute zu leben haben, also zum Beispiel ›Vierundsiebzig‹.

Somit wird dem Tod eine ungeheure, deprimierende Macht zugestanden. Das Theaterpublikum mag sich fragen: Welche Konsequenzen hätte ein solches Vorauswissen des Sterbetages für die einzelne Person, für ihre soziale Umgebung, für die gesamte Gesellschaft? Wie wäre es um die Freiheit des Menschen bestellt? Wie würden wir unser Dasein und unsere personalen Beziehungen gestalten? Derartige Fragen werden im Bühnenstück nicht klar beantwortet. Aber der Autor suggeriert den Theaterbesuchern den Gedanken, dass erst die Ungewissheit über den Todesmoment ein halbwegs erträgliches Leben ermögliche.

Der Höhepunkt des Dramas: Eine sich anbahnende Revolution gegen die Diktatur des Todes will uns zu unserer bekannten Daseinsbedingung, also zur Ungewissheit des Todestages, zurückführen. Diese Rebellion geht von zwei Freunden aus, deren Wechselbeziehung immer tiefere Dimensionen der persönlichen Zuneigung gewinnt.

Die aus meiner Sicht entscheidende Frage, die der Dramentext aufwirft, ist die Frage nach der Unvergänglichkeit der Liebe: Sind tiefe menschliche Beziehungen überhaupt möglich ohne die Unsterblichkeits-Hypothese? Wir alle wissen zwar, dass wir sterben werden. Dennoch leben wir – gerade als Liebende – so, als ob wir den Tod »überleben« würden.20 Ja, setzen wir, so frage ich mich, nicht heimlich voraus, dass das geliebte Du unzerstörbar ist?

Im Gespräch mit einem fremden Mann erklärt eine Frau in Canettis Drama: »Den Mann, den ich liebe, will ich nicht überleben. Aber ich will auch nicht, daß er mich überlebt.«21 Die Frau will in diesem Fall zwar lediglich die Gleichzeitigkeit des Todes der Liebenden (wie sie etwa dem Ehepaar Philemon und Baucis im antiken Mythos gewährt wird). Dieser verständliche Wunsch aber ist für mein Empfinden noch viel zu bescheiden. Elias Canetti sah dies, wie ich denke, im Grunde genauso.

Von Canetti im Theaterstück – im Dialog eines Liebespaares – freilich nur angedeutet, wird die Sehnsucht der Liebenden im Verlauf des Bühnengeschehens ins Absolute, ins Unendliche gesteigert: »Ich kann ohne dich nicht leben«,22 sagt der junge Liebhaber zu seiner Freundin. Schon der bloße Gedanke, durch den bevorstehenden Tod von der Geliebten für immer getrennt zu werden, »bricht mir das Herz«, fügt der Liebespartner hinzu.23

Canetti will meines Erachtens sagen: Wahrhaft Liebende gehen, oft wohl unbewusst, davon aus, dass ihre Liebe nie enden wird. Das aber heißt: Nicht nur das Vorherwissen des Todes-Termins wäre für Liebende ein Problem. Vielmehr ist der Tod selbst (sofern er als Ende des Daseins verstanden wird) ein Skandal, der nicht akzeptiert werden kann.

Die »Unsterblichkeit«

Für einen Menschen, der einen anderen liebt, ist der Tod als Ende der Existenz – so lautet die Botschaft des Bühnenwerks ›Die Befristeten‹ – nicht hinnehmbar.24 Der literarisch von der Begegnung mit dem österreichischen Dramatiker und Lyriker Karl Kraus nachhaltig geprägte Autor Canetti verstand zwar sich selbst, wie wir sahen, keineswegs als ›gläubigen‹ Menschen, eher als zweifelnden, fragenden Sucher. Er war der Meinung: Ob es ein Weiterleben nach dem Tod wirklich gebe, könne man nicht wissen. Aber ein bedeutsamer Raum der Hoffnung wird bei Canetti zweifellos eröffnet. Den religiösen, für Transzendentes empfänglichen Leser jedenfalls bestätigt das Drama ›Die Befristeten‹ in der Zuversicht: Mächtiger als der Tod ist die Liebe, die dem geliebten Menschen – im Sinne des bekannten Wortes von Gabriel Marcel – zusichert: Du wirst nicht sterben!25

Canetti selbst zitierte in seinen Aufzeichnungen (1981) zweimal den französischen Philosophen und führenden Vertreter des christlichen Existenzialismus Gabriel Marcel: »Einen Menschen lieben, heißt sagen, du wirst nicht sterben.«26 Und: »Weil ich nicht lieben kann, ohne die Unsterblichkeit dessen zu wollen, den ich liebe, … kann ich den Tod nicht annehmen.«27

Vielleicht dachte Canetti – anders als Marcel – lediglich an ein Weiterleben der Toten im Gedenken der Überlebenden. 1980 notierte er: »Plötzlich, urplötzlich weiß man wieder alles über sie, was man vergessen glaubte, hört ihre Rede, berührt ihr Haar und blüht auf im Glast ihrer Augen. (…) Es ist möglich, daß alles an ihnen nun intensiver ist, als es war, es ist möglich, daß sie nur in diesem plötzlichen Aufscheinen ganz zu sich selber werden. Es ist möglich, daß jeder Tote auf seine Vollkommenheit in der Wiederauferstehung wartet, die ihm ein Hinterlassener bietet. Es läßt sich nichts Gewisses darüber sagen, nur Wünsche. Aber diese sind das Heiligste, das ein Mensch hat (…).«28

Da frage ich mich: Können mir meine Hinterbliebenen, wenn ich gestorben bin, tatsächlich eine »Vollkommenheit in der Wiederauferstehung« gewährleisten? Nein, das können sie nicht! Denn früher oder später wird niemand mehr leben, der sich an mich erinnert. Ich werde dann endgültig tot sein. Es sei denn, ich würde weiterleben im schöpferischen Gedächtnis einer unsterblichen göttlichen Liebe.

Die (über ein Weiterleben der Toten in der Erinnerung der Angehörigen weit hinausreichende) Hoffnung Gabriel Marcels auf eine postmortale Wiederbegegnung mit den Verstorbenen setzt selbstverständlich ein religiöses Vertrauen voraus: den Glauben an eine Leben spendende, den Tod überwindende göttliche Energie. Auch Elias Canetti wusste um diesen Zusammenhang. Im Widerspruch zu anderen, eher religionsfeindlichen, Aufzeichnungen notierte er 1956: »Ich begreife die Religion, wie ich sie noch nie begriffen habe, ein Gefühl, das man nur als religiöses bezeichnen kann, beherrscht mich jetzt ganz und gar. Religion ist das Gefühl einer Verbindung mit den Toten. Vielleicht war in manchen Menschen dieses Gefühl so stark, daß es die Toten wirklich belebt hat. – Christus?«29

Natürlich wusste auch Canetti: Die Toten »wirklich beleben« kann nur Gott. Deshalb forderte er von Gott immer wieder und unermüdlich die »Unsterblichkeit« aller Geschöpfe. Was aber könnte mit dem Wort »Unsterblichkeit« sinnvollerweise gemeint sein? Ein menschliches Leben, das immer so weitergeht ins Unendliche? Eine fortlaufende Zeit ohne Ende?

Ich würde das nicht wollen, ich finde eine so verstandene »Unsterblichkeit« ganz fürchterlich; sie lässt mich sofort an die mythische Gestalt des ›ewigen Juden‹, des zum endlosen Herumirren verdammten Ahasver denken. Auch der Wunsch nach der Wiederbelebung eines Leichnams (wie ihn sich Canetti im Blick auf seine verstorbene Mutter in rührender Weise ausgemalt hatte) führt natürlich in eine Sackgasse. Nein, für sinnvoll und wünschenswert halte ich allein die (von Jesus und dem Apostel Paulus uns zugesagte und von späteren Theologen gedanklich noch weiter reflektierte) Bergung jedes verstorbenen Individuums in die Ewigkeit Gottes hinein – durch einen verwandelnden Tod hindurch: so dass das Schöne und Gute im Leben jedes Einzelnen (in einem unter Umständen sehr schmerzvollen Läuterungsprozess) nicht nur aufbewahrt, sondern vollendet wird.

»Der stolze Glaubenslose«

So gesehen ist der Tod überhaupt nichts Negatives, sondern die notwendige Voraussetzung für die Befreiung, die Verklärung, die Vollendung jeder individuellen Lebensgeschichte durch die Schöpferkraft Gottes. In seinen Aufzeichnungen (1981) zitierte Canetti den, von ihm sehr geschätzten, Schriftsteller Alfred Döblin: »Tod. Ich halte den Tod, wenn er nicht zu früh kommt, für ein sehr natürliches und angepaßtes Ereignis. Im Laufe einiger Jahrzehnte haben wir reichlich Zeit, uns mit den Mängeln und Ecken unserer Person zu befassen. Man kennt sich allmählich gründlich und möchte umziehen.«30

Mit dem Wort »umziehen« meinte der bekennende Christ Alfred Döblin (der 1941 vom Judentum zum Katholizismus übergetreten war) sehr wahrscheinlich den Übergang vom irdischen Leben zum jenseitigen Leben in der Herrlichkeit Gottes – im Sinne des neutestamentlichen Hebräerbriefs: »Wir haben hier keine Stadt, die bestehen bleibt, sondern wir suchen die künftige.« (Hebr 13,14) Hiermit wird gesagt: Wir suchen eine ewige Wohnstätte im Himmel.

Diese Wohnung aber kann uns niemand schenken als nur Gott allein. Tatsächlich gibt es auch im vielschichtigen Schrifttum Canettis mehrere Stellen, die ein uneingeschränkt positives Gottesbild bezeugen. Wer nicht an eine göttliche Liebe glaubt und im Leben schuldig wird oder schwerwiegend versagt, hat – so Canetti – »niemanden, den er um Gnade bitten könnte. Der stolze Glaubenslose! Er kann vor niemand niederknien.«31

Und in den Hoch-Zeiten des unerwarteten Glücks, der gefühlten Erlösung? Wem soll man bei solchen ›Gipfelerlebnissen‹ danken? Canetti schrieb in seinen Aufzeichnungen: »Das Schwerste für den, der an Gott nicht glaubt: dass er niemanden hat, dem er danken kann.«32

Wie aber verträgt sich der Glaube an eine unendliche Liebe Gottes mit dem vielfachen Übel in der Welt? Ohne den Glauben an einen gütigen Gott würde alles Schlimme noch viel schlimmer. »Die Klage« – so fragt der Theologe Jan-Heiner Tück im Anschluss an Elias Canetti – »über das himmelschreiende Unrecht in der Welt? Verhallt sie im Nichts, wenn keine Instanz da ist, die man anrufen kann?«33

Mit anderen Worten: Die menschliche Existenz ist zuinnerst verwiesen auf Gott. Ohne Gott liefe menschliches Leben, letztlich, ins Leere. Ohne Gott wären wir alle verloren, der demütig Glaubende wie der »stolze Glaubenslose«.

Die rettende Macht einer göttlichen Liebe schließt Canetti, wenn ich ihn recht verstehe, nicht grundsätzlich aus. Sein Bühnenstück ›Die Befristeten‹ jedenfalls sieht die menschliche Freundschaft und Liebe in einer existenziellen Tiefe, die eine transzendente Deutung, eine jenseitige Erfüllung der irdischen Liebe in der Unendlichkeit Gottes, zumindest als möglich erscheinen lässt.

Von vielen anderen zeitgenössischen Autoren hingegen wird das Wirken einer göttlichen Liebe, und somit ein postmortales Weiterleben der individuellen Person, ausdrücklich negiert. Der literarisch – unter anderem – von James Joyce und Jorge Luis Borges beeinflusste italienische Schriftsteller und Philosoph Umberto Eco (1932–2016) zum Beispiel postuliert in seinem – 1986 verfilmten – Erfolgsroman ›Der Name der Rose‹ (1980) lediglich eine Fortexistenz des kreativen Menschen in seinen Werken, etwa in seinen Büchern.34 Ein Weiterleben der Personen, eine Vollendung der Welt bzw. des einzelnen Menschen, wird es, wie das Finale des Romans enthüllt, nicht geben: »Ich werde« – so der traurige Protagonist, der Franziskanermönch Adson von Melk – »versinken in der göttlichen Finsternis (…), in diesem Abgrund wird auch mein Geist sich verlieren und nichts mehr wissen von Gott noch von sich selbst (…).«35

Demgegenüber bekräftigt Elias Canetti: Die zwischenmenschliche Liebe wird sich mit einem Versinken des einmalig geliebten Du ins Leere, ins Nichts, ins absolute Dunkel, nie abfinden. An der Hoffnung, dass der Tod keine endgültige Grenze ist, wird die Liebe stets festhalten.

Dieter Wellershoff

Die Hauptpersonen in Ecos berühmtem, im kirchlich-klösterlichen Milieu des Mittelalters spielenden Kriminalroman ›Der Name der Rose‹ sind Mönche. Insofern ist diese Erzählung zugleich ein Priesterroman – wenn auch ohne transzendente Hoffnungsperspektive.

Anfang der 1960er Jahre, noch vor Beginn meines Theologiestudiums, haben mich drei Priesterromane sehr bewegt: ›Das Tagebuch eines Landpfarrers‹ (1936) von Georges Bernanos, ›Die Kraft und die Herrlichkeit‹ (1940) von Graham Greene und ›Keiner kommt zu kurz‹ (1950) von Bruce Marshall. Den in diesen Büchern geschilderten Seelsorgern ist eines gemeinsam: Sie sind keine Machtmenschen, keine Pfarrherren. Ihnen fehlt jeder Stolz, jede Eitelkeit. Sie wissen nur zu gut um ihre persönlichen Schwächen, ja um ihre existenziellen Abgründe. Und eben dies macht sie sympathisch.

Im Prinzip dasselbe gilt für den Protagonisten – einen evangelischen Pastor – in Dieter Wellershoffs Spätwerksroman ›Der Himmel ist kein Ort‹ (2009). Der in Neuss geborene, mit vielen Literaturpreisen – darunter dem Heinrich-Böll- und dem Friedrich-Hölderlin-Preis – geehrte Schriftsteller und Literaturtheoretiker Wellershoff (1925–2018), der als Soldat im Zweiten Weltkrieg noch das grausame Sterben seiner Kameraden miterlebt hatte,1 schrieb wichtige Essays über Literatur, unter anderem über Albert Camus, Gottfried Benn und Samuel Beckett.

Besonders erfolgreich wurden sein Altersroman ›Der Liebeswunsch‹ (2000) sowie sein Erzählband ›Das normale Leben‹ (2005/07). Sein letzter Roman, ›Der Himmel ist kein Ort‹, geriet zu einer erzählenden Auseinandersetzung mit dem Gottesgedanken.

Die radikale Fraglichkeit des Seins

Generell ist Wellershoffs Thema die Sinnfrage, die Endlichkeit des Daseins, die Bedrohtheit, die Brüchigkeit der menschlichen Existenz, aber auch die vertiefte Wahrnehmung des Lebens und zugleich die radikale Fraglichkeit aller scheinbaren Gewissheiten. Der Roman ›Der Himmel ist kein Ort‹ indessen berührt nicht nur – hin und wieder – religiöse Themen. Vielmehr weist der Text insgesamt eine theologische Dimension auf, die Zündstoff zum Nachdenken gibt.

Über die Hauptfigur Ralf Henrichsen, einen noch jungen, alleinstehenden Landpfarrer, dessen Anliegen es ist, »in der heutigen Welt christliche Glaubensinhalte zu vermitteln«,2 bemerkt der Autor:

Er (…) musste eine Festigkeit zeigen, die er nicht hatte. Sein eigener Ort war im Unbestimmten, nicht dort, wo er zu sein vorgab, während er hier stand und wie ein geübter Schauspieler im Tonfall innerer Gewissheit die Glaubensgeheimnisse von Tod und Auferstehung und ewigem Leben vortrug, die er immer in eine unantastbare Ferne rücken musste, um sie nicht anzuzweifeln. Für viele ältere Kollegen war das offensichtlich kein Problem. Sie lebten mit den Glaubenssätzen wie mit alten Nachbarn, die man jeden Tag grüßte und hinnahm mit allen ihren Seltsamkeiten.3

Insgesamt ist Wellershoffs Roman eine vieldeutige, ziemlich düstere, aber theologisch bedenkenswerte und überdies sehr spannend erzählte Geschichte. Pastor Henrichsen ist ein Fragender, ein Suchender, der um seinen Glauben kämpft. Er hat ernste Schwierigkeiten – nicht nur mit dem Glauben, auch mit der Umwelt und mit sich selbst.

Henrichsen denkt nach über die zentralen Inhalte des christlichen Glaubens. Beim Gebet hatte er sich als Kind noch vorgestellt, »dass jemand ihm zuhörte, der unsichtbar blieb, aber trotzdem bei ihm war, bereit, ihm zu helfen (…). Wenn er jetzt betete, musste er vermeiden allzu genau an Gott zu denken, denn er konnte ihn sich dann nur als eine schwindelerregende Ferne vorstellen, die seine Worte stocken ließ.«4

Als engagierter Pastor spürt er die wachsende Kluft zwischen dem Alltag der Menschen und dem christlichen Glauben, auch zwischen Volksfrömmigkeit und reflektierender Theologie. Ihn selbst beunruhigt zunehmend die Frage, ob man Gott im Gebet als ›Person‹ ansprechen kann: als ›Vater‹ (oder auch ›Mutter‹, darauf kommt es hier nicht an).

Im theologischen Seminar müsste Henrichsen gelernt haben, dass eine personale Gottesrede möglich ist, in intellektueller Redlichkeit.5 Doch angesichts der unermesslichen Größe des Weltalls zweifelt er an der Existenz eines persönlichen Gottes, »der den Urknall gezündet hat, um schließlich uns entstehen zu lassen, unsere Predigten und Gesangbücher und Presbyteriumssitzungen«.6

Das Buch ›Der Himmel ist kein Ort‹ beginnt wie ein Kriminalfall. Ralf Henrichsen wird mitten in der Nacht zu einem Unfallort gerufen. Ein Auto ist in einen See gestürzt. Der Fahrer, der Realschullehrer Karbe, hat sich gerettet, seine Frau aber ist ertrunken und sein kleiner Sohn kann nur mit einem schweren, irreversiblen Gehirnschaden geborgen werden. Karbe steht unter Schock, er ist nicht vernehmbar. Die ganze Sache ist mysteriös, extrem dubios, es gibt zu viele Widersprüche. Handelt es sich wirklich um einen Unfall? Oder steckt ein Verbrechen dahinter?

Ob Karbe, der sich am Ende das Leben nimmt, der Mörder seiner Ehefrau ist, bleibt auch im Finale des Romans völlig ungeklärt. Gleichwohl sind – so jedenfalls sieht es aus – Karbes Gesamtverhalten, seine finstere Verschlossenheit und zuletzt sein Suizid »die böse Folgerichtigkeit eines verfehlten Lebens und zerstörerischer Gedanken. Theologisch gesprochen war das ein Zustand von Unerlöstheit, eine Fesselung an eine nicht mehr zu tilgende Schuld.«7

Henrichsen besucht Karbes Sohn auf der Intensivstation. Beim Anblick des im Wachkoma liegenden, anscheinend nur noch vegetativ lebendigen Jungen verstärken sich seine Zweifel an der Existenz einer »unsterblichen Seele« bzw. am Heilsversprechen einer »Auferstehung der Toten«. Mehr und mehr gerät das kriminalistische Rätsel zum Psychodrama des Pastors und zur philosophisch-theologischen Reflexion über grundlegende Existenzfragen.

Die »Wörtlichkeitsfalle«

Bei einem Gespräch mit Henrichsen erklärt Karbe, er sei »nicht gläubig«. Der Pfarrer erwidert: »Mit Glauben und Unglauben ist das nicht so einfach. Ich meine jetzt nicht irgendeine Buchstabengläubigkeit. Das ist sowieso Unsinn. Der Glaube ist kein sicherer Besitz, sondern etwas Seltenes: die Gnade einer umfassenden Antwort. Aber Gott gibt die Antworten nicht. Er stellt nur die Fragen. Beantworten müssen wir sie selbst.«8

Doch Henrichsen tut sich schwer mit letzten, verbindlichen Antworten. Er ist ein sehr gewissenhafter, an der Botschaft Jesu orientierter, in seinem christlichen Glauben allerdings angefochtener Seelsorger. Was ihn an Jesus von Nazareth fasziniert, ist nicht das christologische Dogma, sondern das jesuanische »Konzept der Nächstenliebe, vielleicht gerade deshalb, weil es weltfern ist«.9

Was nun den undurchsichtigen, als Mörder verdächtigten Schullehrer Karbe betrifft, hält Henrichsen – im Blick auf Jesu Wort – an der Unschuldsvermutung fest und erzürnt dadurch viele Gemeindemitglieder. Beim Sonntagsgottesdienst predigt er über das Jesuswort in Mt 7,1: »Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.«10 Daraufhin stehen mehrere Leute auf und verlassen die Kirche.

Henrichsens Problem sind aber nicht die Kirchgänger. Sein eigentliches Problem läuft auf die Theodizeefrage hinaus. Grundsätzlich quält sich der – ohnehin zum Grübeln neigende – Pastor mit der Frage, warum Gott nicht eingreift ins Weltgeschehen. Kann er es nicht? Oder will er mit der Welt nichts zu tun haben? Ist sie ihm gleichgültig? So wird das in religiösen Kreisen gängige »Bewusstsein, von Gott geliebt zu werden« für Henrichsen »immer ungreifbarer«.11

Gibt es für das gigantische Leid einen jenseitigen Ausgleich? Henrichsen weiß es nicht, er ist unsicher. Er fühlt sich als Repräsentant »einer der größten menschlichen Phantasieleistungen: der Vorstellung einer Auferstehung der Toten. Obwohl er selbst nicht mehr daran glaubte, wie er sich allmählich eingestanden hatte, war es ihm gelungen, den Trost dieser Phantasie nicht infrage zu stellen und zu ihrem Schutz jeden Versuch einer wörtlichen Zitierung zu umgehen.«12

Einmal, beim Lesen des Glaubensbekenntnisses während eines Gottesdienstes, verschlägt es dem Pastor die Stimme in würgender Atemnot. Später gesteht er Dr. Pauly, dem freundlich cleveren Superintendenten im Landeskirchenamt und Referenten für pastorale Theologie:

Es war der totale Schrecken. Ich musste plötzlich denken, alles, was da steht und was ich immer gesagt habe und jetzt wieder sagen soll, glaube ich nicht. Weder die Erschaffung von Himmel und Erde durch Gott noch seine eigene Existenz. Und auch nicht die Auferstehung Christi, seine Himmelfahrt und seine Wiederkehr beim Jüngsten Gericht. Nichts war mehr da. Ich bin ins Bodenlose abgestürzt.13

Dr. Pauly, ein pastoraler Pragmatiker und theologischer Harmonisierer, zeigt viel Verständnis für Henrichsen und gibt zu bedenken, dass die formelhafte kirchliche Lehre ein »work in progress« sei und ständig überprüft werden müsse angesichts neuer Erkenntnisse. Pauly meint, dass viele Christen »in die Wörtlichkeitsfalle tappen. Gott wird zunächst einmal aufgefasst, wie er im Glaubensbekenntnis definiert ist, als allmächtiger Weltenschöpfer und Weltenherrscher. Und wenn dieses Bild fragwürdig wird, genauso wie umgekehrt das rührende Bild einer Vatergestalt, die sich ständig alle menschlichen Bittgebete anhört, dann wird Gott insgesamt in Zweifel gezogen.«14

Keine Gewissheiten

Henrichsen kann Paulys Ansichten durchaus zustimmen. Er weiß ja auch selbst, dass etwa die »Auferstehung« nicht wörtlich, nicht naturalistisch zu verstehen ist im Sinne einer Wiederbelebung eines Leichnams. Und er weiß selbstverständlich, dass der Himmel kein geographischer Ort ist, sondern ein bleibender Zustand des erlösten Daseins, der Glückseligkeit im Angesicht Gottes.

Schließlich befolgt der Pastor den Rat Dr. Paulys, für ein paar Wochen Urlaub zu nehmen und zuvor noch eine Akademietagung zu besuchen: eine interdisziplinäre Veranstaltung mit Theologen, Philosophen, Soziologen, Naturwissenschaftlern und Psychoanalytikern. Doch auf Henrichsen wirken die Vorträge und die Debatten chaotisch, konfus und verunsichernd. Denn alle diese intellektuellen Meinungsführer haben auf ihre Art, von ihrer Perspektive her, Recht.

Ein Universalgelehrter namens Sovic verkündet mit selbstgefällig überlegener Geste, Gott sei »eine von Menschen geschaffene, Halt und Orientierung stiftende Fiktion«. Der Satz der biblischen Schöpfungsgeschichte »Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde« müsse umgedreht werden in den Satz »Der Mensch schuf Gott sich selbst zum Bilde«.15 Sovic wiederholt somit die religionskritischen Thesen des 19. Jahrhunderts, wie sie schon von Ludwig Feuerbach und später von agnostischen Evolutionstheoretikern vertreten wurden. Der Widerspruch eines Akademieteilnehmers kommt prompt: Aus den biologischen Fakten der Evolutionslehre folge keineswegs, dass der Mensch