Die 15. Täuschung - James Patterson - E-Book

Die 15. Täuschung E-Book

James Patterson

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Beschreibung

Detective Lindsay Boxer jagt einen flüchtigen Verdächtigen – ihren Ehemann!

Detective Lindsay Boxer ist privat so glücklich wie nie. Doch nachdem in einem Luxushotel in San Francisco mehrere Menschen brutal ermordet werden, gerät ihr Leben aus der Bahn. Laut Überwachungsvideo hielt sich eine attraktive blonde Frau am Tatort auf. Sie scheint Verbindungen zur CIA zu haben und ist spurlos verschwunden. Dann stürzt ein Flugzeugunglück die Stadt ins Chaos, und plötzlich ist auch Lindsays Ehemann Joe nicht mehr auffindbar. Je tiefer Lindsay forscht, desto mehr wächst in ihr der Verdacht, dass Joe und die blonde Fremde sich kennen. Welche dunklen Geheimnisse verbirgt ihr Ehemann womöglich vor ihr?

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Buch

Detective Lindsay Boxer ist privat so glücklich wie nie. Doch nachdem in einem Luxushotel in San Francisco mehrere Menschen brutal ermordet werden, gerät ihr Leben aus der Bahn. Laut Überwachungsvideo hielt sich eine attraktive blonde Frau am Tatort auf. Sie scheint Verbindungen zur CIA zu haben und ist spurlos verschwunden. Dann stürzt ein Flugzeugunglück die Stadt ins Chaos, und plötzlich ist auch Lindsays Ehemann Joe nicht mehr auffindbar. Je tiefer Lindsay forscht, desto mehr wächst in ihr der Verdacht, dass Joe und die blonde Fremde sich kennen. Welche dunklen Geheimnisse verbirgt ihr Ehemann womöglich vor ihr?

Autor

James Patterson, geboren 1947, war Kreativdirektor bei einer großen amerikanischen Werbeagentur. Seine Thriller um den Kriminalpsychologen Alex Cross machten ihn zu einem der erfolgreichsten Bestsellerautoren der Welt. Auch die Romane seiner packenden Thrillerserie um Detective Lindsay Boxer und den »Women’s Murder Club« erreichen regelmäßig die Spitzenplätze der internationalen Bestsellerlisten. James Patterson lebt mit seiner Familie in Palm Beach und Westchester, N. Y.

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James Patterson

mit Maxine Paetro

Die 15. Täuschung

Thriller

Deutsch von Leo Strohm

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »15th Affair« bei Little, Brown and Company, Hachette Book Group, New York.Die Figuren und Ereignisse in diesem Buch sind fiktional. Ähnlichkeiten zu realen Personen, lebend oder verstorben, wären rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2016 by James PattersonCopyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Gerhard Seidl, text in formUmschlaggestaltung: www.buerosued.deUmschlagmotiv: Daniel Grizelj/Stone/Getty ImagesAF · Herstellung: samISBN 978-3-641-23996-1V002www.limes-verlag.de

Für die Freunde des Clubs der Ermittlerinnen

ERSTER TEIL

1 Alison Muller war keine Schönheit im klassischen Sinn, aber mit ihren wehenden blonden Haaren und den langen Stirnfransen, die bis auf den Rahmen ihrer Panoramasonnenbrille fielen, auf jeden Fall eine attraktive Erscheinung. Der Saum ihres schwarzen Ledermantels reichte bis knapp über die Knie ihrer hautengen Jeans, und ihre selbstbewussten Schritte wurden vom klackernden Stakkato hochhackiger Stiefel begleitet.

Als sie durch das im Nachmittagslicht golden schimmernde Foyer des Hotels Four Seasons in San Francisco ging, musterte sie aufmerksam alle Männer, Frauen und Kinder, die ihren Weg kreuzten, vor dem Empfangstresen anstanden oder es sich in den Sesseln vor dem offenen Kamin gemütlich gemacht hatten. Sie registrierte und unterschied die Touristen von den Geschäftsleuten und ließ die Blicke all der Männer, die einfach nicht anders konnten, als sie anzustarren, an sich abprallen, während sie mit ihrem Mann und ihrer gemeinsamen Tochter Mitzi telefonierte.

»Ich hab’s ja gar nicht vergessen, Mitz«, sagte Ali gerade zu dem fünf Jahre alten Mädchen. »Ich hab’s nur für einen Moment aus dem Blick verloren.«

»Du hast es wohl vergessen«, beharrte ihre Tochter.

»Nicht ganz. Ich habe gedacht, dein großer Tag wäre erst morgen.«

»Alle haben gefragt, wo du bist«, beschwerte sich ihre Tochter.

»Ich mach’s wieder gut, Schätzchen«, erwiderte Ali.

»Wann denn? Und wie?«

Alis Gedanken eilten zu dem Mann, der in einem Zimmer in der vierzehnten Etage auf sie wartete.

»Gib mir mal Daddy«, sagte sie.

Nachdem sie eine ziemlich atemberaubende Ausstellung mit moderner Kunst passiert hatte, stand sie vor den Fahrstühlen am nordwestlichen Ende des Foyers. Direkt vor ihr warteten bereits ein Mann und eine Frau – ein französisches Paar – darauf, dass die Fahrstuhltüren sich öffneten. Sie besprachen den Verlauf des restlichen Tages und verständigten sich darauf, dass vor dem Abendessen noch genügend Zeit war, um zu duschen und sich umzuziehen.

Ali ließ den Daumen über das Display ihres Smartphones huschen, holte ihre E-Mails ab, überflog die Schlagzeilen der Investors Business Daily und die SMS von Michael, der wissen wollte, ob sie sich verlaufen hatte. Dann hörte sie die Stimme ihres Ehemannes am anderen Ende der Leitung.

»Ich habe alles versucht«, sagte er, »aber sie ist untröstlich.«

»Du wirst sie schon beruhigen, Liebling. Ganz bestimmt. Ich bestelle ihr irgendwas, sobald ich wieder zu Hause bin.«

»Und wann wird das sein?«, erkundigte sich ihr Mann.

Großer Gott. Diese Fragen. Diese niemals endenden Fragen.

»Nach dem Essen«, sagte Ali. »Tut mir leid, dass ich dich so abwürgen muss, aber es ist wirklich sehr wichtig.«

Die Fahrstuhltüren glitten auf.

»Ich muss auflegen.«

Ihr Mann sagte: »Verabschiede dich doch wenigstens noch von Mitzi.«

Scheiße.

»Einen Moment. Ich glaube, ich habe gleich keinen Empfang mehr.«

Ali betrat den Fahrstuhl und drückte sich mit dem Rücken in eine Ecke. Ihre Jacke öffnete sich ein wenig, sodass der Griff der Pistole in ihrem Hosenbund zu erkennen war. Die Türen schlossen sich, und der Fahrstuhl schwebte lautlos nach oben.

Ali stieg im vierzehnten Stockwerk aus und telefonierte mit ihrer Tochter, während sie den Hotelflur mit seinem flauschigen Teppich entlangging.

»Miss Mitzi?«

Dann stand sie vor Zimmer 1420 und klopfte an. Die Tür wurde geöffnet.

Ali sagte noch: »Alles Gute zum Geburtstag. Bis bald. Küsschen, ciao ciao.«

Danach beendete sie das Gespräch, betrat das Zimmer, drückte mit dem Absatz die Tür ins Schloss und warf sich in Michaels Arme.

»Du bist spät dran«, sagte er.

2 Michael Chan nahm Ali die Brille ab und hielt den Atem an. Gegen diese Frau war er vollkommen machtlos … dabei hatte er es wirklich versucht. Sie lächelte ihn an, und er nahm ihr Gesicht in die Hände und küsste sie auf den lächelnden Mund.

Der erste Kuss war nur der Auftakt; ihm folgten viele weitere … intensive, vielsagende, bedeutungsschwangere Küsse. Michael hob Ali hoch, und sie schlang ihm die Beine um die Hüften. Dann trug er sie ins Innere der luxuriösen, in Blau- und Bronzetönen gehaltenen Suite, die von einem Bilderbuchsonnenuntergang über San Francisco in sanftes Licht getaucht wurde.

Chan hatte keine Augen für den Ausblick. Ali duftete nach Orchideen oder exotischem Moschus, und ihre Zunge lag an seinem Ohr.

»Wahnsinn«, stieß er hervor. »Du bist der absolute Wahnsinn.«

Sie keuchte, während er sie behutsam auf das Bett sinken ließ.

»Warte«, sagte sie.

»Natürlich. Ich bin ein geduldiger Mensch«, erwiderte er. Das Blut pulsierte durch seine Adern, und er nahm nichts wahr außer ihr. Er stützte die Hände auf die Hüften und sah sie an. Was würde sie als Nächstes machen?

Sie sah ihn an, ließ den Blick über seinen Körper und sein markantes Gesicht gleiten, als wollte sie sich jede Einzelheit einprägen. Sie trafen sich in unregelmäßigen Abständen, aber wenn, dann taten sie so, als seien sie einander fremd. Es war ein Spiel.

»Sag mir wenigstens, wie du heißt«, bat sie.

»Du zuerst.«

Er zog ihr die Stiefel aus und warf sie beiseite. Sie setzte sich auf, streifte den Mantel ab und ließ ihn über die Bettkante fallen. Danach nahm er die Pistole aus ihrem Hosenbund, blickte durch das Visier, roch an der Mündung und legte sie schließlich auf den Nachttisch.

»Interessant«, sagte er. »Handgefertigt.«

Er setzte sich neben sie auf das Bett und befahl ihr, sich hinzulegen. Anschließend legte er sich neben sie und streifte ihr die Fransen aus der Stirn.

»Wie heißt du?«

Sie ließ ihre Hand nach unten gleiten und fuhr damit über den Schritt seiner Hose. Er packte sie am Handgelenk.

Sie sagte: »Aa-mmmm, ich heiße Renata.«

»Giovanni«, erwiderte er. »Prinz von Gorgonzola.«

Sie lachte. Es war ein hinreißendes Lachen. »Endlich lerne ich ihn kennen, den Käseprinzen.«

Michael verzog keine Miene. »Sehr richtig. Und Prinzen lässt man nicht warten.«

Er streichelte ihr die Wange und schob die Finger in den Ausschnitt ihrer Bluse.

»Sind wir uns vielleicht schon einmal begegnet?«, fragte sie.

Er befreite ihre Perlenknöpfe aus den Schlaufen.

»Das glaube ich nicht«, sagte er. »Daran könnte ich mich erinnern.«

Er ließ seine Hände über ihre Brüste wandern, packte ihre Haare im Nacken, wickelte sie um seine linke Hand und zog ihren Kopf nach hinten.

Sie stöhnte. »Ihr habt mich mit drei Goldmünzen bezahlt. Ich habe Euch in Eurem Zimmer aufgesucht, in einem Hotel …« Sie seufzte. »… mit Blick auf den Trevi-Brunnen.«

»Ich war noch nie in Rom«, erwiderte er.

Er drehte den Kopf so, dass sie ihn nicht anschauen konnte. Dann ließ er die Hand über ihre Flanke gleiten, zu ihrer Hüfte, auf ihren Rücken. Er genoss ihr leises Stöhnen, während sie versuchte, sich aus seinem Griff zu winden.

»Hast du es deinem Mann erzählt?«

»Wieso fragst du das?«, erwiderte sie.

»Weil ich will, dass er dich rausschmeißt.«

Er öffnete den Knopf an ihrer Jeans, zog den Reißverschluss nach unten, stand auf, zog ihr die Hose aus und entledigte sich anschließend all seiner Kleider.

Das leise Geräusch an der Tür nahm er gar nicht wahr.

Das sah ihm nicht ähnlich. Eigentlich besaß er eine in jeder Hinsicht überdurchschnittliche Wahrnehmung, aber im Moment waren seine Sinne nur auf eines gerichtet. Ali blickte zu ihm hoch, und in ihren Augen lag … ja, was hatte dieser Blick zu bedeuten?

Sie sagte: »Das klingt, als wäre da jemand an der Tür.«

Jemand rief: »Zimmerservice.«

Chan sagte: »Ich habe nicht abgeschlossen. Du?«

»Bestimmt nicht«, erwiderte Ali.

Chan rief: »Kommen Sie später wieder«, aber die Tür wurde bereits aufgestoßen, und ein Rollwagen polterte über die Schwelle. Hastig hob er seine Hose auf, benutzte sie als Lendenschurz und ging in Richtung Flur.

Er rief: »Nein! Nicht!«

Drei schallgedämpfte Schüsse fielen. Ob Michael Chan seinen Mörder gekannt hatte, spielte jetzt keine Rolle mehr.

Michael Chan war tot.

3 Wir hatten eine harte Woche hinter uns, und dabei war erst Montag.

Mein Partner, Rich Conklin, und ich, hatten gerade vor Gericht gegen Edward »Ted« Swanson ausgesagt, einen Polizeibeamten, der über einen längeren Zeitraum hinweg insgesamt achtzehn Menschen getötet hatte, bevor ihn eine wilde Schießerei mit den Männern eines erbarmungslosen Drogenbarons namens Kingfisher aus dem Spiel genommen hatte.

Swanson hatte im gesamten San Francisco Police Department als vorbildlicher Polizist gegolten. Wir hatten ihn gerngehabt. Hatten ihn respektiert. Nachdem mein Partner und ich ihn schließlich als Psychopathen mit Dienstmarke entlarvt hatten, waren wir erschüttert und zutiefst entsetzt gewesen.

Im Verlauf seines mörderischen Blutrauschs hatte er Kingfisher Drogen und Geld im Wert von rund fünf Millionen Dollar gestohlen, und der Drogenbaron, der entlang der gesamten Westküste gefürchtet wurde, war nicht bereit gewesen, diesen Verlust einfach abzuschreiben.

Nach der Schießerei, als Swanson noch im Koma auf der Intensivstation gelegen hatte, war Kingfisher auf die Idee gekommen, dass er seine Ansprüche am besten dadurch geltend machen konnte, indem er seine Drohungen auf die Leiterin der Ermittlungen konzentrierte.

Also auf mich.

Seine Anrufe waren irrational, ließen sich nicht zurückverfolgen und jagten mir eine wahnsinnige Angst ein.

Doch dann, ungefähr zu der Zeit, als Swanson aus dem Krankenhaus entlassen, des vielfachen Mordes und des Drogenschmuggels angeklagt worden war, hatten die Anrufe plötzlich aufgehört. Und eine Woche später hatten die mexikanischen Behörden in einem hastig geschaufelten Grab in Baja California einen Leichnam entdeckt, mutmaßlich den von Kingfisher. War es jetzt wirklich vorbei?

Manchmal, wenn man etwas Schreckliches erlebt hat, wird einem erst hinterher bewusst, wie schlimm das Ganze hätte enden können. Es ist wie eine Art Nachbeben. Kingfishers Drohungen hatten sich tief in mein Unterbewusstsein eingegraben, aber jetzt, wo sie keine reale Gefahr mehr darstellten, löste sich eine tief sitzende Verspannung in meinem Inneren.

Allerdings funktioniert das Ganze auch umgekehrt. So kann es passieren, dass Dinge, die einem zunächst harmlos erscheinen, einen in die tiefste Verzweiflung stürzen.

So ging es mir mit Swanson.

Ein korrupter Polizeibeamter bedeutet eine allumfassende Erschütterung: Freundschaften, das Vertrauen der Öffentlichkeit und der Glaube an die eigene Menschenkenntnis, all das wird dadurch infrage gestellt. Ich fand, dass ich heute bei der Aussage gegen Swanson meine Sache gut gemacht hatte. Zumindest hoffte ich das. Richie jedenfalls hatte eine ganz ausgezeichnete Figur gemacht. Jetzt lag die Entscheidung über Swansons Schuld oder Unschuld ganz in den Händen der Geschworenen.

Mein Partner sagte: »So, das hätten wir geschafft, Linds. Von jetzt an heißt es wieder: nach vorn schauen.«

Es war kurz nach 18.00 Uhr, als wir die Hall of Justice verließen. Die Hall ist ein kantiges Bürogebäude, in dem die Justizbehörde, der Strafgerichtshof, zwei Gefängnisse sowie die Wache Süd des San Francisco Police Department untergebracht sind. Da bekam ich eine SMS von meinem Ehemann: Er würde spät nach Hause kommen, und im Kühlschrank stand noch ein Teller mit gegrilltem Hühnchen.

Verdammt.

Ich war zunächst enttäuscht, weil ich Joe nicht zu Gesicht bekommen würde, aber als ich aus dem grauen Granitgebäude ins Freie trat, mitten hinein in den strahlenden Sommerabend, entwarf ich einen neuen Plan. Dann würde es eben statt Hühnchen für drei ein stilles Abendessen mit meiner kleinen Tochter geben, und anschließend, in höchstens drei Stunden, einen ausgedehnten Ausflug ins Land der Träume.

Ich startete meinen alten Ford Explorer und hatte den Berufsverkehr auf der Bryant Street gerade hinter mir gelassen, da klingelte mein Handy. Mein Chef wollte mich sprechen.

Ich wusste, dass ich es lassen sollte, aber ich nahm trotzdem ab.

»Boxer«, sagte Brady. »Im Four Seasons ist gerade was passiert. Ich brauche dich dort.«

Der einzige Ort, wo ich jetzt gebraucht werden wollte, war bei meinem kleinen Mädchen, das in einem sauberen Strampelanzug auf meinem Schoß saß, während ich ein Glas Chardonnay in der Hand hielt. Aber die Mordkommission war unterbesetzt, mein Partner und ich hatten gerade eine Ermittlung abgeschlossen und darum etwas Luft, und Brady war ein guter Vorgesetzter.

»Hast du Conklin schon erreicht?«, fragte ich.

»Er ist schon unterwegs«, erwiderte Brady.

Ich wendete also auf dem Geary Boulevard. Zwanzig Minuten später stand ich neben meinem Partner in der prachtvollen Eingangshalle des Hotels. Conklin war genauso erschöpft wie ich, aber das stand ihm gut.

»Bezahlte Überstunden, Lindsay.«

»Yippie«, erwiderte ich mit angemessen tonloser Stimme. »Was hat Brady dir verraten?«

»Wir sollen klug, gründlich und schnell vorgehen.«

»Was wäre die Alternative? Unklug, unaufmerksam und träge?«

Richie lachte. »Er hat gesagt, dass das Four Seasons so schnell wie möglich wieder nur ein Hotel sein möchte.«

Wir fuhren hinauf in den vierzehnten Stock und betraten den abgesperrten Flur. Überall standen die Kollegen der verschiedenen Strafverfolgungsbehörden herum und warteten auf uns.

Conklin und ich duckten uns unter dem Absperrband hindurch und nickten den Streifenbeamten, die wir kannten, zur Begrüßung zu. Schließlich standen wir vor dem offenen Zimmer mit der Nummer 1420.

Der Beamte an der Tür trug unsere Namen in das Tatortprotokoll ein, und ich fragte ihn: »Von wem kam der Notruf?«

»Vom Leiter des Hotel-Sicherheitsdienstes. Er hat von anderen Hotelgästen die Meldung bekommen, dass hier Schüsse gefallen seien.«

»Sieht es sehr übel aus?«

»Ziemlich«, erwiderte er.

»Na, dann wollen wir mal.«

4 Der erste Streifenbeamte trat beiseite, und wir sahen ungefähr fünf Meter von der Eingangstür entfernt einen nackten, männlichen Toten mit dem Gesicht nach oben auf dem Boden liegen. Er hatte eine Kugel in die Stirn bekommen, eine zweite in das rechte Auge und zur Sicherheit noch eine in die Brust.

Ich sagte zu Conklin: »Was meinst du? Mitte dreißig? Asiat?«

Conklin nickte. »Das ist eine teure Armbanduhr. Und er trägt einen Ehering. Ich schätze mal, das war kein Raubüberfall.«

Da rief jemand meinen Namen.

Gleichzeitig kam Charlie Clapper, der Direktor der Kriminaltechnischen Abteilung des San Francisco Police Department, hinter einer Ecke hervor. »Boxer«, sagte er. »Conklin. Herzlich willkommen im Hotel Four Seasons. Was können wir tun, um Ihren Aufenthalt noch angenehmer zu gestalten?«

»Du könntest mir sagen, dass ihr das Opfer identifiziert und den Täter festgenommen habt – und zwar, nur falls ich das noch nicht erwähnt haben sollte, mit einem umfassenden Geständnis.«

Clapper war früher einmal Detective bei der Mordkommission gewesen. Er ist ein absoluter Profi, der genau weiß, was er macht, und niemandem etwas beweisen muss. Er lachte. »Wunder gibt es immer wieder … aber nicht in diesem Fall. Nicht heute.«

Ich spähte an Clapper vorbei. Die Kriminaltechniker hatten Scheinwerfer aufgebaut und untersuchten die kostspielig möblierte Hotelsuite mit ihren schalldichten Fenstern und dem herrlichen, weiten Blick über die Stadt. Rund um das Opfer gab es zwar jede Menge Blut, aber alles andere machte einen makellos sauberen Eindruck.

Ich betrachtete den silbrig-blauen Teppichboden und die Polstermöbel, das kaum zerknitterte Bett mit der immer noch festgezurrten Bettdecke. Keine Weinflaschen, keine Überreste einer Mahlzeit, und der Fernseher war auch ausgeschaltet.

Es sah ganz so aus, als sei Zimmer 1420 vor dem blutigen Ereignis kaum benutzt worden.

Conklin bat Clapper um eine kurze Zusammenfassung seiner bisherigen Erkenntnisse.

Clapper sagte: »Also, zunächst mal sieht es so aus, als hätte unser Opfer weibliche Begleitung gehabt. Wir haben auf einem Kissenbezug frische Lippenstiftspuren und einige wenige blonde Haare entdeckt. Aber keine Brieftasche, keinen Koffer, keine Papiere, keine Kleider, keine Schuhe.«

»Das perfekte Date«, meinte Conklin.

Clapper fuhr fort: »Der ehrenwerte Herr hier hat das Zimmer unter dem Namen Gregory Wang gemietet. Er hat eine Kreditkarte benutzt, die auf diesen Namen ausgestellt ist, und die Zahlung ist auch bestätigt worden, allerdings gibt es weder unter der angegebenen Adresse noch sonst irgendwo einen Gregory Wang. – Interessant ist außerdem, dass das ganze Zimmer gründlich gewischt worden ist. Wir haben keinerlei Fingerabdrücke gefunden, weder alte noch frische. Die Schlüsselkarte, mit der die Tür geöffnet wurde, ist auf eine gewisse Maria Silva registriert, ein Zimmermädchen. Miss Silva hat dienstfrei und geht nichts ans Telefon. Ein Streifenwagen ist bereits unterwegs zu ihrer Wohnung.«

»Und was ist mit seinen Fingerabdrücken?«, wollte Conklin wissen und deutete auf das Opfer.

»Die haben wir schon ins System eingespeist, aber ohne Ergebnis. Er ist nirgendwo registriert, war nicht beim Militär, nicht Grundschullehrer und ist noch nie festgenommen worden. Und dann wäre da noch was«, sagte Clapper. »Gleich nebenan gibt es nämlich einen weiteren Tatort. Das kann kein Zufall sein, auch wenn ich im Moment noch keine Verbindung sehe.«

5 Dr. Claire Washburn, Leiterin der Gerichtsmedizin und meine beste Freundin, erwartete uns im Zimmer neben der Suite mit dem Mordopfer. Sie streckte mir ihre blutverschmierten Handschuhe entgegen, als Erklärung, weshalb sie mich nicht mit einer Umarmung begrüßte.

»Seht euch um, aber beeilt euch«, sagte sie. »Ich will endlich die Leichen wegschaffen.«

Leichen? Plural?

Das Zimmer war kleiner als die Suite, sah ansonsten aber ganz genauso aus. Das gleiche Farbkonzept, das gleiche fein säuberlich gemachte Bett und der gleiche Blick über die Stadt.

Aber die doppelte Anzahl Opfer.

Zwei Tote lagen auf dem blassblauen Teppichboden: ein junger Schwarzer und eine junge Weiße. Beide waren wohl Mitte zwanzig gewesen.

Ihre Kleidung ließ sich am besten als gepflegter Freizeit-Look beschreiben. Die junge Frau trug eine pastellfarbene, karierte Baumwollbluse und eine Jeans. Ihr verblüfftes Gesicht wurde von einer dichten roten Mähne umgeben. Der junge Mann trug eine schwarze Cordhose, ein T-Shirt und einen blauen Pullover mit V-Ausschnitt, dazu Laufschuhe.

Für mich sah es so aus, als hätten das männliche Opfer am Schreibtisch und die Frau auf einem Sessel neben dem Couchtisch gesessen. Ihre jetzigen Positionen legten den Schluss nahe, dass sie, als sie einen Eindringling gehört hatten, aufgesprungen und sofort niedergeschossen worden waren. Die Schüsse hatten entweder ihre Oberkörper oder ihre Sitzmöbel getroffen.

Das Blut an den Wänden und auf den Möbeln war nicht zu übersehen, aber nirgendwo lag eine ausgestoßene Patronenhülse.

»Wie lange ist das her?«, wollte ich von Claire wissen.

»Ungefähr eine Stunde.«

»Irgendwelche Papiere?«

»Bis auf die beiden Opfer und ihre Kleider gibt es absolut keine Hinweise.«

Clapper schaltete sich ein: »Ich habe die Fingerabdrücke schon durchs System laufen lassen – ohne Ergebnis. Die Namen, unter denen sie eingecheckt haben, sind jedenfalls falsch. Auch hier wurden alle Oberflächen abgewischt. Ich würde sogar sagen, dass dieses Zimmer noch nie sauberer war als jetzt.«

Während Claire und ihre Mitarbeiter die beiden nicht identifizierten Toten in Leichensäcke steckten, fielen mir einige Kabel und Netzgeräte auf dem Fußboden hinter dem Schreibtisch auf.

Ich sagte zu meinen Kollegen: »Hier, schaut mal. Die beiden hatten Laptops dabei. Wenn ich mich nicht irre, lässt sich moderne Überwachungstechnik auch per Internet steuern, über eine App. Damit kann man zum Beispiel versteckte Mikrofone und Kameras aktivieren.«

»Du glaubst, die beiden waren Privatdetektive?«, wandte Conklin sich an mich.

»Dann waren in der Suite nebenan womöglich Mikrokameras installiert.«

»Bin schon unterwegs«, sagte Clapper.

Wenige Minuten später war er mit drei kleinen elektronischen Wanzen wieder da: eine hatte er in einer Lampenfassung über dem Badezimmerspiegel gefunden, die zweite in der Schreibtischlampe und die dritte hinter einem Lüftungsgitter.

»Und damit auch wirklich alles zusammenpasst: Keine Fingerabdrücke«, sagte Clapper.

Ich rief Lieutenant Jackson Brady an und brachte ihn auf den aktuellen Stand. Daraufhin schrieb ich Joe eine SMS und teilte ihm mit, dass ich womöglich die ganze Nacht unterwegs sein würde. Anschließend rief ich Mrs. Rose an, unsere großmütterliche Nachbarin von nebenan, die wir vor einiger Zeit zur Tages-Oma unserer Tochter ernannt hatten.

»Könnten Sie vielleicht ein bisschen länger bleiben?«, bat ich sie. »Ich glaube, im Kühlschrank müsste noch etwas zu essen sein.«

»Das Hühnchen habe ich doch selbst gekocht …« Sie lachte. »Für Sie!«

»Mit Spätzle?«

»Selbstverständlich.«

Ich versprach Mrs. Rose, mich zu melden, sobald ich wusste, wann ich nach Hause kam. Danach rief ich noch einmal bei Joe an und schrieb ihm eine Nachricht. Er ging nicht ans Handy und antwortete auch nicht.

Wo war mein Ehemann? Warum meldete er sich nicht?

Dann kam Conklin zu mir und sagte: »Der Sicherheitsdienst will uns sprechen, Linds. Dringend.«

6 Liam Dugan war ein auffallend großer, breitschultriger Mann Mitte fünfzig. Früher war er Sergeant beim Los Angeles Police Department gewesen und jetzt als Sicherheitschef des Hotels Four Seasons tätig.

»So ein beschissener, grauenhafter Albtraum«, sagte er und brachte uns den Flur entlang zur Servicekammer der vierzehnten Etage. Er machte die Tür auf, und wir sahen, eingeklemmt hinter dem Reinigungswagen, die tote Putzfrau Maria Silva.

Sie hatte kurze, dunkle Haare und trug eine blau-goldene Hoteluniform mit einem großen Blutfleck auf der Schulter. Das konnte ich von meinem Standort aus gut erkennen.

Dugan sagte: »Sie war eine richtig nette Person. Hat einen Mann und zwei Kinder. Tut mir leid, aber ich hatte gehofft, dass sie noch am Leben ist. Deswegen habe ich sie angefasst. Wahrscheinlich habe ich auch den Rollwagen und noch ein paar andere Sachen berührt, als ich mich da reingequetscht habe. Sie hat jedenfalls eine Kugel in den Hinterkopf bekommen. Ihre Schlüsselkarte fehlt. Die trägt das Hauspersonal immer an einem Band um den Hals.«

Wir sperrten also auch diesen Tatort ab, und ich sagte den Streifenbeamten auf dem Stockwerk Bescheid, dass sie bis zur Ablösung durch die Nachtschicht hierbleiben mussten.

Anschließend traf ich mich mit Conklin in Zimmer 1418, wo die mutmaßlichen Privatdetektive hingerichtet worden waren. Wir sahen uns die Blutspritzer rund um den ansonsten klinisch sauberen Tatort an und entwickelten verschiedene Theorien über den Tathergang.

Wie wir es auch drehten, wir kamen immer wieder zu dem Ergebnis, dass die vier Morde irgendwie miteinander zusammenhingen und es sich um eine professionelle Tat handeln musste. Mr. Wang war das eigentliche Ziel gewesen und Maria Silva das erste Opfer.

Bei der Frau, die ihre blonden Haare auf dem Kissen hinterlassen hatte, konnte es sich um eine Zeugin, die Täterin, eine Verbündete des Täters oder ein Opfer handeln. Oder aber, sie hatte das Zimmer bereits verlassen, bevor es blutig geworden war, und hatte bis jetzt keine Ahnung, was hier eigentlich geschehen war. Auch das war denkbar.

Conklin und ich begleiteten Dugan ins Büro des Sicherheitsdienstes, wo wir ein Aktenzimmer mit zwei Schreibtischen und Computern zugewiesen bekamen. Wir saßen nebeneinander und sahen uns die Aufnahmen aus sechs verschiedenen Überwachungskameras an, und zwar jeweils die vergangenen vier Stunden.

»Hier haben Sie einen Ausdruck mit den Grundrissen sämtlicher Stockwerke. Ich sorge dafür, dass Sie alle Bilder bekommen, und falls Sie sonst noch etwas brauchen, sagen Sie Bescheid. Ich werde dann alles veranlassen, was nötig ist.«

Gegen acht brachte der Zimmerservice uns ein paar Roastbeef-Sandwiches, Gewürzgurken, Pommes frites und Kaffee. Gegen 22.00 Uhr ging ich auf die Toilette, wusch mir das Gesicht und betrachtete mich im Spiegel.

Meine Haare standen in alle Richtungen ab, aber nicht etwa so wie nach einem langen, sonnengetränkten Tag am Strand. Eher so, als würden sie mich hassen. Ich band meinen Pferdeschwanz neu und starrte mir dabei tief in die rot geränderten Augen. Eine Dusche wäre jetzt auch nicht schlecht gewesen. Mehr will ich dazu nicht sagen.

Ich machte mich auf den Weg zurück zum Büro des Sicherheitsdienstes. Kaum saß ich wieder auf meinem Stuhl, deutete Conklin auf den Bildschirm mit dem Foto eines Mannes, der aussah wie unser männliches Mordopfer aus Zimmer 1420. Wie der Mann, der unter dem Namen Gregory Wang ins Hotel eingecheckt hatte.

Wang trat aus dem Fahrstuhl, der von der Market Street in das im fünften Stockwerk befindlich Hotelfoyer führte, und näherte sich der Rezeption. Er war allein, trug eine dunkle Hose und ein graues Sportsakko, dazu eine Baseballmütze, die sein Gesicht verdeckte. Über die rechte Schulter hatte er sich eine Laptoptasche gehängt. Er meldete sich an der Rezeption an, anschließend verlor die Kamera ihn aus dem Blick, bis er vor den Fahrstühlen zu den Gästezimmern wieder erfasst wurde.

Die Bilder waren von sehr guter Qualität, aber bis auf Wangs federnden Schritt war darauf absolut nichts zu entdecken, was uns irgendwie weitergebracht hätte. Ich spulte zurück und sah mir noch einmal an, wie Wang vom Empfang zu den Fahrstühlen ging. Dann beobachtete ich, wie die Zahlen neben der Fahrstuhltür wechselten und nach mehreren Stopps schließlich bei der Vierzehn landeten, bevor sie wieder rückwärtswanderten.

Ich schob die DVD mit den Bildern aus dem vierzehnten Stock in das Fach. Die Zeitanzeige stand bei 16.30 Uhr. Die Kamera war gegenüber der Fahrstuhltüren montiert, und wir sahen Wang aussteigen und den Flur entlanggehen. Er zog seine Schlüsselkarte durch den Schlitz von Zimmer 1420 und trat ein.

»Er hat nicht angeklopft«, sagte ich. »Er weiß, dass sein Gast noch nicht da ist.«

Wir spulten die Aufnahmen aus dem vierzehnten Stockwerk vor und sahen, wie Menschen ihre Zimmer betraten und verließen, aus Fahrstühlen kamen und in Fahrstühle stiegen. Niemand kam uns verdächtig vor. Um 17.00 Uhr hielten wir das Video an und stellten mit einem prüfenden Blick auf den Rollwagen des Zimmermädchens fest, dass Maria Silva noch am Leben war.

Um 17.52 Uhr verließ eine blonde Frau den Fahrstuhl.

»Na, hallo«, sagte ich zum Bildschirm.

Ich hielt das Video an. Sie telefonierte gerade. Durch ihre langen Stirnfransen, die Sonnenbrille und das Handy, das sie sich dicht vor den Mund hielt, war von ihrem Gesicht kaum etwas zu erkennen. Sie war modisch gekleidet und machte einen selbstbewussten Eindruck. Ich ließ das Video weiterlaufen, und wir sahen die Frau den Flur entlanggehen und an die Tür von Zimmer 1420 klopfen. Die Tür ging auf, und sie trat ein.

Ich stoppte das Video nicht. Irgendwann mussten ja die Typen auftauchen, die dem Zimmermädchen die Pistole an den Kopf setzten und anschließend das Zimmer nebenan betraten, um die Privatdetektive umzubringen.

Doch dann – laut Zeitanzeige um exakt 18.23 Uhr – passierte etwas: Der Bildschirm wurde grau. Das Bild war einfach weg.

Wir hielten das Video nicht an, in der Hoffnung, dass die Bildstörung irgendwann behoben wurde, aber ohne jedes Ergebnis.

Nichts, nichts, nichts.

Wir hatten also nichts weiter in der Hand als vier Tote und keinerlei Hinweis, wer sie ermordet hatte, wie das geschehen war oder weshalb.

Nicht gut.

Überhaupt nicht gut.

7 Als ich endlich nach Hause kam, war es 3.00 Uhr morgens und meine Kopfschmerzen hatten die Dimension einer Atomexplosion angenommen.

Martha, unsere Border-Collie-Hündin und beste fellige Freundin für immer und ewig, begrüßte mich an der Tür. Dabei weckte sie Mrs. Rose auf, die auf dem Sofa eingeschlafen war. Zum Glück schlief Julie weiter. Ich umarmte unsere wunderbare Babysitterin, und nachdem sie in ihre Wohnung gegangen war, sah ich nach, ob Joe inzwischen angerufen hatte.

Fehlanzeige.

Es war nicht das erste Mal, dass mein Mann einen ganzen Tag lang nichts von sich hören ließ. Er war als externer Berater bei der Flughafensicherheit tätig. Vielleicht hatte er eine Sitzung nach der anderen gehabt oder war gerade wahnsinnig beschäftigt damit, auf die Sicherheit der vielen startenden und landenden Flugzeuge zu achten.

Es war ein toller Job, und er liebte seine Arbeit … aber jetzt war es schon nach 3.00 Uhr nachts! Seit der Mittagszeit hatte er mir kein einziges Wort mehr geschickt!

Natürlich machte ich mir Sorgen. War ihm womöglich etwas zugestoßen?

Ich warf einen Blick ins Bett unserer kleinen, schlafenden Schönheit und stieß einen Seufzer aus, der mich durch und durch entspannte. Ich sah sie atmen, legte meine Hand auf ihren Rücken und versicherte mich, dass sie nicht im Luftzug lag, trocken war und tief und fest schlief. Dann zog ich ihr die Decke über die Schultern und schloss leise die Tür hinter mir.

Ich nahm eine Schmerztablette und gönnte mir anschließend die Dusche, nach der ich mich schon so lange sehnte. Nachdem ich mir den Schlafanzug angezogen und noch einmal nach Julie gesehen hatte, legte ich mich ins Bett und schlief sofort ein.

Vielleicht eine Stunde später riss ich die Augen auf.

Joe war immer noch nicht zu Hause.

Ich klopfte auf die Matratze, und Martha war mit einem Satz im Bett, drehte sich im Kreis und ließ sich neben mich plumpsen. Ich nahm sie in den Arm und dachte dabei an die Toten im Hotel, an die verschiedenen Tatorte, und hoffte, dass mir die eine oder andere Antwort vielleicht im Schlaf zufiel.

Als ich aufwachte, war es bereits Morgen.

Ich hatte zwar keine Verbrechen aufgeklärt, aber wenigstens lag Joe neben mir im Bett und schnarchte.

8 Ich gab meinem Mann einen Kuss.

Er schlug seine blauen Augen auf. »Was ist heute für ein Tag?«

Ich sagte es ihm, und er schlief sofort wieder ein.

Ich weckte ihn erneut auf.

»Was ist heute für ein Tag?«, wollte er wissen. Schon wieder.

»Na, du? Es ist Dienstagmorgen, dreiviertel sieben. Hast du in letzter Zeit vielleicht den einen oder anderen Anruf von mir bekommen? So ungefähr sechs Stück, alles in allem?«

»Ach, du Schreck, tut mir leid«, sagte er. »Mein Handy war ausgeschaltet.«

»Damit machst du dich hier nicht gerade beliebt, Kumpel.«

Ich schwang die Beine aus dem Bett. Joe streckte den Arm aus, packte mich und zog mich neben sich.

»Auf einer Passagierliste sind mehrere Personen aufgetaucht, die wir unter Beobachtung haben«, sagte er. »Aber mehr darf ich dir nicht sagen.«

»Kein Problem.«

Ich versuchte noch einmal, bis zur Bettkante zu kommen, aber er hielt mich fest.

»Es tut mir leid.«

»Ist schon okay. Aber ich mache mir Sorgen, wenn ich gar nichts von dir höre, Joe.«

»Ich weiß. Geht mir ja umgekehrt genauso.«

Wir rangelten ein wenig herum, und ich entspannte mich. Dann entspannte ich mich noch ein bisschen mehr. Ich verbannte all die grässlichen Bilder von irgendwelchen Toten aus meinem Hirn und versuchte sogar, so gut es ging, nicht nach Julie zu lauschen. Martha legte ihre Schnauze auf die Bettkante, aber Joe schob sie ohne viel Federlesen wieder weg.

Es wurde ein prächtiges Liebesspiel. Nichts Ausgefallenes, aber wohltuend, allumfassend und sehr prickelnd, und das, nachdem ich kurz zuvor nicht einmal Lust auf einen Kuss gehabt hatte.

Ich sank erschöpft auf die Matratze, legte Joe den Arm auf die Brust und schob den Kopf unter sein Kinn.

»Das war ganz nett«, sagte ich.

»Ganz nett? In meinem Alter? Ohne Schlaf? Ich frage mich, wie ich das überhaupt hingekriegt habe.«

Ich musste lachen. »Es war der beste Sex meines Lebens, Joe. Großer Gott. Du bist fantastisch.«

»Hast du Lust auf eine zweite Runde?«

»Spar dir noch was für heute Abend auf.« Ich lachte schon wieder.

Ich zog mich an, ließ Martha ein paar Mal die Lake Street auf und ab laufen, streckte die Beine und beobachtete den Sonnenaufgang, den frühmorgendlichen Verkehr und die anderen Leute, die mit ihren Hunden unterwegs waren.

Als wir wieder in unsere Wohnung kamen, saß Julie schon auf ihrem Kinderstuhl. Es roch nach Pfannkuchen. Ich küsste meine kleine Prinzessin und drückte sie sanft an mich.

»Du bist soooooo niedlich«, sagte ich. »Hast du dich bei Daddy auch artig bedankt für die Pfannkuchen?«

»Neeeeiiiiiin«, erwiderte sie und patschte mit ihren kleinen Händen auf das Brett an ihrem Stuhl.

»Oooh, das Wort gefällt dir viel zu gut«, sagte ich.

Also wiederholte sie es, lachte und gluckste dabei auch noch.

»Also gut, dann erledige ich das eben«, sagte ich.

Ich schlang die Arme um die Hüften meines Mannes und sagte: »Ich liebe dich so sehr. Und vielen Dank, dass du Frühstück gemacht hast.«

»Mmh-hmm. Bitte, setz dich doch.«

Ich zog mir einen Stuhl an den Tisch, sodass er genau im hellen Licht der Morgensonne stand. Joe servierte Pfannkuchen und knusprigen Speck, und ich fütterte Julie zwischen den einzelnen Bissen mit Frühstücksflocken.

Es war die reinste Idylle. Postkartengeeignet und mit Goldrahmen. In meiner Kindheit habe ich so etwas nie erlebt, darum genoss ich jeden einzelnen Augenblick. Wollte ihn festhalten.

Joe sagte: »Ich habe nachgesehen. Du hast mich heute Morgen um drei angerufen.«

»Da bin ich gerade nach Hause gekommen. Im Four Seasons war die Hölle los. Der vierzehnte Stock war der reinste Schlachthof.«

Ich schilderte Joe die Einzelheiten. Vielleicht konnte er mir ja mit seinem scharfen, geschulten Ermittlerblick irgendwie weiterhelfen.

»Und neben all diesen Seltsamkeiten haben wir auf den Videos eine Frau gesehen, die das Zimmer des Toten betreten hat«, sagte ich und beschrieb sie ausführlich. »Vielleicht war sie seine Geliebte, oder eine Prostituierte, vielleicht ja sogar seine Ehefrau. Ich weiß es nicht, Joe. Wir wissen nur, dass sie die einzige lebende Person ist, von der wir eine Antwort auf unsere Fragen bekommen könnten.«

»Die Stirnfransen, die ihr bis auf die Brille reichen«, sagte Joe. »Keine schlechte Verkleidung. Und durch das Telefonieren wird die Mundform verzerrt. Alles Dinge, die eine Gesichtserkennungssoftware durcheinanderbringen kann. Noch ein bisschen Kaffee?«

»Nein, danke, Liebling. Ich muss erst mal duschen.«

Ich ließ mich vom Wasser berieseln und dachte dabei an die blonde Frau mit der Sonnenbrille. Wir mussten sie finden. Gut möglich, dass das genau der entscheidende Durchbruch war, den wir brauchten.

Doch bis dahin war der Tote in Zimmer 1420 der Ausgangspunkt für unsere Ermittlungen.

9 Ich traf Claire im Obduktionssaal bei der Arbeit. Sie trug OP-Kleidung und Latexhandschuhe und war mit der Autopsie des unbekannten Mordopfers aus Zimmer 1420 beschäftigt. Sie hatte sein Gesicht bis über das Kinn heruntergeklappt und seinen Oberkörper mit einem Y-Schnitt bis hinunter zum Schambein geöffnet.

»Wie läuft’s?«, fragte ich sie.

»Weißt du, wie lange ich schon Gerichtsmedizinerin bin?«, lautete ihre Gegenfrage.

»Schon seit ich so groß bin« erwiderte ich und legte die flache Hand auf meinen Scheitel. Um genau zu sein, wir hatten gemeinsam angefangen, vor ungefähr einem Dutzend Jahren.

»Und weißt du auch, wie viele Obduktionen ich im Jahr durchführe?«

»Warum verrätst du’s mir nicht einfach?«

Sie legte eine blutige Leber auf eine Waage. Bunny Ellis, eine ihrer Mitarbeiterinnen, begrüßte mich mit flatternden Fingern und nahm Claires Notizen entgegen.

»Jahr für Jahr werden ungefähr eintausendzweihundert Tote durch diese Türen geschoben«, sagte Claire.

»Ich kann dich gut verstehen.«

Claire war sauer, und das kam nicht oft vor.

»Und was mir am meisten zu schaffen macht …«

»… sind tote Kinder. Ich weiß.«

»Aber weißt du auch, was mir am zweitmeisten zu schaffen macht? Mordopfer in der Blüte ihrer Jahre. Menschen, die noch ein erfülltes und fruchtbares Leben vor sich gehabt hätten. Wie dieser Mr. Wang oder wie immer sein richtiger Name lauten mag. Vollkommen intakt. Sämtliche inneren Organe in einwandfreiem Zustand. Knochen aus Stahl, Gelenke aus Titan. Ich glaube, der Mann hatte nicht einmal Sodbrennen«, sagte sie.

»Sprich weiter«, sagte ich, weil ich genau deswegen heute Morgen zu ihr gekommen war.

Claire fuhr fort, ohne das Skalpell ruhen zu lassen.

»Eine Narbe am Knie, aber das ist auch schon das Einzige. Wahrscheinlich ist er mit sechs Jahren mal vom Fahrrad gefallen.«

»Was ist mit dem Mageninhalt?«

»Ein Schinkensandwich mit Salatblatt und Tomate, dazu Mayo. Grüner Tee.«

»Hast du das Blut schon untersucht?«

»Steht bereit. Wird demnächst ins Labor gebracht. Zusammen mit denen da.«

Sie zeigte auf eine Edelstahlschüssel mit drei Kugeln.

»Mittelschweres Kaliber, schätzungsweise neun Millimeter. Aber bei einem blitzblank geputzten Tatort wie diesem würde ich meine Erwartungen nicht allzu hoch schrauben«, fuhr Claire fort. »Ich wette mit dir um einen Hamburger mit Pommes, dass die Mordwaffe nicht registriert ist.«

»Wer ist als Nächstes dran?«, wollte ich wissen.

»Ich habe auch nur zwei Hände, Lindsay. Zwei. Ich bin mit Mr. Wang noch nicht fertig.«

»Dann lasse ich dich mal in Ruhe arbeiten, Schmetterling.« Das ist ihr Kosename.

Als hätte sie mich nicht gerade eben angeschnauzt, fuhr sie fort: »Und danach nehme ich mir die junge Frau ohne Namen vor. So ein unschuldig wirkendes Mädchen, Lindsay. Eine Haut wie Milch. War kaum alt genug, um Auto zu fahren und zu wählen. Ich brauche unbedingt Unterstützung, wenn ich die Arbeit heute schaffen will. Und zu allem Überfluss …«

»Zu allem Überfluss?«

»… klingelt ständig das Telefon. Die Chefetage. Der Bürgermeister. Die Presse. Andere Mordopfer. Falls du dir eine Mittagspause leisten kannst … die Mädels wollen sich im MacBain’s treffen.«

Mit »den Mädels« waren sie und ich, Cindy und Yuki gemeint, unsere Viererbande, die Cindy den »Club der Ermittlerinnen« getauft hatte.

»Ich werd’s versuchen«, sagte ich.

Ich ließ Claire allein und ging durch den überdachten Gang zum Hintereingang der Hall of Justice. Dort zeigte ich dem Beamten am Metalldetektor meine Dienstmarke und stapfte die Treppe hinauf in den dritten Stock, wo die Büros der Mordkommission lagen. Nach und nach traf die Tagschicht ein, aber trotzdem klingelten viele Telefon so lange, bis die Mailbox ansprang.

Brady saß in seinem Büro, einem drei mal drei Meter großen Glaskasten in der hinteren Ecke des Bereitschaftsraums. Er sah mich kommen, stand auf und machte die Tür auf.

Mein Chef hat einen Körperbau wie ein Profi-Wrestler und blonde Haare, ist wortkarg und unerschrocken. Und er ist durch und durch sachlich. Immer.

»Gibt’s was Neues?«, erkundigte er sich.

»Nur das, was wir gestern Abend schon hatten, Lieutenant. Professionelles Attentat, von Anfang bis Ende. Vielleicht kommen wir weiter, sobald wir eines der Opfer identifiziert haben«, sagte ich. »Wir sind dabei.«

Noch bevor er »Haltet mich auf dem Laufenden« sagen konnte, fingen sämtliche Telefone auf seinem Schreibtisch gleichzeitig an zu klingeln.

10 Das MacBain’s ist eine Bier-und-Burger-Kneipe gleich um die Ecke, die vor allem von Polizisten, Rechtsanwälten und Kautionsagenten frequentiert wird, die auf dem 800er-Block der Bryant Street ihrer Arbeit nachgehen. Claire und ich standen in der geöffneten Tür und betrachteten das Getümmel. In vier Reihen drängten sich die Gäste vor der Theke, und die Tische waren alle besetzt. Das sah mir sehr nach Rentenabschiedsparty aus.

Noch wäre Zeit gewesen, uns einen anderen Ort für unsere Mittagspause zu suchen, aber Sydney, die Kellnerin, zeigte in eine bestimmte Richtung und formte mit den Lippen die Worte: »Da drüben.«

Cindy Thomas stand auf und winkte uns von einem Tisch in der Nähe der Musikbox aus zu. Sie hatte sich für ihre Bluthund-Montur entschieden: ein T-Shirt, darüber ein weicher grauer Kapuzenpullover und eine Jeans. So etwas trug sie nur, wenn sie gerade an einer Geschichte saß, aber als die beste Polizeireporterin des San Francisco Chronicle saß sie unter der Woche fast immer an einer Geschichte.

Manchmal tat sie mir fast leid.

Ja, sie war wunderhübsch, hatte einen guten Job und war glücklich verliebt, aber trotzdem mussten ihre enge Freundin – also ich – und ihr Verlobter – mein Partner – die wirklich interessanten Informationen für sich behalten. Cindy war von der Presse. Und aufgrund langjähriger Erfahrungen wussten wir, dass die Presse uns nicht gerade freundschaftlich verbunden war.

Yuki Castellano, die Rechtsanwältin des Clubs der Ermittlerinnen, hatte sich mit dem Rücken zum Erdnussfass in den schmalen Spalt zwischen Cindy und der Wand gezwängt. Sie trug einen messerscharfen schwarzen Anzug, hatte die Haare hochgebunden und sich eine dicke Perlenkette um den Hals gelegt. Sie hatte vor Gericht zu tun.

Claire und ich drängten uns durch die Menge. Ich hielt mich dicht hinter ihr und ließ mich von dem pinkfarbenen Pullover leiten, den sie über ihre OP-Kluft gezogen hatte. Ich trug das, was ich immer trug, ob Sonne oder Regen, ob am Schreibtisch oder auf der Straße: blaue Hose, weiße Bluse, blaues Jackett, Pferdeschwanz und um den Hals eine Kette mit meiner Dienstmarke.

Ich schnappte mir den Platz gegenüber von Yuki, und Claire setzte sich neben mich. Dann schossen vier Hände gleichzeitig in die Höhe. Als Syd neben uns stand, sagte Claire: »Wir können alles auf einmal bestellen.«

Syd notierte vier Burger – einer ganz blutig, einer ziemlich blutig, einer medium und einer verkohlt – und dazu Pommes frites und dreimal Tee und Sprudelwasser. Nur Yuki wollte eine Cola-Rum haben, und zwar mit Betonung auf Rum.

»Du trinkst, obwohl du gleich noch eine Verhandlung hast?«, sagte ich zu ihr.

»Die Verhandlung fällt aus, aus Gründen, die ich nicht zu verantworten habe«, erwiderte sie.

Jetzt stimmten die Leute hinter uns ein derbes Trinklied an. Die anderen Gäste klatschten in die Hände und stampften dazu im Takt. Darum musste Yuki laut brüllen, um uns von der College-Studentin zu berichten, die als Mittäterin bei einem Raubüberfall angeklagt worden war. Sandra hatte, so berichtete Yuki, im Auto ihres Freundes gewartet, während dieser eine Flasche Schnaps kaufen wollte. Jedenfalls hatte er ihr das erzählt. Aber er hatte eine Pistole mit in den Laden genommen, und als der Besitzer Alarm ausgelöst hatte, hatte Sandras Freund ihm eine Kugel aus seiner Zweiundzwanziger in die Brust gejagt.

Yukis achtzehn Jahre alte Mandantin war unter dem Verdacht der Beihilfe angeklagt worden und musste mit fünfzehn bis zwanzig Jahren Haft rechnen, falls der Ladenbesitzer überlebte. Die festgelegte Kaution war so absurd hoch, dass ihre Familie nicht einmal ein Zehntel davon aufbringen konnte.

»Ich habe Sandra gestern noch gesprochen«, sagte Yuki. »Da habe ich ihr gesagt, dass ich sehr gute Kontakte zur Staatsanwaltschaft habe und dass ich bestimmt ein deutlich reduziertes Strafmaß erreichen kann, vorausgesetzt, sie sagt gegen ihren feigen Freund aus.«

»Aber sie wollte sich nicht darauf einlassen«, vermutete Cindy.

Yuki schüttelte den Kopf. »Kurz vor Verhandlungsbeginn heute Morgen hat sie ihr Bettlaken in Fetzen gerissen und sich am Fenstergitter erhängt. Warum? Warum hat sie das getan? Warum hat sie nicht auf mich gehört? Zumal ihre Chancen gar nicht so schlecht waren, selbst dann, wenn sie nicht