Die Afghanistan Papers - Craig Whitlock - E-Book

Die Afghanistan Papers E-Book

Craig Whitlock

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Beschreibung

Dieses Buch wird die Erinnerung an den Krieg in Afghanistan für immer verändern. Die bahnbrechenden Enthüllungen des Washington Post-Reporters und dreimaligen Pulitzer-Preisfinalisten Craig Whitlock zeigen eindrücklich, wie drei aufeinanderfolgende Präsidenten – Bush, Obama, Trump – und ihre militärischen Befehlshaber die weltweite Öffentlichkeit konsequent über Amerikas längsten Kriegseinsatz belogen. 20 Jahre nach 9/11 offenbart sich die zweck- und planlose Mission, deren absehbares Scheitern viel zu lange bewusst verborgen wurde: Die Afghanistan Papers sind ein schockierender Bericht, der auch die Rückeroberung Afghanistans durch die Taliban vorwegnahm. Whitlock liefert Dokumente und eine längst überfällige Abrechnung über all das, was schiefgelaufen ist. Wie einst die Pentagon Papers die öffentliche Wahrnehmung des Vietnamkriegs veränderten, enthalten Die Afghanistan Papers erschütternde Enthüllungen von mehr als 1.000 Personen, die wussten, dass die US-Regierung die Fakten vor Ort verzerrt darstellte und manchmal sogar erfand – von Führungskräften im Weißen Haus und Pentagon bis hin zu Ortskräften und Soldaten an der Front in Afghanistan. Sie geben offen zu, dass die Strategie der US-Regierung ein Desaster und es ein kolossaler Fehlschlag war, einen afghanischen Staat nach westlichen Standards aufbauen zu wollen. In seinem Nachwort für die deutsche Ausgabe geht Craig Whitlock auch auf die Rolle Deutschlands in diesem Drama ein. Wer dieses Buch gelesen hat, wird die Militärmission in Afghanistan mit anderen Augen sehen.  »Rasant und lebendig ... randvoll mit erzählenden Zitaten.« New York Times »Beeindruckend dokumentiert ... Nach dieser maßgeblichen Darstellung war der Afghanistankrieg ein kolossaler Fehlschlag, der schon vor Jahren hätte beendet werden sollen.« Kirkus-Review »Rigoros detailliert, ein herzzerreißender Blick darauf, wie Amerikas Führer beschlossen haben, ihre Fehler zu begraben und den Krieg treiben zu lassen.« Publishers Weekly

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Die Afghanistan Papers

Der Autor

Craig Whitlock, geboren 1968, schreibt als investigativer Journalist für die Washington Post. Seit 2001 berichtet er als Auslandskorrespondent, Pentagon-Reporter und Spezialist für nationale Sicherheit über den globalen Krieg gegen den Terrorismus. 2019 erhielt er für seine Berichterstattung über den Krieg in Afghanistan den George Polk Award for Military Reporting, den Scripps Howard Award for Investigative Reporting, den Investigative Reporters and Editors Freedom of Information Award sowie den Robert F. Kennedy Journalism Award für internationale Berichterstattung. Whitlock hat aus mehr als 60 Ländern – darunter Deutschland – berichtet und war dreimaliger Finalist für den Pulitzer-Preis. Er lebt in Silver Spring, Maryland.

Craig Whitlock

Die Afghanistan Papers

Der Insider-Report über Geheimnisse, Lügen und 20 Jahre Krieg

Aus dem Englischen von Ines Bergfort, Christiane Frohmann, Stephan Gebauer und Ralf Vogel

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

ISBN 978-3-8437-2651-1Die Originalausgabe ist 2021 unter dem Titel The Afghanistan Papers – Secrets, Lies and America’s Longest War bei Simon & Schuster in New York erschienen.© 2021 der deutschen Ausgabe: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin© 2021 der Originalausgabe by Craig WhitlockAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Dr. Annalisa Viviani, MünchenUmschlaggestaltung: zero-media.net, München nach einer Vorlage von Simon & SchusterTitelmotiv: Jacket design by David Litman;Alan Cotton / Alamy Stock Photo, Nenov / GettyImages, Washington PostAutorenfoto: © The Washington PostE-Book-Konvertierung powerded by pepyrus.com

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Inhalt

Titelei

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Vorwort

TEIL I Ein trügerisches Siegesgefühl(2001–2002)

Kapitel 1 Eine konfuse Mission

Kapitel 2 »Wer sind die Bösen?«

Kapitel 3 Das Nationsbildungsprojekt

TEIL II Die große Ablenkung (2003–2005)

Kapitel 4 Afghanistan rückt in den Hintergrund

Kapitel 5 Eine aus der Asche auferstandene Armee

Kapitel 6 Islam für Dummköpfe

Kapitel 7 Auf beiden Seiten mitspielen

TEIL III Die Rückkehr der Taliban, (2006–2008)

Kapitel 8 Lug und Trug

Kapitel 9 Eine inkohärente Strategie

Kapitel 10 Die Warlords

Kapitel 11 Der Krieg gegen das Opium

TEIL IV Obama übernimmt sich (2009–2010)

Kapitel 12 Einsatz verdoppelt

Kapitel 13 »Das reinste Geldgrab«

Kapitel 14 Vom Freund zum Feind

Kapitel 15 Durch und durch korrupt

TEIL V Alles zerfällt (2011–2016)

Kapitel 16 Krieg gegen die Wahrheit

Kapitel 17 Der Dolch im Rücken

Kapitel 18 Die große Illusion

TEIL VI Stillstand (2017 bis heute)

Kapitel 19 Trumps Wende

Kapitel 20 Der Drogenstaat

Kapitel 21 Mit den Taliban reden

Nachwort

ANHANG

Bildteil

Bibliografie

Quelleninformationen

Anmerkungen

Social Media

Vorablesen

Cover

Titelseite

Inhalt

Vorwort

Widmung

Für Jenny und Kyle,in Liebe und Bewunderung

Nur eine freie Presse kann Täuschungsversuche der Regierung aufdecken. Und die höchste Pflicht einer freien Presse besteht darin, sämtliche Bestandteile der Regierung daran zu hindern, das Volk zu täuschen und Menschen in ferne Länder zu schicken, wo sie von fremden Krankheiten, Kugeln und Granaten getötet werden.

Richter Hugo L. Black in dem Epigraf, das er der Formulierung der Mehrheitsmeinung im Urteil des Supreme Court im Fall New York Times gegen die Vereinigten Staaten voranschickte, auch bekannt als »Pentagon Papers«-Fall, 30. Juni 1971.

Vorwort

Zwei Wochen nach dem Terrorangriff am 11. September 2001, als sich die Vereinigten Staaten auf einen Krieg in Afghanistan vorbereiteten, wurde Verteidigungsminister Donald Rumsfeld von einem Journalisten mit einer direkten Frage konfrontiert: Konnte er sich vorstellen, dass amerikanische Regierungsvertreter in dem Bemühen, den Feind in die Irre zu führen, den Medien Falschinformationen über Militäreinsätze geben würden?

Rumsfeld stand am Rednerpult im Presseraum des Pentagon. Wenige Tage nachdem die American-Airlines-Maschine Flug 77 in die Westfront der Anlage eingeschlagen und 189 Menschen getötet hatte, roch das Gebäude noch immer nach Rauch und Kerosin. In seiner Antwort zitierte der Verteidigungsminister den britischen Premierminister Winston Churchill: »In Kriegszeiten ist die Wahrheit so kostbar, dass sie stets von einer Leibwache von Lügen geschützt werden sollte.« Rumsfeld erinnerte daran, dass die Alliierten im Jahr 1944 vor der Landung in der Normandie eine als »Operation Bodyguard« bezeichnete Desinformationskampagne gestartet hatten, um die Deutschen in Bezug auf Ort und Zeitpunkt der Invasion Westeuropas zu täuschen.

Rumsfeld klang, als wollte er die Praxis verteidigen, in Kriegszeiten Lügen zu verbreiten. Doch dann vollzog er eine Kehrtwende und erklärte, er selbst werde das nie tun: »Die Antwort auf Ihre Frage ist Nein, ich kann mir keine solche Situation vorstellen. Ich kann mich nicht entsinnen, die Presse jemals belogen zu haben. Ich habe es nicht vor, und ich glaube, dass es keinen Grund dafür geben wird. Es gibt Dutzende Möglichkeiten, wie man vermeiden kann, sich in eine Lage zu bringen, in der man lügen muss. Und ich begebe mich nicht in eine solche Lage.«

Auf die Frage, ob das für alle Verantwortlichen im Verteidigungsministerium gelte, sagte er nach einer kurzen Pause lächelnd: »Sie scherzen wohl.«

Die Mitglieder des Pressekorps brachen in Lachen aus. Das war typisch Rumsfeld: schlau, energisch, spontan, entwaffnend. Der ehemalige Wrestlingstar aus Princeton wusste, wie man es vermeidet, sich in einer unvorteilhaften Position festnageln zu lassen.

Als die amerikanische Luftwaffe zwölf Tage später, am 7. Oktober 2001, begann, Afghanistan zu bombardieren, ahnte niemand, dass der längste Krieg in der Geschichte der Vereinigten Staaten begonnen hatte, ein Militäreinsatz, der für die Usa länger dauerte als die Beteiligung an den beiden Weltkriegen und der Vietnamkrieg zusammengenommen.

Anders als seinerzeit der Krieg in Vietnam und im Gegensatz zur Invasion des Irak fand der Einsatz in Afghanistan fast einhellige Unterstützung in der amerikanischen Öffentlichkeit. Von Entsetzen und Wut über den verheerenden Terrorangriff erfüllt, erwarteten die Amerikaner, dass ihre Regierung die Heimat verteidigte wie seinerzeit nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor. Nur drei Tage nach den Anschlägen vom 11. September erteilte der Kongress der Bush-Administration die Erlaubnis, gegen al-Qaida und jeden Staat in den Krieg zu ziehen, der dem Terrornetz Zuflucht gewährte.

Die NATO aktivierte zum ersten Mal den Artikel 5 ihres Gründungsvertrags, die Bestimmung über die kollektive Verpflichtung des Bündnisses, jeden Mitgliedstaat zu verteidigen, der angegriffen wird. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verurteilte die »entsetzlichen Terroranschläge« einstimmig und forderte die Staatengemeinschaft auf, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Sogar feindliche Mächte erklärten sich mit den Vereinigten Staaten solidarisch. Im Iran nahmen Tausende an Mahnwachen teil, und die Hardliner hörten zum ersten Mal seit 22 Jahren auf, beim Freitagsgebet »Tod den Vereinigten Staaten« zu rufen.

Der Rückhalt der Weltgemeinschaft war so stark, dass amerikanische Regierungsvertreter nicht lügen oder die Wahrheit verdrehen mussten, um den Krieg zu rechtfertigen. Aber bald begannen das Weiße Haus, das Pentagon und das Außenministerium, falsche Angaben zu machen und militärische Rückschläge zu beschönigen. Im Lauf der Monate und Jahre setzte sich die Heuchelei fest. Der Militärführung und den Diplomaten fiel es immer schwerer, Fehler einzugestehen und die Lage gegenüber der Öffentlichkeit realistisch und aufrichtig darzustellen.

Niemand wollte zugeben, dass sich ein Konflikt, der als gerechter Krieg begonnen hatte, in ein aussichtsloses Unterfangen verwandelt hatte. Washington und Kabul verschworen sich miteinander, um die Wahrheit zu vertuschen. Das Verschweigen von Tatsachen führte unausweichlich zur Täuschung und schließlich zu offenkundig abwegigen Behauptungen. Bei zwei Gelegenheiten – erstmals im Jahr 2003 und ein weiteres Mal im Jahr 2014 – erklärte die amerikanische Regierung die Kampfeinsätze für beendet. Beide Male war das nichts anderes als Wunschdenken und hatte wenig mit der Realität in Afghanistan zu tun.

Präsident Barack Obama hatte versprochen, den Krieg zu beenden und die Truppen heimzuholen, aber als sich seine zweite Amtszeit im Jahr 2016 ihrem Ende näherte, war ihm das noch immer nicht gelungen. Die Amerikaner waren der nicht enden wollenden Konflikte in fernen Ländern überdrüssig. Viele desillusionierte Bürger hörten einfach auf, der Regierung zuzuhören.

Zu diesem Zeitpunkt berichtete ich seit fast sieben Jahren für die Washington Post über das Verteidigungsministerium und die amerikanischen Streitkräfte. Ich hatte vier Verteidigungsminister und fünf Generalstabschefs kommen und gehen sehen und war viele Male im Tross hochrangiger Offiziere nach Afghanistan und in die umgebende Region gereist. Davor hatte ich sechs Jahre lang als Auslandskorrespondent für die Washington Post gearbeitet und über die Umtriebe von al-Qaida und anderen Terrorgruppen in Afghanistan, Pakistan, dem Nahen Osten, Nordafrika und Europa berichtet.

Wie viele Journalisten wusste ich, dass die Situation in Afghanistan vertrackt war. Ich glaubte nicht mehr an die leeren Behauptungen der amerikanischen Streitkräfte, sie machten Fortschritte und seien auf dem richtigen Weg. Die Washington Post und andere Medien berichteten seit Jahren über die systemischen Probleme in diesem Krieg. In Sachbüchern und Memoiren schilderten Beteiligte die entscheidenden Kämpfe in Afghanistan und das politische Hickhack daheim in Washington. Aber ich fragte mich, ob all diese Beobachter wirklich überblickten, weshalb diese Militärintervention gescheitert war.

Wie hatte es dazu kommen können, dass dieser Feldzug zum Stillstand gekommen war und dass es keine realistische Hoffnung auf einen dauerhaften Sieg gab? Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten hatten die Taliban und al-Qaida im Jahr 2001 in kürzester Zeit besiegt. Was war von da an schiefgelaufen? Niemand hatte umfassend Rechenschaft über die strategischen Fehler abgelegt oder der Öffentlichkeit mit schonungsloser Offenheit erklärt, warum der Feldzug in eine Sackgasse geraten war.

Bis heute ist keine Untersuchungskommission eingerichtet worden, die den Afghanistankrieg aufarbeiten könnte, wie es seinerzeit mit der 9/11-Kommission geschah, welche die Regierung dafür zur Rechenschaft zog, dass es ihr nicht gelungen war, den schlimmsten Terroranschlag der Geschichte auf amerikanischem Boden zu verhindern. Genauso wenig hat der Kongress eine Afghanistan-Version der Fulbright-Anhörungen durchgeführt, in denen die Senatoren offensiv den Krieg in Vietnam hinterfragten. Da es in beiden Parteien zahlreiche Personen gibt, die Verantwortung für die vielen Fehler tragen, lassen sich nur wenige Politiker auf das Wagnis ein, nach den Schuldigen zu suchen.

Im Sommer 2016 erhielt ich den Hinweis, dass eine kaum bekannte Bundesbehörde, das Office of the Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR), Interviews mit Hunderten Kriegsteilnehmern geführt hatte und dabei auf ein hohes Maß an aufgestauter Frustration gestoßen war. SIGAR hatte diese Interviews im Rahmen eines Projekts mit dem Titel »Lessons Learned« durchgeführt, dessen Zweck es war, politische Irrtümer in Afghanistan zu diagnostizieren, um derartige Fehler in Zukunft zu vermeiden.

Im September desselben Jahres begann SIGAR, eine Reihe von »Lessons Learned«-Berichten zu veröffentlichen, in denen die Probleme in Afghanistan analysiert wurden. Aber in diesen Berichten, deren Inhalt unter einer dicken Schicht von Behördensprache versteckt war, fehlten die harsche Kritik und die Schuldzuweisungen, die, wie mir erzählt wurde, in den Interviews durchaus zum Vorschein gekommen waren.

Die Aufgabe eines Enthüllungsjournalisten besteht darin herauszufinden, welche Wahrheiten die Regierung verbirgt und die Öffentlichkeit darüber aufzuklären. Also richtete ich Anfragen nach Maßgabe des Freedom of Information Act an SIGAR, um an Niederschriften, Notizen und Tonaufnahmen der Interviews heranzukommen. Ich begründete meine Anfragen damit, dass die Öffentlichkeit ein Recht habe, von der internen Kritik am Umgang der Regierung mit dem Krieg zu erfahren. Sie hatte ein Recht auf die ungeschminkte Wahrheit.

SIGAR zögerte die Antworten auf meine Anfragen immer wieder hinaus. In Anbetracht der Tatsache, dass der Kongress diese Behörde dafür eingerichtet hatte, dass die Regierung Rechenschaft für die gewaltigen Mengen an Steuergeldern ablegte, die für den Krieg aufgewandt wurden, war dieses Verhalten heuchlerisch. Die Post musste schließlich zwei Klagen vor Bundesgerichten anstrengen, um SIGAR dazu zu zwingen, die »Lessons Learned«-Dokumente herauszugeben. Nach dreijährigem Rechtsstreit gewährte mir SIGAR schließlich Zugang zu mehr als 2000 Seiten an bis dahin unveröffentlichten Gesprächsniederschriften. Es waren Interviews mit 428 Personen, die direkt am Krieg beteiligt gewesen waren, von Generälen und Diplomaten bis hin zu Mitarbeitern von Hilfsorganisationen und afghanischen Regierungsvertretern.

Die Behörde redigierte Teile der Dokumente und verbarg die Identitäten der meisten Interviewpartner, was sie mit Datenschutzbedenken begründete. Dennoch zeigten die Interviews, dass viele hochrangige amerikanische Amtsträger den Krieg im privaten Gespräch als beispiellose Katastrophe bezeichneten, womit sie der Schönfärberei in den öffentlichen Bekundungen des Weißen Hauses, des Pentagon und des State Department widersprachen, die den Amerikanern Jahr für Jahr versicherten, in Afghanistan Fortschritte zu machen.

Da sie davon ausgingen, dass ihre Aussagen nicht in die Öffentlichkeit gelangen würden, gestanden die Regierungsvertreter und Militärs gegenüber den Interviewern von SIGAR, dass eine mangelhafte Planung den Militäreinsatz zwangsläufig zum Scheitern verurteilt hatte und dass Washington viele Milliarden US-Dollar für vergebliche Versuche verschwendet hatte, Afghanistan in ein modernes Land zu verwandeln. Die Interviews zeigten auch, dass die Bemühungen der Amerikaner, die ausufernde Korruption in Afghanistan unter Kontrolle zu bringen, eine schlagkräftige afghanische Armee und leistungsfähige Polizeieinheiten aufzubauen und den blühenden Opiumhandel einzudämmen, im Sand verlaufen waren.

Viele der befragten Personen beschrieben wiederholte Bemühungen der Regierung in Washington, die Öffentlichkeit systematisch in die Irre zu führen. Sie erklärten, die Verantwortlichen im Hauptquartier in Kabul – sowie im Weißen Haus – hätten regelmäßig Statistiken manipuliert, um den Eindruck zu erwecken, die USA seien auf dem besten Weg, den Krieg zu gewinnen, obwohl es offenkundig nicht so war.

Erstaunlich war, dass mehrere Generäle einräumten, den Krieg ohne geeignete Strategie geführt zu haben.

»Es gab keinen Plan für den Feldzug. Es gab einfach keinen«, beklagte sich General Dan McNeill von der US-Army, der unter Präsident Bush zweimal das Kommando in Afghanistan gehabt hatte.1

»Wir hatten keine schlüssige langfristige Strategie«, erklärte der britische General David Richards, der von 2006 bis 2007 die amerikanischen und NATO-Truppen befehligt hatte.2 »Wir forderten ein kohärentes langfristiges Vorgehen – eine richtige Strategie – und bekamen stattdessen eine Vielzahl taktischer Anweisungen.«

Andere Verantwortliche waren der Meinung, die Vereinigten Staaten hätten den Krieg von Anfang an falsch geführt und Fehler aufgrund von Fehlentscheidungen begangen, die Fehleinschätzungen entsprungen seien.

»Wir wussten nicht, was wir taten«, sagte Richard Boucher, der Topdiplomat der Bush-Administration für Süd- und Zentralasien.3

»Wir hatten nicht die leiseste Ahnung, worauf wir uns eingelassen hatten«, meinte auch Generalleutnant Douglas Lute von der Army, der unter Bush und Obama im Weißen Haus für die Kriegsführung zuständig war.4

Lute bedauerte, dass derart viele amerikanische Soldaten in Afghanistan das Leben verloren hatten. Geradezu schockierend war jedoch, dass er die politische Zurückhaltung ablegte, die von einem Drei-Sterne-General erwartet wird, und so weit ging anzudeuten, durch die Schuld der Regierung seien diese Opfer umsonst gewesen.

»Würde das amerikanische Volk das Ausmaß dieser Funktionsstörung kennen … 2400 Menschenleben sind verloren«, sagte Lute. »Wer wird sagen, dass sie umsonst starben?«5

Im Lauf von zwei Jahrzehnten wurden mehr als 775.000 amerikanische Soldaten und Soldatinnen nach Afghanistan geschickt. Mehr als 2300 wurden getötet, 21.000 wurden verwundet. Die amerikanische Regierung hat keine Angaben zu den Gesamtkosten des Kriegs gemacht, aber den meisten Schätzungen zufolge beliefen sich die Ausgaben auf mehr als eine Billion US-Dollar.

Aufgrund der ungeschminkten Beschreibungen der Geschehnisse, die dazu führten, dass die Vereinigten Staaten in einem Krieg in einem fernen Land in eine aussichtslose Lage gerieten, und der Versuche der Regierung, diese Berichte vor der amerikanischen Öffentlichkeit zu verbergen, haben die »Lessons Learned«-Befragungen große Ähnlichkeit mit den 1971 veröffentlichten »Pentagon Papers«, der vom Verteidigungsministerium geheim gehaltenen Geschichte des Vietnamkriegs.

Die Veröffentlichung der »Pentagon Papers« löste im Jahr 1971 einen Skandal aus. Diese Dokumente belegten, dass die Regierung die Öffentlichkeit lange Zeit darüber im Dunkeln gelassen hatte, wie die Vereinigten Staaten in den Vietnamkrieg verwickelt worden waren.

Die 47 Bände und 7000 Seiten umfassende Studie beruhte zur Gänze auf internen Regierungsdokumenten: diplomatischen Depeschen, Memos über Entscheidungen, Nachrichtendienstberichte. Um die Geheimhaltung zu wahren, verbot Verteidigungsminister Robert McNamara den Autoren, irgendwelche Beteiligten zu befragen.

Das »Lessons Learned«-Projekt von SIGAR unterlag keinen derartigen Einschränkungen. Die Mitarbeiter führten die Interviews in den Jahren 2014 bis 2018 und sprachen überwiegend mit Regierungsvertretern, die unter Bush und Obama gedient hatten.

Anders als die »Pentagon Papers« waren die »Lessons Learned«-Dokumente ursprünglich nicht als Staatsgeheimnisse eingestuft. Doch als die Washington Post auf eine Veröffentlichung drängte, schritten andere Behörden ein und stuften einen Teil des Materials nachträglich als vertraulich ein.

Die »Lessons Learned«-Befragungen enthalten kaum Enthüllungen über militärische Operationen, dafür jedoch zahlreiche kritische Stimmen, die der offiziellen Darstellung des Kriegs widersprechen, und zwar vom Beginn der Kampfhandlungen bis zum Regierungsantritt von Donald Trump.

Zusätzlich zu den »Lessons Learned«-Befragungen verschaffte ich mir Zugang zu Hunderten Seiten zuvor vertraulicher Mitteilungen zum Afghanistankrieg, die Donald Rumsfeld zwischen 2001 und 2006 diktiert oder erhalten hatte. Diese von Rumsfeld und seinen Mitarbeitern als »Schneeflocken« bezeichneten Memos enthalten knappe Anweisungen oder Kommentare, die der Verteidigungsminister seinen Untergebenen diktierte. Oft verschickte er im Lauf eines Tages mehrere solcher Mitteilungen.

Im Jahr 2011 veröffentlichte Rumsfeld eine Auswahl seiner »Schneeflocken«, die er zur Begleitung seiner Memoiren (Known and Unknowm) ins Internet stellte. Aber der Großteil seiner »Schneeflockensammlung« – eine gewaltige Menge an Papieren, die schätzungsweise 59.000 Seiten umfassen – blieb unter Verschluss.

Im Jahr 2017 reichte das National Security Archive, ein gemeinnütziges Forschungsinstitut mit Sitz an der George Washington University, unter Berufung auf den Freedom of Information Act eine Klage ein, um das Verteidigungsministerium zur Herausgabe dieser Mitteilungen zu zwingen, und das Pentagon begann, die unter Verschluss gehaltenen »Schneeflocken« zu sichten und schrittweise freizugeben. Das National Security Archive gewährte mir Zugang zu diesen Dokumenten.

Die in Rumsfelds brüskem Stil verfassten Memos enthielten zahlreiche Hinweise auf Probleme, die dem amerikanischen Militär noch mehr als ein Jahrzehnt später zu schaffen machen würden. »Mir ist nicht klar, wer die Bösen in Afghanistan sind«, beklagte sich Rumsfeld in einem Memo an seinen Nachrichtendienstchef – und das fast zwei Jahre nach Beginn des Kriegs.6

Ich erhielt auch Zugang zu einigen Oral-History-Interviews, die die gemeinnützige Association for Diplomatic Studies and Training mit ehemaligen Mitarbeitern der amerikanischen Botschaft in Kabul geführt hatte. Die Interviews enthielten die schonungslosen Lagebeurteilungen dieser Mitarbeiter des Außenministeriums, die sich darüber beklagten, dass die Regierung in Washington Afghanistan nicht verstehe und den Krieg falsch führe.

Beim Studium der Interviews und Mitteilungen wurde mir klar, dass sie eine geheime Geschichte des Kriegs enthielten – eine schonungslose Darstellung eines Konflikts, dessen Ende nicht abzusehen war.

Unter Mitarbeit zahlreicher talentierter Redaktionsmitglieder veröffentlichte die Washington Post im Dezember 2019 eine Reihe von Artikeln über diese Dokumente. Millionen Menschen lasen die Artikelserie. Als Service für die Öffentlichkeit stellte die Zeitung auch eine Datenbank der Interviews und »Schneeflocken« ins Internet.

Der Kongress, der den Krieg jahrelang weitgehend ignoriert hatte, beschäftigte sich in zahlreichen Anhörungen mit den Ergebnissen. Generäle, Diplomaten und andere Funktionsträger räumten gegenüber den Parlamentariern ein, dass die Regierung gegenüber der Öffentlichkeit nicht ehrlich gewesen war. Abgeordnete aus allen politischen Lagern gaben ihrer Wut und Enttäuschung Ausdruck.

»Es sind vernichtende Dokumente«, erklärte der demokratische Abgeordnete Eliot Engel aus New York, der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses des Repräsentantenhauses. »Sie zeigen, dass kein aufrichtiges Gespräch zwischen dem amerikanischen Volk und seiner Regierung über die Vorgänge in Afghanistan stattgefunden hat.« Der republikanische Senator Rand Paul aus Kentucky bezeichnete die Serie im Gespräch mit der Washington Post als »außergewöhnlich beunruhigend. Sie zeichnet das Bild eines amerikanischen Engagements, das sehr unter einer schleichenden Ausweitung des Einsatzes und unter einem völligen Mangel an klaren und erreichbaren Zielen leidet.«

Die Enthüllungen trafen einen Nerv. Viele Leser hatten seit Langem den Verdacht, von der Regierung in die Irre geführt zu werden, und reagierten erbost. Die Öffentlichkeit wollte unbedingt weitere Beweise sehen und forderte Aufklärung darüber, was in Afghanistan wirklich vorging.

Ich wusste, dass die US-Army einige Oral-History-Interviews mit Soldaten geführt hatte, die in Afghanistan im Einsatz gewesen waren; das Ergebnis war die Veröffentlichung mehrerer akademischer Monografien über die Erfahrungen dieser Soldaten. Aber bald stellte ich fest, dass die Army noch auf einem gewaltigen Fundus derartiger Dokumente saß.

Zwischen 2005 und 2015 wurden im Rahmen des Projekts »Operational Leadership Experience«, das vom Combat Studies Institute in Fort Leavenworth (Kansas) im Auftrag des amerikanischen Heeres durchgeführt wird, mehr als 3000 Soldaten befragt, die im »Krieg gegen den Terror« im Ausland zum Einsatz gekommen waren. Die meisten von ihnen hatten im Irak gekämpft, aber viele waren in Afghanistan stationiert gewesen.

Ich verbrachte Wochen damit, diese nicht als vertraulich eingestuften und vollständig transkribierten Interviews durchzusehen, und wählte mehr als sechshundert aus, die mit Afghanistan-Veteranen geführt worden waren. Die Interviews enthielten eine lebensnahe Schilderung aus erster Hand, mehrheitlich von jungen Offizieren, die im Kampfeinsatz gewesen waren. Dazu kam eine kleinere Anzahl von Oral-History-Interviews, die vom Center for Military History der Army in Washington durchgeführt worden waren.

Da die Army diese Interviews für die Zwecke der historischen Forschung genehmigt hatte, sprachen viele der Soldaten sehr offen über ihre Erfahrungen, was sie gegenüber einem Journalisten vermutlich nicht getan hätten. In ihrer Gesamtheit lieferten diese Schilderungen ein unverfälschtes und schonungsloses Bild eines schlecht geführten Kriegs. Sie waren die Kehrseite der auf vorteilhafte Schlagzeilen reduzierten Berichte, die von der Militärführung im Pentagon unter die Leute gebracht wurde.

Eine weitere Sammlung aufschlussreicher Dokumente fand ich an der University of Virginia. Seit 2009 betreibt das Miller Center, eine auf politische Geschichte spezialisierte parteiunabhängige Partnerorganisation der Universität, ein Oral-History-Projekt zur Präsidentschaft von George W. Bush. Das Miller Center befragte rund hundert Personen, darunter wichtige Regierungsbeamte, externe Berater, Parlamentarier und ausländische Politiker.

Die meisten erklärten sich unter der Bedingung zu einem Interview bereit, dass die Niederschriften viele Jahre lang – oder bis nach ihrem Tod – vertraulich behandelt würden. Im November 2019 öffnete das Miller Center Teile seines Bush-Archivs für die Öffentlichkeit. Der Zeitpunkt der Öffnung kam mir sehr gelegen. Ich erhielt Zugang zu einem Dutzend Niederschriften von Oral-History-Interviews von Militärführern, Regierungsmitgliedern und anderen Verantwortlichen, die an der Kriegsführung in Afghanistan beteiligt waren.

Die Oral-History-Interviews der University of Virginia lieferten ebenfalls ein ungewöhnlich klares Bild von den Vorgängen in Afghanistan. Peter Pace, ein ehemaliger General des United States Marine Corps, der unter Bush Vorsitzender und stellvertretender Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff gewesen war, äußerte sein Bedauern darüber, dass es ihm nicht gelungen war, offen und ehrlich mit der amerikanischen Öffentlichkeit über die Dauer der Kriegseinsätze in Afghanistan und dem Irak zu sprechen.

»Ich hätte dem amerikanischen Volk sagen sollen, dass dies keine Frage von Monaten oder Jahren, sondern eine Frage von Jahrzehnten war«, sagte Pace.7 »Weil ich das nicht tat, weil Präsident Bush das meines Wissens nicht tat, nahm das amerikanische Volk vermutlich an, dass der Einsatz rasch erledigt sein würde.«

In diesem Buch geht es nicht um eine umfassende Darstellung des Afghanistankriegs. Es ist auch keine militärhistorische Abhandlung, in der die Kampfhandlungen genau untersucht werden. Vielmehr versuche ich nachzuzeichnen, was schieflief und wie es kam, dass drei Präsidenten und ihre Regierungen nicht in der Lage waren, den Amerikanern die Wahrheit zu sagen.

Dieses Buch beruht auf Interviews mit mehr als tausend Personen, die direkt am Krieg teilnahmen. Die ausgewerteten »Lessons Learned«-Befragungen, die Oral-History-Interviews und Rumsfelds »Schneeflocken« umfassen mehr als 10.000 Seiten an Dokumenten.

Aus diesen unbearbeiteten und ungefilterten Dokumenten sprechen Menschen zu uns, die wussten, dass dem amerikanischen Volk gezielt eine manipulierte Darstellung des Kriegsgeschehens vorgelegt wurde. Unter diesen Menschen waren Verantwortliche, die in Washington an der Gestaltung der Politik beteiligt waren, und Soldaten, die in den Bergen und Wüsten Afghanistans kämpften.

Doch kaum ein hochrangiger Regierungsvertreter brachte den Mut auf, öffentlich einzugestehen, dass die Vereinigten Staaten in einem Krieg, den ursprünglich die große Mehrheit der Amerikaner befürwortet hatte, langsam auf eine Niederlage zusteuerten. Mit ihrem Schweigen machten sich die Angehörigen der militärischen und politischen Führung mitschuldig, drückten sich um ihre Verantwortung und wichen einer Neubewertung der Situation aus, die das Ergebnis des Konflikts möglicherweise verändert oder den Krieg verkürzt hätte. Stattdessen entschlossen sie sich, ihre Fehler zu vertuschen und zuzulassen, dass der Krieg außer Kontrolle geriet.

TEIL I Ein trügerisches Siegesgefühl(2001–2002)

Kapitel 1Eine konfuse Mission

Gegen zehn Uhr morgens setzte die Marine One, der Präsidentenhubschrauber mit dem weißen Dach, sanft auf dem kurz geschnittenen Rasen des Paradeplatzes des Virginia Military Institute auf. Es war der 17. April 2002, ein sonniger, heißer Frühlingsmorgen im Shenandoah Valley. In der Cameron Hall, der Basketballhalle der Militärakademie, warteten rund zweitausend Kadetten auf den Oberkommandierenden und versuchten, in ihren gestärkten grau-weißen Uniformen nicht zu schwitzen. Als Präsident George W. Bush wenige Minuten später auf die Bühne trat, ins Publikum winkte und die Arme mit nach oben gerichtetem Daumen ausstreckte, erhoben sich die Kadetten und überschütteten ihn mit Applaus.

Bush hatte Grund zu lächeln und genoss die Aufmerksamkeit sichtlich. Es war sechs Monate her, dass er dem amerikanischen Militär den Befehl gegeben hatte, Afghanistan anzugreifen, um die Terrorangriffe vom 11. September 2001 zu ahnden, denen in New York, im Norden Virginias und in Shanksville, Pennsylvania, 2977 Menschen zum Opfer gefallen waren. Anders als jeder andere Konflikt in der amerikanischen Geschichte hatte dieser Krieg gegen einen weitgehend unbekannten Feind, der sich in einem gebirgigen Land auf der anderen Seite der Erde eingenistet hatte, plötzlich und unerwartet begonnen. Aber der anfängliche Erfolg des Feldzugs hatte sogar die zuversichtlichsten Feldkommandeure überrascht. Der Sieg schien sicher.

Gestützt auf eine unangefochtene Lufthoheit, von der CIA unterstützte lokale Machthaber und Kommandoeinheiten am Boden hatten die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten in weniger als sechs Wochen die Taliban-Regierung aus Kabul vertrieben und Hunderte al-Qaida-Kämpfer getötet oder gefangen genommen. Die überlebenden Anführer des Terrornetzes, darunter Osama bin Laden, hatten sich versteckt oder waren in andere Länder geflohen.

Die amerikanischen Verluste waren glücklicherweise gering. Bis Mitte April waren in Afghanistan 20 Soldaten gefallen – einer mehr als während der viertägigen Invasion der Karibikinsel Grenada im Jahr 1983. Zusammenstöße mit feindlichen Kräften wurden so selten, dass sich manche Soldaten über Langeweile beklagten. Viele Einheiten waren bereits heimgekehrt. Etwa noch 7000 US-Soldaten waren noch dort stationiert.

Der Krieg stärkte Bush. In der umkämpften Präsidentenwahl von 2000 hatte er sich nur mit einem hauchdünnen Vorsprung durchgesetzt, aber die Umfragen zeigten, dass mittlerweile 75 Prozent der Amerikaner seiner Amtsführung zustimmten. In seiner Rede an der Militärakademie in Virginia blickte Bush zuversichtlich in die Zukunft. Da die Taliban entmachtet und al-Qaida auf der Flucht sei, gehe der Krieg nun in eine zweite Phase über, erklärte der Präsident. Die Vereinigten Staaten würden sich jetzt der Aufgabe zuwenden, Terrorzellen in anderen Ländern zu zerschlagen. Er warnte davor, dass die Gewalt in Afghanistan erneut aufflammen könne, versicherte seinem Publikum jedoch, dass die Lage unter Kontrolle sei.

Mit Blick auf die katastrophalen militärischen Fehlschläge, die Großbritannien und die Sowjetunion in den vergangenen beiden Jahrzehnten in Afghanistan erlitten hatten, versprach Bush, die Vereinigten Staaten würden nicht dasselbe Schicksal erleiden wie andere Großmächte, die sich in Afghanistan militärisch engagiert hatten. »Auf anfängliche Erfolge folgten lange Jahre des ziellosen Taumelns und schließlich das Scheitern«, sagte er. »Wir werden diesen Fehler nicht wiederholen.«

Doch während Bush Zuversicht verbreitete, waren führende Regierungsmitglieder besorgt.

Zur selben Zeit, als der Präsident auf dem Weg nach Virginia war, dachte sein Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im Pentagon laut nach. Rumsfeld, der an diesem Morgen in seinem Büro im dritten Stock des äußeren Rings des Gebäudes arbeitete, war beunruhigt. Entgegen den optimistischen Botschaften, die er und der Präsident seit Monaten an die Öffentlichkeit sandten, befürchtete der Verteidigungsminister, dass das amerikanische Militär in Afghanistan in eine Sackgasse geraten würde und dass es an einer klaren Ausstiegsstrategie mangelte.

Um Viertel nach neun fasste er seine Überlegungen in einer kurzen Mitteilung zusammen. Das war eine alte Gewohnheit von ihm. Er diktierte derart viele Memos, dass seine Mitarbeiter nur von »Schneeflocken« sprachen – Notizen des Chefs, die auf weißen Blättern auf ihre Schreibtische rieselten. Diese Mitteilung war als vertraulich gekennzeichnet und an vier hochrangige Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums gerichtet, darunter an den Vorsitzenden des Joint Chiefs of Staff und an seinen Stellvertreter.

»Vielleicht mangelt es mir an Geduld. Tatsächlich weiß ich, dass ich ein wenig ungeduldig bin«, erklärte Rumsfeld in der Mitteilung, die nur eine Seite umfasste.8 »Wir werden die amerikanischen Truppen nie aus Afghanistan herausbekommen, wenn wir nicht für die Stabilität sorgen, die nötig ist, damit wir uns wieder zurückziehen können.«

Und er fügte hinzu: »Hilfe!«

Rumsfeld achtete darauf, seine Zweifel und Bedenken für sich zu behalten, so wie er es einige Wochen früher in einem langen Interview mit dem Sender MSNBC getan hatte. In der am 28. März ausgestrahlten Sendung hatte er sich damit gebrüstet, dass der Feind überrannt worden sei, und erklärt, es habe keinen Sinn, mit den Überbleibseln der Taliban, geschweige denn mit al-Qaida zu verhandeln. »Man kann sie nur bombardieren und versuchen, sie zu töten. Genau das haben wir getan, und es hat funktioniert. Sie sind weg. Und dem afghanischen Volk geht es jetzt sehr viel besser.«9

Wie Bush bemühte sich auch Rumsfeld, das Image einer mutigen und entschlossenen Führungspersönlichkeit aufrechtzuerhalten. Der MSNBC-Moderator Brian Williams verstärkte Rumsfelds Selbstdarstellung, indem er den Minister umschmeichelte, seinen »forschen Charakter« pries und ihn als den »selbstsichersten Mann« in Amerika bezeichnete.10 »Er lenkt den Krieg wie kein anderer, und er ist vermutlich mehr als jeder andere das öffentliche Gesicht und die Stimme dieses Kriegs«, erklärte Williams den Zuschauern.

Williams stellte dem Verteidigungsminister nur eine einzige unerbittliche Frage: Er wollte wissen, ob Rumsfeld in seinen häufigen Pressekonferenzen im Pentagon schon einmal versucht gewesen war, die Unwahrheit zu sagen. »Wie oft waren Sie in diesem Pressesaal gezwungen, die Wahrheit zurechtzubiegen, weil das Leben von Amerikanern auf dem Spiel stand?«

»Nie«, antwortete Rumsfeld. »Meines Erachtens ist Glaubwürdigkeit viel wichtiger als der Wunsch, die Dinge in einem vorteilhaften Licht darzustellen.« Und er fügte hinzu. »Wir werden genau das tun, was nötig ist, um das Leben der Männer und Frauen in Uniform zu schützen und den Erfolg unseres Landes zu sichern. Lügen gehören nicht zu dem, was nötig ist.«

Gemessen an den Maßstäben Washingtons log Rumsfeld tatsächlich nicht – aber er war auch nicht aufrichtig. Stunden vor der Aufnahme des MSNBC-Interviews hatte der Verteidigungsminister eine »Schneeflocke« an zwei Mitarbeiter diktiert, in der er die Entwicklung in Afghanistan vollkommen anders einschätzte.

»Ich bin besorgt, dass uns die Sache entgleitet«, schrieb er in der vertraulichen Mitteilung.11

Zu Beginn des Kriegs hatte es den Anschein gehabt, als würde der Einsatz in Afghanistan eine einfache und begrenzte Mission werden: Man wollte al-Qaida zerschlagen und eine Wiederholung der Angriffe vom 11. September unmöglich machen. Am 14. September 2001 hatte der Kongress, ohne zu zögern und beinahe einstimmig, die Anwendung militärischer Gewalt gegen al-Qaida und deren Anhänger bewilligt.12

Als am 7. Oktober die Luftangriffe auf Ziele in Afghanistan begannen, ahnte niemand, dass die Kämpfe zwanzig Jahre lang andauern würden. In einer Fernsehansprache an jenem Tag erklärte Bush, der Krieg diene zwei begrenzten Zielen: Man wolle verhindern, dass al-Qaida Afghanistan als Operationsbasis nutze, und man werde die militärische Schlagkraft der Taliban angreifen.

Der Oberkommandierende versprach den Streitkräften auch ein klares Ziel: »Allen Männern und Frauen in unseren Streitkräften sage ich Folgendes: Eure Mission ist definiert. Die Ziele sind klar.«

Den Militärstrategen wird beigebracht, nie einen Krieg zu beginnen, ohne einen Plan dafür zu haben, wie er beendet werden kann. Aber weder Bush noch irgendein anderes Mitglied seiner Regierung äußerten sich öffentlich dazu, wie, wann oder unter welchen Bedingungen der Militäreinsatz in Afghanistan beendet werden sollte.

In den ersten Kriegstagen und bis zum Ende seiner Präsidentschaft wich Bush Fragen dazu aus, wie lange die amerikanischen Truppen in Afghanistan würden kämpfen müssen. Er wollte keine zu hohen Erwartungen wecken und die Optionen seiner Generäle nicht einschränken, indem er sich auf einen Zeitplan festlegte. Aber es war ihm bewusst, dass sich das Land schmerzhaft an das letzte Mal erinnerte, als es einen nicht enden wollenden Landkrieg in Asien geführt hatte, und er versuchte, die Sorge zu zerstreuen, die Geschichte könnte sich wiederholen.

In einer Pressekonferenz, die am 11. Oktober 2001 zur besten Sendezeit im East Room des Weißen Hauses stattfand, fragte ein Journalist den Präsidenten geradeheraus: »Können Sie es vermeiden, in Afghanistan in einen Schlamassel wie seinerzeit in Vietnam hineingezogen zu werden?«

Bush hatte eine Antwort parat: »In Vietnam haben wir einige wertvolle Lektionen gelernt. Die vielleicht wichtigste Lehre, die ich aus diesem Krieg gezogen habe, ist die, dass man mit konventionellen Truppen keinen Guerillakrieg führen kann. Deshalb habe ich dem amerikanischen Volk erklärt, dass wir es hier mit einem andersartigen Krieg zu tun haben.«

Er fuhr fort: »Ich werde oft gefragt: Wie lange wird es dauern? Dieser Kampf wird so lange dauern, bis al-Qaida die gerechte Strafe erhalten hat. Es kann morgen so weit sein, es kann in einem Monat so weit sein, es kann ein oder zwei Jahre dauern. Aber wir werden uns durchsetzen.«

In vertraulichen Gesprächen mit von der Regierung beauftragten Interviewern äußerten viele Amtsträger, die wichtige Rollen im Krieg gespielt hatten, Jahre später schonungslose Kritik an den Entscheidungen in der Frühphase des Konflikts. Sie erklärten, die unmittelbaren und langfristigen Ziele des Militäreinsatzes hätten sich rasch in eine Richtung entwickelt, die nur noch wenig mit 9/11 zu tun hatte. Und sie räumten ein, dass es der Regierung schwergefallen sei, genau zu definieren, was sie in einem Land zu erreichen hoffte, das die meisten Regierungsmitglieder nicht verstanden.

»Würde ich ein Buch darüber schreiben, so wäre seine Kernaussage: ›Amerika zieht in den Krieg, ohne zu wissen, was es tut‹«, erklärte ein namentlich nicht genannter hochrangiger Mitarbeiter des State Department in einer »Lessons Learned«-Befragung.13 »Nach dem 11. September reagierten wir reflexartig, ohne zu wissen, was wir eigentlich erreichen wollten. Ich würde gerne ein Buch darüber schreiben, dass man einen Plan und eine Ausstiegsstrategie braucht, bevor man in ein Land hineingeht.«

Andere erklärten, dass sich niemand die Mühe gemacht habe, viele eigentlich naheliegende Fragen zu stellen, geschweige denn zu beantworten.

»Was taten wir eigentlich in diesem Land? Wir marschierten dort nach dem 11. September ein, um al-Qaida in Afghanistan zu zerschlagen, aber die Ziele der Mission wurden zusehends unklar«, sagte ein namentlich nicht genannter amerikanischer Beamter, der von 2011 bis 2013 für den zivilen Repräsentanten der NATO in Afghanistan gearbeitet hatte, in einem »Lessons Learned«-Interview.14 »Genauso verschwommen waren unsere konkreten Vorhaben: Was hatten wir vor? Nationsbildung? Frauenrechte?«

Richard Boucher, der bei Kriegsausbruch Chefsprecher des Außenministeriums war und später der leitende amerikanische Diplomat für die Region Südasien wurde, gelangte zu dem Schluss, die Vereinigten Staaten hätten blauäugig versucht, zu viele Dinge zu erreichen, und nie eine realistische Ausstiegsstrategie entwickelt.

»Wenn es je ein Beispiel für die schleichende Ausweitung einer Mission gegeben hat, so ist es Afghanistan«, sagte er in einer »Lessons Learned«-Befragung.15 »Anfangs sagten wir: Wir werden al-Qaida zerschlagen, damit sie uns nicht mehr bedrohen kann. Daraus wurde: Wir werden die Taliban entmachten. Dann sagten wir, dass wir alle Gruppen ausschalten wollten, mit denen die Taliban zusammenarbeiteten.«

Darüber hinaus, erklärte Boucher, hätten sich die Vereinigten Staaten ein »unerreichbares« übergeordnetes Ziel gesetzt: Sie wollten Afghanistan eine stabile Regierung nach amerikanischem Vorbild, demokratische Wahlen, ein funktionierendes Oberstes Gericht, eine Korruptionsbekämpfungsbehörde, ein Frauenministerium und ein öffentliches Schulsystem mit Tausenden neuen Schulen und einem modernen Lehrplan geben. »Wir versuchten, in einem Land, das nicht so funktionierte, ein systematisches Regierungssystem nach Washingtoner Vorbild zu errichten.«16

Ohne umfassende öffentliche Diskussion änderte die Bush-Administration bald nach Beginn der Luftangriffe im Oktober sowohl die übergeordneten als auch die konkreten Ziele. Hinter den Kulissen entwarf die Militärführung während des laufenden Einsatzes die Pläne für den Kriegseinsatz.

Philip Kapusta, ein Marineoffizier, der als Planer bei den Spezialeinheiten im Einsatz war, berichtete, in den ursprünglichen Anweisungen des Pentagon im Herbst 2001 habe es an spezifischen Angaben gemangelt. Beispielsweise sei unklar gewesen, ob die Taliban nur bestraft oder entmachtet werden sollten. Er erklärte, viele Offiziere im für die Leitung der Einsätze verantwortlichen Central Command hätten den Plan nicht für durchführbar gehalten, sondern als Platzhalter betrachtet, der lediglich dazu diente, Zeit für die Entwicklung einer besser durchdachten Strategie zu gewinnen.

»Wir erhielten ein paar allgemeine Orientierungshilfen, etwa in der Art: ›Also wir wollen die Taliban und al-Qaida in Afghanistan bekämpfen‹«, erinnerte sich Kapusta in einem Oral-History-Interview der Army.17 »Tatsächlich war der Regimewechsel im ursprünglichen Plan nicht unbedingt ein Ziel. Er wurde nicht ausgeschlossen, aber er war nicht unser vorrangiges Ziel.«

Am 16. Oktober genehmigte der Nationale Sicherheitsrat ein aktualisiertes Strategiepapier. In dem vertraulichen sechsseitigen Dokument – das an eine von Rumsfelds »Schneeflocken« angehängt war und später freigegeben wurde – wurden die Zerschlagung von al-Qaida und die Entmachtung der Taliban gefordert, aber darüber hinaus enthielt es kaum konkrete Zielvorgaben.18

In dem Strategiepapier hieß es, die Vereinigten Staaten sollten »Schritte unternehmen, um zu einem stabileren Afghanistan nach dem Ende der Taliban-Herrschaft beizutragen«. Die Regierung ging jedoch davon aus, dass die amerikanischen Truppen nicht lange im Land bleiben würden: »Die Vereinigten Staaten sollten sich nicht zu einem über die Entmachtung der Taliban hinausgehenden militärischen Engagement verpflichten, denn der weltweite Kampf gegen den Terrorismus erfordert einen hohen Energieaufwand.«19

Gewarnt durch die Erfahrungen früherer Invasoren, die in Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten waren, wollte die Bush-Administration möglichst wenige amerikanische Soldaten in dem Land stationieren.

»Rumsfeld ging von der Annahme aus, wir würden in Afghanistan eine kleine amerikanische Streitmacht einsetzen, weil eine umfassende militärische Präsenz wie die der Sowjets vermieden werden sollte«, erklärte Douglas Feith, der politische Staatssekretär im Pentagon, in einem Oral-History-Interview der University of Virginia.20 »Wir wollten keine fremdenfeindliche Reaktion der afghanischen Bevölkerung provozieren. Die Sowjets hatten dort 300.000 Mann stationiert und waren gescheitert. Wir wollten diesen Fehler nicht wiederholen.«

Am 19. Oktober landeten die ersten amerikanischen Spezialeinheiten in Afghanistan, wo bereits einige Handvoll CIA-Mitarbeiter mit der Nordallianz zusammenarbeiteten, einer Koalition von lokalen Machthabern, welche die Taliban bekämpfte. In der Region stationierte amerikanische Kampfflugzeuge setzten ihre gewaltige Schlagkraft aus der Luft ein. Doch trotz der amerikanischen Unterstützung erzielten die bunt zusammengewürfelten Einheiten der Nordallianz kaum Gebietsgewinne gegen die Taliban und al-Qaida.

An Halloween wandte sich Rumsfeld in einer mittäglichen Besprechung in seinem Büro im Pentagon an Feith und den stellvertretenden Vorsitzenden der Joint Chiefs of Staff, General Peter Pace von den Marines, und eröffnete ihnen, sie müssten die Kriegsstrategie überdenken. Der Verteidigungsminister war ungeduldig und verlangte einen neuen schriftlichen Plan. Wie Feith in seinem Oral-History-Interview berichtete, gab Rumsfeld den beiden Männern vier Stunden Zeit, um diesen Plan vorzulegen.21

Feith und Pace verließen Rumsfelds Büro und machten sich auf den Weg zu Feiths Büro. Im Korridor im äußeren Ring des Pentagon gesellte sich Generalmajor Michael Dunn von der Air Force zu ihnen, der das Planungsteam der Stabschefs leitete. Der 48-jährige Feith setzte sich an seinen Computer, und die beiden Generäle schauten ihm über die Schulter dabei zu, wie er eine neue strategische Analyse für Rumsfeld entwarf – eine Aufgabe, die normalerweise mehrere Monate in Anspruch genommen und ungezählte Mitarbeiter beschäftigt hätte.22

Es war eine in mehrerlei Hinsicht sonderbare Szene. Feith, ein intellektueller Harvard-Absolvent mit vorgestülpten Lippen und runder Brille, der nie eine Uniform getragen hatte, brachte viele Generäle gegen sich auf, weil er überzeugt war, mehr von militärischen Operationen zu verstehen als sie.

General Tommy Franks von der Army, ein barscher Offizier aus Oklahoma, der für die Kriegsführung verantwortlich war, würde Feith später als den »größten Idioten auf der Erde« bezeichnen.23 Ein weiterer Vier-Sterne-General des Heeres, George Case, beschrieb Feith in einem Oral-History-Interview der University of Virginia als »intransigent« und erklärte, es sei beinahe unmöglich gewesen, mit diesem Mann zusammenzuarbeiten: »Er hatte immer recht und hielt derart unnachgiebig an seinen Argumenten und seinen Standpunkten fest, dass es wirklich schwierig wurde.«24

Überraschenderweise kam Feith gut mit Pace aus, der als Kommandant eines Infanteriezugs in Vietnam gekämpft hatte und in seinen 34 Jahren bei den Marines in Korea, Somalia und an vielen anderen Brennpunkten im Einsatz gewesen war.25 Die beiden hatten die Uhr im Blick, während sie gemeinsam einen neuen strategischen Leitfaden für den Einsatz in Afghanistan zusammenbastelten und vor Ablauf der Frist am Nachmittag bei Rumsfeld ablieferten. »Im Lauf der Arbeit wandte ich mich an Pace und sagte etwas wie ›Das ist ein bisschen eigenartig, nicht wahr?‹«, erinnerte sich Feith.26 »Es ist, als würde man vor einem Examen an der Uni die Nacht durchbüffeln.«

In dem Strategiepapier beschäftigten sie sich mit einigen grundlegenden Fragen zum Militäreinsatz: »Wo sind wir? Welche Ziele verfolgen wir? Welches sind unsere Annahmen? Was können wir tun?« Feith war stolz auf das Endergebnis. In seinem Oral-History-Interview deutete er an, dass sein Chef ebenfalls damit zufrieden war.27 »Es war in gedrängter Form eine geeignete strategische Analyse aus Rumsfelds Sicht. Wenn die Zeit drängt, kann man ein Thema nicht bis ins letzte Detail untersuchen.«

Einige Tage später stellten viele amerikanische Offiziere verblüfft fest, dass sich das Schlachtenglück plötzlich zu ihren Gunsten wendete. Mit amerikanischer Hilfe brachten die Truppen der Nordallianz innerhalb kürzester Zeit mehrere größere Städte unter ihre Kontrolle: Masar-e Scharif am 9. November, Herat am 12. November, Kabul am folgenden Tag und Jalalabad einen weiteren Tag später.

Kapusta, der Planer der Spezialeinheiten, saß mit einer Gruppe hochrangiger Offiziere in einem Konferenzzimmer im Hauptquartier des Zentralkommandos in Tampa und wunderte sich über die rasanten Fortschritte. »Einer der Männer sagte tatsächlich – direkt nach dem Fall von Kabul: ›Na, und ihr habt nicht geglaubt, dieser Mist würde funktionieren.‹ Und alle Anwesenden nickten zustimmend.«28

Das Verteidigungsministerium reagierte ebenfalls überrascht auf die plötzliche Wende. »Im November fragten wir uns, wie weit wir bis zu den Ferien vorstoßen könnten. Konnten wir uns so festsetzen, dass wir den Winter überleben würden?« General Pace erklärte in seinem Oral-History-Interview der University of Virginia: »Und jetzt gehört uns das ganze Land, vor Weihnachten. Du denkst: Mann, das ist wirklich toll.«29

Nachdem das Taliban-Regime eher unerwartet zusammengebrochen war, war den amerikanischen Kommandeuren nicht klar, wie sie weiter vorgehen sollten. Sie befürchteten, Afghanistan werde im Chaos versinken. Aber sie wollten auch keine zusätzlichen Bodentruppen stationieren, um das Machtvakuum zu füllen, denn sie wollten vermeiden, die Verantwortung für die Lösung der zahlreichen Probleme des Landes übernehmen zu müssen. Also entsandte das Pentagon einige zusätzliche Einheiten, die bei der Jagd auf bin Laden und andere al-Qaida-Führer helfen sollten, sorgte jedoch dafür, dass diese Einheiten möglichst wenig Präsenz zeigten, und grenzte ihre Aufgaben strikt ein.

Fürs Erste genügte das, um zu verhindern, dass Afghanistan auseinanderbrach. In der Öffentlichkeit tat Rumsfeld so, als hätte er keine Sekunde an dem Kriegsplan gezweifelt.

»Ich denke, in den früheren Phasen haben sich die Dinge genau wie geplant entwickelt. Wir haben die Bedingungen für die nächsten Schritte geschaffen«, erklärte der Verteidigungsminister am 27. November in einer triumphalen Pressekonferenz im Hauptquartier des Central Command in Tampa. Den Journalisten, die das Gespenst von Vietnam heraufbeschworen hatten, versetzte er einen sarkastischen Seitenhieb. »Es sah aus, als würde nichts passieren. Tatsächlich sah es so aus, als befänden wir uns – alle zusammen jetzt! – in einem Schlamassel.«

Anfangs war die US-Army derart bemüht, ihren Aufenthalt in Afghanistan zu verkürzen, dass sie sich weigerte, grundlegende Ausrüstung ins Land zu bringen, um den Alltag der Soldaten angenehmer zu gestalten. Soldaten, die saubere Kleidung wollten, mussten ihre Schmutzwäsche im Hubschrauber zu einer vorübergehenden Nachschubbasis im benachbarten Usbekistan schicken.

Zu Thanksgiving machte die Heeresführung ein kleines Zugeständnis an das Bedürfnis nach Sauberkeit und entsandte ein zweiköpfiges Team nach Bagram im Norden Afghanistans, um am dortigen Luftwaffenstützpunkt die erste Dusche zu installieren. Zu diesem Zeitpunkt waren dort rund zweihundert Mitglieder der amerikanischen Spezialeinheiten und zahlreiche Soldaten verbündeter Länder stationiert.

»Einige der Männer waren seit dreißig Tagen dort und brauchten ein Bad«, erklärte Major Jeremy Smith, der für die Wäscherei in Usbekistan zuständige Quartiermeister, in einem Oral-History-Interview der Army.30 Seine Vorgesetzten wollten eigentlich weder zusätzliches Personal noch Ausrüstung nach Bagram schicken, gaben schließlich jedoch nach.

»Am Ende sagten sie: ›Also gut, machen wir es‹«, erinnerte sich Smith. »Aber es hieß: ›Wir sind nicht sicher, wie lange wir hier sein werden, viele Dinge sind nicht geklärt. Also muss unsere Präsenz so minimal wie möglich sein. Welches ist die kleinste Zahl von Personen, die ihr schicken könnt?‹ Die kleinste Zahl von Personen, die ich schicken konnte, war zwei. ›Welches ist die kleinste Duschanlage, die ihr schicken könnt?‹ – ›Nun ja, die Anlage ist für zwölf Duschen ausgelegt, aber die kleinste realistische Einheit hat sechs Duschköpfe.‹ Da der Mischer und der Heizkörper und die Pumpen allesamt für eine Anlage mit zwölf Duschköpfen bestimmt waren, hatte die Anlage mit sechs Duschköpfen einen sehr ordentlichen Wasserdruck. Das gefiel den Leuten.«

Im Lauf der Zeit wuchs Bagram zu einem der größten amerikanischen Militärstützpunkte im Ausland. Als Smith ein Jahrzehnt später zu einer zweiten Einsatzzeit nach Bagram zurückkehrte, fand er eine funktionierende Kleinstadt samt Einkaufszentrum und Harley-Davidson-Konzessionär vor, in der rund 30.000 Soldaten, Zivilisten und Auftragnehmer lebten. »Noch bevor das Flugzeug zum Stehen kam«, erinnerte sich Smith, »erkannte ich die Berge wieder, und dann merkte ich, dass der Geruch unverändert war. Doch als ich ausstieg, dachte ich: ›Meine Güte! Ich erkenne fast nichts wieder.‹31

Aber im Dezember 2001 waren in ganz Afghanistan nur 2500 amerikanische Soldaten stationiert. Rumsfeld ließ zu, dass die Truppenstärke langsam erhöht wurde, setzte der Ausweitung des Einsatzes jedoch enge Grenzen. Als Ende Januar 2002 die Olympischen Winterspiele in Salt Lake City begannen, waren beim Schutz der Sportstätten mehr amerikanische Militärangehörige (4369) im Einsatz als in Afghanistan (4003).32

Ein großer Teil der Truppen im Süden des Landes war auf einem Rollfeld bei Kandahar stationiert, wo die Bedingungen noch primitiver waren als im knapp 500 Kilometer entfernten Bagram. »Auf dem ganzen Stützpunkt gab es nur eine einzige Dusche«, erinnerte sich Major David King vom 160. Sondereinsatzregiment der Luftwaffe in einem Oral-History-Interview der Army.33 »Du musst die Verwendung eines Pinkelrohrs planen, und du musst in ein Fass kacken, um anschließend alles mit Diesel zu übergießen und zu verbrennen […]. Es gab keine Toilettenwagen oder Baustellenklos, nichts in der Art, zumindest nicht zu jener Zeit.«

Als Major Glen Helberg, ein Infanterieoffizier, im Januar 2002 am Flughafen Kandahar eintraf, schlief er die erste Nacht in einem Schlafsack im Wüstensand. »Es war staubig wie auf dem Mond, es regnete in jener Nacht, und das Wasser strömte unter den Zelttüren herein«, erinnerte er sich in einem Oral-History-Interview der Army. »Als ich aufwachte, schwammen einige meiner Sachen in einer Pfütze.«34

Als Helbergs Einheit sechs Monate später abmarschierte, schliefen die Soldaten schon nicht mehr auf der Erde, sondern auf Pritschen. Zu jener Zeit ahnte niemand, dass sich das staubige Lager in Kandahar in eine riesige militärische Drehscheibe von ähnlichen Ausmaßen wie Bagram verwandeln würde. Schließlich wurde es mit fünftausend Starts und Landungen pro Woche zum geschäftigsten Flughafen zwischen Neu-Delhi und Dubai.

Doch zu jener Zeit schien der Kriegseinsatz seinen Höhepunkt erreicht zu haben, und alles deutete darauf hin, dass bald die Aufräumarbeiten beginnen würden. In einem Oral-History-Interview der Army erklärte Major Lance Baker, ein Nachrichtendienstoffizier, es seien Gerüchte darüber in Umlauf gewesen, dass seine Einheit, die 10. Gebirgsdivision, nichts mehr zu tun habe. »Es wird nicht mehr gekämpft, Afghanistan ist erledigt. Wir kehren heim.35

Im Juni landete Major Andrew Steadman von der Army mit seinem Fallschirmjägerbataillon in der Erwartung in Kandahar, auf die Jagd nach al-Qaida-Terroristen zu gehen. Doch bald stellte sich heraus, dass sie nur herumsitzen würden. »Die Jungs vertrieben sich die Zeit mit Videospielen«, sagte er in einem Oral-History-Interview der Army. »Am Vormittag trainierten sie mit Gewichten, am Nachmittag machten sie Ausdauertraining.«36

Auch dem Schützenzug von Major Steven Wallace fiel es im Osten Afghanistans unweit der pakistanischen Grenze schwer, feindliche Kämpfer zu finden. »Wir waren acht Wochen dort und gerieten nicht in ein einziges Feuergefecht«, erzählte er Historikern der Army. »Es war wirklich langweilig.«37

An der Oberfläche sah es so aus, als würde sich Afghanistan stabilisieren. Die Vereinten Nationen entwickelten bei einer Konferenz in Bonn einen Regierungsplan für das Land. Hamid Karzai, ein paschtunischer Stammesführer und CIA-Informant, der fließend Englisch sprach, wurde zum Interimsregierungschef ernannt. Hilfsorganisationen und Dutzende Spenderländer versorgten die afghanische Bevölkerung mit dringend benötigten Gütern.

Die Bush-Administration versuchte immer noch, ein langfristiges Engagement in Afghanistan zu vermeiden. Aber die raschen und überwältigenden militärischen Erfolge weckten neue Zuversicht bei den amerikanischen Verantwortlichen, die nun begannen, andere Ziele ins Auge zu fassen.

Nach Einschätzung von Stephen Hadley, der zu jener Zeit stellvertretender nationaler Sicherheitsberater des Weißen Hauses war, trat der Krieg in eine »ideologische Phase« ein, in der sich die amerikanische Regierung entschloss, den Afghanen Freiheit und Demokratie zu bringen, um ihnen eine Alternative zum Terrorismus anzubieten. Um dieses Vorhaben zu verwirklichen, würden die amerikanischen Truppen ihren Aufenthalt verlängern müssen.

»Ursprünglich hatten wir die Nationsbildung abgelehnt, aber ohne sie konnte nicht gewährleistet werden, dass al-Qaida nie zurückkehren würde«, erklärte Hadley in einem »Lessons Learned«-Interview. »Wir wollten keine Besatzer werden oder die Afghanen zu etwas zwingen. Aber nachdem die Taliban vertrieben waren, wollten wir diesen Erfolg nicht wegwerfen.«38

Als Präsident Bush im April seine Rede vor den Kadetten des Virginia Military Institute hielt, hatte er sich bereits sehr viel ehrgeizigere Kriegsziele gesetzt.

Die Vereinigten Staaten, erklärte er, seien verpflichtet, den Afghanen beim Aufbau eines vom Terrorismus befreiten Landes mit einer stabilen Regierung, einer neuen Armee und einem Bildungssystem für beide Geschlechter zu helfen. »Wirklichen Frieden wird es nur geben, wenn wir dem afghanischen Volk die Mittel in die Hand geben, die es braucht, um seine Bestrebungen verwirklichen zu können«, sagte er.

Jetzt versprach Bush, die Vereinigten Staaten würden ein verarmtes, im vergangenen Vierteljahrhundert durch Krieg und ethnische Konflikte traumatisiertes Land vollkommen umkrempeln. Es waren edle Ziele, aber der Präsident nannte keine Einzelheiten und erklärte nicht, woran der Erfolg dieses Vorhabens gemessen werden sollte.

In dieser Rede wich er auch der Frage aus, wie viel der Einsatz kosten und wie lange er dauern würde. Er sagte nur: »Wir werden so lange bleiben, bis die Mission erfüllt ist.«

Die Bush-Administration beging den klassischen Fehler, auf eine klare Strategie mit konkreten, erreichbaren Zielen zu verzichten. Dennoch befürchtete kaum jemand, dass sich die Vereinigten Staaten auf eine Mission eingelassen hatten, die kein Ende haben würde.

Zweifler wurden ignoriert. »Als wir nach Afghanistan gingen, war überall von ein oder zwei Jahren die Rede, und ich sagte ihnen, wir könnten von Glück sagen, wenn wir in zwanzig Jahren herauskämen«, sagte Robert Finn, der von 2002 bis 2003 amerikanischer Botschafter in Kabul war, in einer »Lessons Learned«-Befragung.39

Jahrelang sträubte sich die Militärführung gegen das Eingeständnis, dass sie grundlegende strategische Fehler begangen hatte.

Tommy Franks, der Army-General, der bei Kriegsausbruch das Kommando hatte, war überzeugt, seine Pflicht erfüllt zu haben: Er sollte al-Qaida zerschlagen und die Taliban vertreiben. »Wie viele in Afghanistan geplante Anschläge auf amerikanischem Boden hat es seither gegeben?«, fragte Franks in einem Oral-History-Interview der University of Virginia. »Lasst mich in Ruhe damit. Wir haben ein Problem gelöst.«40

Was die Gestaltung der Zukunft Afghanistans anbelangte, war Franks der Meinung, dafür seien andere Leute verantwortlich.

»Also gut, wir haben andere Probleme geschaffen, und wir haben die Jahrhunderte oder Jahrtausende der Armut und all die Probleme Afghanistans nicht gelöst«, sagte er.41 »Hätten wir das zu unserem Ziel machen sollen? Ich bin nicht der Richtige, um das zu beurteilen. Ich war oft erleichtert, weil der Präsident mich nie fragte: ›Sollten wir dies oder jenes tun?‹ Denn ich hätte antworten müssen: ›Das ist Ihr Job, nicht meiner.‹«

Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Franks eine Invasion leitete, ohne angemessen für die Besatzungszeit nach dem militärischen Sieg zu planen.

Sechs Monate nach Kriegsbeginn erlag die amerikanische Regierung dem größenwahnsinnigen Irrtum anzunehmen, der Konflikt sei erfolgreich und zu den Bedingungen der USA beendet. Bin Laden war immer noch auf freiem Fuß, aber abgesehen davon kümmerten sich die Verantwortlichen in Washington nicht mehr groß um Afghanistan, weil ein anderes Land in der Region ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm: der Irak.

Im Mai traf ein anderer Drei-Sterne-General in Afghanistan ein, um das Kommando über die amerikanischen Truppen zu übernehmen. Der 54-jährige Vietnamveteran Dan McNeill aus North Carolina erklärte später, das Verteidigungsministerium sei zu jener Zeit bereits derart auf den Irak fixiert gewesen, dass er kaum klare Vorgaben zum Vorgehen in Afghanistan erhalten habe.

»In den ersten Tagen gab es keinen Plan für den Feldzug«, sagte McNeill in einem »Lessons Learned«-Interview. »Rumsfeld regte sich jedes Mal auf, wenn die Truppenzahl vor Ort erhöht wurde.«42

Im Herbst war sogar der Oberkommandierende abgelenkt und hatte wichtige Details über den Krieg in Afghanistan vergessen.

Am Nachmittag des 21. Oktober arbeitete Bush im Oval Office, als Rumsfeld mit einer schnellen Frage hereinkam: Wollte sich der Präsident in dieser Woche mit den Generälen Franks und McNeill treffen?

Bush wirkte etwas ratlos, wie Rumsfeld am selben Tag in einer »Schneeflocke« schrieb.

»Er sagte: ›Wer ist General McNeill?‹«, schrieb der Verteidigungsminister in der Mitteilung. »Ich sagte ihm, es sei der für Afghanistan zuständige General. Er sagte: ›Ach so. Es ist nicht nötig, dass ich mich mit ihm treffe.‹«43

Kapitel 2»Wer sind die Bösen?«

Im August 2002 weckte ein ungewöhnlicher Bericht aus dem Kriegsgebiet die Aufmerksamkeit von Verteidigungsminister Rumsfeld und anderen hochrangigen Mitarbeitern des Pentagon. Es war eine 14 Seiten lange E-Mail, die ein Angehöriger eines Teams alliierter Elitesoldaten verfasst hatte, das Jagd auf besonders gefährliche Terroristen machte. Der Bericht enthielt eine ungefilterte Darstellung aus erster Hand der Lage im Süden Afghanistans.

»Grüße aus dem malerischen Kandahar«, begann der Autor. »Ehemals bekannt als ›Heimat der Taliban‹. Heute bekannt als ›Elendes Rattenloch‹.«44

Der Autor der nicht vertraulichen E-Mail, die eine Mischung aus Nachrichtendienstbericht und ironischem Reisebericht enthielt, war Roger Pardo-Maurer, ein 38-jähriger Green Beret, der einen atypischen Lebenslauf hatte. Er stammte aus Connecticut, hatte in Yale studiert und sich in den Achtzigerjahren den Contras in Nicaragua angeschlossen, um anschließend in den Neunzigerjahren als Investmentberater zu arbeiten. Er war im Verteidigungsministerium als stellvertretender Unterstaatssekretär für die westliche Hemisphäre zuständig gewesen – womit er das zivile Gegenstück zu einem Drei-Sterne-General war –, als seine Reserveeinheit der Army nach dem Terrorangriff vom 11. September mobilisiert worden war.

Pardo-Maurer war im Büro für seinen Humor bekannt, und seine Eindrücke von der Front wurden zu einer Pflichtlektüre für seine Kollegen im Pentagon. Er beschrieb die Umgebung in der erstickenden Sommerhitze von Kandahar als »quasivenerische, submarsianische Umwelt«, gekennzeichnet von »Hitze, Staub und ausgetrockneter Luft, die dich betäubt, deine Hornhäute abschabt, ständige Kopfschmerzen und Nasenbluten durch verstopfte Nebenhöhlen verursacht und in empfindlichen Körperregionen die Haut aufreißt«.45

»Sieht man von der Sahara, den beiden Polen und den Eingeweiden des Kilauea ab, so kann ich mir nicht vorstellen, dass es auf der Erde eine Landschaft gibt, die für den Menschen unwirtlicher ist«, fuhr er fort, »und mit Sicherheit werde ich diesen Ort nicht besuchen.«46

Der Bericht enthielt auch schonungslose Porträts anderer Akteure im Afghanistankrieg. Seine Einheit war im sogenannten Special Forces Village am Flughafen Kandahar untergebracht, einer Barackenstadt aus Zelten und Sperrholzhütten, die »einen beeindruckenden Haufen« bärtiger Elitesoldaten aus den Vereinigten Staaten und verbündeten Ländern beherbergte.47

Pardo-Maurer beschrieb die Navy SEALs, eine Spezialeinheit der US-Navy, als »Rabauken«, die für ihre »rüpelhaften Einfälle« berühmt seien, darunter ein Verwüstungsfeldzug gegen die Wohnanlage der neuseeländischen Spezialeinheit und die Freilassung der Schlangen, die der Kommandant als Haustiere hielt. Die CIA-Mitarbeiter waren in seinen Augen »ungehobelte, aufgeblasene Trottel«, die viel Zeit mit der Suche nach afghanischen Kunsthandwerkserzeugnissen vergeudeten, die sie als Souvenirs mit nach Hause nehmen wollten.48

Respekt flößten ihm die Kommandos aus Kanada ein, die er als »mit einiger Wahrscheinlichkeit tödlichste, zugleich jedoch freundlichste Truppe im Ort« bezeichnete.49 Die Kanadier hatten in ihrer Wohnanlage einen Elvis-Schrein errichtet und waren dafür bekannt, Topfpizza zu teilen. Für die Afghanen hatte Pardo-Maurer offenbar nicht viel übrig: Die Leute aus Kandahar beschrieb er als einen »mürrischen Haufen unterdrückter Schnorrer«.

In jenem Sommer versicherten Vertreter des Verteidigungsministeriums dem Kongress und der Öffentlichkeit wiederholt, die Taliban seien besiegt, al-Qaida zerschlagen und die Ausbildungslager für Terroristen in Afghanistan aufgelöst. Aber Pardo-Maurer warnte seine Kollegen, der Krieg sei keineswegs vorüber und der Feind nicht besiegt.

»Die Zeit drängt«, hieß es in der E-Mail, die Pardo-Maurer an fünf Tagen Mitte August verfasst hatte.50 »In der gegenwärtigen Situation leckt al-Qaida ihre Wunden und formiert sich mit Duldung einiger verärgerter untergeordneter Kriegsfürsten und der Pakistani, die ein doppeltes Spiel spielen, im Südosten neu. Der Kampf dauert immer noch an. In den Grenzprovinzen kann man keinen Stein umdrehen, ohne dass die Bösewichte wie Ameisen, Schlangen und Skorpione ausschwärmen.«

Pardo-Maurers Beschreibungen mochten stark überzeichnet sein, aber es fiel den amerikanischen Einheiten tatsächlich schwer, die Bösewichte von harmlosen Zivilisten zu unterscheiden. Taliban und al-Qaida-Kämpfer bewegten sich in kleinen Gruppen und fielen inmitten der einheimischen Bevölkerung nicht auf, weil sie dieselben Turbane und Schlabberhosen wie die Zivilisten anhatten. Dass jemand eine Kalaschnikow trug, bedeutete nicht automatisch, dass er ein Kämpfer war. Das Land war nach der sowjetischen Invasion im Jahr 1979 mit Schusswaffen überflutet worden, und die Afghanen horteten Waffen zur Selbstverteidigung.

Fest steht, dass die Vereinigten Staaten in den Krieg gezogen waren, obwohl sie nur eine verschwommene Vorstellung davon hatten, gegen wen sie kämpften – und von diesem grundlegenden Fehler erholte sich die Invasionsstreitmacht nie.

Bin Laden und al-Qaida hatten den USA bereits im Jahr 1996 den Krieg erklärt. Im Jahr 1998 hatte das Terrornetz verheerende Bombenanschläge auf zwei amerikanische Botschaften in Ostafrika verübt, und im Jahr 2000 wäre es den Terroristen beinahe gelungen, vor der jemenitischen Küste das Kriegsschiff USS Cole zu versenken. Dennoch hatten die amerikanischen Sicherheitsbehörden al-Qaida nur begrenzte Aufmerksamkeit geschenkt und in dieser Organisation keine Bedrohung für die amerikanische Bevölkerung gesehen.

»Die Realität ist, dass wir bis zum 11. September einen Dreck über al-Qaida wussten«, erklärte Robert Gates, der Anfang der Neunzigerjahre die CIA leitete und später Rumsfeld als Verteidigungsminister ablöste, in einem Oral-History-Interview der University of Virginia.51 »Hätten wir eine umfassende Datenbank gehabt und genau gewusst, was al-Qaida zu erreichen versuchte, welche Fähigkeit die Organisation besaß und so weiter, so wären einige dieser Maßnahmen nicht nötig gewesen. Aber Tatsache ist, dass wir gerade von einer Gruppe angegriffen worden waren, über die wir nichts wussten.«

Ein weiterer grundlegender Fehler der Bush-Administration bestand darin, dass sie kaum zwischen al-Qaida und den Taliban unterschied. Beide Gruppen verfochten eine extremistische religiöse Ideologie, und sie waren ein Beistandsbündnis eingegangen. Doch sie verfolgten unterschiedliche Ziele.

Al-Qaida war in erster Linie ein arabisches Netzwerk, kein afghanisches. Dieses Netzwerk war weltweit aktiv und verfolgte globale Ziele: Bin Laden schmiedete unentwegt Pläne, um die saudische Königsfamilie und andere mit den Vereinigten Staaten verbündete autokratische Regimes im Nahen Osten zu stürzen. In Afghanistan lebte der Anführer von al-Qaida nur, weil er aus dem Sudan, der ihm zuvor Zuflucht gewährt hatte, verjagt worden war.

Die Taliban hingegen verfolgten ausschließlich lokale Ziele. Die meisten ihrer Anhänger gehörten den paschtunischen Stämmen im Süden und Osten des Landes an, die seit Jahren mit anderen ethnischen Gruppen und Machthabern um die Kontrolle über das Land kämpften. Die Taliban beschützten bin Laden und hatten ein enges Bündnis mit al-Qaida geschlossen, aber an den Terroranschlägen am 11. September 2001 waren keine Afghanen beteiligt, und es gibt keine Beweise dafür, dass die Taliban im Voraus von den Anschlagsplänen wussten.

Die Regierung Bush hatte die Taliban ins Visier genommen, weil sich deren Anführer Mullah Mohammed Omar nach dem 11. September geweigert hatte, bin Laden auszuliefern. Doch in der Praxis unterschied das amerikanische Militär kaum zwischen den Taliban und al-Qaida, sondern stufte beide als bösartig ein.

Im Jahr 2002 versteckten sich nur noch wenige Anhänger von al-Qaida in Afghanistan. Hunderte waren gefangen genommen oder getötet worden, und die übrigen waren nach Pakistan, in den Iran und andere Länder geflohen.

Die Vereinigten Staaten und ihre NATO-Verbündeten kämpften jetzt nur noch gegen die Taliban und andere Militante aus der Region, darunter Usbeken, Pakistaner und Tschetschenen. Der Krieg in Afghanistan wurde in den folgenden zwei Jahrzehnten also gegen Feinde geführt, die nichts mit dem 11. September zu tun hatten.

Jeffrey Eggers, ein Navy SEAL, der in Afghanistan gedient hatte und unter Bush und Obama im Nationalen Sicherheitsrat arbeitete, erklärte, der Großteil der Weltöffentlichkeit habe den amerikanischen Angriff auf Afghanistan in Reaktion auf 9/11 als berechtigt betrachtet. Aber als al-Qaida aus Afghanistan vertrieben war, waren die amerikanischen Verantwortlichen nicht imstande, die Frage, warum und gegen wen sie dort kämpften, einer Neubewertung zu unterziehen.

»Es wird lange dauern, bis sich die Komplexität vollkommen entfaltet«, erklärte Eggers in einer »Lessons Learned«-Befragung.52