Die Akte Scholz - Oliver Schröm - E-Book + Hörbuch

Die Akte Scholz Hörbuch

Oliver Schröm

0,0

Beschreibung

Ein einzigartiger Einblick in die Hinterzimmer der Macht.

Auf öffentlicher Bühne inszeniert sich Olaf Scholz sorgfältig als sachorientierter Macher. Doch wie sieht die Realität hinter den Kulissen aus? Nichts verrät darüber so viel wie seine Verwicklung als Hamburger Bürgermeister in das 47-Millionen-Euro Steuergeschenk an eine Privatbank. Nie hat er so sehr die Kontrolle über sein Image verloren, keine Affäre war so gefährlich für ihn. Und keine verrät so viel über ihn.
Gestützt auf Zeugen und neue Dokumente enthüllt dieses Buch Scholz‘ Rolle in dem Skandal. Es zeigt, wie der heutige Kanzler und seine Helfer agieren, wenn sie unter Druck geraten. Ein System von Abhängigkeiten offenbart sich, von fragwürdigen Allianzen, von kleineren und größeren Lügen und von geschickter Manipulation der öffentlichen Meinung. Zugleich kommen Muster zum Vorschein, die sich durch Scholz' gesamte Karriere ziehen - bis heute.

»Diese sehr engmaschige Dokumentation im Tagebuchstyle, sehr nüchtern aufgeschrieben, (...) sehr faktenorientiert, (...) hat uns von der ersten bis zur letzten Zeile fasziniert.«

Aus der Laudatio bei der Verleihung des Deutschen Journalistenpreises an die Autoren.

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:14 Std. 37 min

Sprecher:
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Oliver Schröm, Oliver Hollenstein

Die Akte Scholz

Oliver Schröm

Oliver Hollenstein

DIE AKTE SCHOLZ

Der Kanzler, das Geld und die Macht

Mitarbeit: Dennis Barg (Faktencheck),Wigbert Löer und Ulrich Thiele

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Aufbau Digital,

veröffentlicht in der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin

© Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 2022

Die Originalausgabe erschien 2022 im Ch. Links Verlag,

einer Marke der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG.

christoph-links-verlag.de

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, unter Verwendung eines Fotos von Getty Images/Pool/1231213944

ISBN 978-3-96289-177-0

eISBN 978-3-8412-3096-6

INHALT

Prolog

Teil IOlaf Scholz und der Bankier(2009 bis 2019)

Teil IIOlaf Scholz und der Schatten aus der Vergangenheit(2020 bis 2022)

Epilog

Nachwort

Die Autoren

PROLOG

Mittwoch, 7. September 2016

Die Pflicht beginnt für Olaf Scholz um 8:45 Uhr, und wie üblich hat sein Terminreferent ihm keine Verschnaufpausen im Kalender gelassen: morgens eine Rede bei einem Kongress, danach ein Grußwort bei einer Preisverleihung, nachmittags kommt die Bürgerschaft zusammen. Dazwischen Termine im Halbstundentakt. Für den Abend ist vor zwei Wochen auch noch ein Termin hinzugekommen. »18:45 bis 19:45 Uhr Gespräch mit Hr. Olearius und Hr. Warburg«, ist im Kalender notiert. Als Ort ist das »Bazi« genannt, das Bürgermeisteramtszimmer.

Seit mehr als fünf Jahren ist Scholz Erster Bürgermeister von Hamburg und die unangefochtene Nummer eins in der Stadt. Während die SPD vielerorts schwächelt, hat sie in Deutschlands zweitgrößter Stadt zweifelsfrei den Status einer Volkspartei. Bei der letzten Wahl vor anderthalb Jahren kam sie auf 45,6 Prozent der Stimmen, die CDU auf mickrige 15,9 Prozent.

Scholz ist kein begeisternder Redner, seine politische Karriere verdankt er nicht einem ungewöhnlichen Charisma, sondern seinem Fleiß und seiner unerschütterlichen Zielstrebigkeit. Scholz erarbeitet sich Macht. Er kennt alle Argumente zu den wichtigen Themen der Stadt, hat immer eine Antwort auf Gegenpositionen parat. Weil er die entscheidenden Akten gelesen hat. Weil er die entscheidenden Leute gesprochen hat. Er kann Positionen in prägnante Worte fassen. Und er ist penibel auf seine öffentliche Wirkung bedacht, macht nie etwas, ohne über die Folgen nachzudenken. Ein politischer Profi, seit Jahrzehnten im Geschäft.

Scholz lässt wenig Zweifel daran, dass ihm Hamburg als Spielfeld zu klein ist. Offiziell bestreitet er allerdings wie jeder Politikprofi höhere Ambitionen. Vor einigen Tagen war er mit dem Grünen-Politiker Robert Habeck bei einer Diskussion der taz zu Gast. Es wurde gescherzt, ob da nun der künftige Kanzler und sein Vize sitzen. Scholz ließ sich nicht aus der Reserve locken. »Ich bin Bürgermeister und völlig davon eingenommen«, sagte er. Und schmunzelte vieldeutig.

Auch wenn die CDU und Kanzlerin Angela Merkel in Umfragen uneinholbar weit vorn liegen: Scholz gibt sich überzeugt, dass seine bundesweit eher marode Partei wieder einen Kanzler stellen kann. »Wenn wir einen Kandidaten aufstellen, den die Bürgerinnen und Bürger als Kanzler wollen, wirkt sich das bei den Wahlen aus«, sagt er. Mehr als 30 Prozent sind drin, findet Scholz – mit dem richtigen Kandidaten. Wen er für den richtigen Kandidaten hält, ist ein offenes Geheimnis. Die Frage ist nur: Wann ist der richtige Zeitpunkt, zur Macht zu greifen?

Martin Kleine (Name geändert) überrascht es nicht, dass am Abend seine Anwesenheit im Amtszimmer des Bürgermeisters erwünscht ist. Seit 1985 arbeitet der Volkswirt in der Hamburger Verwaltung, inzwischen als Abteilungsleiter in der Wirtschaftsbehörde, zuständig für Wirtschafts- und Mittelstandspolitik. Als Behörde wird im Stadtstaat Hamburg bezeichnet, was in den Flächenbundesländern Landesministerien sind. Regierungschef ist kein Ministerpräsident, sondern der Erste Bürgermeister. Martin Kleine hat im Lauf der Jahre verschiedene Bürgermeister zu Treffen mit Unternehmen begleitet. Meist ging es um Kontaktpflege. Firmenbosse oder Banker wollten Ereignisse aus ihrem Haus vortragen, ihre Sicht der Dinge darstellen, unabhängig davon, was durch die Presse kolportiert wird.

Kleine hat eine Ahnung, worum es heute gehen könnte. Christian Olearius und Max Warburg sind Mitinhaber von M. M. Warburg & CO, einer der ältesten und größten Privatbanken Deutschlands. Kleine weiß aus der Zeitung, dass die Warburg-Bank ins Visier der Staatsanwaltschaft Köln geraten ist. Anfang des Jahres haben Ermittler die Zentrale des Geldinstituts durchsucht. Gegen eine Reihe von Managern wird wegen fragwürdigen Steuergeschäften ermittelt, auch gegen die beiden Mitinhaber.

Vorsichtshalber fragt Kleine im Büro des Bürgermeisters nach, ob es einen Anlass für das Treffen gibt oder ein spezielles Thema. »Nein«, lautet die Antwort. Kleine solle aber etwas vorbereiten und dem Bürgermeister rechtzeitig zukommen lassen. Der Abteilungsleiter ruft seine Referatsleiterin an. Sie soll ihm ein paar Informationen zusammenstellen.

Der Terminkalender von Christian Olearius ist an diesem Tag ebenso voll wie der von Olaf Scholz. Eigentlich hat der 74-Jährige vor zwei Jahren seinem Sohn Joachim die Geschäftsführung der Warburg-Bank übertragen, doch es fällt ihm schwer loszulassen.

Die Bank hat Hunderte Millionen in Schiffsfinanzierungen gesteckt, dann aber rutschte die ganze Branche in die Krise. Viel zu viele Schiffe befahren die Weltmeere, die Preise für Seefracht sind im Keller. Manche Frachter sind gerade noch die Masse an Stahl wert, der in ihnen verbaut ist. Olearius trifft das Problem gleich doppelt: Er hat persönlich in Schiffe investiert, seine Bank hat zudem vielen Investoren Kredite gegeben. Und dann ist da noch die Sache mit den Cum-ex-Geschäften.

Olearius’ Arbeitstag beginnt an diesem Mittwoch mit einer Aufsichtsratssitzung. Er wird sich später daran erinnern, dass er dafür gelobt wurde, wie er mit den beiden großen Problemen der Bank umgeht. Anschließend besucht der Bankier eine Trauerfeier. Wilfried Weber, Mitinhaber der Traditionsbuchhandlung Felix Jud, ist überraschend verstorben. Weber war eine feste Größe in besseren Hamburger Kreisen, eine kulturelle Institution. Immer wieder versorgte er seine Kunden mit Empfehlungen, sogar für Karl Lagerfeld stellte er Leselisten zusammen, tauschte mit ihm in krakeliger Schrift kleine Nachrichten aus. Auch an Olearius schrieb Weber solche Nachrichten.

Viel Zeit hat der Banker heute allerdings nicht für den Abschied vom beliebten Buchhändler – Geschäftstermine warten. Der Bankier will Beteiligungen außerhalb der Bank verkaufen, um finanziell mehr Spielraum zu bekommen. Seit die Staatsanwaltschaft gegen ihn ermittelt, schläft er schlecht, hat immer wieder körperliche Beschwerden. Aus seiner Sicht hat die Bank vor fast zehn Jahren völlig legale Geschäfte betrieben, die auf einmal kriminalisiert werden. Und nun droht auch noch das Finanzamt, Millionen von der Bank zu fordern.

Das gilt es zu verhindern. Olearius hat in den vergangenen Monaten auf allen Ebenen eine Abwehrschlacht organisiert. Er hat seine Anwälte und Steuerberater mit Gutachten beauftragt, sein politisches Netzwerk aktiviert und Verteidigungsschreiben an wichtige Kontakte schicken lassen. Nun will er Bürgermeister Scholz seine Sicht der Dinge vortragen.

Wer einen Termin bei Scholz haben will, landet bei Andreas Eichhorn (Name geändert). Der 34-Jährige arbeitet als Terminreferent von Bgm1, wie der Erste Bürgermeisters im Rathaus genannt wird. Aus den Anfragen erstellt Eichhorn Listen, die Scholz am Wochenende mit nach Hause nimmt. Wer dann einen grünen Haken von Scholz bekommt, den puzzelt Eichhorn in den Kalender.

Olaf Scholz trägt an diesem Spätsommertag einen dunkelblauen Anzug, weißes Hemd und hellblaue Krawatte. Die Anzüge sind weiter geschnitten, sein Gesicht ist etwas rundlicher als das des späteren Kanzlerkandidaten und Kanzlers. Um 11 Uhr steht die Verleihung des »Hamburger Nobelpreises« an. So sagt es Scholz, das klingt schön prägnant. Eigentlich ist die Auszeichnung nach der Körber-Stiftung benannt, oder besser nach Stifter Kurt A. Körber, einem lange verstorbenen Hamburger Unternehmer. Der Körberpreis gilt als einer der wichtigen deutschen Wissenschaftspreise, geehrt wird einmal im Jahr ein internationaler Spitzenforscher. Manche Forscher haben danach auch den Nobelpreis bekommen, darauf ist man in Hamburg stolz.

Politisch hat Scholz für Wissenschaft nicht viel übrig. Während andere Bundesländer in den vergangenen Jahren die ungewöhnlich hohen Steuereinnahmen genutzt haben, um Forschung und Wissenschaft zu stärken und substanziell mehr Geld in die Universitäten zu stecken, hat Scholz das nicht für nötig gehalten. Nur das Saarland war in den letzten Jahren knauseriger als Hamburg, die lokalen Hochschulen stöhnen unter dem Spardiktat. Scholz hat andere Prioritäten: Die Wirtschaft muss laufen, die Kasse stimmen. »Pay as you go« hat er als Devise ausgegeben. Die Botschaft lautet: Bei jeder Ausgabe sollte klar sein, woher das Geld kommt.

Für die Verleihung des Körber-Preises stellt Scholz dennoch gerne das Rathaus zur Verfügung. Im sonst oft so protestantisch nüchternen Hamburg gibt der prunkvolle Festsaal eine angemessene Kulisse ab für alles, was bedeutsam wirken soll. Bis zu 540 Gäste können in dem 46 Meter langen Saal unter prächtigen Kronleuchtern sitzen. Riesige Wandgemälde erzählen die Geschichte der Stadt: von der Urlandschaft vor der Besiedelung über die ersten Bauern und Fischer an Elbe und Alster und die Christianisierung bis schließlich zum Hamburger Hafen am Beginn des 20. Jahrhunderts.

Scholz darf die Veranstaltung mit einem Grußwort eröffnen, wieder spricht er vom »Hamburger Nobelpreis«. Das schmeichelt allen. Und er sagt, was für eine großartige Stadt der Wissenschaft Hamburg doch ist.

In der Wirtschaftsbehörde bekommt Martin Kleine ein Papier von seiner Referatsleiterin. Es ist sehr detailliert geraten, Kleine kürzt es auf eineinviertel Seiten. Gleich am Anfang des Briefings für Scholz schreibt er, ein »Ansprechpunkt« im Gespräch mit den Bankern könnten sogenannte Cum-ex-Geschäfte sein. Aktiendeals, bei denen Steuern erstattet wurden, die niemals gezahlt wurden.

Dann wird er konkret: »Nach einem Medienbericht der ›Süddeutschen Zeitung‹ Anfang 2016 soll die 1798 gegründete Privatbank in ›kriminelle Aktiengeschäfte‹ in Höhe von bis zu 150 Millionen Euro verwickelt sein.« Die Geschäfte seien wohl mit Fonds teilweise über Malta abgewickelt worden, die Staatsanwaltschaft gehe »im Fall Warburg aber auch Verbindungen in die Schweiz und Geldflüssen bis in die Karibik nach«; die Bank solle Drahtziehern der Geschäfte mit Scheinrechnungen geholfen haben, Millionen beiseitezuschaffen. »Fünf Manager der Traditionsbank« stünden laut dem Zeitungsbericht »unter Verdacht«, in diese kriminellen Geschäfte verwickelt zu sein.

Sein Papier schickt er in die Senatskanzlei zu Terminreferent Eichhorn. Der druckt es aus, legt es für Scholz in eine Mappe in seinem Büro. So läuft das immer, es ist ein eingespieltes System. Eichhorn ist darin gut, der Bürgermeister schätzt ihn, duzt ihn. Scholz vertraut wenigen Menschen, Loyalität ist ein hoher Wert für ihn. Es gilt das Prinzip: Wer loyal ist, erlebt Loyalität. Dann kann man Karriere machen mit Scholz. Terminreferent Eichhorn wird später ins Bundesfinanzministerium und noch später ins Bundeskanzleramt wechseln.

Am Nachmittag tagt die Hamburgische Bürgerschaft, die gleichzeitig Landtag und oberste Kommunalvertretung ist. Sie kommt nicht oft zusammen. Alle zwei Wochen, zwei Nachmittage, mittwochs und donnerstags ab 15 Uhr. Die Bürgerschaft ist ein Teilzeitparlament, die Abgeordneten gehen neben ihrem Mandat noch ihren normalen Jobs nach. Das soll die Nähe zu den Bürgern garantieren. Es führt aber auch dazu, dass viele Abgeordneten wenig Ahnung haben von dem, was der Senat und seine Fachbehörden treiben.

An diesem Mittwoch steht zunächst ein landespolitischer Klassiker auf der Tagesordnung: Wie gut geht es den Schulen? Gerade in Hamburg, wo eine gescheiterte Schulreform die schwarz-grüne Koalition 2010 aus dem Amt gekegelt und Scholz’ Aufstieg mit ermöglicht hat, folgt diese Debatte einer festen Choreografie. Die SPD findet, es läuft alles prächtig. Die Opposition sieht das Schulsystem kurz vorm Zusammenbruch.

Scholz äußert sich nicht. Es gibt hier viel zu verlieren, wenig zu gewinnen. In solchen Debatten ist es klüger zu schweigen.

Danach geht es um eines von Scholz’ Lieblingsthemen: den Haushalt. Scholz hat vor der Bürgerschaftswahl 2011 versprochen, in der Stadt aufzuräumen. Er holte damals die absolute Mehrheit mit dem simplen Versprechen, ordentlich zu regieren. Das war die richtige Idee zum richtigen Zeitpunkt. Der CDU-Politiker Ole von Beust hatte sich in den Nullerjahren erst mit dem Rechtspopulisten Ronald Schill eingelassen und dessen Partei sogar an der Regierung beteiligt, später wagte er das erste schwarz-grüne Bündnis Deutschlands, das mit großen Plänen startete, aber wenig davon umsetzte. Nach Jahren mit Politikhallodris und gescheiterten Visionen sehnten sich viele Hamburger schlicht nach Pragmatismus und Führung. Ein halb fertiges Konzerthaus galt es zu Ende zu bauen, die von der Wirtschaftskrise verursachten riesigen Löcher in der Landeskasse zu stopfen.

Nun ist der große Moment gekommen. Zufrieden präsentiert Finanzsenator Peter Tschentscher (SPD) den Haushaltsplan für die kommenden beiden Jahre. Auf 4141 Seiten hat seine Behörde die geplanten Ausgaben dargelegt. Das Wichtigste aus Tschentschers Sicht: Erstmals seit Jahrzehnten ist es der Stadt gelungen, einen Haushalt aufzustellen, der ohne neue Kredite auskommt. Darauf sind er und Scholz stolz.

Zur Wahrheit gehört, dass es dafür wenig Regierungsgeschick brauchte. Massiv gestiegene Steuereinnahmen und historisch niedrige Zinsen geben der Stadt neue Finanzspielräume und ermöglichen es Scholz und Tschentscher, sich als Sparkommissare zu geben und trotzdem Wohltaten zu verteilen. Und bei genauerer Betrachtung ist es auch mit den neuen Schulden nicht so weit her. Zahlreiche städtische Aufgaben wie den Bau und die Renovierung von Schulen haben Scholz und Tschentscher in Schattenhaushalte und städtische Beteiligungen verlagert, die nun statt der Stadt Kredite in Höhen von vielen Hundert Millionen Euro aufnehmen.

Doch all das ist fast nur für Experten zu durchschauen, für viele Bürger nicht. Die Botschaft an diesem Tag lautet, dass Sozialdemokraten doch mit Geld umgehen können. Ein Satz, den Scholz geprägt hat und der ihm wichtig ist.

Lob kommt sogar von der AfD. Der Haushalt mache einen »soliden Eindruck«, sagt Fraktionschef Jörn Kruse, ein ehemaliger VWL-Professor, und ergänzt: auch wenn er ihn aufgrund seiner Komplexität nicht durchschaut habe. Ihn sorge allerdings, dass zu wenig in Bereiche investiert werde, die sich erst in einigen Jahren entwickeln. Das verstehe er umso weniger, als für ihn klar sei, »dass die SPD vermutlich auch in fünf und zehn Jahren oder noch später den Bürgermeister stellen wird«.

Scholz sitzt auf der Senatsbank und lacht. Er muss hier nicht viel sagen. Es ist sein Spiel, seine Stadt. Er hat die Sache unter Kontrolle.

Martin Kleine beschließt, zu Fuß ins Rathaus zu gehen. Die Thermometer zeigen über 25 Grad Celsius an diesem Septembertag, die Stadt ist voller Menschen in T-Shirts und kurzen Hosen, mehrere Freibäder haben noch einmal geöffnet. Knapp zehn Minuten braucht man für den Weg von der Wirtschaftsbehörde, einem schnöden Funktionsgebäude in einer Seitenstraße, zum Rathausmarkt. Kleine geht zeitig los, so ist im Rathaus noch Zeit für einen Small Talk im Vorzimmer des Bürgermeisters.

Christian Olearius hat es ebenfalls nicht weit. Seine Bank residiert in der Ferdinandstraße, unweit des Jungfernstiegs und der Binnenalster – gerade einmal 400 Meter vom Rathaus entfernt. Die Bank selbst sitzt in einem monumentalen Eckgebäude, Olearius hat sein Büro im Nachbargebäude, das intern Weißes Haus genannt wird. Er belegt dort eine ganze Etage. Sein Büro hat einen offenen Kamin und Stuck an den Decken, ein Vorzimmer, einen Besprechungssaal, eine Küche.

Zu dem Termin im Rathaus begleitet ihn Max Warburg. Der Erbe des Familienunternehmens hatte Olearius 1986 in die Bank geholt. Eine weise Entscheidung: Olearius machte das Haus erfolgreich, drängte nach und nach andere Partner heraus, heute gehören beiden etwas über 40 Prozent der Anteile der Bank. Warburg ist Profiteur dieses Erfolgs, auch wenn er faktisch im eigenen Haus nicht mehr viel zu sagen hat – und Olearius sogar ein etwas größerer Anteil der Bank gehört.

In der Hamburgischen Bürgerschaft wird an diesem Abend noch weiter debattiert – über ein neues Gesetz zum Schutz von Prostituierten etwa und darüber, die städtischen Beteiligungen transparenter zu machen. Olaf Scholz verlässt die Sitzung am frühen Abend. Das Treffen mit den beiden Privatbankiers ist ihm wichtiger. Auch ohne das Vorbereitungspapier weiß er längst, um was es geht. Vor knapp fünf Wochen, am 4. August, hat Alfons Pawelczyk ihn im Büro aufgesucht.1

Pawelczyk war in den 1980er-Jahren Innensenator und unter Klaus von Dohnanyi zeitweise Zweiter Bürgermeister. Die meisten Hamburger können mit dem Namen heute wenig anfangen. In der hiesigen SPD ist Pawelczyk allerdings eine heimliche Institution, die graue Eminenz. »General« nennen sie den ehemaligen Polizisten und Offizier, halb bewundernd, halb ängstlich. Pawelczyk ist die Verkörperung der Hamburger SPD: in vielen Punkten fast konservativer als die CDU und ohne Scheu vor engen Kontakten zur Wirtschaft. Mit Ende 50 schied Pawelczyk aus der Politik aus, um als Lobbyist seine Kontakte zu Geld zu machen. In den 1990er-Jahren war er bei Daimler Benz, arbeitete später als Berater. Seine große Stärke: das Strippenziehen.

Christian Olearius schätzt Pawelczyk und seine Kontakte. Seit Jahren berät ihn der SPD-Mann, fädelt Deals ein und verlangt dafür auch mal eine halbe Million Euro. Olearius zahlt zähneknirschend, aber er zahlt. Als sich die Großwetterlage der Bank vor Monaten verdüstert hat, konsultierte Olearius umgehend Pawelczyk. Der frühere Soldat gab die Parole aus, nicht einzuknicken. Und so sprach Pawelczyk, mit Unterlagen armiert, Anfang August eine halbe Stunde mit dem Bürgermeister. Anschließend berichtete er Olearius: Scholz gehe der Sache nach, die Eilbedürftigkeit sei bekannt.2

Scholz empfängt Max Warburg und Christian Olearius in seinem Amtszimmer. Die aufwendig gestalteten Fenster zeigen ehemalige Bürgermeister, in einem verschlossenen Pult liegt auf rotem Samt das »Goldene Buch«, in das sich Ehrengäste der Stadt eintragen. Die beiden Bankiers, der Bürgermeister und Martin Kleine setzen sich an einen schweren Holztisch, über dem ein Kronleuchter baumelt. Die Atmosphäre ist locker, es gibt hanseatisch zurückhaltend Mineralwasser und Kaffee. Olearius und Warburg äußern sich allgemein zur wirtschaftlichen Situation, sprechen über die Schiffsfinanzierungen, bevor sie zur speziellen Lage des Bankhauses kommen.

Nach etwa 20 Minuten geht es um Cum-ex. An den Vorwürfen sei nichts dran, sagt Olearius. Die Bank werde vollumfänglich mit den Behörden kooperieren, um alles aufzuklären.

Scholz ist ein charmanter Gastgeber. Er fragt allgemein nach, lässt sich Cum-ex erklären. In Anwesenheit von Kleine betont er, dass er Cum-ex für illegal halte. Er erkundigt sich, wie es zu den Vorwürfen kommen könne, wenn die Bank unschuldig sei. Ansonsten verhält sich Scholz, wie er sich oft verhält. Er hält sich zurück. Es ist seine Masche. Für die Gesprächspartner bleibt so unklar, welche Schlüsse er zieht und ob er aktiv werden wird. Am Ende verabschiedet man sich höflich.

Martin Kleine hält die Sache für wenig herausragend. Er sieht keine Notwendigkeit, einen Vermerk über das Treffen anzufertigen oder seinen Staatsrat zu informieren. Er erstellt auch kein Ergebnisprotokoll für die Kolleginnen und Kollegen in der Finanzbehörde. Mit Cum-ex wird er sich nie wieder befassen. Das Thema gehört weder in seine Zuständigkeit noch zu seiner Kompetenz. Lediglich den Entwurf seiner Referatsleiterin und seine Endversion gibt er zu den Akten. Scholz selbst macht sich ebenfalls keine Notizen. Das tut er nie. Er liest Akten, legt aber keine an.

Ganz anders verhält es sich bei Christian Olearius. Er schreibt Tagebuch, schon seit Jahrzehnten. Nahezu jeden Abend setzt sich der Bankier hin und hält in krakeliger Handschrift die Ereignisse des Tages fest. In den mit schwarzem Leder eingeschlagenen Kladden, deren Deckel die Initialen CO zieren, vermischt sich Privates mit Beruflichem. Akribisch führt er Buch über Treffen und Unterredungen mit seinen Mitarbeitern und den Mächtigen der Republik, bewertet Vermögen und Intellekt seiner Gesprächspartner und ob sie ihm oder der Bank etwas bringen oder behilflich sein können beim Geldverdienen.

An diesem Septemberabend schreibt Olearius über den Besuch: Scholz »hört aufmerksam unseren Schilderungen zu und stellt kluge Fragen. Wir bekommen nichts versprochen, erwarten, fordern das auch nicht. Jederzeit könne ich mich melden, er erwarte das auch in dieser Angelegenheit. Wir diskutieren noch Hamburger Themen, werden auch um Rat gefragt. Nach eineinhalbstündigem Gespräch freundschaftlichste Verabschiedung.« Scholz habe ihn spüren lassen, »dass er frühere Treffen mit mir in Erinnerung hat«, notiert Olearius noch.

1 Alfons Pawelczyk hat auf Anfrage bestätigt, gelegentlich für Olearius und seine Bank tätig gewesen zu sein. Zu detaillierteren Fragen hat er sich nicht geäußert.

2 Olaf Scholz wird später sagen, er könne sich an das Gespräch mit Alfons Pawelczyk nicht erinnern. Der Termin ist jedoch in seinem Kalender vermerkt. Ebenso verhält es sich mit dem Treffen von Scholz mit Christian Olearius und Max Warburg.

I

OLAF SCHOLZ UND DER BANKIER

(2009 bis 2019)

1

Montag, 9. November 2009

Olaf Scholz ist zurück in Hamburg. Vor sechs Wochen hat die SPD bei der Bundestagswahl mit 23 Prozent der Stimmen ihr bisher schlechtestes Ergebnis eingefahren. Seit Kurzem gibt es ein neues Bundeskabinett: Bundeskanzlerin Merkel regiert nun mit der FDP, Scholz ist nicht mehr Bundesarbeitsminister, sondern einer von neun stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion. Doch der frischgebackene Bundesminister a.D. hat Pläne. Er will nicht weniger, als die SPD retten – und damit gilt es in Hamburg anzufangen.

Viele Jahrzehnte war die SPD an Elbe und Alster eine unangefochtene Macht. Doch nach acht Jahren in der Opposition ist die Partei schwächer denn je. Über Jahre hat sie sich selbst vernichtet, zuletzt durch einen dubiosen Stimmenklau, der den Altonaer Hausarzt Mathias Petersen um seine Kandidatur für den Parteivorsitz und damit seine Chancen auf das Bürgermeisteramt gebracht hat. Es herrscht Misstrauen, ja gegenseitige Verachtung in der Partei. »Olaf Scholz ist die letzte Hoffnung der Hamburger Genossen«, kommentiert die taz. Sollte es ihm gelingen, die Partei wieder zu einen, käme das »einer Wunderheilung nahe«.

55 Minuten lang spricht Scholz auf dem Landesparteitag zu seiner Partei. Schon zuvor hat er sich mit markigen Sprüchen positioniert: »Wer bei mir Führung bestellt, muss wissen, dass er sie auch bekommt.« Nun erklärt er seinen Parteifreunden: »Es geht nicht um Politiker, sondern um Politik.« Es müsse aufgeräumt werden, um anschließend das große Ziel anzugehen: Scholz will wieder regieren in Hamburg. 35 bis 40 Prozent seien drin bei der nächsten Bürgerschaftswahl, verkündet er. »Da können wir doch nur lachen«, kommentiert die Boulevardzeitung Hamburger Morgenpost.

Doch die Hamburger Genossen glauben ihrem neuen, alten Hoffnungsträger: Mit 94 Prozent wählen sie Scholz wieder zu ihrem Landesvorsitzenden. Nachdem die SPD in seiner ersten Amtszeit zwischen 2000 und 2004 zwei Bürgerschaftswahlen verloren hat, muss er nun beweisen, dass er es besser kann.

Es ist ein Risiko, aber auch eine Chance. Wer einen SPD-Landesverband aus solch einer desolaten Lage befreit, der wird zum Kandidaten für Höheres. Hamburg ist der Zwischenschritt in der Machtplanung. Oder wie das Hamburger Abendblatt analysiert: »Hamburg ist für Olaf Scholz das Standbein seiner politischen Karriere – das festigt er von jetzt an. Das Spielbein bleibt jedoch auf der Berliner Bühne.«

Montag, 29. März 2010

Scholz kennt Hamburg sehr gut. Seine Eltern sind von Osnabrück nach Rahlstedt ganz im Nordosten der Stadt gezogen, als er noch ein Kleinkind war. Mit 17 trat er hier bei den Jusos ein, der Jugendorganisation der SPD, studierte später an der Universität Hamburg Jura, erhielt seine Anwaltszulassung und arbeitete bis zu seiner Wahl in den Bundestag 1998 als Arbeitsrechtler in einer eigenen Kanzlei im Stadtteil St. Georg. Scholz hat hier sein politisches Handwerk gelernt und weiß, worauf es in der Lokalpolitik ankommt. »In Hamburg ist gegen die Elbchaussee keine Wahl zu gewinnen«, sagte er einmal in vertrauter Runde.

Die Elbchaussee ist das Symbol für den Wohlstand in Deutschlands zweitgrößter Stadt. Gesäumt von Villen und Herrenhäusern, schlängelt die Straße sich 8,6 Kilometer von Altona, wo Scholz seit Studentenzeiten wohnt, stromabwärts hinaus in die noblen Elbvororte. Sie endet in Blankenese, einem der Millionärsviertel Hamburgs. Dort, inmitten einer riesigen Parkanlage, residiert der Privatbankier Christian Olearius.

Scholz will diesen Olearius kennenlernen. Olearius ist ein einflussreicher Mann, seine Bank eine Institution: Sie verwaltet die Milliarden der Vermögenden der Stadt. Gern weisen die Banker dezent darauf hin, dass ihr Unternehmen älter sei als das Rathaus. Beim 200. Jubiläum der Privatbank im Jahr 1998 bedankte sich Max Warburg höflich, dass man im 100 Jahre alten Rathaus feiern dürfe.

Ursprünglich aus Venedig stammend, nahmen die Vorfahren der Bankiers den Namen der westfälischen Hansestadt Warburg an. Doch zwischen Eggegebirge und Sauerland hielten sie es nicht lange aus. Ab 1798 bauten die Brüder Moses Marcus und Gerson Warburg in Hamburg das Bankhaus M. M. Warburg & Co. auf. Später stiegen die Warburgs zu einer der bedeutendsten Familien des jüdischen Bürgertums auf: Aby Warburg gilt als einer der bedeutendsten Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts; Paul Warburg zählte zu den Urvätern der US-Notenbank; Sir Siegmund George Warburg gründete das Investmenthaus S. G. Warburg & Co., das in der heutigen Schweizer Großbank UBS aufging. Und in New York findet sich noch heute die Investmentbank Warburg Pincus, gegründet von Eric Warburg, einem engen Freund des früheren SPD-Kanzlers Helmut Schmidt.

Nach wie vor ist das Anwesen der Warburgs in Blankenese ein Treffpunkt der besseren Gesellschaft. Auch Scholz wird hier später als Bürgermeister zu Gast sein.3 Doch in der Bank ist inzwischen Olearius der Mächtige. Die Nationalsozialisten hatten den Warburgs ihr Institut entrissen, benannten es in Brinckmann, Wirtz & Co um. Nach dem Krieg durfte Eric Warburg wieder als Minderheitsgesellschafter einsteigen, die Bank wurde 1969 zur M.M. Warburg-Brinckmann, Wirtz & Co. – und fiel in einen Dornröschenschlaf. Als Erics Sohn Max die Geschäfte übernahm, bemerkte er schnell, dass die Bank sich nur noch auf ihrer Tradition ausruhte.

1986 holte Max Warburg Olearius in die Bank. Der Pfarrerssohn, 1942 in Schlesien geboren und in Ostfriesland groß geworden, hatte nach dem Jurastudium bei der Braunschweigischen Staatsbank und der Bremer Landesbank Karriere gemacht. Nun war er Vorstand bei der NordLB. Warburg war er aufgefallen, weil er unter anderem den Schreibgerätehersteller Pelikan saniert hatte. Auch bei der Warburg-Bank packte Olearius an. Er sortierte die Geschäfte neu, integrierte zahlreiche kleinere Banken. 1991 gaben Warburg und Olearius der Bank ihren alten Namen zurück, fast jedenfalls. Seither firmiert sie als M. M. Warburg & CO – aus dem Co. für Compagnie ist ein CO wie die Initialen von Christian Olearius geworden. Olearius führte die Bank zur alten Größe und darüber hinaus. In 20 Jahren verfünffachte er das Geschäftsvolumen.

Scholz hat bei Olearius um einen Termin gebeten, es soll eine Art Antrittsbesuch sein. Aber Olearius, von jeher ein unermüdlicher Arbeiter, hat an diesem Montag sogar für seine Verhältnisse einen hektischen Tag. Lesen, noch mehr lesen, Telefonate führen, interne Gespräche. Die Sachen gehen nicht voran. Für Olaf Scholz hat Olearius da keine Zeit. Stattdessen schickt er zu dem Treffen mit dem ambitionierten SPD-Mann seinen Sohn Joachim.

Joachim Olearius gilt als designierter Nachfolger seines Vaters, doch bisher hat er weniger durch seine Qualitäten in Gelddingen geglänzt als durch profundes Wissen über die Geschichte Preußens. In der ehemals preußischen Uckermark hat er nach der Wiedervereinigung für die Bank ein großes landwirtschaftliches Gut aufgebaut. Er macht kein Geheimnis daraus, dass er gerne Landwirt geblieben wäre. Nun muss er sich mit Scholz treffen, der in Berlin kein Ministeramt mehr hat und in Hamburg im Rathaus nichts zu sagen.

Sonntag, 18. Juli 2010

Dreieinhalb Monate nach dem Treffen mit Olearius junior passiert etwas, dass dem SPD-Landeschef Scholz nur gefallen kann. CDU-Bürgermeister Ole von Beust tritt im Rathaus vor die Fernsehkameras. »Die biblische Erkenntnis ›Alles hat seine Zeit‹ gilt auch für Politiker«, sagt er. Deswegen habe er entschieden, zurückzutreten. »Bürgermeister Bocklos« titelt die Hamburger Morgenpost, »Amtsmüder von Beust will mehr Freizeit«.

Nachfolger des beliebten von Beust wird Innensenator Christoph Ahlhaus, ein konservativer Hardliner, blass, uncharismatisch, dem grünen Koalitionspartner kaum vermittelbar. Die erste schwarz-grüne Regierung in einem deutschen Bundesland ist damit so gut wie am Ende. Denn auch ihr wichtigstes Projekt scheitert nur wenige Stunden nach dem Rücktritt des Bürgermeisters: eine Schulreform, die eine Verlängerung der Grundschulzeit auf sechs Jahre vorsieht. Fast 500.000 Bürgerinnen und Bürger haben darüber abgestimmt, am Ende sprechen sich 276.304 davon für den Erhalt der vierjährigen Grundschulen aus. Schwarz-Grün ist blamiert.

Die SPD und Olaf Scholz haben die Reform stets mitgetragen, seine Frau Britta Ernst ist die SPD-Schulpolitikerin in der Bürgerschaft. Aber nun bietet sich eine einmalige Chance. Scholz fordert Neuwahlen. »Man kann jetzt nicht im Hinterzimmer einen neuen Bürgermeister aussuchen«, sagt er. »Im Augenblick sieht es nach einem Regierungswechsel in Hamburg aus.«

Während es für Scholz nach Plan läuft, häufen sich bei Olearius die Probleme. In den vergangenen Monaten hat der Prüfungsverband deutscher Banken in die Bücher der Warburg-Bank geschaut. Eigentlich eine Routineangelegenheit, bei der kontrolliert wird, ob die Kundeneinlagen einer Bank ausreichend gesichert sind. Beim Blick in die Bücher von Warburg wundern sich die Experten allerdings, in welch gigantischem Umfang die Bank Aktien vor dem Dividendenstichtag kauft und sofort danach wieder verkauft. Später melden sie diese Cum-ex-Geschäfte der Bankenaufsicht BaFin.

Olearius spielt nach außen den Saubermann. Zum Rest seiner Branche, die gerade von der Finanzkrise erheblich getroffen wurde, geht er öffentlich auf Distanz. Warburg habe »Fehlentwicklungen und Auswüchse des Finanzmarktes bewusst nicht mitgemacht«, behauptet er. Und in einem Interview mit dem Handelsblatt erklärt er: »Ich würde meinen, dass wir in Norddeutschland grundsätzlich etwas verhaltener sind. Wir wissen, dass wir nicht so große Volumina stemmen können. Das zwingt uns zur Mäßigung, was ich nicht bedauere.«

In Hamburg glaubt man dieser Darstellung gerne – auch wenn man es besser wissen könnte. Warburg hat unter Olearius’ Ägide bereits einen Skandal hinter sich. Um das Jahr 2000 half die Bank dem Clan des nigerianischen Militärdiktators Sani Abacha, 1,3 Milliarden Mark ins Ausland zu verschieben. Es gab große Berichterstattung darüber, die Bank bekam Ärger mit der Bankenaufsicht. Doch in Hamburg wurde ihm die Affäre schnell verziehen.

Trotz der markigen Worte gen Konkurrenz kämpft man auch an der Ferdinandstraße mit den Folgen der Finanzkrise. Die Verdienste im klassischen Bankgeschäft gehen zurück, das Geld verdient die Bank mit anderen Geschäften.

In der Branchenszene ist das Haus inzwischen für seine Sondergeschäfte bekannt, sogenannte Clubdeals, gemeinsame Investments mit privaten oder institutionellen Investoren. Olearius scheint kein Geschäft zu groß. Vor einigen Jahren hat die Bank mit einem Konsortium die deutlich größere Deutsche Hypothekenbank von der niederländischen Ing übernommen – und gut ein Jahr später an Olearius’ alten Arbeitgeber NordLB verkauft. Mit deutlichem Aufschlag. Gerade ist Warburg bei einer der größten Übernahmeschlachten der deutschen Industriegeschichte dabei: Der Autozulieferer Schaeffler versucht, den Konkurrenten Continental zu übernehmen. Die kleine Warburg-Bank hält treuhänderisch 19,5 Prozent der Conti-Aktien, ein Paket im Milliardenwert.

Und die Bank spielt noch in einem anderen Geschäftsfeld mit: Cum-ex. Als die Bankenprüfer der Bundesbank die Geschäfte in den folgenden Monaten genauer anschauen, stellen sie erstaunt fest, dass Warburg die erwarteten Gewinne aus diesen Geschäften von etwa 20 Millionen Euro für das kommende Jahr für so sicher hält, dass sie diese sogar nutzt, um damit andere Risiken abzudecken. Das Fazit der Prüfer: Die Bank habe in wesentlichen Teilen keine ordnungsgemäße Geschäftsorganisation, schreiben sie. Es fehle zudem an Kapital.

Die BaFin ordnet später eine Sonderprüfung der Bankenbilanz an. Die damit beauftragten Wirtschaftsprüfer von Roever Broenner Susat (RBS) werden 2012 ebenfalls ein vernichtendes Urteil fällen. Sie werden rausfinden, dass Warburg und Olearius sich bei ihrer eigenen Bank eine Menge Geld für Investments gepumpt haben. Es gebe bedenkliche Verflechtungen, wird es in dem Prüfbericht heißen. Doch noch ist Warburg eine Macht in Hamburg.

Mittwoch, 6. Oktober 2010

Hamburg ist mit 1,8 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Deutschlands, doch in wenigen Städten gibt eine so kleine Elite den Ton an wie hier. Sie trifft sich im Übersee-Club an der Binnenalster oder im Anglo-German Club in Harvestehude. Besonders in der Hamburger SPD gehörte es viele Jahrzehnte zur Überzeugung, dass politische Debatten hier gewonnen werden und nicht in der Bürgerschaft, im Fernsehen oder auf der Straße.

Diese Kultur hat eine noch längere Tradition. Historisch waren die Kaufleute immer die starken Stimmen in der Stadt. Seit dem 16. Jahrhundert gab es einen Kaufmannsrat, der »Ehrbare Kaufmann« verteidigte den freien Handel gegenüber dem »Ehrbaren Rat«. Bis heute wird der Bürgermeister zum Jahresende in die Handelskammer neben dem Rathaus eingeladen, um bei der »Versammlung Eines Ehrbaren Kaufmanns« von den Geschäftsleuten erklärt zu bekommen, was gut und was schlecht läuft in der Stadt. Rederecht hat der Bürgermeister dabei nicht. Genauso wenig wie einen Schlüssel für den Geheimgang zwischen Handelskammer und Rathaus. Nur der Präses der Handelskammer kann die Tür öffnen, so lautet die Tradition.

Christian Olearius ist vielleicht der letzte Meister in diesem System aus der Vergangenheit. Obwohl nicht in der Stadt aufgewachsen, wurde er über die Jahre zum vielleicht hanseatischsten aller heutigen Hamburger Kaufleute: wirtschaftlich erfolgreich, politisch und sozial engagiert. Er hat daraus ein Geschäftsmodell gemacht. Sein Kapital sind sorgsam geknüpfte Netze, auf die er im richtigen Moment zurückgreifen kann. Sein Sicherheitsnetz, nennt er das selbst. Michael Behrendt, den Chef von Hapag-Lloyd, der bald auch Präsident des Überseeclubs werden wird, zählt er zu seinen Freunden. Er ist im Kuratorium von Hamburgs größter Stiftung, der Joachim Herz Stiftung. Zu seinem ehemaligen Arbeitgeber, der NordLB, hat er immer noch gute Kontakte, ebenso zu einer privaten Krankenversicherung mit spendablem Chef. Und er hat zahlreiche politische Freunde bis hoch ins Kanzleramt.

Olearius vertraut nur wenigen. Aber auch Menschen, die er nicht mag, kann er ein gutes Gefühl geben. Im persönlichen Kontakt erleben ihn viele Gesprächspartner als klugen, belesenen Mann, der weniger über die schnöde Welt der Zahlen und mehr über die große Welt der Kultur redet. Als politischer Kopf spielt er mit Abhängigkeiten: Ein vorgeblich selbstloser Einsatz kann später wertvoll sein.

Über die Jahre hat Olearius sich zum gefragten Berater der Politik gemacht, der immer dort zur Stelle ist, wo es gerade hakt. Er verhandelte für die Stadt den Kauf von 40.000 Wohnungen aus dem gescheiterten Gewerkschaftsunternehmen Neue Heimat; er rettete das Hamburger Stahlwerk und manches mehr. Im System der Abhängigkeiten hat er eingezahlt. Und irgendwann wird der Zeitpunkt kommen, wo er eine Rückzahlung erwartet. Für Olearius gibt es keine Grenzen zwischen Geschäft und Mäzenatentum, zwischen Wirtschaft, Kultur und Politik. Bei ihm verschwimmt alles zu einer Melange aus Bekanntschaft, Gefälligkeit und Abhängigkeit.

Scholz ist sich offenbar bewusst, dass er auf seinem Weg ins Rathaus an Olearius nicht vorbeikommt. Er braucht die Unterstützung der Reichen und Mächtigen, benötigt Zugang zu den verborgenen Machtzirkeln der Stadt. Deshalb muss er den einflussreichen Privatbankier alsbald persönlich kennenlernen und nicht nur mit dessen Sohn plauschen. Scholz wendet sich an Alfons Pawelczyk. Sie kennen sich seit Jahrzehnten. Zu Juso-Zeiten hat sich Scholz an dem Strippenzieher gerieben. Damals trennten sie Welten. Auf der einen Seite Scholz, Kriegsdienstverweigerer und Unterstützer des marxistischen Flügels der Jusos. Auf der anderen Seite Pawelczyk, Oberst der Reserve und politisch streng konservativ. Aber die Ideologie ist schon lange dem politischen Pragmatismus gewichen. Im Jahr 2000 schrieb das Hamburger Abendblatt, Pawelczyk sei einer der »prominenten Mentoren« von Scholz. Nun bittet Scholz Pawelczyk, ihm bei Olearius die Tür aufzumachen.

Es ist bereits Nachmittag, als Scholz an diesem Mittwoch seine Audienz bei Olearius hat. Fast eineinhalb Stunden unterhält er sich mit »Deutschlands wichtigstem Privatbankier«, wie die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung einmal schrieb. Und Scholz überzeugt und überrascht gleichermaßen. Der SPD-Mann sei zierlicher als gedacht, notiert Olearius später in seinem Tagebuch. Aber er sei konstruktiv und kundig, mache einen klugen Eindruck, urteilt der Banker über den Politiker und potenziellen Bürgermeister. Wenn der Besuch bei dem Unternehmer und Strippenzieher eine Eignungsprüfung war, hat Scholz sie wohl bestanden.

Sonntag, 28. November 2010

Wie erwartet, ist Schwarz-Grün nur wenige Monate nach dem Rücktritt Ole von Beusts gescheitert. Die Hamburger Grünen verlassen frustriert die Koalition. Die SPD begibt sich sofort in den Wahlkampfmodus. Wichtigster Mann für Olaf Scholz ist in diesen Tagen Wolfgang Schmidt.

Scholz und Schmidt haben sich in den 1990er-Jahren in der damaligen Wohngemeinschaft von Scholz im Stadtteil Altona kennengelernt. Scholz wohnte bereits in derselben Parallelstraße der Max-Brauer-Allee wie heute, gemeinsam mit Andreas Rieckhof, den er viele Jahre später in Hamburg zum Staatsrat machen sollte. Rieckhofs damalige Freundin wiederum kannte Schmidt, der gerade an seiner juristischen Dissertation arbeitete und Richter werden wollte. Auf einer Party kamen Schmidt und Scholz ins Gespräch. Einige Zeit später trafen sie sich im Zug von Hamburg nach Berlin, unterhielten sich blendend und vereinbarten, Kontakt zu halten. Als Scholz 2002 Generalsekretär der Bundes-SPD wurde, rief er Schmidt an, ob er als persönlicher Referent für ihn arbeiten wolle.

Seither verläuft Schmidts Karriere im Windschatten von Scholz. Als Scholz Parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion wurde, machte er Schmidt zu seinem Büroleiter, als er Bundesarbeitsminister wurde, zum Leiter des Ministerbüros und des Planungsstabs. Seit der verlorenen Bundestagswahl ist Schmidt Direktor der Internationalen Arbeitsorganisation, einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen, verantwortlich für die Entwicklung und Umsetzung internationaler Arbeits- und Sozialstandards. Aber er ist bereit für den nächsten Schritt.

Schmidt telefoniert nun regelmäßig mit dem Werber und erfahrenen Wahlkampf-Manager Frank Stauss. Gemeinsam entwickeln sie das, was Stauss im Nachhinein als »die perfekte Kampagne« bezeichnen wird. Der spröde Olaf Scholz, so ihre Analyse, ist genau der richtige Mann für die Situation. Sie sind überzeugt: Die Hamburger wollen nach den Chaosjahren wieder Ruhe und Professionalität. Sie arbeiten das Image von Scholz heraus, das auch viele Jahre später die wichtigste Botschaft im Bundestagswahlkampf werden wird. Scholz hat Erfahrung, ist seriös, verlässlich, vertrauenswürdig, schnörkellos. Kurz: hanseatisch. Schmidt und Stauss entwerfen eine Kampagne aus nur drei Worten, die jeweils ein Plakat füllen: Vernunft. Klarheit. Verantwortung.

Alle Wahlkampfveranstaltungen sind maximal nüchtern gehalten. Ohne Luftballons, Einmarschmusik, Videoinstallationen. Scholz präsentiert sich genau so, wie die Menschen ihn ohnehin sehen. Scholz kann – ganz der oft verspottete Scholzomat – viel reden, ohne irgendetwas zu sagen. Das wird von vielen politischen Beobachtern als Schwäche interpretiert. Das ist es nicht. Scholz weiß genau, wann es hilfreich ist, sich nicht festzulegen. Und er kontrolliert genau, wann er mit einem Satz im Gedächtnis bleiben will. Dann werden seine Formulierungen sehr prägnant. Auch im Wahlkampf hat er diese einfachen Botschaften dabei. Die SPD sei die »wirtschaftsfreundlichste Partei Hamburgs« verkündete er allerorten und holt wie zum Beweis den Präses der Handelskammer, Frank Horch, als Schattenwirtschaftssenator in sein Kabinett.

Gleichzeitig lässt Christoph Ahlhaus kaum einen Fehler aus. Die Bunte darf ihn und seine Frau Simone in Abendkleidung im feinen Hotel »Vier Jahreszeiten« an der Binnenalster fotografieren. Ironiefrei gesteht er dem Blatt, seine Frau neuerdings »Fila« zu nennen, für First Lady. Es ist nicht schwer für Scholz, im direkten Vergleich seriöser und bodenständig zu wirken. Die Strategie geht voll auf. Bei der Bürgerschaftswahl am 20. Februar erreicht die SPD mit dem Bürgermeisterkandidaten Scholz die absolute Mehrheit, Ahlhaus wird mit gerade einmal 21,9 Prozent aus dem Amt gejagt.

Montag, 7. März 2011

Am Tag der Wahl des neuen Bürgermeisters in der Bürgerschaft wird es noch einmal eng für Scholz. Ein SPD-Abgeordneter ist im Urlaub in Afrika – die Zwei-Stimmen-Mehrheit der SPD wackelt. Doch um 17:32 Uhr ist Scholz gewählt. Er erhält sogar eine Stimme der Opposition.

Scholz umarmt seine Frau Britta Ernst. Dann wird er mit 52 Jahren als Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg vereidigt. Ganz allein sitzt er anschließend mit einem großen Blumenstrauß auf der Senatsbank im altehrwürdigen Plenarsaal der Bürgerschaft.

Scholz wird die Stadt nun zwei Wochen lang ohne Regierungsmannschaft führen. Er wolle sich Zeit lassen mit Auswahl der Senatoren, erklärt er. »Ich habe mir vorgenommen, mir jetzt viel Mühe zu geben, weil ich mich nicht vier Jahre ärgern will.« Das kommt nicht überall gut an. »Ein Ein-Mann-Senat ist keine demokratische Einrichtung«, erklärt der SPD-Abgeordnete Jan Ehlers, der Alterspräsident der Bürgerschaft. Viele in der Hamburger SPD ärgern sich darüber, dass sich Scholz bei seiner Auswahl nicht in die Karten schauen lässt. Er organisiert das Rathaus und seine Regierungsmannschaft vor allem mit seinem Senatskanzlei-Chef Christoph Krupp. Krupp gilt als Verwaltungsprofi und ist in der Hamburger SPD bestens vernetzt. Sein Vater war Ökonomieprofessor, Wirtschaftsweiser und ab 1991 in Hamburg Wirtschaftssenator und Zweiter Bürgermeister für die SPD. Krupp selbst ist promovierter Physiker und leitete zehn Jahre das Bezirksamt Hamburg-Bergedorf. Er wird in den nächsten Jahren neben Wolfgang Schmidt einer der engsten Vertrauten von Scholz werden. Während Schmidt Scholz’ Bild nach außen prägt, sorgt Krupp dafür, dass die Verwaltung tut, was Scholz will.

Scholz kündigt an. Die Stadtkasse solle saniert werden. Er sei sicher, dass die Behörden zu groß seien. Nur dort, wo es um Service und Bürgernähe gehe, also Polizei, Feuerwehr, Instandhaltung von Straßen, sei zuletzt gespart worden. »Diesen Trend müssen wir umkehren.« Investiert werden solle auch in den Wohnungsbau. Und wie im Wahlkampf versprochen, solle die von Schwarz-Grün angekündigte Erhöhung der Kita-Gebühren zurückgenommen werden.

Die Bürgermeisterwahl ist gerade einmal fünf Tage her und der neue Senat noch nicht ernannt, als Christian Olearius sich an Alfons Pawelczyk wendet. Das SPD-Urgestein soll gleich einmal mit Scholz sprechen und ihn in bei einer Personalie der Hamburger Wirtschaft auf den richtigen Weg bringen. Für solche Vorstöße beim Bürgermeister ist Pawelczyk, der bei Scholz leichten Zugang genießt, genau der richtige Mann.

Der Warburg-Banker will verhindern, dass Karl Gernandt, Statthalter von Logistik-Multimilliardär Klaus-Michael Kühne, Vorsitzender des Aufsichtsrats von Hapag Lloyd wird. Vor zwei Jahren hatte die Stadt die Reederei gemeinsam mit einigen hanseatischen Investoren gerettet. Doch zwischen den beiden Großegos Olearius und Kühne herrscht schon länger dicke Luft, Olearius hält den Einfluss von Kühne auf Hapag Lloyd für schädlich. Er findet, dass Kühne richtige Entscheidungen verhindert oder verzögert.

Dabei war es Olearius, der Kühne als Investor zu Hapag Lloyd holte – und es war Kühne, der es Olearius ermöglichte, sich als Architekt der Rettung der Hamburger Reederei zu präsentieren. Ende 2007 hatten erste Gerüchte die Runde gemacht, dass TUI seine Containerschifffahrtstochter Hapag Lloyd abspalten oder verkaufen könnte. Im Februar 2008 wandte sich der damalige Hapag-Lloyd-Chef Michael Behrendt vertrauensvoll an Christian Olearius mit der Bitte, einen Investor zu finden. Behrendt befürchtete, die Reederei könnte verkauft und Hunderte Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden – mit massiven Folgen für den maritimen Standort Hamburg. Olearius aktivierte sein Netzwerk, holte den ehemaligen Finanzsenator Wolfgang Peiner (CDU) ins Boot und ging gemeinsam mit ihm auf Investorensuche.

Als wenige Wochen später die Abspaltung öffentlich wurde, präsentierten Olearius und Peiner stolz einen ersten Geldgeber: Klaus-Michael Kühne. Doch andere Investoren winkten ab. Schließlich stieg die Stadt ein, versprach einen dreistelligen Millionenbetrag, um 2000 Arbeitsplätze zu sichern.

Es kam zu einer Bieterschlacht mit der Logistikgruppe NOL aus Singapur. Am Ende zahlten die Hamburger Konsorten etwa 1,4 Milliarden Euro. »Der Preis war an der Obergrenze dessen, was man noch verantworten konnte«, sagte Klaus-Michael Kühne, der einen dreistelligen Millionen-Betrag investiert hatte. Olearius hatte die Stadt überredet, 484 Millionen Euro zu dem Geschäft beizusteuern. Die Warburg-Bank selbst investierte einen zweistelligen Millionenbetrag. Dennoch ging Olearius als Retter in die Geschichtsbücher ein.

Zwei Tage nach dem Verkauf traf in der Ferdinandstraße ein sperriges Paket von Hapag-Lloyd-Chef Michael Behrendt ein: ein riesiges zeitgenössisches Öl-Gemälde von Albert Ballin, dem legendären Reeder und Hapag-Lloyd-Manager. Aus dem Rathaus kam kein Paket. Doch in der Hamburger Politik weiß man seither, wessen Einfluss und Wirken die Rettung der Reederei zu verdanken ist. Obwohl Kühne ein Vielfaches von Olearius investiert hat, setzt sich der Bankier am Ende auch bei der Aufsichtsratspersonalie durch, wegen der Pawelczyk beim Neubürgermeister vorspricht. Gernandt wird nicht gewählt.

Mittwoch, 19. Oktober 2011

Olaf Scholz lädt Christian Olearius und weitere Hamburger Banker zum Gedankenaustausch, nun als Bürgermeister und nicht mehr als Bittsteller. Der Termin gerät zum Schaulaufen und zur Wichtigtuerei, zumindest empfindet es Olearius so. Scholz selbst ist in dem Gespräch mit den Bankern hellwach. Er sei listig und stark rechtsstaatlich ausgerichtet, notiert Olearius später in seinem Tagebuch.

Am 7. Dezember sind Scholz und Olearius erneut zu einem Gespräch verabredet. Diesmal um 15 Uhr und unter vier Augen. Es geht wieder um Hapag Lloyd. Die Reederei ist immer noch in Schwierigkeiten. Nun wird wieder frisches Geld benötigt. Zudem will die TUI auch ihre letzten Anteile verkaufen. Er plädiere für eine Einigung, sagt Olearius. Man müsse nach weiteren Investoren suchen. Später wird Hamburg weitere 420 Millionen Euro an Steuergeldern investieren, mit 36,9 Prozent größter Einzelaktionär von Hapag-Lloyd werden.

Scholz und Olearius haben an diesem Tag aber noch ein anderes Thema: die Elbphilharmonie. Die Kosten für den Bau des Konzerthauses explodieren. Mit 77 Millionen Euro solle sich die Stadt daran beteiligen, hieß es 2005. Die ursprüngliche Idee: Man baut in das Gebäude außer dem Konzertsaal noch ein Hotel und Eigentumswohnungen. Bei der Traumlage am Hafen würde man dadurch so viel verdienen, dass sich große Teile des Konzertsaals querfinanzieren ließen.

Doch die Kalkulation ist nicht aufgegangen. Unter CDU-Führung rechnete die Stadt das Projekt schön, das unter den Bürgern viele Fans hat. Der Bau begann, bevor die Planungen beendet waren. Der Baukonzern Hochtief nutzte das, um immer wieder Kostenerhöhungen durchzudrücken. Der Streit droht gerade zu eskalieren, ein Baustopp steht unmittelbar bevor.

Olearius sitzt im Vorstand der Stiftung Elbphilharmonie. Er hatte lange vor Scholz’ Amtsantritt mit anderen reichen Hamburgern insgesamt knapp 70 Millionen Euro gesammelt. Zwölf vermögende Hamburger haben jeweils mehr als eine Million Euro gespendet. Sie werden dauerhaft als Mäzene in der Stifterliste der Elbphilharmonie geführt. Olearius hat einen geringeren Betrag gespendet, genießt aber auch hier den Ruf des Retters.

Doch das Geld der Gönner reicht auch bei Weitem nicht aus, um die Stadt aus der Bredouille zu bringen. Das Konzerthaus gerät regelmäßig in die Schlagzeilen mit neuen Kostensteigerungen. Scholz will das Projekt Elbphilharmonie abschließen und die Debatte endgültig beenden. Es ist ein wichtiger Schritt, um gutes Regieren zu demonstrieren. Monatelang wird er selbst mit dem Baukonzern Hochtief verhandeln.

In dem Vier-Augen-Gespräch macht Scholz einen konzentrierten Eindruck auf Olearius. Sie reden noch über die Schuldenkrise, vereinbaren, sich einmal länger darüber auszutauschen. Ansonsten sollen die Inhalte ihrer Unterhaltung vertraulich bleiben. Zumindest hält Olearius später in seinem Tagebuch fest, dass er das Gespräch mit Scholz für sich behalten wolle.

Freitag, 4. Mai 2012

Fünf Monate nach ihrem vertraulichen Gespräch sehen sich Scholz und Olearius wieder, diesmal nicht im Rathaus, sondern in der Bank. Olearius feiert seinen 70. Geburtstag. Der Bürgermeister soll die Festrede halten. Im Vorfeld ist Scholz unsicher, ob er an der Feier teilnehmen soll. Er erkundigt sich bei seinen Vorgängern Henning Voscherau und Ortwin Runde und bei seinem ehemaligen Senatorenkollegen Thomas Mirow, der als Berater für die Warburg-Bank gearbeitet hat. Sie raten zur Teilnahme. Natürlich erfährt auch Pawelczyk von diesen SPD-internen Beratungen – und damit auch Olearius.

In seiner Festrede zitiert Scholz Shakespeare und nennt Olearius, der Hamburg so oft aus der Patsche half, einen »Feuerwehrmann« der Stadt. Er freue sich, sagt Scholz, dass Olearius von einem »Geschäftsverständnis jenseits von mathematischen Modellen« spreche und die besondere Bedeutung der Banken für die Realwirtschaft betone. »Ob die Realwirtschaft funktioniert, steht und fällt an jedem Wirtschaftsstandort – also auch in Hamburg – mit ihren Finanzierungsbedingungen.« Ihm liege der Finanzplatz Hamburgs sehr am Herzen. »Die Weiterentwicklung und Stärkung des Finanzplatzes Hamburg ist nichts Abstraktes. Sie hängt zuallererst von den handelnden Personen ab. Ich sehe, Herr Dr. Olearius, Ihren künftigen Vorschlägen, Ideen und Unternehmungen mit Interesse entgegen.«

Olearius ist nach der freundlichen Rede nicht wirklich zufrieden. Scholz wisse wenig von seinen Diensten für Hamburg, schreibt er in sein Tagebuch. Der Bürgermeister habe ihm lediglich eine Uhr geschenkt. Mit einem Orden werde es wohl nichts mehr.

3 In seiner späteren Vernehmung vor dem Hamburger Untersuchungsausschuss wird Scholz sich an diesen Besuch allerdings nicht mehr erinnern.

2

Sonntag, 29. November 2015

Olaf Scholz sieht müde aus, als er spätabends im Rathaus vor die Kameras tritt. »Es gibt eine klare Entscheidung«, sagt er. »Eine knappe Mehrheit zwar, aber eine Mehrheit der Hamburger, die sich festgelegt hat, dass wir uns nicht 2024 für Olympische Sommerspiele und Paralympische Spiele bewerben sollen.« Scholz’ wichtigstes Zukunftsprojekt für Hamburg ist gescheitert. 314.468 Bürgerinnen und Bürger haben für Olympia gestimmt. 335.638 dagegen.

Das Ergebnis überrascht, haben doch fast alle Hamburger Medien und Prominente für die Spiele an der Elbe getrommelt, während die kleine, zerstrittene Gruppe der Olympia-Gegner kaum sichtbar war. Scholz selbst hat monatelang unermüdlich den Olympia-Lobbyisten gegeben. Die Spiele könnten eine riesige Chance für die Entwicklung der Stadt sein, warb er. Mitten in Hamburg sollte auf brachliegenden Hafenflächen ein neuer Stadtteil für Olympia entstehen, ein grünes Viertel am Wasser, das die Innenstadt gleichzeitig mit dem Süden und dem Osten der Stadt verbindet. Und nicht nur das: Olympische Spiele könnten Menschen für den Sport begeistern, erklärte Scholz. Er selbst habe erst mit vierzig die Liebe dazu entdeckt – auf Druck seiner Frau. Heute wolle er nicht mehr darauf verzichten. Er gehe einmal in der Woche rudern, zwei Mal laufen.

Nun weiß man, dass viele Hamburger den schönen Olympia-Versprechen nicht getraut haben. »Dieses ist die am besten durchgerechnete Bewerbung für Olympischen Spiele, nicht nur in Deutschland, sondern ever«, hatte der Bürgermeister selbst vollmundig behauptet. Doch viele Hamburger sind seit den großen Plänen der Elbphilharmonie skeptisch, was städtische Kalkulationen angeht.

Für Scholz ist es die bisher größte politische Schlappe seines Lebens. Mit der Olympia-Bewerbung wollte er seine Vision für die Stadt präsentieren, er wagte sich dafür heraus aus der Deckung des bloß ordentlichen Regierens. Doch er hat die Stimmung völlig falsch eingeschätzt. Fehler bei sich oder anderen mag der Bürgermeister dennoch öffentlich nicht festmachen. Große Ursachenforschung bringe nichts, der Souverän habe entschieden, sagt er. »Die Frage ›Was wäre, wenn‹ kann einem das Leben vergällen. Ich gehöre nicht zu jenen, die sich damit lange aufhalten.«

Die Opposition schäumt. Mit einer neuen Schärfe wird der Bürgermeister angegangen. Seine »Basta-Politik« sei gescheitert, heißt es bei der CDU, die FDP findet, Scholz habe das »Vertrauen der Hamburger in seine Seriosität zerstört«. Die autoritären Strukturen des Olaf Scholz hätten der Hamburger SPD zu einem kräftigen Aufschwung verholfen, erklärt der Linken-Abgeordnete Norbert Hackbusch. »Aber wie es mit autoritären Strukturen meistens so ist, tragen sie auf die Dauer nicht.«

Als die Bürgerschaft über den Ausgang des Referendums debattiert, hält Scholz es nicht für nötig, sich zu äußern. Er verlässt den Plenarsaal vor Ende der Debatte, schmunzelnd. Coolness zur Schau zu stellen, ist seine Methode. Im Büro seines ehemaligen Regierungssprechers hängt ein Zettel: »Das erste Scholz’sche Gesetz: Wir sind nie beleidigt – wir sind nie hysterisch«. Scholz selbst hat seine Methode einmal mit den Worten der englischen Queen beschrieben: »Never complain, never explain.« Niemals beschweren, niemals erklären.

Scholz kann Niederlagen an sich abperlen lassen, einfach weitermachen, das ist eine seiner großen Stärken. Er ruht in sich, weil er überzeugt ist, richtig zu handeln. Wenn Scholz bei einem Thema zu einer Einschätzung gekommen ist, lässt er sich davon kaum abbringen. Im Rathaus haben sie dafür sogar eine Abkürzung: OWD, Olaf will das. Es heißt so viel wie: Verschwende keine Energie, Gegenargumente zu finden – setz das um. Das Kürzel ist ebenso gefürchtet wie Scholz’ längliche Vorträge zu Sachthemen. Er vermittelt dabei oft den Eindruck, sich für klüger zu halten als die versammelten Fachbeamten.

Nun schreiben die Hamburger Zeitungen, der Nimbus von König Olaf sei angekratzt. Scholz, dem bisher Unangefochtenen, der alles durchsetzte, dem alles gelang, ist etwas missglückt. Doch Scholz kennt das politische Spiel, er weiß genau, wie Medien funktionieren. Er muss den Sturm durchstehen, der jetzt ausbricht. In wenigen Wochen ist alles vergessen. Und dann befindet er sich weiterhin in einer komfortablen Lage.

Bei der Bürgerschaftswahl im Februar hat Scholz zwar die absolute Mehrheit verloren, aber immer noch 45,6 Prozent der Stimmen erreicht – ein Ergebnis, von dem die SPD andernorts nur träumen kann. »Es geht hier nicht um einen Umbau des SPD-Senats, dafür ist die Unterstützung zu groß. Es geht um einen Anbau«, hat er dem möglichen grünen Koalitionspartner nach der Wahl öffentlich erklärt. Ein Affront. Grünen-Spitzenkandidatin Katharina Fegebank beschwerte sich und bat Scholz, das Zitat nicht zu wiederholen. »Das muss ich jetzt ja gar nicht mehr«, antwortete Scholz cool. Ein knackiges Zitat, einmal in der Welt, entfaltet seine Macht auch ohne Wiederholung.

Mittwoch, 20. Januar 2016

Morgens um 8:30 Uhr betreten die Ermittler aus Nordrhein-Westfalen das Hauptgebäude der Warburg-Bank. Sie melden sich beim Pförtner, ein Mitarbeiter führt sie in einen Besprechungsraum und bittet sie, sich in eine Besucherliste einzutragen. Die Fahnder lehnen ab. Sie seien keine gewöhnlichen Besucher, erklären sie, und zeigen den Durchsuchungsbeschluss. Es geht um den Verdacht eines Betruges. Es geht um Cum-ex.

Viele Jahre waren die Geschäfte mit dem merkwürdigen Kürzel nur Insidern bekannt, doch langsam sickert der Begriff ins öffentliche Bewusstsein. Bei Cum-ex nutzten skrupellose Geschäftemacher die Regelung, dass Banken und andere institutionelle Investoren sich die 25 Prozent Kapitalertragssteuer zurückerstatten lassen können, die von den Finanzämtern automatisch bei der Ausschüttung von Dividenden auf Aktien einbehalten werden. Die Erstattung soll eigentlich verhindern, dass die Banken zwei Mal Steuern zahlen: einmal auf die Ausschüttung, das zweite Mal auf ihren Gewinn. Doch das System ist anfällig für Missbrauch. Bei den Cum-ex-Geschäften tauschen die Beteiligten Aktien um den Tag der Dividenden-Ausschüttung so im Kreis, dass die Finanzämter den Überblick verlieren, wem welche Aktie gehört und wer die Rückzahlung schon bekommen hat. Am Ende erstattet der Fiskus die einbehaltene Kapitalertragssteuer mehreren Investoren.

Es ist ein komplexes System mit zahlreichen Beteiligten, das sich am einfachsten mit einer Analogie verstehen lässt: Cum-ex ist, als würde man im Supermarkt den Pfandbon kopieren und sich dann an der Kasse für eine zurückgegebene Flasche mehrere Bons erstatten lassen. Im Kern: ein dreister Griff in die Staatskasse.

Seit zwei Monaten verdächtigen die Ermittler aus Nordrhein-Westfalen auch die Warburg-Bank, Teil dieser Betrugsindustrie gewesen zu sein. Am 25. November 2015 war der Schweizer Banker Eric Sarasin zusammen mit seinem Rechtsanwalt nach Düsseldorf gereist. Sarasin war selbst ins Visier der Cum-ex-Fahnder geraten. Die Staatsanwaltschaft warf ihm Beihilfe zur Steuerhinterziehung und zum gewerbsmäßigen Betrug vor. Der Banker hoffte, dass er glimpflich davonkommt, wenn er sein Insiderwissen zur Verfügung stellt.

Und so stieß die Kölner Staatsanwältin Anne Brorhilker auf eine neue Spur: Im Rahmen der Cum-ex-Geschäfte hat die Sarasin Bank der Warburg-Bank Rechnungen gestellt, die sich für den Zeitraum von 2006 bis 2010 auf etwa 23 Millionen Euro addieren. Die Rechnungen seien jedoch nicht »leistungsunterlegt« gewesen, erklärte Sarasin der Staatsanwältin. Die Rechnungsbeträge seien weitergeflossen zu einem Firmenkonto auf den Britischen Jungferninseln – und waren offenbar unter anderem für Hanno Berger gedacht, jenen Steueranwalt, der als der große Strippenzieher hinter Cum-ex-Geschäften gilt.

Die Ermittlungen rund um die Warburg-Bank werden Brorhilker später den Durchbruch bringen: die erste Anklage, die erste Verurteilung wegen Cum-ex. Sie wird eine gefeierte Staatsanwältin werden.

In der Warburg-Zentrale in Hamburg sprechen die von Brorhilker beauftragten Ermittler mit einer Prokuristin der Bank. Sie wollen sie wie üblich zuerst über ihre Rechte und Pflichten als Zeugin belehren, doch die Frau winkt ab. Sie sei selbst Rechtsanwältin und kenne das Prozedere, sagt sie und erweist sich nun als mitteilungsfreudige Quelle. Die Problematik bei Cum-ex-Geschäften sei ihr bekannt, lässt sie die Ermittler wissen. Außerdem berichtet sie, der ehemalige Leiter der Rechtsabteilung der Bank habe Cum-ex-Geschäfte für Betrug gehalten, weil die Steuer dabei »einmal zu viel« erstattet werde. Über solche Geschäfte werde aber nicht von Rechtsanwälten wie ihr entschieden, sondern auf Ebene der Inhaber-Partner.

Auf den Partner Christian Olearius müssen die Ermittler erst einmal warten. Im Nachbargebäude, dem »Weißen Haus«, wo sich das Reich des Mitinhabers befindet, erscheint er schließlich um zehn Uhr. Überrascht wirkt Olearius nicht, man hat ihm am Telefon von der Razzia berichtet. Er lässt sich auf ein Gespräch mit den Ermittlern ein. Der 73-Jährige bestätigt, dass die Partner der Warburg-Bank die Aktiengeschäfte, wie er sagt, »eingesegnet« hätten. Er gehe jedoch davon aus, dass weder er selbst noch die Bank illegal gehandelt hätten. An Details könne er sich nicht erinnern. Diese seien in den Protokollen der Partnertreffen festgehalten.

Die Fahnder machen sich auf die Suche. Über eine Wendeltreppe gelangen sie in den sogenannten Bunker, einen gesicherten Archivraum. Ein Mitarbeiter öffnet die Stahltür, in mehreren schweren Stahlschränken finden sich die Sitzungsprotokolle. Sie belegen nicht nur, dass Olearius und die anderen Partner die umstrittenen Transaktionen selbst genehmigt haben. Nach Auffassung der Ermittler zeigen sie auch, dass die Banker sich sehr genau mit den steuerlichen Auswirkungen der Geschäfte beschäftigt haben. Dass die Deals zulasten der Steuerzahler gehen, wird aus den Unterlagen deutlich erkennbar.

Die Anreise aus Köln und Düsseldorf hat sich für die Ermittler bereits hier gelohnt. Doch eine Mitarbeiterin der Bank macht sie noch auf weitere Ordner aufmerksam, die in ihrem Büro stünden. Bereitwillig führt sie die Ermittler dorthin. In den Ordnern geht es um eine Seriva Vermögensverwaltungs GmbH. Auch diese Gesellschaft hat sich für ihre Investoren an diversen Cum-ex-Geschäften beteiligt. Mit dabei war auch Christian Olearius selbst: Er hat über die »Christian Olearius Beteiligungsgesellschaft« 1,5 Millionen Euro investiert.

Freitag, 12. Februar 2016

Seit seiner Schlappe beim Referendum über die Olympia-Bewerbung taucht Olaf Scholz verstärkt mit Themen in den Medien auf, die wenig oder gar nichts mit der Politik Hamburgs zu tun haben. Vor knapp zwei Wochen hat er bereits die Aufmerksamkeit der bundesweiten Presse auf sich gezogen. Scholz, der bisher in Hamburg nicht durch übermäßiges Engagement in Sachen Umweltschutz aufgefallen ist, empfing im Rathaus hochrangige Vertreter der deutschen Automobilindustrie und zahlreiche Bürgermeister zum Autogipfel – just drei Tage vor dem Termin, zu dem Bundeskanzlerin Angela Merkel ebenfalls zu einem Autogipfel ins Kanzleramt eingeladen hatte. Und Scholz gab den Industriegrößen eine klare Ansage mit: »Wenn wir verhindern wollen, dass schon in diesem oder dem nächsten Jahr ein Teil der Pkw, Lkw und Busflotte nicht mehr durch unsere Städte fahren dürfen, dann muss ein großer Teil der Flotte ganz ohne oder fast ohne Emissionen betrieben werden, und zwar nicht irgendwann, sondern schnell.«

Nun will er einen ganz großen Coup landen: Zum traditionellen Matthiae-Mahl sind Merkel und der britischen Premierminister David Cameron als Ehrengäste eingeladen. Normalerweise findet das Festmahl am letzten Freitag des Februars statt. Im Spätmittelalter markierte der Matthias-Tag am 24. Februar nicht nur den Beginn des Frühlings, er war auch Auftakt des Geschäftsjahres. In Hamburg erhielten an diesem Tag die Senatoren ihre neuen Aufgaben und wählten den Ersten Bürgermeister. Daraus entwickelte sich der Brauch, dass der Bürgermeister zu diesem Anlass »Vertreter der Hamburg freundlich gesonnenen Mächte« zu einem feierlichen Essen einlädt. In diesem Jahr hat Olaf Scholz alles vorgezogen, das Matthiae-Mahl findet so früh statt wie noch nie in der Geschichte seit 1356.

Die langen Tafeln im altehrwürdigen Festsaal des Rathauses sind mit Aufsätzen, Vasen und Schalen aus dem Silberschatz des Rathauses dekoriert. Rund 400 Gäste kommen, darunter das gesamte Konsularische Korps, Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft, Repräsentanten der großen Religionsgemeinschaften, internationaler Organisationen und der Bundeswehr. Die Herren erscheinen in Smoking und Fliege, die Damen im Abendkleid. Auf der Empore spielt das Kammerorchester der Musikhochschule.

Der Tradition folgend, empfängt Scholz die Kanzlerin und den britischen Premier an der obersten Stufe der Senatstreppe, geleitet sie zur Unterschrift ins Goldene Buch der Stadt und schließlich in den Festsaal. Am Tisch sitzt Scholz als Gastgeber in der Mitte, rechts von ihm David Cameron, links Angela Merkel. Eine perfekte Inszenierung: »Europa würde es sehr guttun, etwas britischer zu werden«, sagt Scholz zu Cameron. Und der gibt sich alles andere als britisch-reserviert: »Als Angela sagte, sie wolle mich zum Abendessen in ihre Geburtsstadt einladen, hatte ich keine Vorstellung davon, dass sie sich solche Mühe gibt.«

Hinter der großen Beschwörung der europäischen Einigkeit steckt Absicht – und auch hinter der Verlegung des Festmahls um zwei Wochen nach vorne. Dadurch liegt das Event vor dem EU-Gipfel in sieben Tagen, bei dem es um den drohenden Ausstieg der Briten aus der EU gehen wird. Scholz sieht die Chance, sich bei diesem Thema zu profilieren. Er hat Kompromissvorschläge erarbeitet, die den Brexit verhindern sollen. Scholz hat zwar kein Mandat, um dem EU-Gipfel Vorschläge zu machen. Aber er kann sich bundesweit als Politiker inszenieren, der das Große und Ganze im Blick hat.

An diesem Abend verkündet Merkel zudem eine Überraschung, die Scholz als Bürgermeister ins Blickfeld der Welt bringen wird: Der nächste G-20-Gipfel soll in Hamburg stattfinden. »Ich glaube, das trifft sich gut mit der Weltoffenheit Hamburgs«, sagt sie. Für Scholz ist es eine weitere Chance, seine Stadt und sich selbst bekannt zu machen.

Donnerstag, 25. Februar 2016

Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) lässt es sich nicht nehmen, die konstituierende Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) zu den Cum-ex-Geschäften zu eröffnen. Um 16 Uhr kommen die Mitglieder des Gremiums im Sitzungssaal E 400 des Paul-Löbe-Hauses zusammen. Die Politik in Berlin fängt an, sich eingehend mit dem milliardenschweren Steuerraub zu beschäftigten.

Gerhard Schick von den Grünen hat über Monate daran gearbeitet, genügend Stimmen für die Einsetzung des Ausschusses zusammenzubekommen. Schick weiß, dass er sich eine Mammutaufgabe aufgehalst hat. Der Ausschuss interessiert sich nicht nur für die Verantwortung der verschiedenen Bundesregierungen, er beschäftigt sich auch mit der Rolle einer Reihe von Banken und Verbänden.

Der Ausschuss bittet deswegen die betroffenen Bundesländer um Dokumente zu den Fällen. Aus anderen Ländern erhalten die Berliner Abgeordneten Unmengen von Akten – jedoch kaum etwas aus Hamburg, wo der Ausschuss nach Akten zur HSH Nordbank und zur Warburg-Bank gefragt hatte. Das hat Finanzsenators Peter Tschentscher (SPD) angeordnet. »Wir haben grundsätzlich Zweifel an der Herausgabebefugnis, weil keine hinreichenden Gründe erkennbar sind, die eine Weitergabe von steuerlichen Daten unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit rechtfertigen könnten«, heißt es in der Begründung.

Die Warburg-Bank ist trotzdem in den Fokus des öffentlichen Interesses geraten. Die Süddeutsche Zeitung hat unter der Überschrift »Grenzen der Gier« über die Razzia bei der Hamburger Bank berichtet – und geschrieben, dass sich der Verdacht auch gegen Bankchef Olearius richtet. Die Bank bestreite alles.

Der Bericht wird in der Hamburger Finanzverwaltung registriert. In der Hansestadt gibt es anders als in anderen Bundesländern ein spezielles Finanzamt für Großunternehmen. Es wurde unter SPD-Ägide im Jahr 1998 aufgebaut und sollte die Steuerverfahren effizienter machen, indem die Veranlagung der Steuern und die Prüfung der Betriebe nicht mehr in getrennten Häusern stattfindet. Großunternehmen und Banken haben deswegen in Hamburg eine oberste Kundenbetreuerin: einen Sachgebietsleiter oder eine Sachgebietsleiterin, denen alle entscheidenden Mitarbeiter für einen Steuerfall unterstellt sind. »Service aus einer Hand«, das Finanzamt als »One-stop-Shop«, so nennt die Finanzbehörde das. Die Einrichtung macht die Bearbeitung tatsächlich effizienter, aber deshalb nicht automatisch strenger. In Steuerkanzleien gilt das Finanzamt für Großunternehmen als besonders kulant.

Den Beamten im Finanzamt für Großunternehmen ist der Fall Warburg schon bekannt. Bereits zweieinhalb Jahre vor der Durchsuchung