Die Ängstlichen - Peter Henning - E-Book

Die Ängstlichen E-Book

Peter Henning

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Beschreibung

„Ein Roman, den man mit angehaltenem Atem liest.“ Daniel Kehlmann

Ein letztes Mal wollen die Jansens zusammen feiern, doch ihr Fest endet fatal. Hennings Chronik einer musterhaften Familie ist eine aberwitzige, rabenschwarze menschliche Komödie, ein Mosaik aus Hoffnung, Glück, kleinen und großen Schrecken – ein Buch des Lebens.

 „Der große realistische Roman dieser Jahre.“ Matthias Altenburg

 "Wie die Sensation allein durch das Vermögen der Sprache entsteht, das muss jeden Leser besonders freuen." Martin Walser

„Was Jonathan Franzen konnte, kann Peter Henning auch.“ Elke Heidenreich

Über Taunus und Rhön gehen sintflutartige Regenfälle nieder. Sie sind Vorboten eines Orkans, der die Familie Jansen mit aller Zerstörungskraft trifft: Weil Johanna Jansen, die 80-jährige Patriarchin, in ein Wohnstift ziehen will, möchte sie ihre Kinder noch einmal um sich versammeln. Doch der Lebensabend wird für sie zur Sonnenfinsternis: Plötzlich verschwindet ihr Lebensgefährte, und ihr ältester Sohn sieht sich von einer tödlichen Krankheit bedroht, während sein jüngerer Bruder aus der Psychiatrie flieht. Auch Johannas Tochter begibt sich auf eine Reise, die für sie und ihren untreuen Mann zur Tortur gerät, derweil ihr Enkel um die Liebe seines Lebens kämpft. Als die Jansens ein letztes Mal zusammenfinden, ziehen erneut dunkle Wolken auf. Es sind die Schatten des Kleinmuts und der Angst, der Geltungssucht und Lieblosigkeit – die Schatten einer deutschen Familie.

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Seitenzahl: 640

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Peter Henning

Die Ängstlichen

Roman

Impressum

ISBN E-Pub 978-3-8412-0440-0

ISBN PDF 978-3-8412-2440-8

ISBN Printausgabe 978-3-7466-2681-9

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Mai 2012

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2009 bei Aufbau,

einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung Originalcover heilmann, hißmann, hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © Plainpicture/Arcangel

grafische Adaption morgen, Kai Dieterich

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN - die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

www.aufbau-verlag.de

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Innentitel

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Impressum

Inhaltsübersicht

1. Elektrische Potentiale

2. Spannungsgefälle

3. Entladungen

4. Beruhigung und Aufklaren

Dank

Leseprobe: Leichtes Beben

Für Tanja; und Antonia und Marie, für später

»Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.«

Ingeborg Bachmann

1. Elektrische Potentiale

Auf dem fünftgrößten Planeten im Sonnensystem herrschten in diesen Tagen Missstand und Furcht. Die Sonne, dieser bislang verlässliche, in 150 Millionen Kilometern Entfernung strahlende Begleiter, war im Begriff auszukühlen. In der Troposphäre ballte sich gefährlicher Ozonsmog, um die Nordhalbkugel früher oder später in eine Gaskammer zu verwandeln. Und nichts deutete auf eine Wiederherstellung der klimatischen Weltordnung hin, im Gegenteil: Laut Beaufort-Skala fegten in diesen Minuten Orkanböen der Windstärke 12 mit Ziel Südhessen über Mecklenburg-Vorpommern hinweg. Die eben noch im Glast blinkenden Türme Frankfurts schwanden stufenweise in einem öligen, steingrauen Wolkenschleier, und über Kesselstadt begann sich, mit Spitzengeschwindigkeiten von 175 Stundenkilometern, über Mainkur und Dörnigheim heranziehend, etwas Gewaltiges zusammenzubrauen. Doch noch hatte niemand in der Ankergasse, dem Epizentrum folgenschwerer Erschütterungen, den unheilverkündenden Aufruhr der Elemente bemerkt: den Übergang vom bleichen, eben noch unaufdringlichen Grau des Himmels in das metallische Grün eines wütenden Meeres, das, sich zunehmend verfinsternd, in Kürze mit aller Macht nach ihnen greifen würde. Johanna nicht, deren Wahrnehmung sich infolge ihrer zunehmenden Kurzsichtigkeit und des grauen Stars, der ihre Linsen trübte, und deren Gehör manches nicht mehr erfasste, längst auf den begrenzten Radius ihres häuslichen Betätigungsfeldes beschränkt hatte. Und auch sonst niemand in dem drei Parteien beherbergenden dreistöckigen und an seiner Stirnseite mit verwitterten hellbraunen Schindeln verkleideten Vorkriegshaus spürte die sich anbahnenden Veränderungen. Ebenso wenig ihr Enkel Benjamin, der, eine knappe Autoviertelstunde von dort entfernt, am Schreibtisch seines 42-Quadratmeter-Apartments saß und an den letzten Sätzen seines Porträts der Fußballlegende George Best feilte. Nicht ihr Lebensgefährte Janek, der die Ankergasse zwei Tage zuvor überstürzt verlassen hatte und in diesem Moment in der Cafeteria des Kaufhauses Karstadt saß und begriff, dass er unter Umständen für längere Zeit nicht dorthin zurückkehren würde. Und auch all die anderen nicht, die, Johannas Definition folgend, zum innersten Kreis der Jansens gehörten: ihre Söhne Helmut und Konrad sowie ihre Tochter Ulrike und deren Ehemann Rainer, die inzwischen in sicherer Distanz um die Ankergasse kreisten wie Satelliten um einen verseuchten Planeten.

Wie gewöhnlich um diese Tageszeit saß Johanna, eingehüllt in ihre sandfarbene Kaschmirdecke, auf der Couch im Wohnzimmer, hielt, wenn auch weniger entspannt als sonst, ihre nachmittägliche Kreuzworträtselpause ab und deutete das plötzliche Schwinden des Lichts als eine der üblichen lästigen Schwankungen ihrer Sehkraft. Erschüttert hatte sie kurz zuvor den Fernseher ausgeschaltet. Sie war in eine Nachrichtensendung hineingeraten, hatte aber zunächst nicht die Kraft besessen, sich der finsteren Macht der Bilder zu entziehen. Und so war sie Zeuge einer der Direktschaltungen ins ferne Bagdad geworden. Sie hatte auf die Mattscheibe gestarrt, auf der unwirkliche grünstichige Bilder der von Leuchtspurmunition erhellten Stadt zu sehen gewesen waren, über der da und dort dichte Rauchwolken aufstiegen. So also sehen »chirurgische Eingriffe« aus, dachte Johanna: aufgerissene Straßen, zerfetzte Brücken, zusammengefallene Häuser, vor denen obdachlos gewordene Iraker standen, und Straßenschächte, aus denen sich turmhohe Rauchsäulen in die Nacht erhoben. Der Reporter hatte von Toten und Verletzten gesprochen, und unter Johannas Entsetzen hatte sich eine dumpfe Leere gemischt.

Wie die Bilder sich doch gleichen, hatte sie, die wusste, was Krieg bedeutet, gedacht, während sich die Finger ihrer beiden Hände langsam und wie von selbst in die mit Stoff bezogenen Armlehnen des Sessels krallten. Bis sie den Fernsehbildern nicht länger standzuhalten vermochte und den Kasten mit einem jähen Druck auf den roten Off-Button ausschaltete.

Nein, das Weltgeschehen bot ihr im Moment nicht den geringsten Anlass zu Hoffnungen. Wohin ihr Auge reichte, befanden sich Menschen im Krieg. Selbst bei den Caspars, die das zweite Obergeschoss bewohnten, herrschte seit einigen Tagen Krisenstimmung. Wie es hieß, hatte ein verlegter Lottoschein zunächst zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den Eheleuten und schließlich, nach anhaltender Weigerung auf beiden Seiten, die Klärung der Schuldfrage beizulegen, zu scheinbar unüberbrückbaren Störungen geführt. Von Scheidung sei sogar die Rede gewesen.

Tags zuvor hatten die beiden keifend im Treppenhaus gestanden, und Johanna war Zeuge des folgenden Dialogs geworden:

»Wir haben gewonnen, und du hast den Schein verloren, so ein Unglück! Stell dir vor, achttausend Euro!«

»Ich hab ihn nicht verloren!«

»Natürlich hast du! Es war die Fünf dabei, meine Glückszahl! Das haben sie im Radio gesagt, und du verschlampst den Schein!«

»Ich? Du spinnst ja!«

»Ja, ich weiß noch genau, dass ich ihn dir gegeben habe! Hab ich nicht gesagt, dass was in der Luft lag, als ich den Schein ausgefüllt habe?«

»Hast du nicht!«

»Eins, Fünf, Neun, Siebzehn, Zweiundzwanzig! Fünf Richtige! Und du wirfst den Schein weg! Ich hatte schon die ganze Woche so ein Gefühl, dass es diesmal klappt. Aber du wirfst den Schein weg. Weil du nie bei der Sache bist!«

»Untersteh dich, weiter so mit mir zu reden!«

»Ach, ist doch wahr! Das schöne Geld. Was hätten wir alles damit anfangen können! Einen neuen Fernseher hätten wir kaufen können. Und eine neue Couch, aber du … ach!«

»Halt jetzt den Mund!«

Johanna fühlte sich mit einem Mal wie abgeschnitten von sich selbst. Mürbe gemacht von all den Tiefs und ausgelaugt von ihrem sinnlosen Widerstand dagegen. Einem stillen, gleichwohl entschiedenen Protest gegen den Lauf der Welt, der sie, genau betrachtet, jeden Tag ein bisschen kraftloser, apathischer machte. Und so reichten die ersten, von heftig einsetzenden Böen begleiteten Donnerschläge, die über den nachtschwarzen hessischen Himmel heranrollten wie schwere Eisenkugeln über eine Holzplatte, zunächst nicht wirklich bis an ihr Ohr. Energisch betätigte Johanna mit ihrer rechten Fußspitze den Tippschalter der Stehlampe, so dass augenblicklich deren 60-Watt-Birne aufflammte, sich ihr milchiggelbes Licht in einem Radius von etwa 90 Zentimetern über ihren Schoß ergoss und die feinen hellblauen und weißen Karos der Rätselseite sofort schärfer hervortreten ließ.

In ihrem Kopf summten die Worte wie Bienen, die um die kräftig duftende Blüte einer Dahlie kreisten und sich nicht dazu entschließen konnten, sich darauf niederzulassen. Bis die Neurotransmitter in einer entlegenen Region ihres Gehirns ihre Arbeit aufnahmen, Johanna den Kugelschreiber energisch mit den Fingern umschloss und in ihrer stets leicht angestrengt wirkenden Schrift die drei das Wort »Ass« bildenden Buchstaben in die vertikal angeordneten Kästchen unterhalb des hellblauen, das Wort »Spielkarte« einschließenden Quadrats eintrug.

Zufrieden atmete sie aus, und keine zehn Minuten später hatte sie bis auf wenige frei gebliebene Felder das heutige Rätsel des »Hanauer Anzeigers« gelöst. »Chemisches Element« mit sechs Buchstaben blieb jedoch ebenso offen wie der »Rheinzufluss östlich von Basel« mit vier.

Johanna ließ die Zeitung sinken, legte den Kugelschreiber zur Seite und nahm die Brille ab. Seit dem Mittagessen, einer ihr etwas zu scharf geratenen Kartoffelsuppe, die sie erfolglos mit einigen Löffeln Crème fraîche abzumildern versucht hatte, verspürte sie ein leichtes Sodbrennen, als arbeite sich aus der gewundenen Tiefe ihres Magen-Darm-Trakts eine Schar winziger, mit hässlichen Brennhaaren bestückter Larven die Speiseröhre hinauf.

Erste Regentropfen schlugen wütend gegen die Scheiben, Vorboten eines Unwetters, das, mit aller meteorologischen Entschlossenheit über Hochstadt und Dörnigheim hinwegziehend, auf Kesselstadt zuraste.

Johanna setzte ihre Brille wieder auf, starrte einen Moment konsterniert auf Janeks leeren Clubsessel, der in einem 30-Grad-Winkel zur Couch postiert war und ihr plötzlich die Leere, die seit knapp zwei Tagen in ihren vier Wänden herrschte, vor Augen führte. Sie hatte nicht die leiseste Erklärung für sein Verschwinden.

Seit man ihr vor gut zwei Jahren einen Herzschrittmacher eingesetzt hatte, war es aus mit ihrer Ruhe, auch wenn das kleine, von außen mit den Fingern dicht unter der Haut zu ertastende Kästchen über ihrer linken Brust das genaue Gegenteil bewirken sollte. Immerzu war ihr, wenn auch gedämpft, ihr eigener Pulsschlag bewusst. Das ferne Echo ihres sich trotz allen Gleichmaßes unweigerlich auf sein Verstummen zubewegenden Herzens, das ihr, seit sie es in die Hände eines elektronischen Hilfsmittels gelegt hatte, noch zerbrechlicher erschien. Schließlich hatte sie es zuvor im Alleingang zu einem respektablen Alter von achtundsiebzig Jahren gebracht. Und hatte sie früher Gefallen daran gefunden, in ganz seltenen, kostbaren Momenten das Grundrauschen des Lebens und der Welt störungsfrei vernehmen zu können, ohne permanent das eigene Selbst in seiner ganzen lästigen Kompliziertheit mitdenken zu müssen, so kam sie sich inzwischen wie eine geschundene Kreatur vor, versklavt und um das Schönste überhaupt beraubt: das Gefühl, sich ganz allein zu gehören.

Johanna erhob sich, lief, das spitze Kinn energisch nach vorn gereckt, aus dem Wohnzimmer und bewegte sich langsam durch die von plötzlicher Finsternis verdunkelten Räume, Bens einstiges Zimmer und weiter in die Diele, in der das Telefon stand. Sie schaltete in der Küche das Licht ein, worauf augenblicklich alle Resthelligkeit draußen im Garten hinter den nassen Fensterscheiben zurückwich.

Sie nahm ein Glas aus dem Hängeschrank, drehte den Wasserhahn auf und füllte es. Dann trank sie in kleinen, gleichmäßigen Schlucken, um das Brennen in ihrem Schlund zu mildern. Ach, diese lästigen Störungen, dachte sie.

Sie vermisste Janek, wie sie so dastand am Spülstein. Mit in den Nacken gelegtem Kopf versuchte sie vergeblich einen vielleicht in den Vorhängen konservierten Hauch seines würzigen Zigarettentabaks zu erschnuppern. Ohne Zweifel war alles leichter, wenn er nicht im Haus war und sie mit seiner Kleinlichkeit, seinem manipulativen Starrsinn und seinem Drang, alles dominieren zu wollen, eine Zeitlang verschonte. Und natürlich bestand ihr Verhältnis längst aus jener ritualisierten, im Alter noch zunehmenden Abhängigkeit, die sie zu Knechten ihrer einst getroffenen Abmachungen gemacht hatte. Nun aber, da sie, zur Einsamkeit verurteilt, mit ihrem Arsenal geladener Giftpfeile dastand, die sie für gewöhnlich wollüstig in Janeks Richtung abschoss, ehe sie, von ihren kleinen, immerwährenden Scharmützeln ermattet, in die Betten sanken, und sie sich vorzustellen versuchte, wo er in dieser Sekunde bloß sein mochte, bekam seine Abwesenheit plötzlich etwas Empörendes, den Charakter einer Zumutung. Unwirsch stellte sie das leere Glas in die Spüle, machte auf dem Absatz kehrt, lief zum Telefon und wählte Bens Nummer.

»Janek?«, rief eine Stimme am anderen Ende gespannt.

»Nein, ich bin es«, hörte er seine Großmutter Johanna nach einer kurzen Pause sagen.

»Ach, du«, erwiderte Ben und sah zum Flurfenster, gegen dessen Scheiben der Sturm drückte.

Während er ihren nächsten Satz erwartete, stellte er sich ihr im Alter schmaler gewordenes, freundliches Vogelgesicht vor, in dem die schöne, auffallend große Nase alles andere dominierte: die braungrünen und neuerdings etwas in die Höhlen gesunkenen Augen; ihre an die wellig gewordene Haut eines Apfels erinnernden Wangen, die inzwischen mit einer Fülle kleinerer rostbrauner Altersflecken gesprenkelt waren. Und nicht zuletzt ihre dünnen Lippen, deren einstiges Zartrosa, wie Ben bei ihrer letzten Begegnung überrascht festgestellt hatte, einem fahlen Samtbraun gewichen war.

»Wie geht es dir, Junge?«, sagte sie, und Ben hörte, welche Anstrengung es sie kostete, gelassen zu wirken.

Benjamin Jansen war vierunddreißig Jahre alt, hatte die schlaksige Statur eines Marathonläufers und einen Blick, in dem etwas Unscharfes lag. Seine Hände waren nicht sehr groß, seine Arme nicht sehr muskulös, und sein halblanges, aschblondes Haar trug er links gescheitelt. Auf Fremde konnte Ben unsicher, verschlagen und manchmal sogar arrogant wirken. Die wenigsten, diese Erfahrung hatte er mehr als einmal machen müssen, vermuteten in ihm einen Sportjournalisten, jemanden, der aus einer Welt berichtete, in der (anders als im wahren Leben) Sieger und Verlierer noch deutlich unterscheidbar waren und wie Gladiatoren gefeiert wurden. Er, der selbst einmal davon geträumt hatte, Fußballspieler zu werden, hatte den Beruf des Sportreporters gewählt, um jenen Lichtgestalten nah sein zu können.

»Versteh das nicht falsch, Johanna, aber ich hatte gehofft, es wäre Janek«, antwortete er, ohne auf ihre Frage einzugehen. Er sah nach draußen. Die Dunkelheit war bereits so intensiv, dass alle Helligkeit nur noch von den erleuchteten Fenstern und den schwankenden Laternen herkam, die an Schiffslampen erinnerten.

»Aber deshalb rufe ich dich doch an!«, sagte sie zu seiner Überraschung. »Um zu fragen, ob du was von ihm gehört hast.«

»Ja, heute Nacht!«, sagte Ben, ohne zu überlegen, verschwieg ihr aber zunächst, dass Janek ihn zum Postamt bestellt hatte. Von Spielschulden war die Rede gewesen, von 90000 Euro, einer für Bens Verhältnisse irrwitzig hohen Summe. Ben hatte vergeblich auf ihn gewartet.

»Heute Nacht?«, sagte Johanna, wobei ihre Stimme auf einmal klarer, deutlicher war, so als sei sie einige Meter auf ihn zugegangen. »Na, Gott sei Dank!«

In Bens Ohren klang ihr erleichtertes Seufzen, als entweiche Luft aus einem zum Bersten gefüllten Ballon.

Irgendwann hatte Johanna darauf bestanden, dass sie sich beim Vornamen nannten. Und wenn er sie seither in Gegenwart anderer so anredete, schien sie dies sichtlich zu genießen. Als komme sie sich dadurch jünger, fortschrittlicher vor, weniger ausgeschlossen aus dem Leben derer, die heute das Sagen hatten und bestimmten, wo es langging.

Ben sah seine Großmutter im Geiste abermals vor sich: ihr metallisch grau schimmerndes Haar, das auf den ersten Blick an ein Geflecht hauchdünner widerspenstiger Silberdrähte erinnerte, und wie sie mit ihren rheumatisch entstellten Fingern den Telefonhörer umklammert hielt.

»Er hat mich angerufen, so gegen drei«, sagte Ben, ohne ihr allerdings weitere Details zu nennen.

»So, gegen drei!«, sagte Johanna schnippisch und schielte ärgerlich hinunter zu ihrem rechten Fuß. Sie hatte den Hausschuh abgestreift, denn im großen Zeh registrierte sie seit einigen Minuten ein beunruhigendes Pochen.

Wegen der Alarmglocken, die in ihrem Hinterkopf schrillten, wäre sie fast nicht in der Lage gewesen, sich auf Bens Antwort zu konzentrieren.

Ben achtete nun peinlich genau darauf, was er sagte, denn er ahnte, das entnahm er ihrer plötzlich stockenden Stimme, dass Johanna alarmiert war. In all den Jahren hatte er gelernt, welche Grade der Erregung von Johanna Besitz ergreifen konnten. Da war die Sirene, deren an- und abschwellendes langgezogenes Geheul das größtmögliche anzunehmende Unheil anzeigte. Oder die harmlosere Version einer schrillenden Türklingel, die für die mittlere Katastrophe stand. Und nicht zuletzt das gedämpfte, aber durchaus zermürbende Sirren, wie es elektronische Zeitschaltuhren von sich geben, das ihr signalisierte, dass es Zeit war, sich aus einer ungemütlich werdenden Diskussion zurückzuziehen.

»Johanna?«, rief er. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja doch!«, antwortete sie sogleich energisch, zog die Stirn kraus und winkelte das Bein etwas an. Besser aber sah sie ihre pochenden Zehen dadurch auch nicht. Wie sie es auch drehte und wendete: Das Alter war ihr ein ständiges Würgen im Hals! Wo war nur die Zehnjährige geblieben, die, vor der Tür eines elsässischen Hauses auf dem warmen Steinboden sitzend, mit Klickern in der Sonne spielte? Wo die einst erwartungsvoll dem Leben entgegenblickende Schulabgängerin? Und wo die junge, bereits skeptischer in die Zukunft sehende Mutter mit dem dichten kastanienbraunen Haar?

»Also Ben, weiter!«, wiederholte sie. »Was hat er gesagt?«

Ben wollte unter allen Umständen vermeiden, dass Johanna in Panik geriet. Ein falsches Wort, das wusste er, und ihre Welt stand in Flammen.

Er sagte: »Ach, nichts weiter. Er bat mich, zum Postamt zu kommen, und das hab ich getan. Doch als ich ankam, war er nicht da. Das war’s!«

Er hoffte, sie damit beschwichtigt zu haben. Kein Wort über die Männer, von denen Janek sich offenbar bedroht fühlte, kein Wort über seine Schulden.

Doch Johanna blieb misstrauisch und sagte: »Er ist seit zwei Tagen nicht nach Hause gekommen. Irgendwas stimmt da nicht. Das denkst du auch, nicht wahr!?«

»Ach, Unsinn«, antwortete Ben. Er schlug einen noch milderen Ton an. »Du kennst ihn doch. Keine Rücksicht auf andere. Heute Abend ist er wieder da, verlass dich drauf. Allerspätestens morgen.«

Ben hörte sich angespannt dabei zu, wie er log. Denn wenn er ehrlich war, machte er sich ebenfalls Sorgen um Janek. Wie es aussah, steckte der in ernsten Schwierigkeiten. Er versuchte, das Thema zu wechseln, indem er auf den Sturm zu sprechen kam. Doch Johanna ging nicht darauf ein, sagte: »Was können wir tun?«

»Wenn du willst, sehe ich mich, sobald es aufgehört hat zu stürmen, mal in seiner Werkstatt um«, sagte Ben und blickte auf seine Armbanduhr.

»O ja, bitte, Ben!«, erwiderte Johanna und atmete kräftig aus, so dass auf Bens Seite ein kurzes trockenes Brausen ertönte. »Und was können wir sonst noch tun?«

»Nichts, fürchte ich! Leider«, antwortete er. »Bloß abwarten.«

Er trat ans Fenster, nippte an dem bereits erkalteten Tee, den er sich kurz vor Johannas Anruf zubereitet hatte, und starrte hinunter in die Parkanlage, wo der Sturm die Blumenrabatten umzupflügen begann. Die windgeschüttelten Bäume streckten ihre kahlen, arthritisch gebogenen Äste in den pechschwarzen Himmel, so als flehten sie irgendeinen Allmächtigen an, ihr jämmerliches, schutzloses Leben zu verschonen. In mächtigen Schüben ging der Regen über der kleinen Parkanlage nieder, und es würde sicher keine Stunde mehr dauern, bis das Unwetter den Rasen in eine einzige formlose Schlammmasse verwandelt hätte.

»Ich rufe dich an, sobald ich mehr weiß«, sagte Ben mit Blick auf die ihm gegenüberliegenden, nur noch in Umrissen erkennbaren Häuser.

»Ist gut«, antwortete Johanna, und sie beendeten das Gespräch.

Ben starrte weiter hinaus, denn die schwach erkennbaren Lichtschächte, die zwischen den einzelnen Gebäuden bis in die Abenddämmerung vorstießen, erinnerten ihn an den Moment, als er Janek das letzte Mal gesehen hatte. Sie waren einander zufällig auf der Straße begegnet, Ben war mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Hause gewesen.

Nach einer Reihe unterschiedlicher Jobs war Janek zuletzt, das hatte er jedenfalls behauptet, als Vertreter herumgereist und hatte versucht, Lebensversicherungen zu verkaufen. Gelegentlich hatte er von ganz ordentlichen Provisionen geredet. Doch was er wirklich trieb, hatte Ben nicht erfahren. Einer seiner polnischen Landsleute hatte ihm den Job besorgt. Mehr als einmal hatte Ben gedacht: Janek und Versicherungen? Das ist doch ein Witz! Davor hatte Janek mit Autoersatzteilen gehandelt, hatte Kotflügel, Auspuffanlagen, Heckklappen und Lichtmaschinen veräußert, die er auf nächtlichen Raubzügen von den Schrottplätzen der näheren Umgebung stahl, in seiner Werkstatt aufarbeitete und verkaufte. Mit dem erbeuteten Diebesgut legte er ein stattliches Ersatzteillager an. In der Scheune, die an seine zugige Werkstatt grenzte und deren schadhaftes Dach er zuvor tagelang instand gesetzt hatte, hatte er immer häufiger auch Lackierarbeiten vorgenommen, manchmal ganze Autos gespritzt. Janeks Geschick hatte Ben von Anfang an fasziniert, sein leichthändiger, ja fast zauberisch zu nennender Umgang mit Holz, Messing, Aluminium oder auch Plexiglas, so als bestehe zwischen den Werkstoffen und ihm eine geheime Übereinkunft, ein magisches Bündnis, das jedes noch so widerspenstige Material unter seinen Händen geschmeidig und gefügig werden ließ.

An den Wochenenden trieb Janek sich mit Bekannten in Lokalen oder auf der Rennbahn in Frankfurt-Niederrad herum, brachte sie manchmal hinterher mit nach Hause – Polen allesamt, die sich um den Küchentisch in Johannas Wohnung versammelten, rauchten und Wodka tranken und im Licht der Deckenlampe unter wabernden Rauchschwaden laut und wild durcheinanderredeten. Hätte Ben, angefangen bei den ersten fünf Jahren im Kinderheim, seine bisherige Lebenslinie auf ein Stück Papier malen und mit kleinen erläuternden Symbolen oder Zeichnungen versehen sollen, so wäre an den entscheidenden Eck- oder Wendepunkten Janeks lächelndes Gesicht zu sehen gewesen, in dessen Mundwinkel ein qualmender Zigarettenstummel klebte. Gefolgt von einem Papilio machaon, einem Schwalbenschwanz, und einer Mandoline.

Johanna und Janek waren seit langem ein Paar (allerdings hatten sie sich Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit strikt untersagt), zunächst im Verborgenen, doch am Ende sogar mit Zustimmung von Johannas Mann Paul, der, als seine Parkinson-Erkrankung ebenso weit fortgeschritten war wie seine geistige Verwirrung, nicht mehr imstande war, die Rolle des Familienoberhaupts auszuüben.

Paul Jansen war am letzten, einem strahlenden Julitag des Jahres 1968, morgens gegen zehn, von nicht endenden Durchfällen zu einem Nichts aus Haut und Knochen ausgezehrt und geistig umnachtet, hinter beigefarbenen Krankenzimmervorhängen gestorben, die das helle Sonnenlicht in einen bernsteinfarbenen Nebel verwandelt hatten. Das Thermometer war an diesem Sommertag auf maßlose 37 Grad Celsius geklettert, und aus den Schulen waren die Kinder, die wegen Hitzefrei vorzeitig nach Hause gehen durften, in die Stadt, den Eisdielen zu, geströmt.

Über den Himmel zuckten Armaden gleißender Blitze, wütend und neutronenhell, und schrieben kryptische Muster in die aufgewühlte künstliche Nacht, begleitet von Serien schmetternder Donnerschläge. Mit unbarmherziger Wucht drückte der Wind gegen parkende Autos, Mülltonnen und Strommasten und riss und rüttelte wie ein in die Enge getriebenes riesiges Raubtier an allem, was nicht niet- und nagelfest war. An eine Fahrt zu Janeks Werkstatt war unter diesen Umständen nicht zu denken.

Ben stand noch immer am Fenster, und auf seine Netzhäute projizierten sich beängstigende Bilder: Auf der Philippsruher Allee knallte eine Holzplanke auf den nassen Asphalt, Ziegel flogen von den Dächern und zerbarsten auf dem Bürgersteig. Sicherungen brannten reihenweise durch, es kam zu Stromausfällen in weiten Teilen der Weststadt. In der Burgallee stürzte ein Strommast in einen Vorgarten, wirbelte die funkensprühende Leitung wie ein überdimensionales glühendes Lasso durch die stromschwangere Luft, zerschlug das Vordach eines Hauseingangs, zersplitterte Fensterscheiben zu Millionen gelber Glitzersteine und pflügte ein Tulpenbeet um, ehe er sich, ein letztes Mal vom Wind herumgerissen, noch einmal aufrichtete und zurück auf die Straße katapultiert wurde, wo er zischend und kreiselnd so lange auf der Stelle tanzte, bis er seitlich umfiel und im Zu-Boden-Gleiten die Kühlerhaube eines Wagens eindrückte, aus der dampfendes Wasser aufspritzte.

Mit einem Mal hatte Ben das irritierende Gefühl, Janek am Ende der gleißenden, pfeilschnell über den Himmel eilenden elektronischen Ladungen sehen zu können, sein wie mit Glühdrähten sekundenlang in die Schwärze modelliertes Gesicht. Und hätte er nur lange genug auf seiner Illusion bestanden und an seine herbeigesehnte Offenbarung geglaubt, so hätte sich das optische Wunder womöglich sogar erfüllt. Denn keine drei Kilometer von ihm entfernt saß Janek in seinem Wagen, durchnässt vom Herumirren im strömenden Regen, und dachte an ihn.

Durch die milchige Autoscheibe las er, was auf einer Plakatwand stand: AUF ALLEN MEEREN ZU HAUSE – REISEN MIT IHRER MARCO POLO – ZUM BEISPIEL NACH SÜDAMERIKA!

Janek blies den Rauch seiner Zigarette gegen die Windschutzscheibe, welche die Glut immer wieder sekundenlang als kleinen roten Punkt reflektierte, und beobachtete, wie hinter den beschlagenen, nassen Scheiben die Lichter Hanaus zusehends schwanden. In Kürze musste er Dreyfuss’ Leuten die geforderte Summe übergeben: 90000 Euro in bar.

Er wusste nicht, warum er solche idiotischen Sachen machte, warum er sich und andere mit seiner Spielsucht in Bedrängnis brachte. Er wusste nur, dass er die Gefahr brauchte, um zu spüren, dass er am Leben war. Ein Spiel musste einen potentiellen Verlust bedeuten, um interessant für ihn zu sein. Darin war er so ganz anders als sein um zwei Jahre jüngerer Bruder Andrzej, der stets versucht hatte, sein Ziel auf legalem Weg zu erreichen, inzwischen aber metertief in der polnischen Erde lag.

Ein bei hoher Geschwindigkeit geplatzter Hinterreifen hatte seinen Wagen in einem Wäldchen unweit von Sosnowiec aus der Spur getrieben, sie waren ins Schleudern geraten, das Fahrzeug war seitlich ausgebrochen und kurz darauf frontal gegen einen Baum geprallt. Andrzej musste ebenso wie seine Frau Julita auf der Stelle tot gewesen sein.

Janek wusste, dass er sein Glück, wenn überhaupt, nur auf den Um- und Nebenwegen des Lebens finden würde. Ein schnelles, flüchtiges Glück, kurz und rauschhaft.

Er versuchte sich vorzustellen, wie alles ablaufen sollte. Denn noch hatte er keinen Plan. Der Regen trommelte auf das Dach des Wagens. Das Wasser strömte in so dichten Wellen über die Autofenster, dass die Lichter der Geschäfte ringsum zu glasigen Schlieren verliefen. Und wenn zusätzlich eine kräftige Windböe von der Seite gegen den Wagen stieß, war es, als schaukele er über eine aufgebrachte See. Das gefiel ihm. Genau wie ihm die Vorstellung gefiel, Dreyfuss zu überlisten.

In wenigen Stunden lief die Frist, die der ihm gewährt hatte, ab. Und eine einfache Lösung gab es in diesem Fall nicht mehr. Trotzdem umspielte auf einmal die Andeutung eines Lächelns Janeks Lippen.

Während Janek den Rauch seiner Reval ausstieß, stand weiter westlich, 2,8 Kilometer Luftlinie entfernt, Helmut im Keller seines Flachdachbungalows und erfreute sich an der Schließdichte seiner neuen, doppelt verglasten Kunststofffenster. Im Raum herrschte eine trockene, behagliche Wärme. Von außen drang ein Geräusch zu ihm herunter, als schlage eine aufgebrachte Meute ihre Knüppel wieder und wieder gegen sein Gemäuer. Dazu das näher kommende Heulen einer Polizeisirene.

Nachdem er in den peitschenden Regen hinausgerannt war, um das schlagende Gartentor des Jägerzauns zu sichern, war er vollkommen durchnässt von hoch aggressiven, mit kanzerogenen Dioxinen angereicherten Regentropfen, die ihre todbringenden Schadstoffe in seinen Haaren, auf seiner Haut und in seinen Lungen hinterlassen hatten, ins Haus zurück gestürzt.

In Windeseile hatte er sämtliche Rollläden heruntergelassen und im Bad die nassen Kleider ausgezogen. Anschließend hatte er sich flüchtig abgetrocknet und sich seinen Bademantel übergeworfen. Zufrieden lauschte er auf das Prasseln des Regens auf dem Flachdach. Alles war festgezurrt und gut verankert, so dass Helmut sich in diesen Sekunden so unangreifbar fühlte wie lange nicht mehr. Dabei lauerte der eigentliche Feind bereits im Innern, hatte sich vor langer Zeit in Form von Milliarden winziger Schmutzpartikel Zugang verschafft. Nachdem seine zweite Frau Karla ihn verlassen und all die Reinigungstücher, Putzlappen und Staubwedel in der Besenkammer im Keller in einen tiefen Dornröschenschlaf versetzt hatte, aus dem Helmut sie nie wieder erweckt hatte, war der Schmutz zum Angriff auf ihn übergegangen.

Über allem lag die konsistente Staubdecke langer, mehr oder weniger ereignisloser Jahre. Die mikroskopisch kleinen Partikel waren in alles und jedes eingedrungen, hatten zunächst die Kissen befallen, dann die Couch und schließlich die Polster seines Sessels. Wollmäuse unter den Schränken und in den Zimmerecken boten allerhand Ungeziefer das perfekte Klima. Gleichzeitig hatten die Flusen sich großflächig in dem vier mal vier Meter breiten, im Wohnzimmer liegenden und vom schräg einfallenden Sonnenlicht über die Jahre gebleichten Perser eingenistet und den darin lauernden Milben ein kleines, beständiges Paradies geschaffen. Und irgendwann hatten sie schließlich einen Direktangriff auf Helmut selbst gestartet, hatten unsichtbar seine Poren verstopft, Zentimeter um Zentimeter seines Körpers in Besitz genommen, hatten unmerklich seine Stirnhöhlen belagert, seine Schleimhäute besetzt und ihm den Blick getrübt. So saß er neuerdings schon morgens schniefend oder röchelnd vor dem Fernseher und setzte auf der Fernbedienung absurde Morsezeichen ab, ohne sich einem einzigen anderen Lebewesen auch nur millimeterweit zu nähern. Längst zog Helmut den einschläfernden Dauermonolog des Fernsehers jedem Gespräch vor. Für gewöhnlich taute er ohnehin erst nach achtzehn Uhr auf, dann nämlich, wenn in den Kneipen rund um den Hanauer Freiheitsplatz die ersten Lichter ansprangen. Dann begann sich sein tagsüber ins Stocken geratener Redefluss in Bewegung zu setzen, seine Mimik wurde geschmeidiger, seine Gesichtsmuskulatur beweglicher und der Ausstoß seiner Worte manchmal geradezu exorbitant. War der große Zeiger seines Rolex-Blenders schließlich auf die Zehn vorgerückt, war Helmut, der zu diesem Zeitpunkt meist bereits ein halbes Dutzend Gläser Bier intus hatte, in der Regel nicht mehr zu stoppen. Ein verrückt gewordener Talkmaster, der Sätze spuckte, Witz an Witz reihte und nach jedem Kalauer, den er grinsend zum Besten gab, Beifall heischend um sich blickte. »Interviewen« nannte Helmut das, wenn er, umringt von seinen Golf-Kumpanen, fremde Kneipenbesucherinnen in seine leicht durchschaubaren rhetorischen Fallen zu locken versuchte, sie mit seinem selbstherrlichen Gerede belästigte. Dann begann sich seine teigige, vom Bierkonsum aufgeschwemmte Gesichtshaut von innen heraus zu röten und zu glühen (als reibe man an einer Wunderlampe, und der darin schlummernde Geist erwache zum Leben), und auf seine zitternde Oberlippe traten winzige Schweißperlen. Meist gelang es den Frauen jedoch, sich der überraschenden Vereinnahmung zu entziehen und ihn in die Defensive zu zwingen, so dass, was eben noch launig erschien, plötzlich mitleiderregend wirkte. Trotzdem war es ihm auf diese Weise immer wieder gelungen, Frauen in sein Bett zu holen, einsame Herzen zumeist, die es kaum noch Überwindung kostete, sich allein in ein Lokal zu setzen und ein paar Piccolos zu leeren. Und Helmut störte die Armseligkeit seiner vom Alkohol gestifteten Eroberungen nicht im Geringsten. Morgens neben einer Frau aufzuwachen, deren langes Haar sich über sein Kopfkissen ergoss, war weitaus angenehmer, als allein zu sein oder eine Prostituierte zu bezahlen. Gelegentlich jedoch kam es zu peinlichen Szenen zwischen ihm und den Damen, wenn sie sich morgens mit verquollenen Gesichtern ansahen und das schmerzhafte Gefühl hatten, den Abscheu des anderen zu sehen, bevor die Besucherin eilig ihre Sachen zusammenraffte und verschwand. Dann setzte Helmut sich wie jeden Morgen im Bademantel vor den Fernseher und schaute Eurosport. Und nur noch selten dachte er daran, was aus ihm hätte werden können. Manchmal registrierte er einen leichten Druck im Oberbauch, so als klumpten sich dort seine ungenutzten Möglichkeiten. Meist half dagegen bereits ein großes Glas eiskalte Milch, und der Schmerz wich einer dumpfen Kälte. Oder er schloss die Augen, legte den Kopf zurück in den Nacken und atmete so lange kräftig ein und aus, bis seine Beklommenheit einem angenehmen Schwindelgefühl Platz machte und er spürte, wie alles leicht und formlos zu werden begann und er in einen erlösenden Vormittagsschlaf fiel.

Seit dem Nachlassen des Tennisbooms Anfang der neunziger Jahre und der Abwanderung vieler zum Golf als neuer Prestigesportart hatte auch Helmut einen starken Rückgang seiner Kundschaft zu beklagen. In seinem orangefarbenen Dunlop-Unterrichtsplaner klafften immer größere Lücken. Anfang der siebziger Jahre, als überall Anlagen entstanden und Clubs gegründet wurden, hatten Trainer wie Helmut ein mehr als erkleckliches Auskommen. Von Reichtum konnte nicht die Rede sein; doch Helmut, der bereit war, zwölf Stunden pro Tag bei Wind und Wetter auf dem Tennisplatz zu stehen, schuf sich einen gewissen Wohlstand. In seinem Haus wurden Partys gefeiert, Lachs wurde aufgetragen und Champagner getrunken. Doch seither waren mehr als dreißig Jahre vergangen. Und spätestens mit Karlas Auszug hatten das Chaos und die Tristesse das Regiment in Helmuts Räumen übernommen. Besuchte Ben seinen Vater, verspürte er selbst bei Tag den irritierenden Drang, das Licht einschalten zu wollen. Manchmal schloss Helmut, einem schwachen Impuls gehorchend, den Staubsauger an, schob das brummende Ding für ein paar Minuten gelangweilt kreuz und quer durch die Räume. Bis er genug hatte, das Gerät wieder hinunter in den Keller trug, seine Lesebrille aufsetzte, sich in seinen Fernsehsessel fallen ließ und nach der Bedienung angelte.

Helmuts Nasenspraykonsum hatte seither bedenkliche Ausmaße angenommen, überall standen oder lagen leere Sprühflaschen herum, trotzdem war seine Nase pausenlos verstopft. So hatte sein erlahmter Sinn für Reinlichkeit den zähen, einst ausdauerfähigen und stets dezent nach Old Spice riechenden Sportsmann in einen müden, leicht reizbaren und von Dauerschnupfen geplagten Allergiker verwandelt.

Im Erdgeschoss erklang, gedämpft vom Sturm und dem Prasseln des Regens auf die elektronisch ausstellbare Glasdachluke, das Jaulen des Kamins, in dem der Wind wühlte. Doch Helmut fühlte sich sicher in seinen vier Wänden, ein selbsternannter General in seiner Festung. Denn noch ahnte er nichts von der hinterhältigen Bedrohung in seiner Harnblase, die sich ihm bereits in den nächsten Tagen offenbaren sollte.

Spiralförmig wanden und drehten sich die Luftmassen über der Sechzigtausendseelenstadt und warfen die mitgeführten riesigen Wassermengen mit unerbittlicher Wucht über die in ein flackerndes Licht getauchten Häuser, Straßen und Plätze. Ganz Südhessen lag unter anhaltenden Regenschauern. Und wenn sich die elektrischen Ladungen Richtung Heidelberg verschoben und dort in Form Dutzender lilafarben gegabelter Blitze und mächtiger Detonationen entluden, war deren Knallen bis in Konrads Zimmer in Heppenheim zu hören, so als läge die ganze Region unter Mörserbeschuss. Manchmal schien es sekundenlang, als bebe der gesamte Trakt oder als stampften sämtliche Patienten der geschlossenen Männerstation M 3 gleichzeitig mit den Füßen auf dem Boden.

Konrad krümmte sich auf seinem streng nach Schweiß und Urin riechenden Bett. In der spasmischen Haltung eines von Fieberschüben geschüttelten Kleinkindes lag er da, das Gesicht in das Kissen vergraben, die Kiefer ineinander verkeilt und die nikotingebräunten Finger beider Hände an die Schläfen gepresst. Mit flatternden Lidern versuchte er, dem unkontrollierbaren Zucken seiner Augäpfel standzuhalten, ausgelöst von den 100 Milligramm Neurozil, die man ihm gegen seinen Willen verabreicht hatte. Immer wieder schlug er sich mit der linken, zur Faust geballten Hand gegen den Kopf, so als ließe sich dadurch der darin entstandene Wackelkontakt oder der durch eine schadhafte Neutronenverbindung verursachte Kurzschluss zwischen seinen Augen und dem Großhirn beheben.

In seinen Händen spürte Konrad seinen eigenen rasenden Puls wie den fernen, von seinem kochenden Blut produzierten Widerhall des über dem Land tobenden Unwetters. Seine ausgetrocknete Mundhöhle brannte, und in den Leisten registrierte er bei jeder Bewegung einen Stich. Dazu die schmerzhafte Erektion, die ihn quälte, seit sie ihm das Zeug verabreicht hatten, und ihm das Gefühl gab, jeden Moment müsse seine Eichel zerplatzen und sein Unterleib bersten.

In einer jähen Bewegung öffnete er den Mund, riss die Kiefer auseinander, schlug blindlings seine Zähne in den Rücken seiner linken Hand, wieder und wieder. Bis er spürte, wie ihm das warme Blut in die Mundhöhle lief und das Brennen darin nachzulassen begann.

Konrad leckte sich den leicht salzig schmeckenden Körpersaft vom Handrücken, versuchte die Tätigkeit seiner Augen, so gut es ging, zu kontrollieren und die Lider geschlossen zu halten, damit das rhythmische Blitzen auf seinen Netzhäuten aufhörte. Das Neurozil kreiste in seinem Blut wie ein wütender Haifisch in einem Swimmingpool auf seiner verzweifelten Suche nach einem Schlupfloch hinaus ins Meer.

Ich muss Ben anrufen, schoss es durch sein erregtes Hirn, ja, Ben soll kommen, soll Kaffee und Zigaretten bringen! Seit seinem letzten Besuch waren ihm gerade mal zwei Päckchen geblieben.

Konrad versuchte sich aufzurichten und die Augen zu öffnen. Doch schon im nächsten Moment gab er sein Vorhaben auf und ließ sich aufs Bett zurücksinken. Denn sobald er sich erhob, rollte ein bohrender Schmerz durch seinen Kopf, so als drücke das Gehirn gegen die Schädelbasis und die Stirnplatte.

Er atmete langsam ein und wieder aus und streckte, auf dem Rücken liegend, unsicher alle viere von sich. Für einen Moment vergaß er sogar den pulsierenden Schmerz in seiner linken Hand. Bevor er einschlief, hörte er, wie der Sturm noch immer wütend gegen die Scheiben schlug, ehe er langsam Richtung Nordhessen abdrehte, sich über Darmstadt sammelte, zurück Richtung Hanau zog und schließlich in einer weit ausholenden Rechtskurve unaufhaltsam auf Fulda zuraste.

Ulrike war nie sonderlich hübsch gewesen, hatte aber stets etwas Sehniges, Gespanntes ausgestrahlt, so als stemme sich etwas Größeres, Eingesperrtes in ihr gegen die tatsächliche Begrenztheit ihrer Figur. In den Winkeln ihres Mundes hatten sich kurze, markante Falten eingenistet, wodurch er etwas Gieriges bekommen hatte. Eine Gier, die sie inzwischen mit großen fetttriefenden Stücken Schwarzwälderkirschtorte stillte, die sie sich hinter Rainers Rücken und öfter, als ihrem Cholesterinspiegel guttat, gönnte. Ihr Haar war dünner, stumpfer geworden, ihr Bauch, ihre Hüften und die Oberschenkel fülliger – trotz der vielen kleinen chirurgischen Eingriffe in den letzten Jahren –, was sie neuerdings, wenn sie genau wie früher dreimal wöchentlich mit hochrotem Kopf die karminrote Tennisplatzasche umpflügte und ihrer im gegnerischen Halbfeld postierten Partnerin Ute die Bälle fauchend um die Ohren drosch, plump wirken ließ. Eine kleine tuckernde Lokomotive mit menschlichem Antlitz, die sich immer neue Anhöhen hinaufquälte und Dampf abließ.

Ulrike hatte die kantige, unvorteilhafte Physiognomie ihrer Mutter Johanna geerbt: kleine Brüste, keine Taille und einen zu massiven Oberkörper. Dazu kurze Beine. Ihr Leben lang hatte sie dagegen angekämpft, nicht in deren linkische, dabei stets leicht schwerfällig wirkende Bewegungsabläufe zu verfallen. Ulrike hatte bis zum Umfallen Sport getrieben, die Nägel ihrer stummelartigen und immer leicht geschwollen wirkenden Finger lackiert, auf ihre Ernährung geachtet, Alkohol gemieden und sich viel Schlaf gegönnt. Alles vergebens. Denn wer sie nun von weitem sah und Johanna kannte, musste unweigerlich glauben, eine jüngere Ausgabe dieser vor Augen zu haben.

Neuerdings kam sie öfter aus der Puste, und am Abend spürte sie immer häufiger ihre Krampfadern. Kurz: Mit Ulrike und ihrem Leben gingen kleine, nicht zu übersehende Veränderungen vor sich. Es waren, doch das begriff sie noch nicht in aller Konsequenz, die sich mehrenden Zeichen des Verfalls: Kurze, unerklärliche Blackouts und Absenzen, die sie manchmal im Gespräch unvermittelt den Faden verlieren ließen, ihren Blick kurz verschleierten und ein nervöses Zucken der Oberlippe zur Folge hatten.

Früher hatte Ulrike geglaubt, die Bahn ihres Lebens sei endlos und gleiche einer dieser immer sonnigen südamerikanischen Rollbahnen, die einem lang und länger erschienen, wenn man in einer Maschine saß und scheinbar unendlich darüber hinwegjagte, ehe das Flugzeug seine Schnauze irgendwann in den Wind reckte, es einen kurz in den Sitz drückte und der feste Untergrund plötzlich unter einem zurückwich. Doch inzwischen sah sie selbst, dass sich die Bahn ihres Lebens merklich verkürzt hatte und aus der Unschärfe der Jugend und der mittleren Jahre klar umrissen deren Ende auftauchte.

Wenn sie morgens vor dem Badezimmerspiegel stand und sich dabei beobachtete, wie ihre rechte Hand die Clarins-Feuchtigkeitscreme im Gesicht auftrug und anschließend in kleinen konzentrischen Bewegungen darüber verteilte und sie die feinen Narben an ihren Nasenflügeln ertastete, hörte sie sich immer häufiger lautlos sagen: »Wie bin ich bloß so geworden? Weshalb wurde ich nie die Frau, die ich einmal gehofft hatte sein zu können? Und weshalb habe ich diesen Mann, Rainer, geheiratet und ihm diese Kinder geschenkt?«

»Erkenne dich selbst!«, hatte ein weiser Grieche einmal gesagt. Die Vorstellung, sich eines Tages selbst zu erkennen und, damit verbunden, etwas Wohlgeformtes, Gelungenes sehen zu können, hatte ihr als junges Mädchen gefallen und sie angespornt. Und irgendwie hatte sie all die Jahre unbewusst auf diesen Moment hingearbeitet, mit all den ungezählten Atemzügen, Handgriffen, Schritten und Blicken, auf diesen einen einzigen kostbaren Moment der Erkenntnis und der Erfüllung. Doch nun, Jahrzehnte später, musste sie sich eingestehen, dass dieser Moment nie gekommen war. Dass sie zu einer Frau geworden war, die vergeblich gewartet hatte, und die vom Leben und dessen eigentlichen Segnungen versetzt worden war! Mehr noch: dass ihr dieses Warten etwas völlig anderes beschert hatte als Erkenntnis und befreiende Erfüllung, nämlich das faltiger und zugleich fülliger gewordene Gesicht einer inzwischen sechzig Jahre alten Frau, die ihr Lebensziel verfehlt hatte. Eine Mutter dreier Kinder, die sich, statt sich für ein Leben voller Abwechslung, Aufrichtigkeit und Lebendigkeit zu entscheiden, eines in künstlicher Harmonie und Sicherheit führte, an der Seite eines Mannes, dessen krankhafter Drang nach Geltung und materieller Sicherheit längst der eigentliche Motor ihrer Partnerschaft war. So war von einem gewissen Moment an alles vorhersehbar geworden, hatte sich als kleinkariert und spießig erwiesen. Und manchmal sogar als niederträchtig in der Art, wie sie, von Rainer immerzu dazu animiert, gemeinsam anderen die Lebenssäfte abzapften und sie übervorteilten in ihrer maßlosen Begierde und der Vorstellung, ihnen stehe mehr als anderen zu.

Ulrike erschrak über die plötzliche Offenheit ihrer Gedanken, registrierte eine Gänsehaut an beiden Armen und zog das Taschentuch, das sie kurz zuvor dort hineingesteckt hatte, aus der Tasche ihrer Jeans und schnäuzte sich. Aber vielleicht war dies ja der wenn auch schmerzhafte Moment der Erkenntnis, auf den sie so lange gewartet hatte? Die Stunde, da sie plötzlich mehr über ihr Leben wusste, dieses schrecklich schöne »Erkenne dich selbst!«.

All die Jahre hatte sie nicht das Geringste dagegen unternommen, wenn Rainer, der das Leben für eine fortwährende Wohltätigkeitsveranstaltung zu seinen Gunsten hielt – eine Art Wiedergutmachungsprogramm für die Schmach seiner schweren, von Not und Enthaltsamkeit geprägten Leverkusener Jugend –, das Netz, das er vom ersten Tag ihrer Ehe an heimtückisch über sie geworfen hatte, enger und enger um sie zog. Und nun, da die Kinder aus dem Haus waren, musste sie feststellen, an einen Mann und ein Leben gekettet zu sein, das sie so nicht mehr wollte. Doch was sollte sie tun? Wohin sollte sie gehen? Dabei hatte sie all die Zeit genau das Leben geführt, das Johanna ihr in ihrer Mutlosigkeit und ihrer bedrängenden Art eingeredet und sich von ihr gewünscht hatte. Voller Sicherheit, an der sie indirekt partizipieren konnte. Nun hasste Ulrike sie dafür.

Johanna hatte damals alles darangesetzt, dass sie Juan vergaß und sich für Rainer, der in ihren Augen etwas Aufstrebendes, Entschlossenes besaß, entschied. Und Ulrike war ihrem Wunsch gefolgt, dumm und feige, wie sie damals gewesen war, hatte Juan und Barcelona den Rücken gekehrt, war nach Hanau zurückgekommen und hatte sich auf Rainer eingelassen. Und nun, nach achtundzwanzig Jahren an seiner Seite, musste sie sich eingestehen, so ziemlich alles falsch gemacht zu haben.

Ja, sie hatte sich auf Rainer eingelassen, bis ins Kleinste. Unüberlegt und aus dem blinden Verlangen heraus, bei ihm das finden zu können, was sie bei ihren Eltern so sehr vermisst hatte: Geborgenheit und Konstanz. Selbst ihre Handschrift sah inzwischen der von Rainer zum Verwechseln ähnlich. Sie war in Rainer aufgegangen wie eine Prise Salz in einem Hefeteig, war ununterscheidbar von ihm geworden und ein Teil seines von langer Hand vorbereiteten, kleinlich entworfenen Selbstverwirklichungsprogramms. Ihr altes, von Sehnsüchten und Träumen gelenktes Leben war ein Schatten, der sich noch manchmal lähmend über sie legte und ihr für ein paar kurze schmerzliche Momente vor Augen führte, wer und was aus ihr hätte werden können.

Natürlich hatte sie, anders als zum Beispiel ihr Bruder Helmut, der großspurig vorgab, unbestechlich zu sein, und dabei das Leben neuerdings für eine nicht enden wollende Party hielt, in Wahrheit aber vor seiner eigenen Gefühlskälte davonlief und sich vergnügungssüchtig weigerte, der Misere seines mehr schlecht als recht improvisierten Lebens ins Auge zu sehen, haltbare moralische Werte angehäuft, die es ihr, so glaubte sie jedenfalls, erlaubten, andere zu beurteilen und sich ins Verhältnis zu ihnen zu setzen. Wirklich zufrieden aber machte sie das nicht. Oh, wie sehr war ihr Helmut doch im Innersten zuwider, der in seinem Schwarzweißdenken gefangen war wie eine vor dem Verkitten zwischen zwei Doppelfensterglasscheiben geratene Fliege und immerzu seine wenig tiefschürfenden Gerechtigkeitsvorstellungen zum Besten gab. Seine Überheblichkeit, mit der er sie von Anfang an, als sie noch Kinder waren, von oben herab belächelt und abgetan hatte. Natürlich wusste sie, dass Helmut sie im Gegenzug nicht minder inbrünstig dafür verachtete, wie fraglos sie und Rainer ihre Bürgerlichkeit zelebrierten. Doch das war ihr egal. Denn dachte sie an Konrad, ihren jüngeren kranken Bruder, fühlte sie sich sogleich besser und unversehrt, eine Verschonte, der es vergönnt war, eine Existenz zu führen, die nicht den Gesetzen eines undurchschaubaren Wahnsinns gehorchte und, wie zuletzt im Fall ihres an Parkinson erkrankten und später an der Ruhr zugrunde gegangenen Vaters Paul, in Schwäche, Siechtum und Selbstverleugnung endete.

Nachdenklich blickte Ulrike hinaus in die Dunkelheit, wo die nur mehr diffus erkennbaren Apfelbäume sich bedenklich bogen und der Sturm in deren kahlen, manchmal kurz und scharf umrissenen Kronen wühlte, als sie plötzlich im Gegenlicht der draußen zuckenden Blitze sekundenlang ihr Antlitz in der Fensterscheibe gespiegelt sah. Und mit einem Mal wusste, sah und begriff sie auf schmerzliche Weise, wohin ihr Weg sie führen würde.

2. Spannungsgefälle

Johannas Braun-Wecker zeigte kurz vor elf Uhr. Draußen stürmte es mit unverminderter Heftigkeit, ein Jahrhundertunwetter, wie es hieß. Auf allen Kanälen (sie hatte in der Küche kurz das Radio eingeschaltet) hatten die Nachrichtensendungen die Sturmwarnungen der Wetterdienste durchgegeben, zu erhöhter Vorsicht gemahnt und die Bevölkerung davor gewarnt, sich im Freien aufzuhalten. Von Stürmen in Orkanstärke und sogar einer möglichen Sturmflut war die Rede gewesen. (Das letzte Mal war der Main bei Hanau 1595 über die Ufer getreten und hatte große Teile Altkesselstadts überflutet.)

An der Nordseeküste hatte das Unwetter bereits in bedenklichem Ausmaß gewütet, hatte Dächer abgedeckt, Bäume entwurzelt, vertäute Boote durch die Luft gewirbelt und Hunderte von Metern weiter an den Strand geworfen, wo sie zerschellt waren. Johanna fand das alles äußerst beängstigend. Nein, ihr war in diesen Minuten nicht wohl in ihrer Haut.

Wenn der Wind drehte, was alle paar Minuten geschah, klatschte das aus den überlaufenden Regenrinnen herabstürzende Wasser mit furchterregendem Laut gegen die Läden. Gott sei Dank, dachte sie, habe ich sie noch rechtzeitig zugemacht und von innen fest verriegelt. Dennoch fuhr sie bei jedem neuerlichen Laut jäh zusammen, ein Gefühl, das sie unweigerlich an die Bombennächte während des Krieges im Luftschutzkeller erinnerte. Bei jedem näher kommenden Heulen hatten sie die Köpfe eingezogen und aneinandergekauert den Atem angehalten. Sie hatten sich die Finger in die Ohren und gegenseitig die Fäuste in die aufgerissenen Münder gestopft, damit bei einem möglichen Einschlag das Trommelfell nicht platzte. Dazu die unerträgliche Hitze, der schwindende Sauerstoff, das Keuchen der Eingeschlossenen und später die Leichen überall: leblose, blutverschmierte Fleischklumpen, Rümpfe, denen die Extremitäten fehlten, abgerissene oder verschmorte, zwischen den Trümmern herumliegende Arme und Beine.

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