Ein deutscher Sommer - Peter Henning - E-Book

Ein deutscher Sommer E-Book

Peter Henning

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Beschreibung

Ein kühnes Stück Literatur über die deutsche Wirklichkeit.

Am 16. August 1988 überfallen zwei Kriminelle die Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck - es folgt die wohl spektakulärste Geiselnahme der deutschen Nachkriegsgeschichte. Gejagt von einer Journalistenhorde, fliehen sie durchs Land, töten vor laufenden Kameras und werden interviewt, während die Geiseln in Lebensgefahr schweben - ein Sündenfall des Journalismus, ein Offenbarungseid der Polizei. Peter Henning erzählt von Männern und Frauen, die binnen 54 Studen an den Rand ihrer Existenz gebracht werden und sich entscheiden müssen: für ein richtiges oder ein falsches Leben.

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Peter Henning

EindeutscherSommer

Roman

Am 16. August 1988 überfallen zwei Kriminelle die Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck – es folgt die wohl spektakulärste Geiselnahme der deutschen Nachkriegsgeschichte. Gejagt von einer Journalistenhorde, fliehen sie durchs Land, töten vor laufenden Kameras und werden interviewt, während die Geiseln in Lebensgefahr schweben – ein Sündenfall des Journalismus, ein Offenbarungseid der Polizei. Peter Henning erzählt von Männern und Frauen, die binnen 54 Stunden an den Rand ihrer Existenz gebracht werden und sich entscheiden müssen: für ein richtiges oder ein falsches Leben.

PETER HENNING, 1959 in Hanau geboren, studierte Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und lebt heute als freier Schriftsteller in Köln. Mit »Tod eines Eisvogels« (1997) und »Aus der Spur« (2000) trat Henning als Schriftsteller in Erscheinung, zuletzt erschienen seine Romane »Die Ängstlichen« (2009), »Leichtes Beben« (2011) und »Ein deutscher Sommer« (2013). Seine Arbeit wurde mit Stipendien der Kunststiftung NRW und der Robert Bosch Stiftung gefördert, eine Verfilmung seines Romans »Ein deutscher Sommer« ist in Vorbereitung. Zuletzt erschien sein Roman »Die Chronik des verpassten Glücks« im Luchterhand Literaturverlag (2015).

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1. Auflage Genehmigte Taschenbuchausgabe Juni 2016 btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Copyright © der Originalausgabe 2013 by Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2013 Umschlaggestaltung: semper smile, München nach einem Umschlagentwurf von hißmann, heilmann, Hamburg SK · Herstellung: sc

eISBN 978-3-641-16788-2V001

www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

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www.randomhouse.de

Dies ist ein Roman, der ohne die Wirklichkeit nicht hätte geschrieben werden können.

Aber es ist ein Roman.

In Erinnerung an Joachim Rauch

(1937–2011)

»Vielleicht waren alle Fotos von der Wirklichkeit nicht in Ordnung, falsch, alle Sätze über die Wirklichkeit falsch, mit dem falschen Auge, das die Bilder aufnahm, mit den bösen verdrehten Beschreibungswörtern, die etwas herstellten und nebenbei andeuteten, ob und wie noch Geschäfte damit zu machen seien.«

Nicolas Born

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorCopyrightWidmungKapitel 1I - Dienstag, 16. August 1988
Kapitel 2
II - Mittwoch, 17. August 1988
Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11
III - Donnerstag, 18. August 1988
Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24
Dank

1

dpa – Basisdienst, Hamburg

Kriminalität/Geiselnahme

Bankräuber nahmen zwei Angestellte als Geiseln

Gladbeck (dpa) – Bei einem Überfall auf eine Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck haben am Dienstagmorgen zwei maskierte und bewaffnete Räuber zwei Bankangestellte als Geiseln genommen und sich im Gebäude verschanzt.

Rund zwei Stunden nach dem Überfall konkretisierten sie ihre Forderung und verlangten die Bereitstellung eines schnellen Wagens und 300 000 Mark Bargeld.

I

Dienstag, 16. August 1988

»Halt dich fest!«, rief Rösner, legte den ersten Gang ein, gab Gas und ließ die Kupplung kommen. Der Motor heulte auf, und die Maschine, eine hellblaue Honda CX 500, deren Lenkradschloss er mit einem kräftigen Ruck problemlos geknackt hatte, schoss über den Bordstein. Im selben Moment spürte er den Druck von Degowskis Händen an seinem Bauch.

Der Fahrtwind blies ihm ins Gesicht und wirbelte seine strähnigen braunen Haare hinauf in die hohe Stirn. Er spürte den Widerstand der Luft an seiner Brust. Ähnlich wie damals, wenn er sich als Junge im Hallenbad an der Bottroper Straße ins Wasser gestürzt hatte und das Element gegen seinen beherzt nach vorn drängenden Körper geprallt war.

»Jaaaaaahh!«, brüllte er in den Fahrtwind und steigerte die Geschwindigkeit, berauscht von der Kraft der Maschine, die ihn wie auf einer reißenden Welle dahintrug. Er nahm die langgezogene Kurve der Sandstraße und lehnte sich hinein. Plötzlich ging ein unerklärlicher Ruck durch das Hinterrad, weil Degowski, statt sich hineinzulegen, sich aus der Kurve gestemmt hatte und die Maschine nach rechts ausbrach. Es war, als würde ihnen der Boden unter den Rädern weggezogen: ein Aufprall, ein jäher Schlag gegen die Schulter und das hässliche Geräusch von über Stein kratzendem Metall.

»Scheiße!«, schrie Rösner. Die Honda blieb liegen und ging aus. Degowski brach in schallendes Gelächter aus.

»Du Arsch!«, rief Rösner, am Boden liegend. »Zu blöd, um Moped zu fahren, was?«

Degowski erhob sich langsam, sah zu Rösner und stammelte: »Ich dachte, also ich … äh, ich wollte …«

»Arsch!«, rief Rösner noch einmal und sah, dass er sich beim Sturz auf den Asphalt am Ellbogen verletzt hatte. »Wenn du schon mal denkst!« Durch den Riss im dünnen Stoff schimmerte blutiges Fleisch.

»Los komm, weiter!«, rief Degowski und grinste. Dann zog er den mattschwarzen Trommelrevolver aus seiner Lederjacke, reckte ihn triumphierend in die Höhe und grölte: »Money, Money, Money!«

Als sie am Einkaufszentrum in der Schwechater Straße ankamen und mit gezückten Waffen das Bankgebäude betraten, lief in dem kleinen Transistorradio, das Reinhard Allbeck jeden Morgen als Erstes andrehte, der Werbeblock auf WDR 2. Es war 7 Uhr 56. Andrea Branske hatte eben die Eingangstür aufgeschlossen.

Die umstehenden Bäume mit ihrem dichten Blattwerk filterten das Licht, das grünlich in den Schalterraum fiel. »Überfall, Hände hoch!«, rief Rösner und ging auf die holzverkleideten Schalter zu. Während er seine Waffe auf den Mann hinter dem Schalter gerichtet hielt, der ihn erstaunt ansah, musste er daran denken, was sein Vater gebrüllt hatte, als er ihn mal wieder mit dem Gummischlauch verprügelte, weil er wie so oft beim Klauen erwischt worden war. »Verfluchter Verbrecher, wärste mal lieber verreckt bei der Geburt!« Ein Grinsen zog über Rösners bärtiges Gesicht.

»Du da, da rüber!«, rief Degowski der Frau zu, die reglos neben ihrem Kollegen stand. Zu diesem Zeitpunkt, kurz vor acht, befanden sich nur die zwei Angestellten in der Bank.

Was sie wollten, war Geld. Schnelles Geld. Rein, raus und weg. Und keine langen Geschichten.

»Das Geld her, na los! Mach schon! Oder biste total bestusst?«, rief Degowski, dem alles nicht schnell genug ging. Mit dem Revolver in der ausgestreckten, leicht zitternden Hand trat er auf die noch immer reglose Andrea Branske zu. Er war nervös und sah, dass sie sah, dass er zitterte.

»Mach, was mein Kumpel hier sagt!«, rief Rösner und sah sich nach allen Seiten um. »Der ist nämlich brandgefährlich und schießt, wenn’s ihm zu bunt wird!«

»Tun Sie, was er sagt!« Reinhard Allbeck bekräftigte seine Worte mit einem Nicken. Andrea Branske setzte sich in Bewegung.

»Und du kommst hier rüber!«, rief Rösner, der ihre Angst förmlich zu riechen glaubte. Dabei fuchtelte er mit dem Revolver. Ohne zu zögern, ging Allbeck um den Schalter herum.

»Auf den Boden da, na los!«

Während Reinhard Allbeck sich mit dem Gesicht nach unten vor ihm auf den Boden legte, blickte Rösner sich wieder nach allen Seiten um. Und da sah er ihn: einen Streifenwagen, der draußen im Schritttempo vorbeifuhr. (Der Arzt, der über der Bank seine Praxis hatte, hatte die beiden dabei beobachtet, wie sie mit vorgehaltenen Waffen in die Bank liefen, und die Notrufnummer gewählt.)

»Scheiße, die Bullen!«, rief er. Der Druck in seinen Schläfen schien das Fleisch von innen gegen die Haut zu pressen.

Rösner trat an die Panoramascheibe und zog den Sichtschutz einen Spaltbreit beiseite. Langsam rollte der Streifenwagen aus dem Bild. Das Adrenalin, das der Anblick des grün-weiß lackierten Fahrzeugs in ihm freigesetzt hatte, raste in Millisekunden durch die labyrinthischen Windungen seines Innern und krachte wie eine abgeschossene Flipperkugel, die über Rollovers und durch In- und Out-Lanes jagte, so lange ruhelos und mit einer solchen Heftigkeit wieder und wieder gegen seine körpereigenen Bumper und Zielscheiben, dass er, der in Tausenden von Spielstunden gestählte Flipperkönig von Gladbeck-Ellinghorst, einen Moment lang glaubte, einen Tilt verursachen und aufstecken zu müssen, um nicht komplett zu überdrehen.

Im selben Moment sprang Degowski mit einem Satz über den Schalter und stieß Andrea Branske, die das Kassenhäuschen aufschloss, den Revolver an den Kopf. »Alles nur wegen dir, du bestusste Kuh!«, schrie er. Und da hatte Rösner sich auch schon wieder gefangen.

Mit schnellen Schritten war er bei dem reglos auf dem Boden verharrenden Reinhard Allbeck und hielt ihm seine Waffe an den Kopf: »Los, aufstehen, aber schnell! Und dann da rüber zu meinem Kumpel!«

Er spürte die Müdigkeit kommen. In dünnen, schweren Schleiern legte sie sich über ihn. Er hatte in der Nacht kaum ein Auge zugemacht.

Sie würden hier rauskommen, mit oder ohne Gewalt. Und mit der Kohle. Dessen war er sich ganz sicher. Notfalls mit Hilfe von Geiseln.

Wie immer war er der Erste.

Er machte im Newsroom, wie sie das Großraumbüro nannten, das Licht an. Flackernd rissen die Neonleuchten die Schreibtische aus dem Halbdunkel. Dann schaltete er die an der Wand hängenden Bildschirme ein und ging in sein Büro am Ende des Raums, einen acht Quadratmeter großen Glaskasten. Er knipste die Schreibtischlampe an und warf seine Aktentasche auf den lederbezogenen Zweisitzer, auf dem er schlief, wenn es spät wurde und er keine Lust mehr verspürte, nach Hause zu gehen. Er stellte die mitgebrachte Thermoskanne (die amerikanische Art) auf seinen Tisch, schaltete den Fernseher an und schaute kurz bei CNN und BBC rein. Nach der ersten Tasse Kaffee würde er die Telexe, die in der Nacht eingegangen waren, durchsehen. Wo blieb eigentlich die Botin mit den Tageszeitungen?

Maibach spülte seinen Kaffeebecher in der kleinen Redaktionsküche aus und ging zurück in sein Büro. Er hatte sich gerade hingesetzt, da tauchte Kathrin Jürgens, seine Assistentin, auf.

»Ruhig heute«, sagte sie. »Bis auf die Sache da in Gladbeck. Wollen hoffen, dass noch was passiert!«

Kathrin lag ihm seit Tagen in den Ohren, er solle mal Pause machen, den Flieger nehmen und einfach mal für ein paar Tage abhauen, doch nicht, weil sie sich Sorgen um seine Gesundheit machte, sondern weil sie ihn loswerden und eine ruhige Kugel schieben wollte.

Er wusste, wie sie hinter seinem Rücken über ihn redeten. Aber das war ihm egal. Er würde aus dieser Nachrichtenredaktion die Nummer eins in Deutschland machen. Wie und mit welchen Methoden, das hatte er zwei Jahre in New York bei der Fox Broadcasting Company studiert. Drama, Emotionen, das wollten die Leute sehen. Am liebsten durchs Schlüsselloch. Ethische Bedenken konnten sie sich auf dem Weg nach oben nicht erlauben. Sex and Crime, das waren die Säulen, auf denen er sein Imperium aufbauen würde. Es ging um Quote. Und Quote hieß – das hatte er in den USA gelernt –, die Messlatte so tief zu hängen, dass man gerade noch drunter durchrutschen konnte. Ihr Publikum waren der Pöbel und das Millionenheer der Ahnungslosen, und nicht eine Handvoll intellektueller Bedenkenträger. Sie würden es den arroganten Schlaffis von ARD und ZDF zeigen, die jetzt noch mitleidig lächelten, wenn er und seine Leute mit ihrem RTL-Equipment in Pressekonferenzen auftauchten. Und wer auf diesem Weg nicht mitkam, der musste am Wegrand liegenbleiben. So einfach war das!

»Was für eine Sache ist das?«, sagte Maibach.

»Zwei Männer haben eine Bank überfallen und sich in dem Gebäude verschanzt. Kam vor ein paar Minuten über den Ticker. Mehr weiß ich auch nicht.« Kathrin Jürgens rieb sich entschuldigend die Hände.

»Was stehst du dann noch hier rum? Beweg deinen Hintern, und mach dich schlau. In zwanzig Minuten will ich wissen, was da los ist. Und zwar alles.«

»Mach ich!«, sagte sie und drehte sich um.

Maibach goss sich Kaffee ein und ließ lässig ein Stück Würfelzucker hineinfallen. »Und wenn ich sage zwanzig Minuten, meine ich auch zwanzig Minuten, okay?!«

»Ja, Frank! Ja!«, erwiderte sie genervt und lief aus dem Büro. Wenn die Spätausgabe von RTL Aktuell über den Sender war, gingen alle nach Hause. Er nicht. Er genoss es, den Newsroom wieder für sich alleine zu haben und die Highlights noch einmal an seinem geistigen Auge vorüberziehen zu lassen. Auch am Vorabend hatte er das so gehalten und war im Halbdunkel zwischen den verwaisten Schreibtischen herumgegangen. Die DDR nahm diplomatische Beziehungen mit der Europäischen Gemeinschaft auf. Und mit der Beschlagnahme von 29 000 Kälbern bei Großmästern in Nordrhein-Westfalen ging der bisher größte Hormonskandal bei der Fleischproduktion in der Bundesrepublik einher. Nachrichtentechnisch betrachtet, war es ein Supertag gewesen. Mal sehen, vielleicht war ja aus der Geschichte in Gladbeck etwas rauszuholen. Er verspürte so ein komisches Kribbeln im Nacken. Jagdfieber.

Sie saß in der abgedunkelten Küche ihres Hauses in der Südstadt an dem großen schweren Holztisch, den Martin noch kurz vor seinem Tod auf ihren Wunsch hin taubenblau angestrichen hatte, und versuchte zu arbeiten. Wie lange schon? Eine Stunde? Zwei? Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren.

Vor ihr lag ein Stapel Manuskriptseiten, getrocknete bräunliche Flecken zierten die Blätter. Im randvollen Aschenbecher erinnerten zerdrückte Kippen an verendete Engerlinge. Von einer brennenden John Player Special stieg ein Rauchfaden kerzengerade zur Decke. Neben dem Aschenbecher stand ein Teller mit einem angebissenen gelblich glänzenden Toast und einem bis zum Griff verschmierten Messer, einer verschrumpelten Gewürzgurke und einem steinharten Stück Blutwurst. Am Rand war ein angetrockneter Klecks Senf. Auf dem kalten, dunkel gewordenen Tee in ihrer Tasse schimmerten regenbogenfarbene Schlieren wie Ölspuren auf einer Pfütze. Angestrengt versuchte sie sich auf das Geschriebene zu konzentrieren. Wieder und wieder unterzog sie den Text einer genauen Überprüfung, wie eine Gerichtsmedizinerin, die eine Leiche untersucht. Doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab.

Brigitte wischte sich mit der bloßen Hand den Schweiß aus dem Nacken. Ihr Haaransatz war klatschnass. »Verdammte Hitze«, murmelte sie, legte den Kugelschreiber neben den Teller, drückte die Zigarette in den Senf und erhob sich.

Im Bad streifte sie ihr Nachthemd ab und ging unter die Dusche. Hinter der Milchglasscheibe verschwamm leuchtend grün der Garten. Unter das Prasseln des Wassers gegen die Duschkabinenwand mischte sich das Schreien eines Kindes, das von draußen hereindrang. Brigitte drehte den Duschkopf in ihre Richtung, legte den Kopf in den Nacken und genoss mit geschlossenen Augen das scharfe Prickeln der Wasserstrahlen auf ihrem Gesicht. Sie fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis in ihrem Kopf eine Sicherung heraussprang oder ein Schalter umgelegt wurde und sie endlich wieder etwas anderes fühlte als Leere.

Draußen, hinter den mit Läden, Rollos und Vorhängen abgedunkelten Fenstern war Sommer, war August, der heißeste in Deutschland seit Beginn der Wetteraufzeichnung, und sie dachte: Ich verstecke mich im Halbdunkel meiner Wohnung wie ein Skorpion unter einem Stein, der darauf wartet, dass endlich Nacht wird und er im Schutz der Dunkelheit sein wahres Leben beginnen kann. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, unter ihrem Stein hervorzukriechen und sich schutzlos dem grellen Licht des Tages auszusetzen.

»Nein!«, sagte sie laut, und Wasser lief ihr in den Mund. »Ich bin noch nicht so weit. Noch lange nicht.«

»Da ist jemand von Radio Nürnberg dran und will einen der Bankräuber sprechen!«, sagte Andrea Branske und hielt Degowski den Telefonhörer hin. Degowski sah Hans-Jürgen Rösner fragend an. Mit seinem Colt hielt er Reinhard Allbeck in Schach.

»Gib her!«, rief Rösner und entriss der Bankangestellten den Hörer.

»Radio 97,1 aus Nürnberg!«, sagte eine Männerstimme. »Spreche ich mit dem Geiselnehmer?«

»Was denkst du denn?«, sagte Rösner genervt und kratzte sich mit der Spitze des Revolverlaufs am Kinn.

Der Reporter fragte: »Was genau sind Ihre Forderungen?«

Rösner antwortete: »300 000 Mark in kleinen Scheinen. Und einen BMW 735 i, einen dunklen. Zwei Paar Handschellen. Und freien Abzug. Wir nehmen die Geiseln nämlich mit.«

»Wie geht’s den beiden Geiseln denn?«

»Der Angestellte hier hatte vorhin so ’n Herzflattern, nä.«

»Sehen Sie denn eine Möglichkeit, dass Ihre Forderungen erfüllt werden?«

»Ja, sonst sterben hier alle!«, antwortete Rösner, nahm den Hörer vom Ohr und streckte ihn Andrea Branske hin.

Reinhard Allbeck saß zusammengesunken auf einem Stuhl, beide Arme hingen schwer nach unten. Unter den Achseln hatten sich dunkle Schweißflecken gebildet.

»Wer is ’n hier der Chef von der Bank?« Rösner sah Reinhard Allbeck an, zog die Marlboro-Schachtel aus seiner Jackentasche, öffnete die Verschlussklappe, drückte die Packung gegen seinen Mund und zog mit den Lippen eine Zigarette heraus.

»Der Bankdirektor heißt Schönwald«, sagte Andrea Branske und warf einen Blick auf Reinhard Allbeck.

»Anrufen, los!«, sagte Rösner und richtete seinen Revolver auf die junge Frau.

Andrea Branske nahm den Hörer von der Gabel und wählte eine Nummer. Wortlos lauschten sie auf das Surren und Klacken der Wählscheibe. Es dauerte einen Moment, dann sagte sie: »Guten Morgen, Herr Schönwald, Branske hier, einen Moment bitte …«, und hielt Rösner den Hörer hin.

Degowski trat vor die große Fensterscheibe und spähte am Sichtschutz vorbei nach draußen. Rösner nahm den Hörer.

»Wenn unsere Forderungen nicht erfüllt werden, knallt et!«, sagte er und nahm einen tiefen Zug von der Zigarette. »Und die Bullen sollen verschwinden. Sonst riskieren die das Leben der Geiseln! … 300 000 Mark in kleinen Scheinen, zwei Paar Handschellen, ein Fahrzeug und freien Abzug! … Ja, wir nehmen die Andrea und den Reinhard mit!« Er sah Degowski an, der nickte.

Er saß in der Espressobar in der Venloer Straße vor seiner dritten Cola, verzehrte ohne Hunger ein Schinkenbrötchen und blätterte gelangweilt im Stadt-Anzeiger.

Ein uralter Deckenventilator verquirlte träge und vollkommen sinnlos die stickige Raumluft. Thomas Bertram fühlte sich trotz des Koffeins, das in seinen Adern zirkulierte, lustlos und müde. In seinen Schläfen meldete sich in unregelmäßigen Abständen ein Stechen. Der große Zeiger der Uhr über der Bar rückte auf die Zwei vor. Für 16 Uhr hatte Frank Maibach eine Redaktionskonferenz angesetzt.

Bertram hatte seine Wohnung, die sich rasch wieder aufgeheizt hatte, am späten Vormittag fluchtartig verlassen. Außerdem war jeden Moment mit einem Anruf von Kathrin Jürgens zu rechnen gewesen und der Frage, was zum Teufel er eigentlich so trieb, während alle anderen nach Maibachs Pfeife tanzten.

Nach dem Aufwachen hatte er mit Amina telefoniert und sich eine Zeitlang wieder ihre nicht enden wollenden Klagen über geschwollene Beine, Wassereinlagerungen und Kreislaufprobleme angehört.

»Schuld an allem ist die Hitze!«, sagte sie.

Selbst schuld, wer zum Sommer hin aus Dummheit schwanger wird, dachte Bertram.

Sie verabredeten sich fürs Kino. Im Rex am Ring lief als Abendvorstellung »Eine verhängnisvolle Affäre« mit Glenn Close und Michael Douglas. Den wollte Amina unbedingt sehen. Seit den »Straßen von San Francisco« schwärmte sie für Michael Douglas.

In knapp vier Monaten würden sie Eltern sein. Dann konnten sie gemeinsame Kinobesuche vergessen. Bertram malte sich aus, was stattdessen auf dem Programm stand: erschöpfte Tage, schlaflose Nächte, Geschrei und stinkende Windeln. Und Aminas Brüste gehörten ihm dann auch nicht mehr. Dabei stand er auf große Brüste und glaubte sehen zu können, wie sie jeden Tag ein bisschen voller und runder wurden.

Er blätterte weiter und stieß unter Vermischtes auf eine Meldung, in der es hieß, in den Rheinauen bei Düsseldorf liefere sich eine Baufirma einen erbitterten Kleinkrieg mit aufgebrachten Entomologen. Gegenstand der Auseinandersetzungen war eine seltene, in den Auen ansässige Schmetterlingspopulation, gegen deren Vertreibung durch die Bagger die Naturschützer Widerstand leisteten. Den Insektenfreunden, hieß es in dem kurzen Artikel, sei es gelungen, diverse Bagger durch gezielte Sabotage lahmzulegen. Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf ermittelte bereits gegen den Entomologischen Verein Krefeld.

Bertram sah die kleinen Falter (es musste sich dabei um eine Nausithous-Art handeln, die sich artbedingt nicht umsiedeln ließen) vor seinem geistigen Auge: Von heulenden Maschinen bedrohte, blau schillernde Winzlinge, denen er am liebsten ebenfalls auf der Stelle zu Hilfe geeilt wäre. Stattdessen saß er hier fest: erledigt von der Hitze, unfähig, klar zu denken.

Verdrossen schob er den Anzeiger zur Seite und sah hinaus auf die Straße, wo ein Obdachloser einen mit Krempel vollgepackten Einkaufswagen durchs grelle Sonnenlicht schob.

Arme Sau, dachte Bertram, leerte sein Glas, legte einen Zehner auf den Tisch, erhob sich und trat hinaus in den Sommertag.

Der Anruf aus Recklinghausen erreichte ihn kurz nach halb zehn. Es war sein freier Tag. Er stand im Bad und rasierte sich. Der Polizeidirektor war höchstpersönlich in der Leitung gewesen.

Wie eine verliebte Pennälerin hatte Barbara einige Wochen zuvor mit ihrem Lippenstift ein riesiges rotes Herz auf den Spiegel gemalt, das ihrer beider, durch ein dickes Pluszeichen miteinander verbundene Initialen umschloss. Kirchner erfreute sich jedes Mal neu an dem Anblick, wenn er im Bad am Waschbecken stand und sein Gesicht mit Rasierschaum bedeckte. Barbara schien ihn wirklich zu lieben und ließ ihn morgens kaum aus dem Bett. Bevor sie ging, verabredeten sie, dass er sie gegen eins im Sportstudio abholte und sie anschließend gemeinsam zu Mittag essen würden. Doch daraus wurde nichts.

Kirchner fuhr umgehend in die Markgrafenstraße, rief seine Leute zusammen und improvisierte eine schnelle Lagebesprechung. Anschließend fuhren sie los, mit Ziel Gladbeck. Vier Fahrzeuge mit jeweils vier Mann, unterstützt durch weitere Beamte vor Ort. Das SEK Dortmund kam ins Rollen.

Als sie in Rentfort-Nord ankamen, versperrten ihnen mitten auf der Straße geparkte Übertragungswagen von WDR und RTL den Zugang zum Deutsche-Bank-Gebäude. Zwischen parkenden PKW rangelte eine Meute von Journalisten und Kameramännern um die besten Plätze. Reporter, Mikrophone in der Hand, redeten in auf sie gerichtete TV-Kameras, während rund um die Bank uniformierte Beamte erfolglos versuchten, neugierige Passanten und Journalisten auf Distanz zum Eingang zu halten. Die umliegenden Geschäfte des kleinen Einkaufsparks waren alle geschlossen. In einem weitgeöffneten Fenster über einer Metzgerei stand ein vielleicht zehnjähriger Junge und grinste. Auf den Balkonen der umliegenden Blocks versammelten sich die Bewohner und starrten gebannt herüber. Vorsichtig ausgedrückt, war die Lage aus Kirchners Sicht unübersichtlich.

»Um fünf sind wir beim Tennis!«, hatte Jens Berischa im Wagen vollmundig getönt. Nun legte er, wie die anderen, wortlos seine schusssichere Weste an. Die Vorbereitungen für einen »Kleinen Notzugriff« liefen. Sie würden Körperschallmikrophone und, trotz des ausdrücklichen Verbots »von oben«, zur präzisen Täterbestimmung ein Sichtokular einsetzen. Noch war unklar, mit wem sie es zu tun hatten.

»Wir machen es wie besprochen.« Kirchner stimmte letzte Details ab. »Wenn wir um fünf beim Tennis sein wollen, bleiben uns noch gut zwei Stunden!«

Berischa grinste, warf seine Kippe auf den Boden und trat sie aus.

Kirchner sah noch einmal auf seine Uhr, blickte in die Runde und setzte mit einem Nicken die Aktion in Gang.

Inzwischen saßen sie seit über zehn Stunden in der Bank fest. Draußen war es bereits Nacht, doch das harte Licht der TV-Scheinwerfer, umschwirrt von Insekten, erhellte den Platz vor dem Bankgebäude und schlug durch die Sichtblenden bis in die Bank hinein. Seit Stunden dröhnten die Aggregate für den Strom. Es war zum Verrücktwerden.

»Ich garantiere Ihnen freien Abzug«, hatte Schönwald ihm in ihrem letzten Telefonat versprochen. Das sei mit der Polizei so ausgehandelt. Und, nein, man würde sie nicht verfolgen.

»Wenn die Bullen sich nicht dran halten, knallt et, und ich hämmer der Andrea eins rein!«, antwortete Rösner und legte auf.

Er konnte nicht sagen, wie oft er seit dem Morgen mit Schönwald gesprochen hatte. Der Mann machte einen vernünftigen Eindruck auf ihn. Nun warteten sie auf den geforderten Fluchtwagen, einen dunklen PS-starken BMW.

Auf dem Schreibtisch lag das Paket mit den 300 000 Mark. Der Reinhard hatte es auf dem Boden liegend durch die spaltbreit geöffnete Tür reingeholt. Der Dieter hatte ihm einfach seinen Gürtel um den Hals gebunden und ihn damit wie einen Hund an der Leine gehabt. Gar nicht so blöd, der Dieter, hatte Rösner gedacht und sich zufrieden eine Marlboro angesteckt.

Die Presse spielte schon den ganzen Tag verrückt. Dauernd läutete das Telefon. Am Ende verbot er der Andrea abzuheben. Er hatte echt keinen Bock mehr auf die blöden Fragen der Journalisten. Außerdem war er müde. Und hungrig. Er wollte bloß noch weg, raus aus der Bank und ab durch die Mitte.

Um kurz vor halb zehn kam endlich Bewegung in die Sache. Ein weißer Audi 100 fuhr vor die Bank. »Diese verdammten Schweine!«, rief Rösner, trat vor die verglaste Eingangstür und bedeutete dem Fahrer per Handzeichen, wie der Wagen stehen solle. In der anderen hielt er den Colt.

Eine halbe Stunde später verließen sie im gleißenden Licht der Scheinwerfer und aufzuckenden Blitzlichter die Bank und zwangen ihre beiden Geiseln mit vorgehaltenen Waffen in den Wagen. Degowski nahm hinten neben Reinhard Allbeck Platz. Rösner setzte sich ans Steuer, Andrea Branske auf den Beifahrersitz.

Sie waren raus. Sie hatten es geschafft. Es ging los.

Die von blaugrün schillernden Spiegelungen flirrende Wasseroberfläche teilte sich, und ein Kopf glitt an die Oberfläche, das nasse Haar vom Wasser wie von einer hauchdünnen Folie an den Schädel gepresst, die Augen wie im Schlaf geschlossen. Und schlagartig waren die Geräusche wieder da: die durcheinandergehenden Stimmen, die Schreie der Kinder.

Rolf Kirchner öffnete die Augen, hielt sich mit beiden Händen am blau gekachelten Beckenrand fest und atmete ein paarmal kräftig ein und aus. Dann stemmte er sich aus dem Wasser, zog die Beine an, drückte kurz die Knie gegen den bräunlichen Untergrund und schnellte in die Vertikale hoch.

Er liebte dieses Dahingleiten und Getragenwerden, wenn man alle Schwere verlor, untertauchte und der Lärm der Welt unter Wasser plötzlich nur noch ein dumpfes Rumoren war.

Als Teenager hatte er von einer Karriere als Schwimmer geträumt und seine Nachmittage am liebsten im Volksbad zugebracht, unweit des Stadions Rote Erde an der Strobelallee. Von Hombruch aus, wo er seine Jugend zuerst bei seiner Mutter und später bei deren Mutter zugebracht hatte, war es dorthin nicht weit. Wann immer es ging, stahl er sich ins Volksbad, das in den fünfziger Jahren die erste wettkampftaugliche Schwimmanlage mit 50-Meter-Bahnen in Deutschland besaß. Manchmal sah er sich in seiner Phantasie, wenn er sprungbereit auf einem Startblock stand, für Dortmund um die Deutsche Meisterschaft im Kraulen schwimmen. Doch den Mut, einem Schwimmverein beizutreten, hatte er nicht. Außerdem hätte seine ängstliche Mutter, die ihn nicht einmal Rollschuh laufen ließ, das sowieso nicht erlaubt.

Kirchner lief zu den Duschen, drehte den Hahn auf und spülte sich das Chlor vom Körper. Dabei schloss er die Augen und sah im Geiste die Ereignisse des vergangenen Tages wie auf einer Mattscheibe wieder vor sich: das weiträumig abgesperrte und von den Kollegen umstellte Bankgebäude in Gladbeck-Rentfort. Die beiden Scharfschützen, den Kollegen in der orangefarbenen Badehose mit den in Plastikfolie eingewickelten 300 000 Mark. Die sich vordrängenden Gaffer. Und all die wenige Meter vor dem Gebäude ungehindert hin und her laufenden Journalisten und Fotografen mit ihren pausenlos surrenden Kameras und krächzenden Walkie-Talkies. So, als sei das Ganze alleine für sie inszeniert: ein fröhliches Stelldichein unter Berufskollegen anlässlich einer deutschen Geiselnahme. Jeder Schuss mit der Canon F-1 ein Treffer! Wer hat noch nicht, wer will noch mal? So etwas hatte er noch nie erlebt.

Wäre es nach ihm und seinen Leuten vom SEK Dortmund gegangen, wären sie schon kurz nach ihrem Eintreffen in Rentfort-Nord mit einem Mercedes G-3 durch die Fensterfront in die Bank eingedrungen und hätten Rösner und Degowski, die sich in dem mit Panzerglas ausgestatteten Kassenhäuschen verschanzt hatten, während sich die Geiseln unbeobachtet im Sozialraum aufhielten, so lange in ihrem kugelsicheren Gefängnis schmoren lassen, bis Hunger oder Durst sie irgendwann zur Aufgabe gezwungen hätten.

Ein Kinderspiel! »Um fünf sind wir beim Tennis«, hatte sein Kollege Berischa, ein erfahrener SEK-Mann, noch am Morgen zuversichtlich zu ihm gesagt, nachdem sie eine Tatortanalyse vorgenommen und die Gefährdungslage überblickt hatten. Kirchner, der bereits in den siebziger Jahren in der Terrorfahndung aktiv gewesen war, hatte zusätzlich Richt- und Körperschallmikrophone sowie ein im Heizungsschacht der Bank zu installierendes Sichtokular zur genaueren Täterbestimmung einsetzen wollen, was die Einsatzleitung ihm jedoch strengstens untersagte. Die Vorbereitungen für den »kleinen Notzugriff« liefen, weitere 35 SEK-Beamte hatten sich in Dortmund auf den Weg nach Gladbeck gemacht. Doch der Polizeidirektor in Recklinghausen, der das SEK Dortmund am Morgen um Mithilfe gebeten hatte und als Hauptverantwortlicher der örtlichen Polizei den Einsatz leitete, hatte Kirchner, der die aus 16 Mann bestehende Sondereinsatzgruppe als ranghöchster Offizier koordinierte, jeden Zugriffsversuch strengstens untersagt. Angeblich aus Rücksicht auf die Geiseln. Inzwischen hatte die Fotoanalyse ergeben, dass es sich bei einem der Geiselnehmer um den seit zwei Jahren flüchtigen Hans-Jürgen Rösner handelte.

Als Rolf Kirchner gegen 18 Uhr, durchgeschwitzt, müde und verärgert über die Abläufe, Gladbeck in seinem Dienstwagen Richtung Dortmund verließ (zuvor hatte er noch, auf Befehl der Einsatzleitung, mit seinen Leuten den zahllosen Fotografen und Journalisten den Weg zu dem bereitgestellten Fluchtfahrzeug freigemacht), glich das Gelände rund um die Bank einem Rummelplatz. Weitere Übertragungswagen von RTL und WDR versperrten die Ab- und Zufahrtswege, Reporter berichteten, auf der Straße stehend, live vor laufenden Kameras, Gladbeck-Rentfort auf allen Kanälen. Am Nachmittag hatte Rösner einem Nürnberger Privatradio bereits das erste Telefoninterview gegeben. Weitere mit anderen Sendern sollten folgen.

Ich werde noch ein paar Bahnen schwimmen, hatte Kirchner sich gesagt, als er – inzwischen hatte das Mobile Einsatzkommando die Leitung übernommen – in seinen Wagen gestiegen war. Um Abstand zu bekommen von dem ganzen Durcheinander. Hinterher war er noch in seine Stammkneipe gegangen, hatte sich beim Skatspiel abzulenken versucht, ein paar Gläser Bier getrunken und ein Schnitzel gegessen.

Als er gegen 22 Uhr seine Dortmunder Wohnung betrat und den Fernseher einschaltete, sah er, dass man den Gangstern, die noch immer Geiseln in ihrer Gewalt hatten, entgegen der bis dahin geltenden SEK-Regel, wonach Geiselnehmer den Tatort nicht verlassen dürfen, tatsächlich freien Abzug gewährt hatte.

Sie mussten raus aus der Stadt. Hinter jeder Kreuzung konnte eine Zivilstreife stehen. Hans-Jürgen Rösner lenkte den Wagen über die Enfielder Straße in östliche Richtung, wechselte auf die Berliner und weiter auf die Josefstraße. Er wollte auf die A2 in Richtung Hannover.

Immer wieder sah er in Rück- und Außenspiegel. Seit über zwanzig Stunden war er jetzt auf den Beinen. Hatte nichts gegessen. Nur Kaffee getrunken, schwarz. »Mach Kaffee!«, hatte er in der Bank immer wieder zu der Branske gesagt, aus Angst, müde zu werden. Jetzt brannte in seinem Magen das Koffein. Er trieb den Audi über die Josefstraße.

Zwischen dunklen Fassaden tauchte auf der Kampstraße rechter Hand hell erleuchtet Hellas Grillwagen auf.

»Ich brauch wat zwischen die Zähne!«, sagte Rösner, zog den Audi, der ihnen statt des geforderten BMW bereitgestellt worden war, abrupt an den Bordsteinrand und schaltete den Motor aus.

»Wat is?«, rief Degowski überrascht, sah dann aber, weshalb sie anhielten. »Für mich ’ne Currywurst! Und ’n Bier!« Unmissverständlich drückte er Reinhard Allbeck seinen Colt in die Seite.

Rösner nahm die Pistole aus der Mittelkonsole, entsicherte sie und stieß die Wagentür auf. In schnellen Schritten lief er zu dem Imbisswagen und richtete die Waffe auf die verdutzte Bedienung. »Sechsmal Pommes, sechs Curry, acht Bier! Aber dalli!«

Die Frau starrte ihn verängstigt an, sah die auf sie gerichtete Pistole und wischte sich die Hände an ihrer fleckigen Schürze ab.

»Wat is, Mensch, schläfste oder wat, blöde Kuh! Ich hab’s eilig, mach voran!«, sagte Rösner ungeduldig.

»Ja, ja«, sagte die Frau und setzte sich in Bewegung. Erst jetzt bemerkte Rösner, dass an der Seite ein Mann stand, der eine Bierdose in der Hand hielt und zu ihm herüberblickte.

»Wat is, du Arsch?« Rösner richtete den Colt auf den Mann, sah kurz rüber zum Wagen und dann in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Hau ab, sonst knallt et!« In der Luft schwamm der Geruch von heißem Fett.

»Nein, nicht schießen, bitte! Ich geh ja schon, stelle nur noch die Dose hier ab.« Ohne den Blick von Rösner abzuwenden, wollte er die Bierdose auf eine Ablage stellen, verfehlte aber das Brett. Mit einem Knall landete die halbvolle Dose auf dem Boden. Schaumiges Bier rann aus der Öffnung wie Schleim aus einer zertretenen Schnecke.

Der Mann stand immer noch gebückt da. Ein dicker Schweißtropfen rann ihm von der Stirn am Auge vorbei die Wange hinunter. Rösner sah es wie unter einer Lupe, hob die Waffe und zeigte mit dem Lauf auf das Gesicht des Mannes.

»Scheiß dir nicht gleich in die Hose, Kumpel. Und sieh zu, dass de Land gewinnst. Hier gibt’s nix zu sehen, kapiert?«

»Nein, nix zu sehen, verstehe!«, wiederholte der Mann drehte sich um und verschwand die Straße hinunter.

Rösner legte den Kopf in den verspannten Nacken, wiegte ihn kurz und dachte: Mann, wie gut dat hier riecht! Kurz fühlte er die Müdigkeit kommen, spürte, wie sie ihn anflog.

»Mach hinne, Mensch!«, rief er wütend. »Oder meinste vielleicht, ich hab ewig Zeit!«

»Ja, ich beeil mich ja. Is gleich so weit!«, sagte die Frau, wickelte die Schälchen mit den Pommes frites in Alufolie ein und schob sie zu den Würsten in die Papiertüte.

»Allet einpacken!«, befahl Rösner. »Inne richtige Tüte mit Henkel, verstehste? Und nicht so ’n Scheißding aus Plastik, wo der Henkel gleich reißt!«

»Ja, mach ich ja gerade!«, sagte die Frau. »Ich pack’s in eine aus Papier!«

Endlich stellte die Frau die Tüte vor ihn hin, daneben die Flaschen. »Die Flaschen auch inne Tüte, schnell!«, sagte er.

Die Frau befolgte seine Anweisung. Rösner sicherte die Waffe, schob sie sich unter den Hosenbund, holte seinen Schein hervor, packte die beiden Tüten und ging zum Wagen.

Thomas Bertram fuhr aus wirren Träumen hoch und wurde wach. Das rhythmische Quietschen der Gesundheitsschuhe der Nachtschwester auf dem Linoleumboden des Flurs hatte ihn geweckt. Sein müder, unscharfer Blick glitt hinüber zu dem hellen, sich unterhalb der Tür waagerecht abzeichnenden Strich, den die Flurbeleuchtung erzeugte, und verharrte dort ein, zwei Sekunden. Dann bekam er, genau wie die Male zuvor, mit einem gezielten Griff seiner rechten Hand den kantigen Lichtschalter zu fassen, der die kleine Neonwandleuchte flackernd aufflammen ließ, und legte ihn um, woraufhin der mit einem Tuch verhüllte Inkubator ruckartig aus der Schwärze des Zimmers auftauchte.

Leicht vorgebeugt, schob er den Kopf langsam und mit einer Behutsamkeit nach vorn, als balanciere er ein rohes Ei auf der Stirn, bis er sich der dünnen Glaswand auf wenige Zentimeter genähert hatte. Wieder stellte sich das irritierende Gefühl ein, in ein Puppenbett oder einen Guckkasten zu blicken, in eine Art View-Master, auf dessen rotierender Pappscheibe sich wechselnde Bilder des immer gleichen Motivs befanden. Dann stellte sich sein Blick langsam scharf, das Bild fror ein, stand still und blieb an dem feinen Draht hängen, an dessen Ende die Elektrode an der linken Wange seines Sohnes mit einem Stück Klebestreifen befestigt war.

»Mein Gott, wie klein du bist!«, murmelte Bertram, zog das Tuch ein wenig beiseite und blickte auf den weißen, von innen gegen die Glaswand gelehnten und nur wenige Zentimeter kleineren Stoffteddybären, dessen schwarze, stecknadelkopfgroße Knopfaugen ins Leere blickten. Er sah auf seine Uhr, die Citizen-Automatik mit dem silbernen Stahlarmband, dem olivgrünen Zifferblatt und den türkisfarben fluoreszierenden Zahlen, die sein Vater ihm zu seinem achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Er hatte gerade mal 25 Minuten geschlafen.

Früher, dachte er mit Blick auf den Inkubator, in dem sein Sohn seit inzwischen gut elfeinhalb Stunden um sein Leben kämpfte, habe ich in solchen Glaskästen Raupen gezüchtet und mir ein Leben als Schmetterlingsforscher erträumt. Und was ist stattdessen aus mir geworden? Ein kleiner Journalistenanwärter, den es aus Hirschhorn im Odenwald nach Köln zu RTL verschlagen hat und der, statt in den Tropen zu leben und der Wissenschaft zu dienen, tags zuvor hinter Leuten her gewesen war, die bereit waren, vor laufender Kamera etwas zu der Babyleiche in der ALDI-Plastiktüte zu sagen, die man unweit von Auweiler in einer Wiese gefunden hatte.

Und nun das! Ein Kind, sein eigenes, das mehr als vier Monate zu früh und per Kaiserschnitt auf die Welt gekommen war. Ein Junge, Paul (Amina hatte sich diesen Namen gewünscht). 652 Gramm schwer, knapp 36 Zentimeter lang und gefangen zwischen Leben und Tod.

Er warf einen letzten Blick auf seinen von einer federleichten blauen Thermodecke verhüllten Sohn, der ruhig und gleichmäßig zu atmen schien und ihn wegen seiner wie mit UHU zugeklebten Lider an die Blindfische erinnerte, die scheinbar orientierungslos zwischen all den Guppys, Black Mollys und Schwertträgerfischen durch das in der Hirschhorner Kanzlei seines Adoptivvaters stehende Aquarium getaucht waren – bizarre, pigment- und schuppenlose Höhlenbewohner, die, in tiefsten Meerestiefen an die Dunkelheit angepasst, ihr lichtloses Dasein führten und Bertram, wenn er als Kind vor dem von weißem Neonlicht erhellten Aquarium saß und ihre Zickzackbewegungen verfolgte, wegen der fehlenden Augen an fremdartige Urtiere erinnerten.

Thomas Bertram schaltete das Licht wieder aus und versuchte, auf dem Stuhl, den die Nachtschwester ihm mit einem aufmunternden Nicken hereingestellt hatte, wieder einzuschlafen.

»Jaaaa?«, sagte sie atemlos, nachdem sie mit klopfendem Herzen das oben in der Diele stehende Telefon nach dem achten bösartigen Klingeln endlich erreicht hatte und zitternd den Hörer ans Ohr drückte.

»Kannst offenbar auch nicht schlafen, wie?«, erklang die aus Hunderten geführter Telefonate vertraute Stimme ihrer Lektorin und Freundin Helga Abraham.

Die beiden verband eine bald fünfzehnjährige Freundschaft. Helga hatte Brigitte Fischers 1974 erschienenen Debütroman »Mireille – Vagabundin der Liebe« aus der Vielzahl unverlangt an den Verlag eingesandter Manuskripte herausgefischt und lektoriert und war seither Brigittes erster Ansprechpartner im Verlag. Mehr noch: Helga war zu einem unverzichtbaren Bestandteil ihres seither ganz im Zeichen ihrer Mireille-Romane stehenden Lebens geworden, nachdem Martin, Brigittes langjähriger Lebensgefährte, 1982 in Ausübung seines Berufs als Kriegsberichterstatter für ein großes Hamburger Magazin im Libanon getötet worden war.

Helga war Brigittes beste Freundin, ihr erster Ratgeber und Retter in letzter Not, wenn ihr, was häufiger vorkam, in drohendem Behördenton abgefasste Mahnschreiben des Finanzamtes ins Haus flatterten, ihr sechzehn Jahre alter VW Golf sie mal wieder im Stich ließ und Brigitte, die gerne einsame Landausflüge in die Eifel oder ins Oberbergische Land unternahm, sie spätabends verzweifelt aus Käffern mit Namen wie Griesensiepen, Seifen oder Hardt anrief und in theatralischem Tonfall flehte: »Du musst mich retten, Helga!« Oder wenn Brigitte, was noch häufiger vorkam, wieder einmal ultimativ davon überzeugt war, nicht mehr weiterschreiben zu können, an einer unauflöslichen Schreibblockade zu leiden, als Schriftstellerin gescheitert zu sein.

Brigitte konnte sich ihr Leben nicht mehr ohne Helga vorstellen. Der Gedanke, während des Schreibens, und natürlich auch sonst, ohne Helga als Begleiterin durch den Alltag und ständig ansprechbereite Diskussionspartnerin auskommen zu müssen, war für Brigitte unerträglich. Dass sie ihr darüber hinaus des Öfteren, was sie inzwischen für selbstverständlich hielt, als geduldige Amateurpsychologin und nicht selten auch als Sündenbock zu dienen hatte, wenn sie mal wieder die Nerven verlor und sie von Weinkrämpfen geschüttelt anrief, das hätte Brigitte so natürlich nie zugegeben.

Ihr Debüt, für das sie sich auf Helgas Anraten hin das geheimnisvoll klingende Pseudonym Marie Collier zugelegt hatte, war auf Anhieb ein Bestseller geworden. »Vanilleträume«, »Sie wollte zu viel« und »Gib nicht auf, Mireille!« waren gefolgt und allesamt fürs Fernsehen verfilmt worden. Sie hatten Brigitte Fischer zu einer der erfolgreichsten Romance-Autorinnen Deutschlands gemacht und ihr ein erkleckliches Vermögen beschert, das unangetastet auf irgendwelchen Bankkonten lag.

»Schlafen?«, rief Brigitte, die aus dem kühleren Gästezimmer im Souterrain, wohin sie am frühen Abend ihre Matratze samt Bettzeug geschleppt hatte, hinaufgehetzt war, nachdem sie dort unten stundenlang an den ersten einhundertfünfzig Seiten ihres neuen Romanmanuskripts gearbeitet hatte, »gar nicht dran zu denken bei der Hitze!« Die über der Küchenzeile angebrachte Uhr zeigte achtzehn Minuten vor drei.

Ihr neues Manuskript trug den vorläufigen Titel »Mireilles Entschluss« und schrieb die auf insgesamt zehn Bände angelegte Mireille-Serie um die junge französischen Adlige Mireille Latour fort, die von ihren Eltern gegen ihren Willen in ein abgelegenes Pensionat in den Schweizer Bergen geschickt worden war, um dort, fernab von Paris, ihren Geliebten Frédéric, den Sohn eines Politikers, zu vergessen.

Schon vor Martins Tod im Beiruter Stadtteil Aschrafija, wo er sechs Jahre zuvor gemeinsam mit dem designierten libanesischen Staatspräsidenten Bachir Gemayel und mehr als zwanzig seiner Gefolgsleute einem Bombenanschlag des syrischen Geheimdiensts auf das Hauptquartier der Kataib-Partei zum Opfer fiel, war Brigitte, die damals gerade ihren dritten Mireille-Roman »Sie wollte zu viel« veröffentlicht hatte, mehr und mehr aus der Wirklichkeit hinausgedriftet. Jedenfalls hatte Martin das behauptet. Immer öfter hatte es zwischen Martin und ihr Streit darüber gegeben, wie weit man sich als Schriftstellerin oder Reporter von der Wirklichkeit entfernen durfte. Bis Martin von der Recherche zu einer geplanten Reportage über Kaing Guek Eav, alias Duch, der zwischen 1975 und 79 quasi im Alleingang den Völkermord in Kambodscha, bei dem Tausende Männer, Frauen und Kinder Opfer des Pol-Pot-Regimes wurden, durchgeführt hatte, ausgezehrt und stark verändert aus Südostasien zurückgekehrt war und ihr das erste Mal Weltfremdheit und Unredlichkeit vorwarf, als sie ihm stolz das erste druckfrische Exemplar ihres neues Buches zeigte.

»Du lebst in einem Paralleluniversum, Brigitte«, hatte er müde gesagt und sie dabei mit leeren Augen angesehen, »und bemerkst es nicht einmal mehr. Für jede banale, nichtssagende Regung deiner beschissenen Romanfigur bist du sensibler als für das, was tagtäglich um dich herum geschieht! Vor deinen Augen könnte jemand sterben, und du würdest es nicht mal bemerken, geschweige denn fühlen. Weil du selbst tot bist. So tot wie deine Figuren.«

Hinterher, als sie im Bett lagen und sich ruppig liebten, war ihr die Auseinandersetzung seltsam unwirklich erschienen, wie eine Sequenz aus einem Film, bei dem sich das Gesprochene im Nachhinein nicht mehr mit den Schauspielern in Einklang bringen ließ. Und doch war etwas angestoßen und auf ungute Weise in Gang gesetzt worden, das sich nicht mehr aufhalten ließ. Der Samen des Zweifels und des Misstrauens war ausgesät.

Im August 1982 fuhr Martin, nachdem sie sich weiter als je zuvor voneinander entfernt hatten, gemeinsam mit dem Fotografen Jay Ullal in den Libanon. Auf sich und ihr Schreiben zurückgeworfen, hatte sie eines Tages das Gefühl, außer Mireille niemanden mehr zu kennen.

Manchmal blieb sie tagelang in ihrer Wohnung, ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen. Die meiste Zeit saß oder lag sie im Bett und las in den Tagebüchern von Cornelia Goethe oder Selma Lagerlöf und hörte dabei Mahler oder Mussorgsky. Wenn sie zu arbeiten versuchte, kam sie schnell an eine Grenze, die es vor ihrer großen Auseinandersetzung nicht gegeben hatte.

»Hier ist es so schön, liebste Brigitte, ich wünschte, du wärest hier und könntest das sehen!«, schrieb Martin ihr in einem seiner Briefe aus Beirut. »All die Zypressen mit ihrem saftigen, strotzenden Grün. Dazu das flirrende Licht. Wenn man sich an die Sonne hält, die hier den ganzen Tag scheint und so oft schon gute Miene zum bösen Spiel gemacht hat, möchte man glauben, dass alles auf einen großen strahlenden Frieden hinauslaufen muss. Zwischen den Kriegsparteien hier und denen in Köln.«

Ein paarmal hatte er spätnachts angerufen und sie gebeten, seine Attacken gegen sie als Attacken gegen sich selbst zu sehen, und ihr anschließend auf seine sie jedes Mal verwandelnde Weise zu sagen versucht, wie sehr er sich auf seine Rückkehr nach Deutschland und damit auf sie freue.

Dann, am Abend des 14. September, war in den Nachrichten die Ermordung Bachir Gemayels durch den syrischen Geheimdienst vermeldet worden, und Brigitte war erschrocken vor dem auf der Anrichte in der Küche stehenden Radiogerät zurückgewichen.

Sie wusste, dass Martin in Beirut auf die Genehmigung wartete, Zutritt zum Hauptquartier der Falangisten in Aschrafija zu erhalten, um ganz in der Nähe Gemayels zu sein. Als sie am Morgen des 15. September ein Anruf aus Hamburg erreichte, in welchem Rolf Gillhausen, damals Leiter des Ressorts Reportage, erklärte, der Kontakt zu Martin sei abgerissen und mit der Ermordung Gemayels sei leider auch für Martin das Schlimmste zu befürchten, hatte sie sich für das Telefongespräch bedankt und zitternd aufgelegt. Anschließend war sie wie benommen in die Küche gegangen, um dem Gelben Frauenschuh, den Martin ihr zuletzt von einer Japanreise mitgebracht hatte, Wasser zu geben.

Wenige Tage später erhielt sie von einem Beauftragten des Auswärtigen Amtes in Bonn telefonisch die Nachricht, Martin sei zweifelsfrei als eines der Opfer des Bombenanschlags von Aschrafija identifiziert worden. Daraufhin setzte sie sich wie in Trance an ihre Schreibmaschine, nahm die graue Staubhülle ab und schrieb: »Mireille zögerte, diesem fremden Gefühl, dessen Schmerz sie bedrückte, seinen Namen zu geben: Traurigkeit. Denn es war ein so ausschließliches, so egoistisches Gefühl, dass sie sich seiner schämte – und Traurigkeit war ihr immer als ein verachtenswertes Gefühl erschienen. Sie hatte Kummer empfunden, Bedauern und manchmal Reue. Doch jetzt hüllte sie etwas ein, schwer und ermattend, das sie von den anderen trennte. Womöglich ja sogar für immer.«

Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Beirut übergab Jay, der das Attentat wie durch ein Wunder unverletzt überlebt hatte, ihr das, was von Martins Sachen im Hotel Concorde geblieben war, darunter seinen Koffer, diverse getragene Hemden, einen Anzug sowie das Futteral seines Fahrtenmessers, das er auf all seinen Reisen bei sich gehabt hatte. Dazu an sie gerichtete, nicht zu Ende geschriebene oder an sie adressierte und nicht abgeschickte Briefe sowie ein schwarzes DIN-A4-Schulheft, in dem er neben ersten Entwürfen für spätere Artikel ganz private Eindrücke festgehalten hatte. An einer Stelle hieß es: »Ich sollte nicht glauben, dass alles so einfach wieder zwischen B. und mir in Ordnung kommt! Auch darf ich mich durch ihre Enttäuschung nicht dazu herausgefordert fühlen, mich ihr zuzuwenden.« In den ersten drei Monaten nach Martins Tod mied sie das Schlafzimmer und war hinunter in das Souterrain gezogen. An ihrem Leiden änderte das nichts.

»Wie kommst du mit dem Buch voran?«, fragte Helga.

»Bestens. Ja, wirklich gut«, antwortete Brigitte in einer Mischung aus Ungeduld und völliger Übermüdung.

»Klingt nach Problemen«, sagte die andere, die sich nicht täuschen ließ. »Na, dann schieß mal los.«

2

dpa – Basisdienst, Hamburg

Bankräuber Gladbeck – Geiselnehmer drohen mit Erschießung

Gladbeck (dpa) Die beiden Geiselnehmer haben damit gedroht, die Geiseln und anschließend sich selbst zu erschießen, wenn ihren Forderungen nicht nachgekommen werde, teilte die Polizei mit. Den Angaben zufolge übermittelten die Täter diese Drohung telefonisch der »Bild«-Zeitung.

Eine auf ihn herabstrahlende Wärmelampe. Fünf Elektroden auf Brust und Bauch zur Kontrolle von Herztätigkeit, Atmung, Körperwärme, Sauerstoffgehalt und Blut. Eine durch das linke Nasenloch eingeführte Magensonde zur Verabreichung von Muttermilch oder Ersatzpräparaten sowie der ins rechte Bein in die Beinvene eingelassene Schlauch zur Gabe von Vitamin-, Zucker-, Eiweiß- oder Fettlösungen. Dazu der Wärmeschild, das Heizaggregat und das Gebläse im Brutkasten, die für die anhaltend »richtige« Temperatur sorgen. Im Moment: 34–36 Grad Celsius.

Den sogenannten Apgar-Test, unmittelbar nach der Geburt, hatte er nur halbwegs erfolgreich bestanden:

Hautfarbe: rosig. Blau an Händen und Füßen. 1 PunktAtmung: kräftig und schreiend. 2 PunkteHerzschlag: unter 100/min. 1 PunktMuskeltonus/Muskelspannung: träge Bewegung der Arme und Beine. 1 Punkt»Antwort« auf das Absaugen der Nase: Das Baby macht Grimassen. 1 Punkt

Das Gesamturteil lautete: Mäßige Depression. Er musste behandelt werden, hatte eine blaue Asphyxie. Sein Herzschlag lag bei 60–100 Schläge pro Minute, seine Atmung war unregelmäßig.

»Wie geht es ihm?«

Thomas Bertram, der sich im Traum mit pochenden Schläfen in einem Hinterhof vor einer unüberwindlichen Mauer hatte stehen sehen, schreckte hoch, schlug die Augen auf und wandte sich zur offenen Tür um.

»Was ist?«, rief er geblendet und rieb sich mit beiden Handrücken kurz die Augen. »Amina?«, fragte er in die Stille des nächtlichen Flurs. »Bist du das?«

»Ja«, antwortete sie, die, das konnte er nun, da er aufgestanden und einen Schritt auf sie zugegangen war, sehen, in einem Rollstuhl saß.

»Was machst du hier?«

»Ich will mein Kind sehen«, antwortete sie ungeduldig. »Unser Kind.«

»Ja, natürlich!«, sagte er und trat zur Seite, so dass sie an ihm vorbeifahren konnte und vor dem auf einem Tisch mit Rollen befestigten Glaskasten anhielt.

»Wo hast du denn den Rollstuhl her?«

»Von der Nachtschwester, sie war so freundlich, ihn mir …« Hier brach Aminas Stimme mitten im Satz ab, denn im selben Moment kam die Nachtschwester zur offenstehenden Tür herein, schaltete ohne Vorwarnung das Deckenlicht an und sagte: »Entschuldigung.«

Bertram sah auf seine Armbanduhr, es war 3 Uhr 35.

»Schon gut«, seufzte er und suchte Aminas Blick, die nur noch Augen für den Inkubator und die Handgriffe der Schwester hatte.

»Was tun Sie da?«, fragte sie und hob sich ein Stück aus dem Rollstuhl, um besser sehen zu können.

»Die Vitalparameter prüfen!«, antwortete die Frau, »Herz, Atmung, Sättigung.«

»Und? Wie geht es ihm?«, sagte Amina.

»Er muss kämpfen«, antwortete die Schwester, »aber das wissen Sie ja. Bei einem solchen Gewicht können wir nur unterstützend wirken. Er muss es selber schaffen. Aber wenn er erst mal ohne größere Probleme die 1000 Gramm erreicht hat, hat er gute Chancen, zu überleben. Im Moment scheint es ihm gutzugehen.«

»Zu überleben«, wiederholte Amina mechanisch, wandte sich um und streckte Bertram ihre Hand hin, der sofort danach griff.

»Sein Kreislauf ist stabil und die Atmung ziemlich gleichmäßig«, sagte die Schwester.

Bertram, der stumm die routinierten Handgriffe der Schwester verfolgte, blickte abwärts, über die Rückenlehne des Rollstuhls, hinunter zu den profillosen Gummirädern und dachte: Wie es wohl wäre, wenn sie für immer in dem Ding säße?

Er hob den Kopf und verfolgte, wie die Schwester ihre Hände aus den dafür vorgesehenen kreisrunden Löchern des Inkubators zog, die Öffnungen sorgfältig wieder verschloss, ihre Gummihandschuhe abstreifte und zur Verdunklung wieder das Tuch über den Kasten breitete.

Bertram starrte hinauf zu den jetzt ausgeschalteten UV-Leuchten über dem Inkubator, die am Tag ihr blaues Speziallicht auf seinen Sohn hinabgeschickt hatten, um den Bilirubinwert in seinem Blut zu senken, den die Frühgeborenengelbsucht in unnatürliche Höhen getrieben hatte. Er nahm seine Brille ab, schloss die Augen, legte Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand an die Nasenwurzel und massierte sie.

Dabei flirrten die Bilder der letzten zwölf Stunden wie im Zeitraffer durch das an den Rändern orangefarbene Dunkel vor seinen Augen, tauchten auf, nahmen kurz Gestalt an und verschwanden: die wechselnden Gesichter der Schwestern und Ärzte, die matt verglaste Tür des Operationssaals, vor der er hilflos zurückgeblieben war. Und die schiefergrauen Linoleumquadrate des Flurs, die er so lange abgeschritten war, bis man ihn endlich zu ihr ließ, und Amina, wie um Jahre gealtert von der Operation, ihn ansah, wie sie ihn noch nie angesehen hatte.

»Ich komme in einer Stunde wieder«, sagte die Nachtschwester, lächelte und war auf dem Weg aus dem Zimmer, wandte sich aber noch einmal um. »Am besten versuchen Sie beide, ein bisschen zu schlafen. Damit helfen Sie Ihrem Kind am meisten. Mehr können Sie sowieso nicht tun.«

»Ja, ist gut«, sagte Bertram und setzte die Brille wieder auf. Amina saß immer noch reglos vor dem Inkubator.

Sie kannten einander inzwischen seit fast zehn Jahren. Amina, die wie Bertram aus Hirschhorn kam und ihm bereits dort ein paarmal über den Weg gelaufen war, hatte nach zwei Semestern Geographie in Bonn das Studienfach gewechselt und sich genau wie er ein Jahr zuvor in Köln für Medienwissenschaft eingeschrieben. Eines Tages waren sie sich in der Mensa begegnet, und Bertram hatte ihr spontan ein Treffen abgerungen. Denn aus dem versponnenen Mädchen von einst, das sich die Haare schwarz gefärbt, die Augen dunkel geschminkt, an schweren Ketten befestigte Silberkreuze um den Hals getragen hatte und in wallenden, ebenfalls schwarzen Gewändern durch Hirschhorns Fußgängerzone spukte, war eine attraktive Frau mit schulterlangen brünetten Haaren geworden, die einen knallbunten Lackblouson und kniehohe Stiefel zu einem aufregend knappen Rock trug und eine unsichtbare Wolke fein austarierter Lockstoffe hinter sich herzog.

Auf das erste Treffen waren rasch ein zweites und drittes gefolgt, und wenn sie gemeinsam durch die Breite Straße flanierten und Amina im Sommer wie fast überall außerhalb der Uni barfuß lief und ihre Haare schwungvoll in den Nacken warf, so dass ihre aus Kronkorken selbstgefertigten Ohrhänger schaukelten, kam Bertram sich wie ein Löwenbändiger vor, welcher der staunenden Öffentlichkeit sein schönstes Kätzchen präsentiert. Bertram wäre am liebsten bereits nach dem ersten Treffen zur Sache gekommen, doch zu mehr als einem flüchtigen Kuss ließ sie sich nicht verführen. Und so beschränkte sich ihre Beziehung – Bertram scheute sich lange, ihr undurchschaubares Treiben als eine solche zu bezeichnen – auf mehr oder weniger regelmäßige, mehr oder weniger frustrierend endende Treffen, die zu nichts führten. Was blieb, waren stundenlange nächtliche Telefonate, in denen Amina begehrlich in den Hörer stöhnte und damit sein limbisches System in Aufruhr versetzte, so dass er am Ende doch nur wieder wie so oft, nachdem sie aufgelegt hatten, mit heruntergelassenen Hosen und einem Schweißfilm auf der Stirn dabei zusah, wie sein eben noch von den wildesten Phantasien und heftigen Bewegungen seiner rechten Hand aus ihm herausgelocktes Sperma unterm laufenden Wasser gurgelnd im Spülwasser der Toilette verschwand. Umso überraschter war Bertram, als Amina eines Tages nach einem gemeinsamen Kinobesuch vorschlug, noch ein Glas Wein bei ihm zu trinken. Und als dann, nach mehreren Gläsern Aldi-Rotwein und einem Joint, den sie feierlich gedreht und in Brand gesetzt hatte, endlich geschah, was er sich monatelang in den glühendsten Farben erträumt und ausgemalt hatte, war es gerade mal ein ernüchternd kurzes Ineinanderstürzen.

Hinterher lag Amina auf dem Boden neben der Stereoanlage und schlief, und Bertram stand in der Küche und sah zu, wie zwei Aspirintabletten sich auf und ab tanzend in einem Wasserglas auflösten. Von Jubel oder Glück keine Spur. Was er fühlte, war vor allem Enttäuschung.

Anschließend hörte er wochenlang nichts mehr von Amina. Verunsichert rief er ein paarmal erfolglos bei ihr an und besuchte lustlos die Vorlesungen. Bis Amina eines Tages vor seiner Tür stand und ihm erklärte, schwanger zu sein.

»Ein Kind? Aber wieso denn? Nimmst du denn nicht die Pille?«

»Nein, tue ich nicht«, hatte sie patzig geantwortet und sich eine Strähne aus der schönen hohen Stirn gepustet.

»Aber wieso denn nicht, verdammt! Heutzutage nimmt doch jede Sechzehnjährige die Pille! Nur du! Du … ach vergiss es!«

Hier war sein Zorn bereits erlahmt. Denn so unvorstellbar es für ihn war, Vater zu werden und sich um Strampler, Babynahrung, Windeln oder einen Kinderwagen und dergleichen zu kümmern, statt seine Karriere als investigativer Journalist voranzutreiben, so undenkbar erschien es ihm, Amina mit dem Kind sitzenzulassen. Außerdem war er ein entschiedener Abtreibungsgegner. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte: Er hatte ein Problem, und zwar ein ziemlich großes!

Bertram, der sich trotz seiner 24 Jahre in manchen Momenten selbst noch wie ein Kind fühlte, hatte vor dem Hintergrund seiner Geschichte als albanisches Adoptivkind entschieden, sich nicht fortzupflanzen. Seine mit ihm schwangere Mutter, der in ihrer südosteuropäischen Heimat die Steinigung drohte, war nach Deutschland, nach Mannheim geflohen, wo sie ihr Kind zur Welt brachte und es unmittelbar nach der Geburt zur Adoption an einen Juristen und seine Frau freigab. Bertram konnte der Idee, seine Gene irgendwann mit denen eines anderen Menschen zu mischen, wenig abgewinnen. Umso größer war sein Entsetzen, als Amina ihn damit konfrontierte, dass er den Kompass seiner Lebensplanung komplett neu ausrichten musste.

»Wir beide Eltern?«, hatte er ihr geantwortet und dabei hilflos gegrinst. »Wie soll das gehen? Ich meine, wie wollen wir ein Kind ernähren? Ich studiere. Du studierst. Und wegen der paar Sachen, die ich journalistisch gemacht habe, werden sich die Sender weiß Gott nicht um mich reißen!«

Dabei hatten seine Beiträge, die er fürs Landesstudio des Süddeutschen Rundfunks geschrieben und selbst gesprochen hatte, mehr als nur ernstzunehmende Ansätze erkennen lassen, darunter kleinere Reportagen über Ausländer und ihre Integrationsprobleme im Badischen sowie vor allem seine beiden längeren Stücke über die sogenannte »Wagner-Bürckel-Aktion«, bei der im Oktober 1940 über 6000 badische Juden, darunter 280 aus Heidelberg, in das französische Internierungslager Cap du Cour im Südwesten deportiert worden waren, von denen nur ganz wenige überlebt hatten. Bertram hatte zwei Überlebende dieses Genozids ausfindig gemacht und dazu gebracht, sich vor seinem Mikrophon zu äußern. Das Resultat waren ebenso beklemmende wie berührende Kurzfeatures, die ihm für seine »sachliche, vorurteilslose und zugleich einfühlsame Berichterstattung«, so die kurze Begründung der Jury, den in der Region angesehenen Publizistikpreis der Stadt Heidelberg eintrugen und ihn in seinem Glauben bestätigten, ein geborener Journalist zu sein.

Doch Amina hatte, wie es schon damals ihre Art war, nur lässig die Arme vor der Brust verschränkt, ihn mit leicht vorgestrecktem Kinn angesehen und entschlossen geantwortet: »Dann müssen uns eben meine Eltern helfen.«

Aminas Vater – er war im Vorstand der international tätigen Heidelberg Cement, eines altehrwürdigen, börsennotierten Baustoffkonzerns – fuhr einen schneeweißen 3,8 Liter turbogetriebenen Buick Riviera mit Weißwandreifen und roten Ledersitzen, spielte leidenschaftlich Tennis, seinen Killerinstinkt am Netz verglich er gerne breit grinsend mit dem des jungen Boris Becker bei dessen erstem Wimbledonsieg 1985, und er liebte seine Tochter über alles. Es wäre sicher ein Leichtes gewesen, sich als angehender Vater des Kindes seiner Tochter den Geldströmen des betuchten Cement-Mannes zu überlassen, doch für Bertram, der sich schon als Junge als einsamen Überlebenskämpfer gesehen hatte, widersprach die von Amina ins Spiel gebrachte Lösung ihrer finanziellen Probleme sämtlichen seiner moralischen Grundsätze, und er antwortete entschieden: »Nur über meine Leiche!«

»Es wird alles gut«, sagte Bertram, beugte sich zu Amina hinunter und legte ihr beide Arme um den Hals. Dabei drückte er sein Gesicht in ihr Haar, schloss die Augen und sog den Geruch, den es verströmte, tief ein.

»Wir holen die Marion!«, sagte Rösner und bog plötzlich in die Kirchhellener Straße ab. Ganz spontan war ihm die Idee gekommen.

»Bisste bestusst? Was willst ’n mit der jetzt?«, rief Degowski von hinten. Er mochte die Marion nicht. In ihrer Gegenwart war der Hanusch anders als sonst. Für ihn war er dann Luft.

»Ich hol se, kapiert!«, sagte Rösner in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ, hielt in der Horster Straße vor dem Block 4a und sprang aus dem Wagen. In den Fenstern des achtstöckigen Blocks brannten da und dort noch Lichter. Er drückte viermal den Klingelknopf.

»Ja?«, ertönte ihre Stimme.

»Los komm, Kleines!«, sagte er.

»Ich weiß nich«, sagte sie. »Und wenn die Bullen uns schnappen?«

»Mensch, mach hinne!«, sagte er ungeduldig.

Eine Weile war nur das Knistern der Sprechanlage zu hören, weil sie oben den Knopf gedrückt hielt, ohne etwas zu sagen. »Was hast ’n vor?«, sagte sie endlich und warf einen Blick auf den abgewohnten Teppich, der im Wohnzimmer lag.

»Mensch, komm schon!«, rief er und spähte rüber zum Wagen. »Ich will, dasste mitkommst!«

»Also gut«, sagte sie schließlich, und er konnte hören, wie sie den Knopf der Sprechanlage mit einem Klicken losließ. Die Lichter in den Fenstern wirkten wie Löcher in einer schwarz tapezierten Hauswand, durch die einzelne Strahlen drangen. Der schwache Wind schien die Lichter herumzuwehen.

Es gab hier keine Morgenröte und abends keinen Sonnenuntergang. Nur Beton. Manchmal, wenn er in seinem Bett lag und an die Wohnblocks dachte, stellte er sich eine gewaltige Klinge vor, die aus dem Himmel runterfuhr und alles mit einem Ratsch einebnete. Damit wieder Licht durchkam. Verdammter Beton!

Er lief zurück zum Wagen. Im Treppenhaus ging das Licht an, und kurz darauf stieg die Marion zu ihnen in den Wagen, zwängte sich mit ihrer Handtasche hinten neben Degowski. Sie trug Jeans und eine helle Bluse und roch wie ein Blumenstrauß. Rösner startete den Wagen, sah in den Rückspiegel und gab Gas.

Im Spiegel betrachtete er ihre stark geschminkten Augen. »Wo is die Ramona?«, fragte er.

»Bei meiner Mutter«, sagte sie. Das war gut. Da konnte ihr nichts passieren.

Er war froh, die Marion dabeizuhaben. Auch wenn sein letzter Abgang ziemlich scheiße gewesen war und es so aussah, als wäre es aus mit ihnen. Aber das war es nicht. So was fühlte man doch.

Marc Steiner hatte den Fernseher eine Stunde nach Mitternacht ausgemacht und war, nachdem er sich im Bad die Zähne geputzt hatte, in sein Zimmer gegangen, hatte die Stereoanlage eingeschaltet, »Eyes of the Universe« von Barclay James Harvest aufgelegt und sich der Länge nach auf seinem zerwühlten Bett ausgestreckt. Wenn er »Play to the World« hörte, war sofort alles wieder da: der milde Sommer 84, das Open-Air-Konzert auf der Feste Marienburg in Würzburg mit Barclay James Harvest, den Dire Straits und Georg Danzer und die langen, scheinbar nie zu Ende gehenden Abende mit Rachael unten am Main, wo sie am Ufer, am Fuß der großen Trauerweide rauchten, billigen Wein aus der Flasche tranken und Friedhofskerzen anzündeten, die sie auf Rindenstücke stellten und wie winzige Boote aufs pechschwarze Wasser setzten, um ihnen eng umschlungen zuzusehen, wie sie langsam hinaustrieben in die Nacht.

Vier Jahre war das her. Trotzdem war ihm, wenn er »Play to the World« hörte, das sie damals, auf dem Bett liegend, wieder und wieder gehört hatten, als sei nichts vergangen: weder seine Liebe für Rachael und seine ständige Sehnsucht nach ihr noch der Schmerz, der ihn quälte. Rachael war das erste Mädchen, mit dem er geschlafen hatte. Am schlimmsten waren die Abende und Nächte, wenn er nach Sendeschluss Zuflucht bei den Go Betweens, Tears For Fears, The Smiths oder Büchern suchte. Denn obwohl ihm Lesen nie etwas bedeutet hatte, verspürte er, nachdem Rachael mit ihm Schluss gemacht hatte, das starke Verlangen, in andere Welten abzutauchen.

Ein Freund hatte ihm einen kleinen Roman eines Algeriers namens Albert Camus mit dem Titel »Der Fremde« geschenkt, und nachdem Marc ein paar Seiten gelesen hatte, fühlte er sich seltsam verzaubert. Als spreche daraus eine Stimme zu ihm, auf die er offenbar unbewusst gewartete hatte. Anschließend war er in die Buchhandlung gelaufen und hatte alles gekauft, was von Camus zu bekommen war.