Die Tote von Sant Andreu - Peter Henning - E-Book

Die Tote von Sant Andreu E-Book

Peter Henning

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Beschreibung

Bei einem islamistischen Terroranschlag im Stadtteil Sant Andreu kommt Luise, die Zwillingsschwester von Lennart Halm, ums Leben. Halm, fassungslos vor Trauer und Entsetzen, reist sofort nach Barcelona. Er will wissen, wie sie, die in letzter Zeit wenig Kontakt zu ihm hatte, gelebt hat. Was hat sie gedacht und getan, mit wem war sie zusammen? Er erinnert sich an ihre gemeinsame Kindheit und Jugend, an ihre Aufmüpfigkeit und Unbeugsamkeit, und wie die bewunderte Schwester mit 16 Jahren aus dem biederen Elternhaus ausgebrochen ist. Im ermittelnden Polizeikommissariat wird ihm gesagt, es gebe "dunkle Flecken" im Leben seiner Schwester, Ungereimtheiten. Halm hält das alles für absurd. Doch dann taucht ein Foto auf…

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Seitenzahl: 228

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Für Andrea

Peter Henning

DIE TOTE VON SANT ANDREU

©2020 by : TRANSIT Buchverlag

Postfach 12 03 07 | 10593 Berlin

www.transit-verlag.de

Umschlaggestaltung, unter Verwendung

eines Fotos von Antonio Cansino,

und Layout: Gudrun Fröba

eISBN 978-3-88747-400-3

INHALT

Köln

Der Anruf

Der Riss

Der Entschluss

Der erste Schritt

Der Aufbruch

Barcelona

Der Anfang

»Onze de Setembre«

Geister

Placa del Pi

Anne

Die Tür

Wie weiter?

Wieder allein

Die Bilder

Die Fragen

Die Toten von Sant Andreu

In den Abend, in die Nacht

Luise – reminds again

Nur eine kurze Berührung

Estatua de la Caperucita Roja

Im Sturm

In die Nacht

Nach dem Sturm ist vor dem Sturm

Mendel

Köln

Elf Tage später

Impressum

KÖLN

Der Anruf

Halms Welt blieb an einem Montag stehen. Kurz nach elf Uhr morgens. An einem Tag wie jeder andere.

Später wird er sagen: »Ich habe es gewusst! Nein, nicht gewusst, aber geahnt. Schon beim Aufstehen kurz nach Sieben habe ich so ein flaues Gefühl gehabt! Ein dumpfes, undefinierbares Rumoren im Magen, das sich mit der Zeit in eine leichte Übelkeit gesteigert hat. Bis ich schließlich gegen halb neun glaubte, mich übergeben zu müssen, ins Bad lief, den Deckel der Toilette hochklappte und würgte.«

Er war auf die Knie gegangen und hatte ein paar Mal hellen Schleim gespuckt. Schnaufend und leicht zitternd hatte er sich den Mund ausgespült und mit einem Stück Toilettenpapier abgewischt. Dann waren die Kopfschmerzen gekommen.

Er hatte lange warm geduscht, im Anschluss einen Kaffee getrunken und einen Zwieback gegessen, hatte danach eine Aspirin genommen (und später noch eine!) und sich langsam besser gefühlt. Und beschlossen, das um neun Uhr beginnende Seminar doch abzuhalten.

Lennart Halm lehrte seit etwas mehr als fünf Jahren Kreatives Schreiben, hatte als Lehrbeauftragter begonnen, später als Dozent gearbeitet und war inzwischen ordentlicher Universitäts-Professor.

An diesem Morgen hatte trübes Gaslicht geherrscht, als er über den Campus lief. Zwischen den dürren Kronen der das Gelände nach Westen hin begrenzenden Kastanien hatten sich vergeblich einzelne wenige Sonnenstrahlen hindurch zu kämpfen versucht. Das Grau schien von innen heraus zu leuchten wie eine matte Glühbirne, fahl und winterlich.

Lennart Halm war gerade dabei, mit Kreide (in einigen älteren Seminarräumen gab es tatsächlich noch die altmodischen Tafeln samt Kreide und Schwamm) Gedanken des amerikanischen Kritikers und Schriftstellers John Gardner an die Tafel zu schreiben, als die Tür aufging und Parminder, seine wissenschaftliche Hilfskraft, den Raum betrat.

»Ja? Minda?«, fragte er und sah die junge Frau überrascht an. »Was gibt’s?«

»Kommen Sie bitte kurz?«, sagte sie und machte ihm ein Zeichen, ihr auf den Gang zu folgen.

»Ja sofort!«, er wandte sich den Studenten zu: »Notiert euch das bitte, ich möchte das nämlich mit euch diskutieren. Bin gleich wieder da!« Dann legte er die Kreide auf das Tafelbrett und lief hinaus.

Parminder hielt einen dicken Packen Kopien so vorsichtig unter dem Arm, als handele es sich um einen Karton mit zerbrechlicher Ware. Daran würde er sich später erinnern, wenn er an die folgenden Minuten auf dem zugigen Gang zurückdächte. An die Art, wie sie durch steten Druck ihres rechten Unterarms auf die Papiere und damit gegen ihre Hüfte versucht hatte, deren Herausrutschen zu verhindern.

»In deinem Büro warten zwei Männer auf dich. Sie sind von der Polizei und haben mich gebeten, dich zu holen! Kommst du?«

»Polizei?«, wiederholte Halm ungläubig, versuchte dann aber seine Überraschung ein wenig herunter zu spielen und sagte mit einem beflissenen Lächeln. »Ist gut, danke!«

Weil die junge Frau aber keine Anstalten machte, zurück zu ihrer Arbeit in ihr Büro zu gehen, sondern ihn fragend ansah, sagte er: »Ja, Minda? Sonst noch was?«

»Ich weiß, ich sollte das nicht fragen, entschuldige«, sagte sie, »aber wieso kommt die Polizei hierher?« Im nächsten Moment warf sie einen prüfenden Blick auf den leicht verrutschten Packen unter ihrem Arm, als könne er jeden Moment mit einem Klatschen zu Boden stürzen wie eine Katze, die aus einem plötzlich aufspringenden Transportkäfig springt.

Halm fühlte, wie die Übelkeit vom Morgen in Wellen zurückkehrte, legte intuitiv eine Hand auf seinen Bauch und sagte: »Keine Ahnung, wirklich!«

»Alles o.k. mit dir?«, fragte sie, in Anspielung auf seine Geste. »Ist dir nicht gut?«

»Doch, doch, alles in Ordnung«, antwortete Halm, nahm die Hand von seinem Bauch und lächelte angestrengt.

Parminder, die Tochter eines Brahmanen-Ehepaares aus Kalkutta, verfügte über ein verblüffendes Einfühlungsvermögen in die Texte, die er ihr zu Lesen gab. Sie liebte, das hatte sie ihm erzählt, die Geschichten von Jhumpa Lahiri und die Romane von Rohinton Mistry und Arundahti Roy, schrieb aber bei ihm ihre Magisterarbeit über den »Einfluss des Alltagssprachlichen in den Erzählungen von Wolfdietrich Schnurre und Siegfried Lenz«.

Nachdem er Minda gebeten hatte, die Leitung des Seminars für eine Viertelstunde zu übernehmen, lief er hinüber zu seinem Büro am nördlichen Ende des Campus. Vor dessen Tür standen die beiden Männer, beide in Zivil.

»Guten Morgen, meine Herren, was führt Sie zu mir?«, sagte Halm und schüttelte beiden erwartungsvoll die Hand.

»Hauptkommissar Marenke, Polizei Köln, das ist mein Kollege Bauer. Sie sind Lennart Halm, nur um sicher zu gehen?«

»Ja, der bin ich! Was gibt’s?«

»Die spanischen Behörden haben uns gebeten, Sie aufzusuchen, nachdem sie sich zuvor an die deutsche Botschaft vor Ort gewandt hatten. Es tut mir leid, Herr Halm, aber wir müssen Ihnen mitteilen, dass Ihre Schwester Luise Halm heute früh Opfer eines Terroranschlags in Spanien wurde. Zwei Selbstmordattentäter haben sich in zwei Waggons der Metro in Barcelona in die Luft gesprengt und dabei unter anderen Ihre Schwester mit in den Tod gerissen. Gleichzeitig möchte ich Ihnen unser Mitgefühl aussprechen!«

Keine zehn Minuten später war ihr Gespräch beendet und die beiden Polizisten verschwunden, und Halm sehnte sich in die gefahrlose Stille zurück, die geherrscht hatte, bis Minda im Seminarraum erschienen war. Er hatte den Ausführungen des Polizeibeamten von einem gewissen Moment an mit angehaltenem Atem gelauscht. Alles in ihm hatte sich dagegen gesträubt, das Gehörte zu begreifen. Die Worte Barcelona, Terroranschlag, Schwester und tot waren ihm wie Steine an den Kopf geflogen und hatten einen stumpfen Schmerz erzeugt. Dann war das Zittern gekommen. Unkontrollierbar und bedrohlich. Er hatte sich am steinernen Fensterbrett im Flur festgehalten und plötzlich so heftig zu schwanken begonnen, dass er glaubte, jeden Moment umzufallen.

Halm war dann in sein Büro gegangen, hatte sich eingeschlossen, an seinen Schreibtisch gesetzt, beide Hände vor sich auf die Schreibunterlage gelegt und sein Gesicht darin vergraben.

Der Riss

Nachdem er sein erhitztes Gesicht am Waschbecken unter dem eiskalten Wasser gekühlt hatte, ging er zurück in den Seminarraum und erklärte seinen erstaunten Studenten, die Sitzung aufgrund einer dringenden persönlichen Angelegenheit leider nicht fortsetzen zu können. Er warf seine Sachen in die Tasche und lief aus dem Raum.

»Was ist denn, Lennart?«, rief Minda ihm hinterher, als er wortlos an ihr vorbei ging.

»Später, lass mich bitte!«, erwiderte er halblaut, hob ohne sich noch einmal umzudrehen beschwichtigend den linken Arm, und lief in den nahegelegenen Park.

Er warf seine Aktentasche auf eine der leeren Bänke und setzte sich, nahm sein Smartphone hervor und schrieb der Fakultäts-Sekretärin Gabriele Schlüter eine Mail, in der er sie bat, die für die Woche anberaumten Seminare abzusagen. Er nannte ihr den Grund und kündigte an, sich aus Spanien zu melden, sobald er die dortige Lage ein wenig überblicke. Dann schaltete er das Gerät aus und schob es zurück in die Tasche.

Von den nahen Ringen drang das gleichförmige Rauschen des Verkehrs herüber, nur dann und wann unterbrochen vom Kreischen der Bremsen der Straßenbahnen.

Er saß bereits eine ganze Weile auf der Bank, hielt seinen Oberkörper mit beiden Armen umfasst, als suche er Halt bei sich selbst, und ließ seinen Blick ziellos über die freie Ebene mit den ausgestorbenen Kronen der Bäume gleiten. Dann sank er gegen die Lehne und schloss die Augen.

Die Feuchtigkeit des Wintermorgens kroch ihm unter die Kleider, und eigentlich hätte er frieren müssen. Doch er fühlte nichts. Das kleine Außenthermometer auf dem Balkon seiner Südstadtwohnung hatte am Morgen gerademal drei Grad Celsius angezeigt. Nun mochten es allerhöchstens fünf sein.

Unwillkürlich bewegte er seinen Oberkörper vor und zurück, genau wie die beiden Unfallopfer, die er kürzlich auf der Autobahn gesehen hatte, ein Mann und eine Frau, die etwas abseits von einem völlig zerstörten Fahrzeug am Straßenrand gestanden, sich bei den Händen gehalten hatten und immerzu wortlos hin- und herwiegten, vor und zurück, als sei das schreckliche Ausmaß der Katastrophe, in die sie kurz zuvor geraten waren, nur so halbwegs erträglich.

Jetzt verstehe ich, dachte er, und sah die beiden vor sich. Zwei Körper, die sich wie in einem absurden Tanz oder Ritual unaufhörlich vor und zurück bewegten.

»Die genaue Zahl der Todesopfer lässt sich angesichts der vielen Schwerverletzten zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht genau beziffern«, hatte Marenke gesagt. Sicher sei aber wohl, dass Luise unter den Getöteten sei. Die spanische Polizei habe Hinweise gefunden, die unstrittig auf ihre Person hindeuteten. Der IS habe sich über ein dem katalanischen Sender Catalunya Radio unmittelbar nach dem Anschlag zugespieltes Schreiben zu der Tat bekannt.

Die Katastrophe hatte ihn durch ein paar aufgesagte Fakten erreicht. Die dünne, eben noch als schützend empfundene Haut der Normalität war jäh gerissen, und die Zugluft, die durch den entstandenen Riss ungebremst einströmte, war eisig und rau.

Zum Schluss hatten sie ihm einen Zettel mit dem Namen, mehreren Telefonnummern und der Adresse des ermittelnden Sondereinsatzkommandos in Barcelona übergeben, sich verabschiedet und waren in ihren Polizeialltag zurückgekehrt, zu dem das Überbringen solcher Nachrichten offenbar ebenso zählte wie das Anhalten eines zu schnell gefahrenen Wagens oder das Absperren eines Tatorts mit rot-weißem Flatterband.

Um ihn herum herrschte das eintönige Grau eines kühlen Novembertages. Der Himmel war ein konturloses Blatt, plan und ohne jede Tiefe, in das ein über die Dächer hinweg fliegender Vogelschwarm dunkle, fahrige Striche zog. Das Stillleben winterlicher Verödung.

Überraschend kehrte der Vogelschwarm in einer weitausholenden Schleife zurück und schrieb eine dunkle Halbkreislinie in das Graublau. Plötzlich löste sich ein einzelnes Tier aus der Formation, scherte aus, driftete ab und versank steil, wie von einer Gewehrkugel getroffen, hinter dem Hauptgebäude.

Als Kinder waren sie Nachmittage lang durch die weitläufigen Auen des Rheins gestreift, er und Luise, am liebsten durch die Poller Wiesen, und Faltern nachgejagt, Schachbrettern, Großen Ochsenaugen und den feuerrot leuchtenden kleinen Dukatenfaltern, um sie, wenn er sie mit seinem Netz erhascht und mit Chloroform betäubt hatte, in die Sammelbüchse zu legen, die Luise trug. Zuhause präparierte er die Schmetterlinge in minutiöser Kleinarbeit mit Nadeln und Papierstreifen auf den Spannbrettern, die ihm der Vater eines Freundes in seiner Werkstatt angefertigt hatte, ehe sie, wenn ihre Flügel für immer in der gewünschten Stellung erstarrt waren, mit Schildchen versehen in seine großen Schaukästen wanderten, die später an den Wänden seines Zimmers hingen.

Wie oft hatte Luise ihn auf seinen Fangzügen durch die Auen begleitet, statt, was er nur zu gut verstanden hätte, mit ihren Freundinnen Rollschuh zu laufen oder ins Schwimmbad zu gehen? Hundert Mal? Oder noch öfter?.

Luise hatte sich nicht sattsehen können am Funkeln und irisierenden Leuchten der Dukatenfalter, wenn das Sonnenlicht sich an den Schuppen ihrer dunkelgrau geränderten Flügel brach und reflektiert wurde. »Fliegende Edelsteine« hatte sie die kleinen Falter einmal bewundernd genannt.

Viel später, da waren sie bereits erwachsen, hatte sie ihm gestanden, dass die Dukatenfalter der Grund dafür gewesen seien, weshalb sie, getrieben von dem unstillbaren Verlangen, sich etwas ähnlich Schönes an einer Kette befestigt um den Hals hängen oder an den Finger stecken zu wollen, damals, als Vierzehnjährige, Schmuck, allem voran rotgoldenen, zu stehlen begann und später Goldschmiedin geworden sei.

Ich muss mit jemandem reden!, durchfuhr es Halm plötzlich, und er riss sich von den inneren Bildern los. Aber wen konnte er anrufen, um von Luises Tod zu erzählen und dadurch seinen Schmerz wenigstens für den Moment ein wenig zu mildern? Wen?

Seine Mutter, die in Bickendorf gemeinsam mit anderen Demenz-Kranken in ihrem modernen, hellen Zimmer saß und das Leben, auf das sich ihre Existenz in der Pflegegemeinschaft »Zum Rosengärtchen« reduziert hatte, nur noch in Form flüchtiger Schatten oder Lichtspiegelungen wahrnahm, die dann und wann über die Ränder ihrer 10,75-Dioptrin starken Brillengläser huschten? Wohl kaum. Er sah ihr debiles Lächeln vor sich, und hätte sie in diesem Moment dafür ohrfeigen mögen.

Oder seinen Vater, den großen Walter Helmut Halm, der vor Jahren sein gut gehendes Architekturbüro auf der Neusser Straße samt der vierzehn Mitarbeiter verkauft hatte, seine Frau gegen eine jüngere eintauschte und sich von ihr scheiden ließ, Köln den Rücken kehrte, und seither mit seiner deutlich jüngeren Freundin namens Anka in Bangkok lebte? Nein! Und was war mit Rebecca, die ihn vor knapp elf Monaten mit der Begründung verlassen hatte, lieber wieder alleine leben zu wollen, was ihn anfangs irritiert und wenig später wütend gemacht hatte? Ja, vielleicht sie…

Rebecca hatte Luise nur aus seinen Erzählungen, und von den Fotos her gekannt, die er ihr zu Beginn ihrer Beziehung gezeigt hatte. Begegnet waren sich die beiden nie.

»Ich bekomme einfach keine Luft mehr neben dir!«, hatte sie gesagt, als er nach dem Grund für ihre Entscheidung, sich von ihm zu trennen, gefragt hatte. »Für all den Raum, den du und deine Literatur einnehmen, ist diese Wohnung einfach zu klein. Wäre jede Wohnung zu klein! Und hätte unsere auch drei Zimmer mehr, so wäre darin trotzdem kein Platz für mich! Lennart, ich will das so nicht mehr. Ich ersticke sonst noch!«

Am Ende hatte er ihr die schweren Umzugskisten in den Möbelwagen geschleppt und angesichts deren enormem Gewicht mit Blick in ihr erschöpftes, leicht erhitztes Gesicht gedacht: »Und ebenso schwer wiegt wohl auch deine Enttäuschung über mich!«

Wahrscheinlich saß Rebecca in diesen Minuten in ihrer neuen Wohnung in Lövenich am spaltweit geöffneten Fenster, hielt mit ihren schönen schlanken Händen eine Schale Milchkaffee umfasst und atmete die erfrischende Luft wiedergewonnener Freiheit.

Wohin hatte Luise gewollt, als sie kurz nach neun in die Bahn stieg?, ging es Halm plötzlich durch den Kopf. Und was hatte sie gedacht? Hatte sie ihre Kopfhörer aufgehabt und Musik gehört? Was hatte sie gehört in dem Moment, als es knallte? Massive Attack, Portishead, Laika oder Hooverphonic, so wie früher? Luise hatte immer ein Faible für Trip Hop und Dub gehabt, nachdem sie das erste Mal die Moonshake-Sängerin Margaret Fiedler gehört hatte.

Halm hatte seiner Schwester zu ihrem fünfzehnten Geburtstag das Sonic Youth-Album Goo geschenkt, damals noch auf Platte in glänzendem, an Lakritz erinnerndem Vinyl.

Besonders gemocht hatte sie das nachdenkliche Stück Cinderella’s Big Score, worauf er sie eine ganze Zeit lang zärtlich Cinderella gerufen hatte, wenn er sie aus ihrem Zimmer zum Abendbrot herunter holte und rief: »Cinderella, Essen kommen!«

Auch später war sie noch lange Cinderella für ihn geblieben, was auf das englische Cinder zurückging und Asche bedeutete. Ein anderer Song auf der Platte hieß Tunic und handelte vom Tod der Sängerin Karen Carpenter, die an Magersucht starb. Den hatte Luise ebenfalls sehr gemocht.

Am Morgen hatten ihre Mörder sie endgültig zur Cinderella, zum Aschenmädchen gemacht und sie an einen Ort geschickt, von dem es keine Rückkehr gab.

Wie hatte sie sich gefühlt, als es in der Bahn zur Explosion kam? Was hatte sie gedacht? Hatte sie in dem schlagartig alles beendenden Augenblick überhaupt noch etwas denken oder fühlen können? Nein, vermutlich hatte es stattdessen in ihren Synapsen oder in ihrem Stirnlappen »Klick« gemacht, und etwas in ihr hatte begriffen, dass nun alles vorbei war.

Irgendwo musste es die Antwort geben auf das, was in Spanien geschehen war. Nur wo? Wo sollte er nach ihr suchen? Nach Anzeichen und Hinweisen? In den Trümmern des U-Bahnwaggons, in dem sie gestorben war? Oder in dem, was die Zerstörungswut ihrer Mörder von ihrem Körper übrig gelassen hatte, irgendwelchen Knochensplitter, Hirnmasse, ein paar Haare, die man geborgen hatte und in irgendeinem Labor oder einem Leichenschauhaus verwahrte, irgendwo in Barcelona?

Ein unangenehmer Geschmack lief ihm über die Zunge. Er schluckte einmal, zweimal. Doch die Bitterkeit blieb.

Irgendwann später, nachdem die in elfhundert Kilometern Entfernung geschehenen Dinge immerzu vor seinem inneren Auge abgelaufen waren, wie von einem surrenden Projektor unerbittlich auf eine kleine Leinwand geworfen, würde Halm das Gefühl haben, dabei gewesen zu sein an jenem Morgen, als Luise starb. Alles mitangesehen und mit eigenen Ohren gehört zu haben: Die betäubende Detonation der Sprengsätze mit ihren gewaltigen Druckwellen. Die durcheinander gellenden Schreie der Schwerverletzten. Die einsetzende Panik. Und auch die in den zerstörten Waggons und auf der Plattform herumliegenden blutverschmierten und teilweise bis zur Unkenntlichkeit entstellten Körper.

Halm richtete sich auf. Er fühlte sich leicht betäubt, griff nach seiner Tasche und lief in Richtung S-Bahn-Haltestelle.

Der Entschluss

Auf sämtlichen TV-Kanälen liefen die Bilder aus Barcelona.

Die Breaking News bei CNN lauteten: »Terrorist attack on the metro in Barcelona. Many deaths and serious injuries. The IS has claimed responsibility for the attack.« In einer Art Endlosschleife wanderten die Sätze von einem roten Band unterlegt wieder und wieder durch den unteren Teil des Bildes. Zudem hatte der US-Sender eine Live-Schaltung an den von mächtigen Scheinwerfern gespenstisch erhellten U-Bahn-Eingang eingerichtet, und im ZDF sagte eine Reporterin mit starrem, trotz der Schminke sichtlich bleichem Gesicht untermalt vom Rattern der Generatoren: »Blutlachen am Boden, Menschen schreien vor Schmerzen. Verletzte, Tote. In der Metro-Station Onze de Setembre der Linie 10 im District Sant Andreu herrscht noch immer das nackte Chaos.«

»Kurz nach neun Uhr«, erklärte Sekunden später ein Mann in ihr Mikrofon, habe der Terror begonnen. Er sei auf dem Weg zu seiner Tochter gewesen, die heute Geburtstag habe. Plötzlich sei eine Frau mit einem umgeschnallten Rucksack an ihm vorbei in die Bahn gestürmt, habe »Allah ist groß!«, gebrüllt und dann hätte es geknallt. Der Lärm sei ohrenbetäubend gewesen, er danke Gott, dass es ihn nicht getroffen habe!

Halm schaltete immer wieder zwischen den Programmen hin und her. Gleichzeitig scrollte er mit Blick auf den blau strahlenden Bildschirm seines Laptops durch das Menü von German Wings auf der Suche nach einem Flug nach Barcelona.

Er glitt durch die Website der Fluggesellschaft von Flugsuche zu Abflughafen, gab Köln-Bonn ein und ging weiter zu Alle Zielflughäfen ab Köln-Bonn (CGN), scrollte sich durch die alphabetische Auflistung und klickte schließlich Barcelona an. Und nachdem er das Reisedatum für den Hinflug, Montag 30. November, eingegeben hatte, zeigte ihm der Computer einen Flug für 16 Uhr 35 an. Wenn alles glatt lief, konnte er gegen 19 Uhr 15 in Barcelona sein.

Halm gab an der gewünschten Stelle »1 Person« ein, ließ das Rückreisedatum offen und buchte das Ticket per Mausklick.

Bis zum Abflug der Maschine blieben ihm noch knapp fünf Stunden. Was konnte er bis dahin tun, um nicht tatenlos verrückt zu werden? Den Koffer aus dem Keller holen und abstauben, ja, Schuhe und ein paar Kleidungsstücke zusammensuchen, seinen Pass aus der Schreibtischschublade und die Fotos von Luise aus den Alben nehmen, Zahnbürste, Zahncreme, Deo, Rasierer und Rasierschaum, Duschgel und seine Magentabletten in seinen Kulturbeutel packen. Und im Rosengärtchen in Bickendorf anrufen und seinen für Samstag geplanten Besuch bei seiner Mutter absagen.

Aber darüberhinaus? Was? Vielleicht würde er Rebecca doch anrufen. Schließlich hatten sie sich einmal sehr verbunden gefühlt, hatten sich ihre Träume, geheimen Ängste, Wünsche und verborgenen Sehnsüchte anvertraut. Also warum nicht auch jetzt, an einem Tag wie heute? Setzte ein brutaler Terroranschlag, bei dem seine eigene Zwillingsschwester ums Leben gekommen war, das inzwischen für sie geltende Gesetz der strikten Abgrenzung vom Anderen denn nicht automatisch außer Kraft?

Ja, ich will sie gleich anrufen, sagte sich Halm, tat es dann aber nicht. Er ging zum Fernseher und stellte den Ton ab, nahm die Jägermeister-Flasche und ein Schnapsglas aus dem Schrank, öffnete sie und goss das kleine Glas randvoll.

Mit einem Ruck kippte er die dunkle, würzig schmeckende Flüssigkeit herunter und fühlte im nächsten Moment die kleine Hitze, die sie erzeugte, spürte, wie sie sich in seinem Bauchraum auszubreiten begann, langsam nach links oben wanderte und ihm das Gefühl gab, als lege sich eine warme, freundliche Hand schützend um sein schnell schlagendes Herz. Sogleich füllte Halm das Glas von Neuem. Das erste hatte er im Stehen geleert. Nun nahm er auf der Couch Platz, griff nach dem Glas und schmiegte sich in das weiche, nachgiebige Polster.

Seinen Studenten versuchte er beizubringen, wie man aus wenigen, aber treffenden Elementen und Details und noch dazu auf engstem Raum eine Geschichte so erzählte, dass sie ein Stück »herausgerissenes Leben« zeigte und doch gleichsam darüber hinauswies. Dabei kam er jedes Mal früher oder später auf Carvers sogenannten Minimalismus zu sprechen. Tobias Wolffs Vorliebe für eng geführte Drei-Personen-Geschichten und Lucia Berlins meisterhaften Umgang mit der eigenen Biographie.

Wie, das fragte Halm sich, würde wohl ein wirklich großer Short Story-Autor, ein André Dubus zum Beispiel oder ein Richard Bausch, der, das hatte Halm irgendwo gelesen, ironischerweise genau wie er selbst einen Zwilling hatte, von dem erzählen, was heute morgen in Barcelona kurz nach neun an der Metro-Station Onze de Setembre passiert war? Wäre er imstande, gegen alle instinktive Abwehr etwas aus dem Schrecklichen herauszulesen, das er, Halm, nicht sah, vom Schmerz geblendet nicht sehen konnte? Etwas, an dem man sich gegen allen Schmerz und alle Wut festhalten konnte, und worin man vielleicht sogar Kraft und ein wenig Trost fand? Oder würden selbst einem Richard Bausch vor dem unvorstellbaren Grauen einer solchen Tat die Worte versagen?

Luise hatte ihn, als sie Kinder waren, einmal ihr anderes Ich genannt. »Du bist mein zweites anderes Ich«, hatte sie zu ihm gesagt, »so wie ich deines bin!«

Nun hatte das Schicksal sie für immer getrennt und ihn auf sein eigenes, alleiniges Halb-Ich zurückgeworfen. Zu einer verwaisten Hälfte gemacht, die ihre Unvollständigkeit zu ertragen lernen musste. Doch wie lebte man als zurückgelassenes Halbes, ohne Aussicht auf die Wieder-Vereinigung mit dem Anderen zu einem sinnvollen Ganzen? Wie ging das, ein Leben zu leben, das plötzlich aus Stückwerk bestand, ein Dasein in schmerzhafter Leere?

Der erste Schritt

Halm erwachte kurz nach halb zwei der Länge nach auf der Couch. Er sah auf seine Armbanduhr. Nach und nach wie durch Drehen an einem imaginären Korrekturknopf stellte sein Blick sich langsam scharf, und augenblicklich befiel ihn eine leichte Unruhe. Sein Flug! Er hatte noch nichts gepackt! Und hieß es nicht, man solle mindestens neunzig Minuten vor dem Check-In am Flughafen sein?

Er war schon ewig nicht mehr geflogen, er hatte Angst vorm Fliegen. Sein Flug nach Pittsburg, wo er damals einen Schulfreund besucht hatte, lag sicher mehr als fünfzehn Jahre zurück. Immer noch dachte er ungern daran zurück.

Genau genommen blieb ihm gerade mal eine Stunde, um sein Ticket auszudrucken, zu packen, zu duschen, sich umzuziehen und zur S-Bahn zu laufen, die ihn mit einem Umstieg zum Flughafen bringen würde.

Er richtete sich auf und sah hinüber zum Fernseher. Auf dessen Mattscheibe öffnete und schloss eine vor einem blauen Studiohintergrund sitzende Sprecherin ihren Mund so lautlos wie die Zierfische in dem Aquarium, das in dem Büro der Fakultätssekretärin stand.

Warum höre ich nichts?, dachte Halm, und registrierte im nächsten Moment ein heftiges Stechen in beiden Schläfen. Habe ich jetzt auch noch etwas mit den Ohren? Doch dann fiel ihm ein, dass er den Ton abgestellt hatte. Er hob das Schnapsglas auf, das vor der Couch auf dem Boden lag.

»Bernhard & Bianca«, hörte er sich plötzlich sagen und erschrak. Und dann sagte er immer neue Begriffspaare auf wie Vokabeln, die er einmal gelernt und nie wieder vergessen hatte: Ginger & Fred. Ken & Barbie. Bonny & Clyde. Susi & Strolch. Popeye & Olivia. Lenny & Luise. Ach, ja.

Sie hatten sich damals, als Kinder eine Zeit lang einen Spaß daraus gemacht, berühmte Paare aufzusagen, die sie im Brockhaus des Vaters unter dem Schlagwort »Zwillinge« gefunden hatten: Othello & Desdemona oder Isis & Osiris. Auch später, als sie bereits erwachsen waren, warf Luise ihm manchmal, wenn sie sich trafen, plötzlich einen Namen hin und sah ihn grinsend an, damit er ihn durch Nennung des passenden Gegenstücks zu einem Paar ergänzte. Sie hatte das ihr »Zwillingsspiel« genannt, damals. Seine Schwester war immer eine leidenschaftliche Spielerin und mit einer überbordenden Fantasie gesegnet gewesen. Mit dem Schnapsglas in der Hand lief Halm in die Küche und stellte es in die Spüle.

Zwanzig Minuten später saß er geduscht und angezogen am Küchentisch und hob die Espressotasse an den Mund. Im Flur stand der gepackte Koffer. Vor ihm auf dem Tisch lagen sein Pass, das ausgedruckte Flugticket, und einige Fotos seiner Schwester, die er aus dem Album herausgenommen hatte. Er hatte die kleine Sammlung irgendwann einmal lustvoll begonnen, hatte die Bilder in schöner Anordnung mit den dafür vorgesehenen Ecken auf den kräftigen, kartonartigen Seiten befestigt, das Gedenkbuch dann aber nicht weitergeführt.

Das letzte Mal hatte er Luise vor etwas mehr als sieben Jahren gesehen, das musste Anfang 2008 gewesen sein. Er hatte damals seine erste Zeit als Dozent erfolgreich hinter sich gebracht und war gehobener Stimmung gewesen, daran erinnerte er sich noch. Er war noch nicht mit Rebecca zusammen gewesen, hatte eine helle freundliche Wohnung in Sülz bewohnt.

Luise hatte ihn einmal dort besucht, war für eine viel zu kurze Nacht geblieben, ehe sie am nächsten Tag gegen Mittag nach Spanien zurückflog. Er hatte abends ihr Lieblingsgericht zubereitet, mit Hackfleisch, Kräutern und Parmesan gefüllte Paprikaschoten in einer würzigen Kapern-Tomatensoße, dazu Basmati-Reis. Sogar die Zimtschnecken, die sie so mochte, hatte er für sie gebacken. Anschließend hatten sie bis zum Morgengrauen in der Küche gesessen, hatten italienischen Rotwein getrunken, und alles mögliche beredet. Luise hatte ihm Fotos von Henry und Helmut gezeigt, die nebeneinander gewirkt hatten wie Großvater und Enkel.

Wenn Halm die Augen schloss, meinte er Luises Lachen zu hören, ein Jauchzen, das, wenn sie in Fahrt kam sich zum Gackern eines Huhns steigerte, tief und guttural. Seine Schwester hatte gelacht wie sie gelebt hatte, spontan und ohne darüber nachzudenken, wie sie dabei auf Andere wirkte.

Er schob die vor ihm auf dem Tisch liegenden Papiere zusammen, legte die Fotos in seine Brieftasche und griff nach dem Koffer. Zuletzt schrieb er seiner Nachbarin, einer jungen Frau namens Lucy, einen kurzen Brief, den er ihr gemeinsam mit seinen Wohnungsschlüsseln in den Kasten warf.

In der Straßenbahn sah er die gesamte Fahrt über aus dem Fenster, ließ die sich rasch verändernde Umgebung als beruhigendes, vielfarbiges Band an sich vorbeiziehen, und dachte: Ich werde Papiere und Formulare unterschreiben müssen, werde die Überführung des Leichnams organisieren (oder was davon übrig war) und Luises Wohnung räumen und ihre Hinterlassenschaft sichten müssen, Telefon und Internet abmelden, sofern vorhanden, ihre Kleider entsorgen, ihre persönlichen Dinge retten und die letzten Spuren ihrer Existenz bis auf einzelne wenige für immer tilgen und verwischen. Hinter ihr aufräumen und die Scherben oder Brocken zusammenkehren, wie man so sagte.

Aber wie ging so etwas? Wie löste man ein mutwillig zerstörtes Leben so auf, dass es darüber nicht ganz verschwand und verloren ging? Konnte man die Reste eines Menschenlebens überhaupt einfach so entsorgen? In reißfesten blauen Plastiksäcken fortschaffen, in graue feuerfeste Mülltonnen stopfen und, was dort nicht hinein passte oder der städtischen Abfallverordnung folgend nicht hineingehörte, zum Trödler bringen oder bei passender Gelegenheit achtlos auf den Sperrmüll werfen? Einfach so? Die einstigen Lieblingsbücher seiner Schwester in alte Bananenkisten legen, Zweigs »Schachnovelle«, »Anna Karenina« oder Koeppens »Eine unglückliche Liebe?«. Ebenso ihre Beatles-Platten und CDs und Filmkassetten, und sie irgendwo an irgendwen für ein paar Euro verscherbeln? Genau wie ihre Kleider, Schuhe und ihre Möbel? Und ihren selbst gemachten Schmuck?

Er fühlte sich wie die Unfallopfer sich wahrscheinlich gefühlt haben mochten, die er kürzlich gesehen hatte. Sie lebten, waren scheinbar ansprechbar gewesen. Doch ihr Blick war leer und glasig. Und der Fingerabdruck, den der Tod, der kurz nach ihnen gegriffen, aber nochmal von ihnen abgelassen hatte, an ihnen hinterlassen hatte, krampfte ihr Herz zusammen.

Der Aufbruch