Die Chronik des verpassten Glücks - Peter Henning - E-Book

Die Chronik des verpassten Glücks E-Book

Peter Henning

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Beschreibung

Wie gut kennen wir die, die wir am meisten lieben?

Vom ersten Moment an hatte Richard Warlo seinen Ziehvater Pawel Król geliebt, diesen wie durch eine versteckte Seitentür in sein Leben eingetretenen Beschützer. Fasziniert von dessen Stärke und Verwegenheit genoss er es, wenn in der Hanauer Ankergasse die Polen zu Besuch kamen und geredet, gesungen und getrunken wurde. 25 Jahre nach Pawels Tod stößt Richard auf alte Fotos, die Pawel als jungen Mann in SS-Uniform zeigen. Sein polnischer Ziehvater ein Nazi? Wer war der Mann, der ihn wie einen Sohn erzog, mit ihm auf der Suche nach seltenen Schmetterlingen durch ganz Europa reiste und ihn die Poesie des Wagnisses lehrte?

Richard macht sich auf den Weg nach Polen – in die Vergangenheit seines Vaters. In Sosnowitz, Pawels Geburtsort, trifft er auf dessen leibliche Kinder: auf Marcin, der zeitlebens darunter gelitten hat, als Kleinkind vom Vater verlassen worden zu sein, und auf Lucyna, die zu klein war, als Pawel verschwand, um Erinnerungen an ihn zu haben. Beide mussten lernen, ohne Vater auszukommen. Nur Oliwia, Pawels im Sterben liegende Ehefrau, kennt die wahren Hintergründe seiner Flucht. Wird sie sie auf der Schwelle des Todes preisgeben? Sowohl Richard als auch Marcin und Lucyna müssen begreifen, dass Wahrheiten, die das Leben verändern, sich häufig nicht dramatisch, sondern in großer Stille offenbaren. Und dass die Frage »Was wäre gewesen, wenn« sich als Falle erweist, wenn der Fragesteller darüber sein Leben aus den Augen verliert.

Peter Hennings Figuren sind auf der Suche nach Gewissheiten – und der eigenen, neu zu definierenden Identität. Seine fesselnde Chronik des verpassten Glücks führt vor, wie Leerstellen, Geheimnisse und blinde Flecken in unseren Lebens- und Familiengeschichten uns tiefer prägen als alles, was wir fassen, erzählen und erinnern können.

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Peter Henning

Die Chronik

des verpassten

Glücks

Roman

Luchterhand

Zum Buch

Wie gut kennen wir die, die wir am meisten lieben?

Vom ersten Moment an hatte Richard Warlo seinen Ziehvater Pawel Król geliebt, diesen wie durch eine versteckte Seitentür in sein Leben eingetretenen Beschützer. Fasziniert von dessen Stärke und Verwegenheit, genoss er es, wenn in der Hanauer Ankergasse die Polen zu Besuch kamen und ­geredet, gesungen und getrunken wurde. Zehn Jahre nach Pawels Tod stößt Warlo auf alte Fotos, die Pawel als jungen Mann in SS-Uniform zeigen. Sein polnischer Ziehvater ein Nazi? Wer war der Mann, der ihn wie einen Sohn erzog, mit ihm auf der Suche nach seltenen Schmetterlingen durch ganz Europa reiste und ihn die Poesie des Wagnisses lehrte?

Warlo macht sich auf den Weg nach Polen – in die Vergangenheit seines Vaters. In Sosnowitz, Pawels Geburtsort, trifft er auf dessen leibliche Kinder: auf Marcin, der zeitlebens darunter gelitten hat, als Kleinkind vom Vater verlassen worden zu sein, und auf Lucyna, die zu klein war, als Pawel verschwand, um Erinnerungen an ihn zu haben. Beide mussten lernen, ohne Vater auszukommen. Nur Oliwia, Pawels im Sterben liegende Ehefrau, kennt die wahren Hintergründe seiner Flucht. Wird sie sie auf der Schwelle des Todes preisgeben?

Peter Hennings Figuren sind auf der Suche nach Gewissheiten – und der eigenen, neu zu definierenden Identität. Seine fesselnde Chronik des verpassten Glücks führt vor, wie Leerstellen, Geheimnisse und blinde Flecken in unseren Lebens- und Familiengeschichten uns tiefer prägen als alles, was wir fassen, erzählen und erinnern können.

Der neue Roman vom Autor des Bestsellers »Die Ängstlichen«

»Peter Henning isoliert kleine Momente zu großen Geschichten, die nur wenige Seiten brauchen, um weit über sich hinaus zu wirken.« Berliner Zeitung über »Leichtes Beben«

Zum Autor

PETER HENNING studierte Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und war seit 1985 als freier Journalist für verschiedene Zeitungen und Rundfunkanstalten tätig, später wurde er Leiter des Literatur-Ressorts bei der Schweizer Weltwoche. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Köln. Zuletzt erschienen seine Romane »Die Ängstlichen« (2009), »Leichtes Beben« (2011) und »Ein deutscher Sommer« (2013).

Für Cecilia

und

Dieter Wellershoff

»Welche Listen, welche Ausflüchte, welche Vorwände und Betrügereien würde man nicht anwenden, bloß damit ein Toter wieder da wäre.«

Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod

Prolog

Hanau, 1981

In der Nacht, als Pawel Król starb, regnete es Sternschnuppen.

Von langen Leuchtspuren gefolgt fielen mächtige und wegen ihrer Größe und ihrer geringen Geschwindigkeit in der geschlossenen Schwärze selbst mit bloßem Auge gut erkennbare Geminiden vom Himmel. Am Firmament kreuzten dynamische kleine Himmelsfeuer, bizarre, ihren unbestimmten Bahnen folgende Erscheinungen, die an funkensprühende, in Zeitlupe aufsteigende oder herabfallende Silvesterraketen erinnerten. In den Tagen danach waren die Zeitungen voll von Berichten über den Sternschnuppenregen.

Pawel Król starb in jener kalten Januarnacht des Jahres 1981, die als Die Nacht derQuadrantiden in die Annalen der modernen Astronomie eingehen und die für Richard Warlo fortan untrennbar mit Pawels Tod verknüpft bleiben sollte. Die zart vereiste Quecksilbersäule des Außenthermometers vor seinem Fenster war in jener Nacht auf ungemütliche sieben Grad unter null gesunken, und an Hanaus wolkenlosem Nachthimmel hatten sich ohne sein Wissen mittelgroße, interplanetare Sensationen ereignet.

Zwei Tage nach Pawels freudloser Bestattung auf dem zugigen Hanauer Hauptfriedhof, wo fortan ein bescheidenes helles Holzkreuz sein Grab zieren würde (das Warlo allerdings wenig später aus nur ihm bekannten Gründen stahl), hatte er sich kurz entschlossen ein Interrail-Ticket und einen Rucksack gekauft und war, das Holzkreuz im Gepäck, mit dem Zug drei Wochen lang ruhelos durch Europa gereist und hatte Plätze und Orte aufgesucht, an denen er einst mit Pawel gewesen war: von Frankfurt aus nach Cannes. Anschließend weiter nach London bis hinauf ins schottische Hochmoor, nach Loch Ness. Wieder zurück nach London und über die Stationen Dover und Calais nach Paris, Barcelona und Bilbao. Und zuletzt über Andorra, Monaco und Zürich zurück nach Hanau. Er war wieder zur Schule gegangen, hatte wieder Kontakt zu seiner langjährigen Freundin Tamara aufgenommen, von der er sich ein halbes Jahr zuvor getrennt hatte, und sich, so wie er es viele Male zuvor auch schon getan hatte, mit Freunden zum gemeinsamen Musikhören getroffen und mit ihnen Bier getrunken und Gras geraucht. Alles schien den alten Gesetzen zu folgen. Trotzdem war sein Leben nicht mehr das gleiche wie zuvor. Denn es war ein Leben ohne Pawel.

I

1991

Der Vorfall lag mittlerweile zwei Wochen zurück. Richard Warlo hätte wohl nicht mehr daran gedacht, hätte nicht am Morgen ein Schreiben des Polizeipräsidiums Köln in seinem Briefkasten gelegen.

Warlo war auf dem Rückweg von seinem Büro im Zoologischen Garten in die Südstadt in eine abendliche Verkehrskontrolle geraten, und beim Vorzeigen seines Führerscheins war dem Polizeibeamten aufgefallen, dass er seinen Schweizer Führerausweis, welchen ihm der Kanton Zürich im Oktober 1988 ausgestellt hatte, noch nicht wieder in einen deutschen Führerschein hatte umschreiben lassen. Die Folge war eine Anzeige »wegen Fahrens ohne gültige Fahrerlaubnis« gewesen, die ihm nun zugestellt worden war. Das Schreiben enthielt neben der Auflistung der ihm zur Last gelegten Vergehen einen sogenannten »Äußerungsbogen Beschuldigter«, auf dem er innerhalb von 14 Tagen zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen Stellung nehmen sollte.

Warlo, der seit zwei Jahren die entomologische Abteilung des Kölner Zoos, das Insektarium in der Riehler Straße, leitete und neben seinen Spezialkenntnissen über Schmetterlinge und Käfer vor allem als Fachmann für Vogelspinnen galt, war im Jahr 1988, damals noch wissenschaftlicher Mitarbeiter, elf Monate lang im Austausch für einen Schweizer Kollegen am Zoologischen Institut am Oberstrass in Zürich Teil der fünfköpfigen Forschungsgruppe Entomologische Beobachtungen zum Thema Wanderfalter in der Schweiz gewesen. Nach seiner Rückkehr nach Köln hatte er den lästigen Gang zur Führerscheinstelle so lange hinausgeschoben, bis er ihn schließlich vergaß.

Aus einem Telefonat mit dem Polizeipräsidium hatte er nun erfahren, dass ihn zwar ein Bußgeld erwarte, er sich aber durch eine rasche Umschreibung seines Führerscheins größeren Ärger ersparen konnte. Doch dazu benötigte Warlo seinen alten grauen Führerschein, der ihm in Hanau ausgestellt worden war. Warlo vermutete den Ausweis in einer der Kisten, die er nach dem Tod seiner Großmutter Vera in deren Wohnung gepackt und mit eigenen Dokumenten und Papieren aufgefüllt anschließend bei sich im Keller abgestellt hatte.

Er hatte bereits vier Kisten erfolglos durchsucht, als er im fünften und letzten Umzugskarton auf eine alte Pralinenschachtel stieß. Er setzte sich auf eine Kiste, löste im schwachen Licht, das durch das vergitterte kleine Kellerfenster hereindrang, die über Kreuz befestigten spröden Einmachgummis und öffnete die Schachtel.

Zwischen vergilbten Postkarten, Urkunden und Quittungen kam ein Packen zwar leicht gebräunter, aber gestochen scharfer Schwarz-Weiß-Aufnahmen zum Vorschein, die eindeutig seinen vor 10 Jahren verstorbenen polnischen Ziehvater Pawel Król zeigten, als jungen Mann in einer grauen NS-Uniform. Wie er später herausfand, handelte es sich dabei um die sogenannte Feldbluse 40/41 der SS.

Warlos spontanen Berechnungen zufolge konnte Pawel zum Zeitpunkt der Aufnahmen höchstens 19 Jahre alt gewesen sein. Er posierte auf den Fotos in den verschiedenen Haltungen eines Mannes, der sich seiner Rolle und der Wirkung, die er mit seinem Auftreten und seiner Bekleidung erzielt, bewusst zu sein schien. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch das Entschlossene seines Blicks, das einen selbst beim flüchtigen Betrachten der Fotografien unweigerlich ansprang.

Aber wer hatte die Schachtel zwischen seinen Sachen versteckt? Wann? Und vor allem weshalb, statt sie samt ihrem Inhalt kurzerhand zu vernichten? Oder hatten der- oder diejenige, seine Großmutter Vera vielleicht, womöglich gewollt, dass er sie eines Tages fand?

Alles in ihm sträubte sich dagegen, das Offensichtliche anzuerkennen. Pawel ein Nazi? Ein Mitglied der, das hatte er im Brockhaus nachgelesen, am 4. April 1925 als Saalschutz der NSDAP von Adolf Hitler höchstpersönlich gegründeten und sogenannten SchutzstaffelSS?

Warlo spielte kurz mit dem Gedanken, die Schachtel mitsamt ihrem Inhalt unten im Hof zu verbrennen, entschied sich dann aber dagegen (was er später mehr als einmal bereute). Das unverhohlene Lächeln, das auf den Bildern auf Pawels Lippen lag, machte ihn wütend. Als könne der Fotografierte rückblickend nur schmunzeln über die Naivität seines Zöglings und als wolle er sagen:

Was hast du denn gedacht, du Dummkopf? Dass ich mich tatenlos auf die Seite der Opfer stelle und mich gemeinsam mit ihnen töten lasse wie wehrloses dummes Schlachtvieh? Aus Liebe zu meinem ach so liebenswerten Volk? Ja? Hast du das gedacht? Oder dass ich so tue, als ginge mich das alles nichts an? Nein, ich habe andere, höhere Ziele! Denn ob du’s glaubst oder nicht: Ich glaube an Werte wie Tapferkeit und soldatische Stärke! Außerdem habe ich es immer gehasst, bloß ein »Polacke« zu sein, ein Mensch zweiter Klasse, in dessen Wesen es begründet ist, Befehle entgegenzunehmen statt sie anzuordnen. Nein. Mein Platz soll am Ende bei den Siegern sein. Und nicht auf der Seite der Verlierer …

Hinter den Fenstern seines Wohnzimmers lastete ein steingrauer Himmel über den Dächern der Kölner Südstadt, und der Wandkalender mit den historischen Falterdarstellungen von Maria Sibylla Merian zeigte als Datum Montag, den 4. Februar 1991.

Warlo starrte lange reglos auf die auf dem Deckel der Pralinenschachtel abgebildete, von den Gummis in vier Teile zerschnittene Rose. Irgendwann löste sich sein Blick von der stilisierten Blüte, glitt hinüber zu dem Schwarz-Weiß-Foto an der Korkpinnwand, das er mit seiner alten Contaflex wenige Monate vor dessen Tod von Pawel gemacht hatte. Schmal, mit spitzen, kantig gewordenen Gesichtszügen lächelte Pawel müde in die Kamera. Die Anstrengungen, die es ihn damals gekostet haben mochte, zu leben, waren ihm deutlich anzusehen.

Warlo versuchte vergeblich, den erschöpften Eindruck, den Pawel auf dem Bild machte, mit jenem in Einklang zu bringen, den er als junger Mann auf den Fotos in der Pralinenschachtel machte.

Mit Blick auf die in der hereinbrechenden Dämmerung langsam verschwimmenden Konturen der Rose auf der Pralinenschachtel fasste er einen Entschluss.

Marcin Król schob die Brille aus der Stirn hinunter auf die Nase, beugte sich über die Maschine, bewegte den Walzendrehknopf und versuchte angestrengt, das bislang Geschriebene zu entziffern.

Natürlich wusste er, was dort auf dem Papier stand. Schließlich feilte er seit Stunden an den ersten, alles entscheidenden Sätzen. Genau wie dieser Dummkopf Rambert in Albert Camus’ Roman Die Pest, der nicht über den ersten Satz seines geplanten Romans hinauskam, weil er ihn immer wieder umformulierte. Doch wenn er die ersten Sätze erst einmal hatte, kam alles andere (das war in all den Jahren, die er schrieb, stets so gewesen) wie von selbst.

»Man wütet, bis es eine Form hat«, ging es ihm halblaut über die Lippen. Er kniff die Lider zusammen. Doch trotz der neuen und deutlich stärkeren Gläser konnte er das Geschriebene nicht entziffern.

Gleich morgen würde er zum Optiker gehen und die Brille, die er am Morgen abgeholt hatte, zurückbringen. Ihm war, als tanzten die winzigen Buchstaben unter seinem verschwommenen Blick unkontrollierbar auf und ab, wie die an einer Schnur befestigten, im Wind flatternden Schleifen am Schwanz eines Drachen. Jeder Versuch, sie sekundenlang zu fixieren, damit sie sich zu Worten organisierten, die zusammen genommen einen Sinn ergaben, misslang. Irgendetwas stimmte mit den Gläsern nicht. Alles, was er ins Auge zu fassen versuchte, rückte in weite Ferne, als blickte er durch ein umgedrehtes Fernglas. Als zöge die Welt sich von ihm zurück.

Nein, so wurde das nichts!

Verärgert nahm er die Brille ab und legte sie neben die Maschine, griff nach dem Cognacschwenker mit dem bernsteinfarbenen Inhalt und überlegte, wo er seine alte Ersatzbrille hingetan hatte. Und wo waren eigentlich die Zigaretten?

Teuren schottischen Whiskey aus einem Cognacschwenker zu trinken war nicht gerade die feine Art. Doch was spielte das schon für eine Rolle? Was zählte, war alleine sein kräftiger, unverwechselbarer Geschmack! Marcin liebte dieses unvergleichliche Aroma aus Torf und gemälzter schottischer Gerste.

Am Morgen waren zwei druckfrische Exemplare seiner letzten Arbeit mit der Post gekommen: Das aufregende Leben des Erfolgsschriftstellers Wojciech Klos – Folge 54. Wie immer 64 Seiten lang, klammergeheftet und auf billigem, grobkörnigem grauen Papier in einer Auflage von 15 000 Stück gedruckt.

Seit fast sechs Jahren verfasste Marcin für den Kattowitzer Tryumf Verlag Episoden aus dem Alltag des vom Leben verwöhnten Erfolgsschriftstellers Klos. Zehn Folgen pro Jahr. Zweitausend Złoty pro Episode. Und weil der Verlag immer neue Fortsetzungen bei ihm in Auftrag gab, lieferte Marcin. Ob bei Hitze und Sonnenschein oder Schnee und Eis: Inzwischen gingen ihm die Sätze ziemlich reibungslos von der Hand. Und weil er alleine mit dem, was er abends im Bowlingcenter am Stadtrand von Sosnowiec verdiente, nicht über die Runden kam, hieb Marcin seine mageren Einfälle weiter notgedrungen in die inzwischen ziemlich schwergängigen mechanischen Tasten seiner alten orangeroten IBM 67.

»Du führst dich auf wie einer dieser Angeber, die sich Künstler nennen und so tun, als wüssten sie mehr und besser Bescheid über das Leben als andere«, hatte Lucyna einmal abfällig mit Blick auf seine Heftchenschreiberei und sein manisches Verschlingen irgendwelcher Bücher mit deprimierenden oder unaussprechlichen Titeln bemerkt. Daran musste Marcin plötzlich wieder denken. Tatsächlich hatte er eine Zeitlang alles verschlungen, was er an Lesbarem in die Finger bekam, hinterher aber wiederholt das Gefühl gehabt, viel mehr zu wissen, aber trotzdem nichts zu können. Sich mit Bildung vollgestopft zu haben, ohne dadurch glücklicher geworden zu sein.

Er spähte missmutig nach draußen, in dieses trostlose milchige Winterlicht, das einem das Gefühl gab, durch eine beschlagene Fensterscheibe zu blicken. Alles Leben schien sich aus den Straßen zurückgezogen zu haben.

Er leerte das Glas, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und kratzte sich nachdenklich den Bauch, über dem das T-Shirt spannte. Wie er diese Auftragsschreiberei inzwischen hasste! Dabei hatte es einmal eine Zeit gegeben, ganz zu Beginn seiner anfangs vielversprechenden Lohnschreiberei (damals hatte er noch regelmäßig für die in Krakau erscheinenden Blätter Gazeta Krakowska und Dziennik Polski über die lokale Kulturszene Berichte verfasst), da hatte er sich, von ein paar Schulterklopfern dazu verleitet, tatsächlich einzureden versucht, talentiert zu sein. Er hatte davon geträumt, es bis nach Warschau in eine der großen Zeitungen zu schaffen, zur Gazeta Wyborcza zum Beispiel oder der Rzeczpospolita. Als Kolumnist oder Glossenschreiber vielleicht, vor dem man ehrfurchtsvoll den Hut zog, wenn man ihm auf Warschaus weitläufiger Prachtstraße, der Krakowskie Przedmiescie, begegnete. Doch das war lange her, und seine damaligen Karrierepläne (die mit einer folgenschweren Rangelei mit seinem damaligen Redaktionsleiter endeten) erschienen Marcin im Rückblick inzwischen ebenso idiotisch wie das, was er da seit Stunden erfolglos zu Papier zu bringen versuchte.

Marcins gelangweilter Blick glitt kurz über den schlaff in der Maschine eingespannten grauen Bogen, flog wie ein Gleitschirmflieger, der durch Nebelschwaden hindurch einem diffus grün leuchtenden Talgrund entgegenschwebt, darüber hinweg und hinunter auf den fleckigen kiesgrauen Sisalboden. Von dort bog er in einer scharfen Linkskurve weiter zum kleinen, in die Wand gedübelten Bücherregal ab, in dem sich neben den Büchern von Gombrowicz, Czeslaw Milosz, Zygmunt Haupt, Tadeusz Borowski (seine fabelhaften Erzählungen Die steinerne Welt) und einem Dutzend schief gelesener amerikanischer Kriminalromane sowie einer Handvoll Bücher zum Thema »Whisky« (darunter Michael Jacksons Whisky-Guide und Brian Murphys legendäres The World Book of Whisky) sämtliche bislang erschienene Wojciech-Klos-Heftchen (häufig in doppelter oder sogar dreifacher Ausführung!) befanden, und verharrte schließlich dort. Doch weshalb eigentlich? Was suchte er dort? Inspiration? Bei seinen eigenen, im Grunde mehr als zweifelhaften Ergüssen? Schon im nächsten Moment löste sich sein Blick von den Heftchen und sprang ruckartig hinüber in die Diele, weil seine Klingel ertönte.

Ein heftiger Adrenalinstoß durchfuhr ihn, denn wie es aussah, beehrte Rosa, seine geheimnisvolleRosa, sein Täubchen, ihn wieder einmal mit einem ihrer Überraschungsbesuche.

Wie ein Geist oder eine flüchtige, ungreifbare Phantasmagorie schwebte sie immer wieder unangekündigt in sein Leben, blieb eine viel zu kurze Nacht und verschwand danach auf ebenso geheimnisvolle Weise und ohne zu erklären, was das alles zu bedeuten hatte. Das Einzige, was sie ihm beim Abschied jedes Mal hinterließ, war der kühle Hauch ihrer Lippen auf seiner Stirn. Er wusste nicht einmal, ob ihr Name Rosa, der ihm gefiel und etymologisch betrachtet so viel bedeutete wie die Positive oder die Unrealistische, tatsächlich ihr richtiger Name war. Und er hatte keine Ahnung, wohin sie ging, wenn sie verschwand, oder womit sie ihr Leben zubrachte. In der Regel vergingen Wochen, ehe sie wieder auftauchte, sodass Marcin irgendwann aufgehört hatte, auf sie zu warten.

Hastig eilte er in die dunkle Diele, drückte den Haustüröffner, öffnete die Wohnungstür und spähte in den dunklen Flur, wo jeden Moment das fahle Deckenlicht angehen musste. Er fühlte sein Herz bis zum Hals hinauf schlagen.

Sie hatten das alte, schwere und noch gut erhaltene Biedermeier-Kirschholzbett, das ihre Mutter ihr vermacht hatte, aus dem Keller heraufgeholt und sauber gemacht und ins Wohnzimmer gestellt. Der Couchtisch war neben das Bett gerückt und zu einem großen Nachttisch umfunktioniert worden. Alles Notwendige befand sich in ihrer Reichweite: das Schnur-Telefon, ihre Schmerzmittel, Taschentücher, Wasser und die Fernbedienung für den Fernseher am Fußende ihres Bettes.

Ihre letzten Tage würde Oliwia hinter blickdichten seidigen Gardinen verbringen, die dem hereindringenden Licht seine Härte nahmen und es auf eine Weise filterten, die ihren neuerdings stark brennenden Augen angenehm war. Und, darauf hatte sie bestanden: in ihren eigenen vier Wänden! Das für sie vorgesehene Hospiz-Zimmer war an den nächsten in der traurigen Schlange derer übergegangen, die diesen Ort nicht mehr lebend verlassen würden.

Auf dem Nachttisch stand eine Aluminiumschale mit Resten einer vertrockneten Mahlzeit (Kartoffelpüree? Grießbrei? Oder schlimmer: erwärmter Naturjoghurt?). Daneben lag die Tabelle mit den stündlich darin vermerkten Kontrollwerten ihres Zuckerspiegels.

»Ich will zuhause sterben, hört ihr, nicht in so einem trostlosen Hospiz!«, hatte Oliwia von der Krankheit geschwächt mit leiser, aber energischer Stimme zu ihrem Sohn Marcin und ihrer zwei Jahre jüngeren Tochter Lucyna gesagt. »Und wenn ihr mich wirklich liebt, dann werdet ihr mir diesen letzten Wunsch nicht abschlagen!«

Widerwillig hatten Marcin und Lucyna ihrem Wunsch entsprochen, obwohl beide unabhängig voneinander der Meinung gewesen waren, dass sie im Hospiz (wo man sie durchaus liebevoll und ihrem Zustand angemessen umsorgte) besser aufgehoben gewesen wäre. Nachdem das Bett an dem von ihr gewünschten Platz stand, hatte Marcin Oliwia ihr Lager wunschgemäß hergerichtet. Er hatte den Fernseher ans Bett gestellt und war auf dem Boden herumgekrochen um diverse Verlängerungskabel miteinander zu verbinden, damit die Kiste lief. Zuletzt hatte er den schweren Couchtisch herangeschoben und anschließend so stark geschwitzt, dass er sich für die 115 Kilogramm, die er auf den Knochen trug, selbst verfluchte.

Vom Husten geschüttelt hatte Oliwia in der Nacht kaum ein Auge zugemacht. Ihre Wangen und ihre Augen waren in dunkle Höhlen abgesunken, und das seit der letzten Therapie nur zögerlich wieder nachgewachsene aschgraue Haar war strohig.

Die Frau, die hier lag und trotz permanent juckender Haut geduldig auf ihren Tod wartete, hatte nicht mehr wirklich mit der Person auf den Fotos zu tun, die oben in ihrem eigentlichen Schlafzimmer gerahmt und in großer Zahl auf der Frisierkommode standen. Einer vitalen, lebensbejahenden Frau, die gerne, zuletzt als Angestellte in einer Umzugsspedition, gearbeitet, und die noch Wünsche an ihr Leben gehabt hatte.

Es waren Bilder eines im Grunde gar nicht so fernen Lebens, das ihr inzwischen aber wie geträumt oder als das einer anderen Person erschien: das Leben einer Frau, an die sie sich nur noch bruchstückhaft erinnerte, in Gestalt ab und an flüchtig durch ihr zunehmend trüberes Bewusstsein wirbelnder Bilder. Nur wer sie früher einmal gekannt hatte, mochte in dem von der Gelbsucht mit einem schmutzigen gelblich grauen Farbton überzogenen Gesicht der Sterbenden letzte Reste von Ähnlichkeit mit jener Frau feststellen, die auf den Fotos zu sehen war.

Über die Mattscheibe des den ganzen Tag laufenden, aber zumeist stumm geschalteten Fernsehers flimmerte der Abspann der eben zu Ende gegangenen Folge der Kindersendung Das Geheimnis des Sagala. Oliwia hatte die Geschichten um den 10-jährigen Kuba eigentlich immer gemocht und sich in dessen von Geldsorgen geplagter Mutter, die ohne ihren Mann lebte, weil der ins Ausland gegangen war, um Arbeit zu suchen, jedes Mal ein stückweit selbst zu sehen gemeint, wenn sie zufällig beim Umschalten in eine Folge hineingeriet. Denn waren deren Sorgen nicht einmal auch ihre eigenen gewesen, damals, als Pawel plötzlich verschwand und sie auf sich alleine gestellt war? Mit zwei kleinen Kindern.

Sie spürte, wie sich im Oberbauch und in ihrer knochigen Brust mit einer Folge leichter Stiche (den typischen Anzeichen ihrer Erkrankung) ein neuerlicher Krampf ankündigte. Mühevoll richtete sie sich in Erwartung der schmerzhaften Attacke auf. Dann folgte der kurze Anfall, sie krümmte und schüttelte sich.

Oliwia zog ein zerknittertes lindgrünes Papiertuch aus der Tasche ihres Pyjamas, hielt es sich vor den feucht glänzenden Mund und spuckte den klebrigen, klumpigen Schleim hinein.

Manchmal hatte sie nach einer Schmerzattacke das Gefühl, spüren zu können, wie ihr Körpergewicht sich jeweils um ein paar Gramm verringerte. Wie alles eine Spur leichter wurde und das Leben in kleinen Mengen aus ihr herausfloss wie Wasser aus einer undichten Schale.

Wenn die Prognosen der Ärzte stimmten, blieben ihr höchstens noch ein paar Wochen, vielleicht ein Monat. Doch was brächte ihr ein solcher Monat? Tage, die ungenutzt im steten Wechsel von Hell und Dunkel verstrichen und die sie damit zubrächte, wie festgenagelt auf dem Rücken liegend immer schlechter atmen und sich bald nur noch mithilfe anderer aufrichten oder von einer Seite auf die andere drehen zu können? Am Ende würde sie nicht einmal mehr in der Lage sein, die Fernbedienung anzuheben, weil sich ihr Körpergewicht auf das einer Sechsjährigen reduziert haben würde und ihr schlicht die Kraft dazu fehlte. Alles in allem keine schönen Aussichten. Dazu eine schlaffe, sich wie rissiges Pergamentpapier anfühlende Haut. Augen, so wässrig und gelb wie bei einer starken Bindehautentzündung. Und ein wund gelegener Rücken. Von den dann hoffentlich mit immer stärkeren Medikamenten halbwegs in Schach gehaltenen Schmerzen im ganzen Körper ganz zu schweigen.

Als Oliwia das ganze Ausmaß ihrer Krebserkrankung bewusst geworden war, hatte sie begonnen sich auszumalen, wie das Leben der anderen ohne sie, nach ihrem Tod, aussehen würde. Wie sie langsam aus deren Erinnerung verschwände. Bis man sie irgendwann vergessen hätte. Wie jemanden, den man aus Fotos herausgeschnitten hatte.

Doch wenn sie jetzt an ihr Verschwinden dachte, stellte sie sich ihre Seele als einen dieser in einen wolkenlos blauen Himmel aufsteigenden weißen Lampions vor, die sie kürzlich im Fernsehen gesehen hatte: einen hellen, kniehohen Papierkegel, in dessen Innern eine Kerze flackerte, die ihre Seele verkörperte und die befreit von allen irdischen Lasten so lange unwiderstehlich in die Atmosphäre aufstieg, bis sie sich darin auflöste und verschwand.

Der Anblick des aufsteigenden Lampions hatte sie seltsam beglückt und anschließend tagelang nicht losgelassen. Als Lucyna sie fragte, welche Wünsche sie für die ihr verbleibende Zeit noch hätte, hatte sie spontan geantwortet: »Dass am Tag meines Todes die Sonne scheint und der Himmel wolkenlos blau ist.«

Sie stand in der Damentoilette vor dem Waschbecken und zog mit Blick in den Spiegel ihren Lippenstift nach. Anschließend schob sie ihr Gesicht näher an die silbrige Fläche heran, presste kurz die weinroten Lippen aufeinander, fixierte sie prüfend und schraubte den Stift zu.

Spielerisch zupfte sie da und dort eigensinnig aus ihrer am Morgen akribisch mit der Warmluftbürste fixierten Frisur hervorstehende Locken straff, die sogleich folgsam in ihre alte Form zurücksprangen, und ließ den Lippenstift in ihre offen auf dem Beckenrand stehende Handtasche gleiten. Zuletzt frischte sie ihr verblasstes Make-up auf.

Lucyna rief sich die Art, mit der Bartosz Novak sie wieder angesehen und ihr dabei verschwörerisch zugezwinkert hatte, in Erinnerung, als er ihr auf dem Flur, der ihre Büros miteinander verband, entgegenkam. Sie war auf dem Weg zum Fotokopierer gewesen. Seit Wochen sah er sie an, als bestehe zwischen ihnen eine wie auch immer geartete Verbindung. Oder als teilten sie ein Geheimnis. Dabei hegte sie nicht das geringste Interesse für ihn. Ihre Kollegin Elena dagegen schwärmte regelrecht für Bartosz Novak. Bei jeder Gelegenheit hielt sie flammende Reden auf den zugegebenermaßen recht gut aussehenden Kollegen aus der Werbeabteilung. Trotzdem entsprach Novak nicht einmal ansatzweise Lucynas Vorstellungen von einem Mann, der für sie infrage kam.

»Du bist einfach zu wählerisch!«, hatte ihre Mutter Oliwia kürzlich erwidert, als Lucyna ihr in einem Moment der Schwäche dummerweise offenbarte, wie sehr sie das Alleinsein satthabe. Lucyna hatte die Worte ihrer Mutter mit einem gespielten Augenrollen quittiert und rasch das Thema gewechselt. Denn was spielte ihre Situation als alleine lebende und alleinerziehende Frau und Mutter dabei für eine Rolle? Sie war gesund, soweit sie das beurteilen konnte, hatte einen guten Job und ihren fünfzehnjährigen Sohn Kamil, der ihr ganzes Glück bedeutete. Und obwohl sie bereits einundfünfzig war, zog sie noch genau wie damals mit fünfundzwanzig die Blicke der Männer auf sich.

Seit der Trennung von Kamils Vater lebte Lucyna ohne feste Beziehung. Es lag nicht an mangelnden Angeboten, dass sie abends alleine unter die Bettdecke kroch, sondern daran, dass Lucyna die Vorstellung abschreckte, womöglich noch einmal an einen Mann zu geraten, der sich genau wie Kamils Vater Franek, der sich als schlecht bezahlter Studiomusiker durchschlug, als ein Mensch entpuppte, der in dem meisten, was er tat oder entschied, nur sich selbst und seinen Vorteil sah.

Lucyna hatte eine Handvoll längerer Beziehungen geführt, die allesamt daran gescheitert waren, dass ihr wiederkehrendes Verlangen nach Abstand und zeitweisem Rückzug nicht dauerhaft mit dem Verlangen der Männer nach anhaltender Nähe vereinbar gewesen war.

Lucyna erklärte sich ihre wiederkehrenden inneren Abbrüche, unter denen sie selbst am meisten litt und die jedes Mal aufs Neue früher oder später zu Verstimmungen und schließlich zur Trennung von ihren jeweiligen Partnern geführt hatten, damit, dass sie bereits als Kind hatte lernen müssen, ohne ihren Vater auszukommen, der seine junge Frau angeblich wegen einer anderen in Richtung Deutschland verlassen hatte. Ihre Mutter hatte anschließend nicht wieder geheiratet, sodass Lucyna und ihr älterer Bruder Marcin vaterlos aufgewachsen waren, schutzlos den Launen der Mutter ausgesetzt.

Es waren schwankende Empfindungen, die Lucinas Leben seit jeher bestimmten, eine ihr selbst unerklärliche Wankelmütigkeit, sie konnte sich heute beglückt und frei neben einem Mann fühlen, aber schon am nächsten Tag den Eindruck haben, von einer Eisschicht überzogen zu sein, nichts als Kälte zu empfinden. Regelmäßig war sie an eine unsichtbare Grenze geraten, an der sie sich wie erstarrt fühlte, hilflos und unfähig, den wiederkehrenden Mechanismus ihrer sich mitunter jäh wandelnden Emotionen zu durchbrechen.

Am Ende hatten Franek und sie mehr oder weniger unverbindlich nebeneinanderher gelebt. Auch der Sex, der sie einmal auf magische Weise über alle existierenden Schwierigkeiten hinweg miteinander verbunden hatte, hatte für Lucyna seinen Zauber verloren. So forderte sie ihn schließlich eines Tages auf, aus der lange Zeit gemeinsamen, auf ihren Namen gemieteten Wohnung auszuziehen und seinen Namenszug von dem Schild neben dem Klingelknopf zu entfernen.

Lucyna griff nach ihrer Handtasche, warf einen letzten prüfenden Blick in die Spiegel und lief zurück in ihr bescheidenes, aber freundliches 15-Quadratmeter-Büro.

Vor ihr auf dem Schreibtisch lag ein in der ihr vertrauten, flüchtig hingeworfenen und sich störrisch nach rechts neigenden Handschrift adressierter, mit der Hauspost zu ihr gelangter Briefumschlag. Der Brief war von ihrem Bruder Marcin, der es sich irgendwann angewöhnt hatte, ihr nicht etwa nachhause, sondern (weshalb eigentlich?) in die Firma zu schreiben. In seinem gerade mal ein Viertel der Seite bedeckenden Schreiben bat er sie wieder (das wievielte Mal eigentlich?) um Geld.

Viel interessanter aber erschien ihr der am Rand ihrer Schreibunterlage klebende gelbe Zettel mit der schön geschwungenen Schrift. Gespannt überflog sie die zwei darauf hinterlassenen, jeweils mit einem Fragezeichen versehenen Sätze.

Warlo nahm den seit Monaten verstaubt auf dem Kleiderschrank liegenden schwarzen Hartschalenkoffer herunter, wischte ihn flüchtig mit einem Tuch ab und legte ihn offen auf sein Bett.

Sein Entschluss stand fest, auch wenn er schnell und ohne lange zu überlegen zustande gekommen war: Er würde nach Polen reisen. In nicht mehr ganz vierundzwanzig Stunden. Um herauszufinden, was hinter den Fotos steckte. Lange hatte er, was Pawels eigentliche Geschichte betraf, im Zustand glückseliger Ahnungslosigkeit gelebt und geglaubt, so ziemlich alles über ihn zu wissen. Diesen Zustand gab es nun nicht mehr.

Es hatte begonnen wie die Geschichte von dem Staubkorn, das einem ins Auge flog und sich darin festsetzte, und spontan eine winzige und nervige, aber zweifellos vorübergehende Irritation erzeugte, die man durch kräftiges Reiben mit dem Finger spielend zu beheben versuchte. Bis die Irritation sich in ein anhaltendes Brennen auswuchs, weil alles Reiben nichts half, und zu einem kleinen, widerlichen Dauerschmerz wurde, der, als das Auge vom Reiben und Brennen schließlich dick geschwollen war, einen Gang zum Arzt unumgänglich machte. Und den es abzustellen galt.

So weit, das sagte Warlo sich mit dem Koffer in der Hand, werde ich es nicht kommen lassen, dass die Bilder mich quälen, sondern ihnen beherzt auf den Grund gehen. Er würde mit dem Zug nach Polen, nach Sosnowiec fahren. Das Ticket lag auf dem Tisch neben seinem Pass und dem Reiseführer, den er gekauft hatte. Und auch das Zimmer hatte er bereits telefonisch gebucht. Er hatte sich für das erstbeste Hotel namens Orion entschieden.

Das Wort Orion kam aus dem Altgriechischen und bezeichnete sowohl den Namen einer Sagengestalt, eines Jägers, als auch ein Sternenbild auf dem Himmelsäquator. Vielleicht war das ja ein gutes Zeichen, und die Sterne über Polen zeigten sich ihm gewogen. Bei der Vorstellung, was ihn dort womöglich erwartete, hatte Warlo das irritierende Gefühl, dass plötzlich ein wichtiger Teil der Vergangenheit unrettbar von ihm abgefallen war, ohne dass die Zukunft bereits begonnen hatte. Oder auch nur in Ansätzen erkennbar gewesen wäre. Die Zeit stockte, wie sie es nie zuvor in seinem Leben getan hatte, schien ab sofort für eine unbestimmte Dauer den Atem anzuhalten.

Ja, er würde zu einem Jäger werden, dem Jäger Orion, der die Wahrheit ans Licht bringen würde. Die geheime Geschichte hinter den Bildern von Pawel.

In dem Roman eines Italieners, der seit Wochen auf seinem Nachttisch lag, hieß es, der Mensch habe keinen Überblick über sein Leben, weder nach vorn noch nach hinten. Wenn etwas gut gegangen sei, hätte er einfach nur Glück gehabt. Warlo hatte die Sätze damals mit Bleistift unterstrichen. Nun, da er begann, halbwegs systematisch Kleidungsstücke in den offen auf dem Bett stehenden Koffer zu legen, fielen sie ihm wieder ein. Glück konnte er wahrlich gebrauchen auf seiner Reise zurück in die Vergangenheit, die ihn möglicherweise in das dunkelste Kapitel im Leben Pawel Króls führen könnte. Aber vielleicht hatte er ja tatsächlich Glück, und für die Fotografien fand sich eine halbwegs akzeptable Erklärung?

Warlo fühlte plötzlich eine dumpfe Angst in sich aufsteigen. Denn wer kannte schon die wahren Gründe eines anderen dafür, warum er etwas einst getan hatte und es anschließend verheimlichte?

Bereits beim ersten ungläubigen Betrachten der Fotos, die Pawel als SS-Uniformierten zeigten, hatte Warlo gespürt, dass deren unselige Existenz gleichbedeutend war mit der Frage, wer die Person hinter der Person war, die ihn einst wie einen Sohn erzog, die mit ihm auf der Suche nach seltenen Schmetterlingen durch ganz Europa gondelte, im Herbst einzigartige Sperrholzdrachen für ihn baute und ihm nachts die Beine geduldig mit Jod Vasogen einrieb, wenn er als Sechsjähriger vor Wachstumsschmerzen schrie? Welches schreckliche Geheimnis hatte Pawel Król mit ins Grab zu nehmen geglaubt, als er starb?

Irgendwo hatte Warlo gelesen, dass sich lebensverändernde Wahrheiten manchmal entgegen allen Erwartungen nicht etwa dramatisch, sondern meist in größtmöglicher Stille offenbarten. Vielleicht lief die ihm nun unausweichlich bevorstehende Reise ja auf einen solchen Moment alles verändernder Stille hinaus? Auf einen Augenblick, der schlagartig alles Gewesene aufs Dramatischste infrage stellte, lautlos, und doch mit entsetzlicher, alles zersetzender Wucht.

Warlo stellte sich vor, wie er nach beschwerlicher, weil von wiederkehrenden Kontrollen geprägter Reise endlich in Sosnowiec herumlief, Ämter aufsuchte und nach Spuren oder Hinweisen in Archiven oder Verzeichnissen forschte, die ihn zu jener Person führten, die, so viel hatte er aus zwei Telefonaten mit einer Mitarbeiterin des Hanauer Stadtarchivs erfahren, ihre Heimat Ende März 1943 über Wien in Richtung Hanau verlassen hatte, knapp 14 Tage, nachdem das von der Widerstandsgruppe um Oberst Henning von Tresckow geplante Bombenattentat auf Hitler scheiterte. Ihren Unterlagen zufolge war Pawel Król im Januar 1981 in Hanau verstorben. Doch würde er, wenn er in Polen an den entsprechenden Stellen seine Fragen vortrug und die mitgebrachten Fotos vorlegte, überhaupt Gehör finden? Und was war mit dem leiblichen Sohn, von dem Pawel ihm erzählt und dem er immer wieder Pakete nach Sosnowitz geschickt hatte? Oder dessen Mutter, Pawels Frau Oliwia, von welcher er, das jedenfalls besagten die Unterlagen des Stadtarchivs, nie geschieden worden war? Waren beide überhaupt noch am Leben? Wenn es sie zehn Jahre nach Pawels Tod noch gab: Sie waren es, die er finden musste!

Die Spur ihrer verstreut am Boden liegenden Kleidungsstücke führte ins Bad. Marcin bückte sich und sammelte sie ein, zuletzt ihren weinroten Schlüpfer. Er hielt ihn sich unter die Nase. Dabei schloss er die Augen, sog wieder und wieder dessen würzigen Geruch ein und spürte, wie sich die Härchen auf seinen Unterarmen aufstellten. Als ihm schwindelig davon zu werden begann, schlug er die Augen auf und ging in Richtung Badezimmer.

Er schob die Tür auf, legte Rosas Kleider auf den Stuhl, der vor der Heizung stand, und setzte sich auf den Rand der Wanne. Sie sah ihn mit lässig hinter dem Kopf verschränkten Armen an und lächelte. Mit dem Blick einer dösenden Hündin.

An ihren vollen Brüsten, zwischen die er so gerne sein Gesicht bettete, klebten kleine, schneeweiße Badeschaumfetzen. Ebenso unter den Achseln, in denen sich dunkle Haare kräuselten. Der Rest ihres schweren, ausladenden Körpers war von dichten Schaumkissen verdeckt.

Rosa blies sich eine Strähne ihrer wasserstoffblond gefärbten Haare aus der hohen, von einer glänzenden Schweißschicht bedeckten Stirn, fixierte ihn mit ihren veilchenblauen Augen und sagte: »Na, gefalle ich dir?«

Er hätte sie fragen wollen, wo sie die vergangenen Wochen zugebracht hatte. Doch er wusste, dass er ihr solche Fragen nicht stellen durfte. Dieses Versprechen hatte sie ihm in ihrer ersten Nacht abgenommen. Stattdessen sagte er geradeheraus: »Ja!«, und tauchte in dem dichten Schaumteppich mit seiner Hand nach ihrem Bauch, den er so mochte. Schon nach ein paar Sekunden fing er so stark an zu schwitzen, dass die Gläser seiner Brille beschlugen. Außerdem bereitete es ihm Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Trotzdem wollte er nicht aufhören, seine Finger weiter langsam und beharrlich gegen den sachten Widerstand des warmen Wassers über ihren Unterleib gleiten zu lassen. Seinen rechten Fuß stemmte er gegen die Außenwand der Wanne, um sich auszubalancieren.

Marcin fragte sich, weshalb diese Frau, von der er bis auf ihren Namen und die Tatsache, dass sie wohl in einem Nachtclub arbeitete, so gar nichts wusste, immer wieder vor seiner Tür stand? Was suchte sie bei einem wie ihm, einem 53 Jahre alten, übergewichtigen Heftchenschreiber, der vier Mal pro Woche abends in einem Bowling-Center Getränke und kleine Snacks servierte, Tische abräumte und verschnürte schwarze Plastikmüllsäcke in die Container warf, um sich dadurch wenigstens halbwegs über Wasser zu halten. Denn ohne das Geld, das er sich obendrein immer wieder von seiner Schwester lieh, säße er längst auf der Straße! Außerdem war er nicht einmal ansatzweise das, was man als einen gut aussehenden Mann bezeichnete. Er war dick und kam schnell ins Schwitzen. Sein Haar war licht und von grauen Fäden durchzogen, seine Haut schuppig und bleich. Außerdem musste ihr die Art, wie er sich ihr gegenüber verhielt, ziemlich ungeschickt vorkommen. Trotzdem stand sie, seit sie sich vor etwa einem Dreivierteljahr in einem Café in Sielec kennengelernt hatten, immer wieder vor seiner Tür, gewährte ihm eine kurze, meist ziemlich abrupt endende Befriedigung und rollte sich anschließend neben ihm zusammen wie eine Bärin, die nicht mehr gestört werden wollte, ehe sie in der Morgendämmerung wortlos wieder verschwand.

Marcin suchte, während er seine Hand weiter beharrlich über ihren weichen Bauch gleiten ließ, ihr Gesicht nach irgendeinem Hinweis ab, der ihm sagte, dass ihr nicht unangenehm war, was er tat. Doch sie verzog keine Miene, sondern sah ihn auf ihre fast immer gleiche, gelangweilte Art an.

Er hob die Hand aus dem Wasser, nahm die Brille ab, klappte die Bügel ein und schob sie in die Brusttasche seines am Körper klebenden Hemdes. Dann wischte er sich flüchtig mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und nahm seinen kaffeebraunen Frotté-Bademantel vom Haken an der Tür.

Als sei dies das verabredete Zeichen, erhob Rosa sich schwungvoll aus dem Schaumbad, wandte Marcin den nassglänzenden Rücken zu und schlüpfte in das verwaschene Kleidungsstück, das er ihr wie ein Butler hinhielt. Zehn Minuten später lagen sie in dem alten Kirschholzdoppelbett, das einmal seinen Eltern gehört hatte, und lauschten der Musik, die aus dem billigen, tragbaren Sony-Kassettenrekorder drang, den Marcin kürzlich in Krakau in einem Laden für gebrauchte Elektronikgeräte gekauft hatte. Es liefen die Gymnopédies von Satie in einer neueren Interpretation von Håkon Austbö.

Marcin liebte Satie, genau wie er Chopin liebte oder die Préludes von Rachmaninov. Sein Vater hatte Saties Gymnopédie No. 1 gehört, wenn er, daran erinnerte Marcin sich, mit geschlossenen Augen im Sessel im Wohnzimmer saß, seinen Gedanken nachhing oder döste. Dann blieb Marcin jedes Mal so lange neben ihm stehen, bis die Schallplatte zu Ende war und sein Vater endlich die Augen wieder aufmachte und sich aus seiner Furcht einflößenden Starre zu lösen begann. Eine Zeitlang kamen Marcin regelmäßig die Tränen, wenn er später irgendwo zufällig die Gymnopédies hörte.

»Was ist das für eine Musik?«, hörte er Rosa sagen. Hinter den transparenten, nicht ganz zugezogenen Vorhängen fiel die Dämmerung in grauen Schleiern herab und verwandelte den gegenüberliegenden Park in eine trostlose Steppe, aus der die leeren Baumkronen aufragten wie Grabkreuze. Er roch das entfernt süßliche Parfüm, mit dem sie sich jedes Mal besprühte, bevor sie ihn zu sich ließ.

»Schön, oder?«, antwortete er mit einer Gegenfrage, ohne seinen Blick von dem kitschigen Ölgemälde zu lösen, das an der Wand hing. Es zeigte einen herzzerreißend dreinblickenden Clown, der einen viel zu kleinen Hut auf dem Kopf trug und eine gelbe Blume in der Hand hielt.

»Irgendwie traurig!«, sagte Rosa mit kühler Nüchternheit, und Marcin spürte, wie sie entschlossen mit ihrer Hand zwischen seine Schenkel tauchte.

»Traurig, aber schön!«, sagte er.

Im Arbeitszimmer läutete das Telefon. Ein trotz der Musik gut vernehmbarer Klingelton, der sich anhörte, als betätige jemand in kurzen Abständen eine Fahrradklingel.

»Verdammt!«, fluchte Marcin, machte aber zunächst keinerlei Anstalten, sich zu erheben. Und so hielt das Klingeln an, schrill und enervierend. Bis er das Geläute nicht länger ertrug und sich schwerfällig aufrichtete, ins Arbeitszimmer lief, nach dem Hörer angelte und ihn keuchend ans Ohr hielt.

»Hallo?«, rief er und nahm auf seinem Schreibtischstuhl Platz. Dabei glitt sein Blick über seine stark behaarten Oberschenkel runter zu seinen Füßen, deren Nägel sich über die Kuppen der Zehen wölbten wie braune, scharfe Krallen. Der Anrufer sprach Englisch. Er, der selbst nur ein paar Brocken davon kannte, Worte wie Yes, No, Hello, Football und Beer, glaubte sekundenlang, seinen eigenen Namen, Król, verstanden zu haben. Im Frageton formuliert.

Er wiederholte noch zweimal, und diesmal, wie er glaubte, mit englischer Betonung: »Hello? Hello?« Doch weil er nun nur noch das dürre Rauschen des Äthers vernahm, beförderte er den Hörer mit Schwung auf die Gabel und kehrte schnaubend ins Schlafzimmer zurück.

An ihrer Wange waren zwei Äderchen geplatzt, und ihre spröde gewordene bleiche Haut hatte rötliche kleine und zum Teil mit einer bräunlich gelben Kruste überzogene Risse bekommen wie bei sehr alten Menschen. Ein ausgetrocknetes Flussbett. Die Krankheit schritt unaufhaltsam weiter fort.

Manchmal fuhr sie sich prüfend mit den Fingern über die tiefer werdenden Furchen zwischen den Rippen. Dabei bildete sie sich ein, die Rippen seien Leitersprossen, die sie in Kürze hinauf in den Himmel führen würden.

Als sie die tödliche Diagnose Pankreaskrebs erhielt, hatte Oliwia sich spontan einen rostroten Taschenkrebs vorgestellt, der in ihrer Bauchhöhle saß und mit seinen messerscharfen Zangen nimmersatt kleine Fetzen aus ihrer Speicheldrüse riss.

Sie hielt das zusammengedrückte grüne Tuch in der linken Hand, mit der anderen drückte sie immer wieder den Programmwahlknopf der Fernbedienung, sodass im Sekundentakt wechselnde TV-Bilder über die leicht gewölbte Mattscheibe des stumm geschalteten Fernsehers huschten.

»Sie müssen sich ausruhen!«, sagte Alina, strich mit gespielter Sorge die Bettdecke auf Höhe ihrer Knie glatt und sah Oliwia streng an.

»Ausruhen kann ich, wenn ich tot bin!«, entgegnete Oliwia schnippisch. »Aber keine Angst, bald ist es ja so weit!«

Nein, sie mochte diese junge Frau nicht. Von der ersten Sekunde an. Nicht die affektierte und dabei herablassende Art, mit der sie sie ansah. Nicht, wie selbstverliebt sie sich an ihrem Bett sitzend die für eine Pflegekraft viel zu langen, geradezu krallenähnlichen Nägel feilte und dabei so tat, als erschaffe sie Kunst. Nicht ihre gespielte Besorgnis. Zudem konnte ihr beider Gegensatz nicht größer sein: auf der einen Seite eine alte sterbenskranke Frau, deren bakterienverseuchte kleine Wunden im Gesicht mit braunen oder eitergelben Krusten bedeckt waren. Auf der anderen das makellose, schön geschnittene Gesicht einer dümmlichen und offenbar ziemlich ahnungslosen Provinzschönheit, die mit jedem Atemzug das pralle Leben zu atmen schien und sich wahrscheinlich für unwiderstehlich hielt, mehr noch: für unsterblich.

»Dann lassen Sie mich wenigstens ihre Kissen aufschütteln!«, bat Alina und half Oliwia, sich im Bett aufzurichten.

»Ach Gott«, seufzte die Kranke unwillig und wippte dabei ein paarmal demonstrativ mit dem ausgezehrten Oberkörper vor und zurück. Dann ließ sie sich kraftlos zurück in die Kissen sinken, die ihren wunden Rücken stützten.

Für ein paar Sekunden legte sich eine Stille über den Raum, die aber sogleich vom Knirschen der Schaukelstuhlkufen auf dem hellen Laminatboden unterbrochen wurde. Denn Alina schaukelte ruhelos vor und zurück, während sie wieder in dem Buch zu lesen begann, das sie am Vortag mitgebracht hatte. Es trug den Titel ojcowie und war von einer gewissen Danielle Steel.

Oliwia ging das kurze Telefonat nach, das sie am Morgen geführt hatte. Jemand hatte angerufen. Ein Mann. Aus Deutschland. So viel hatte sie verstanden. Mehr aber auch nicht. Der Anrufer hatte Englisch oder so etwas Ähnliches gesprochen, und da sie kein Englisch sprach, hatte sie aufgelegt.

Trotzdem ließ sie das Telefonat nicht los. Denn ihr war, aber das konnte auch bloß ein Hirngespinst sein, als hätte aus dem unverständlichen Zeug, das der Mann geredet hatte, etwas für sie Bestimmtes zu ihr gesprochen. Und plötzlich dachte sie beklommen: Wir kennen von nichts die Bedeutung, wir kennen nur die Wörter, mit denen wir es beschreiben. Doch was ist, wenn wir diese Wörter nicht verstehen? Was geht uns dadurch möglicherweise für immer verloren?

Oliwia wollte diesen Gedanken nicht weiterverfolgen und kniff, als könnte sie ihm dadurch entfliehen, kurzerhand die Augen zu.

Lucyna zerdrückte den gelben Zettel in ihrer Hand zu einer kleinen, widerspenstigen Kugel und ließ sie unter ihrem Schreibtisch in den Papierkorb fallen.

Sie hatte kurz überlegt, ihrem Kollegen Bartosz Novak eine höfliche, aber bestimmte Absage auf seinen Vorschlag zu schicken, nach Feierabend gemeinsam auf ein Glas ins Paparazzi zu gehen, eine angesagte Bar im Zentrum von Sosnowiec, in der sich hauptsächlich Journalisten aufhielten, um die kursierenden lokalen Gerüchte bei einigen Gläsern Bier gemeinsam zu vertiefen. Doch die Vorstellung, dass er fortan etwas von ihr Geschriebenes besaß, hielt sie schließlich davon ab, und sie sagte sich stattdessen: Keine Antwort ist die beste Antwort! Dann wird er begreifen, dass ich nicht im Geringsten interessiert bin an einem wie auch immer gearteten Kontakt mit ihm.

Zuletzt war Lucyna immer häufiger in den Radar unterschiedlichster Männer geraten. Und eigentlich war sie schon lange wieder bereit, sich auf jemanden einzulassen. Doch entweder waren ihre Verehrer zu forsch vorgegangen, sodass sie glaubte, sich vor ihnen in Sicherheit bringen zu müssen und die Kontakte abbrach; oder aber sie entsprachen nicht ihrer Vorstellung, und sie ließ es erst gar nicht zu einem Treffen mit ihnen kommen.

Die Beziehung zu Franek hatte Lucyna am Ende bloß noch zermürbt und ihr in den immer öfter lautstark mit ihm geführten Auseinandersetzungen eine Seite von sich gezeigt, die sie so lieber nicht gesehen hätte. Das Resultat war, dass sie ihn nicht nur dafür hasste, dass er sie durch sein Verhalten diese andere Seite von sich selbst hatte sehen lassen, sondern dass sie sich obendrein wegen ihrer Kraftausdrücke ihm gegenüber mit Schuldgefühlen herumschlug, die sie wiederum wütend auf ihn werden ließen. Ein fataler Kreislauf, den sie am Ende mit einem harten Schnitt durchbrochen hatte, um zu einer neuen Perspektive für sich und ihr Leben zu gelangen.

Für die Tatsache, dass Franek ihr Kamil geschenkt hatte, würde sie ihm immer dankbar sein; nur wollte sie mit ihm als Person und Mann nichts mehr zu tun haben. Selbst wenn sich damit für den Jungen ihr eigenes Schicksal, nämlich ab einem gewissen Zeitpunkt ohne Vater aufgewachsen zu sein, bis zu einem gewissen Grad wiederholte.

Franek holte seinen Sohn regelmäßig ab, um Zeit mit ihm zu verbringen. Lucyna hatte seinem damals dahingehenden Wunsch ohne zu zögern entsprochen. Dass sie dafür allerdings bis heute seine wiederkehrende Anwesenheit in Kauf nehmen musste, wenn er Kamil bei ihr abholte oder ihn zurückbrachte, das behagte ihr noch immer überhaupt nicht. Denn sie hatte, das wusste sie inzwischen, Franek nie wirklich geliebt. Sie hatte seine weiche Art gemocht, damals, das schon. Und die Tatsache, dass von ihm nie eine Gefahr für sie ausgegangen war, hatte sie lange zu schätzen gewusst. Doch seine anhaltende Weigerung, erwachsen zu werden und Verantwortung zu übernehmen, war irgendwann zu einem Problem geworden, das sie nicht länger ignorieren konnte. Irgendwann war Franek in seiner Entwicklung als Mann stehen geblieben und hatte ihren Respekt verloren.

Wie gerne hätte Lucyna als Kind zu einem Vater aufgeschaut, der im entscheidenden Moment Stärke demonstrierte und sich dem Leben mutig stellte, statt ihm, wie Franek es immer getan hatte, aus dem Weg zu gehen.

Lucyna musste an den Packen handgeschriebener Briefe ihres Vaters denken, den ihre Mutter ihr kürzlich zu ihrer großen Überraschung mit den Worten »Damit du dir ein Bild von deinem Vater machen kannst« übergeben hatte. In kräftiges, braunes Packpapier eingeschlagen und fest mit einer hellen Bastkordel verschnürt lag er noch immer in der schützenden Dunkelheit ihrer Nachttischschublade. Bislang hatte sie nicht den Mut aufgebracht, die Kordel mit der Schere zu durchtrennen und die Briefe auszupacken.

Am Abend aber würde sie es endlich tun. Das nahm sie sich mit Blick auf den vor ihr liegenden Brief ihres Bruders vor.

Draußen war es bereits dunkel. Lucyna schob den Vorhang ein Stück beiseite und blickte nachdenklich aus dem Fenster. Wie glühende Stecknadelköpfe glommen die Lichter der Stadt in der Schwärze.

Auf dem Flur, zu dem ihre Tür offen stand, waren schon seit einiger Zeit sämtliche Geräusche verstummt. Sie mochte es zu arbeiten, wenn alle anderen bereits gegangen waren und es bis auf das Klappern ihrer Tastatur, wenn ihre Finger darüberflogen, vollkommen still war.

Im Telefonbuch der Poczta Polska für die Stadt Sosnowiec und Umgebung fanden sich sechzehn Einträge auf den Familienname Król.

Zwei Nummern hatte Warlo am Mittag angerufen, danach aber auf weitere Versuche verzichtet. Denn da er kein Wort Polnisch sprach und die Angerufenen offenbar kaum oder gar kein Englisch verstanden, war es in beiden Fällen gar nicht erst zu einem Gespräch gekommen. Er hatte nach Pawel Król gefragt, doch die Frauenstimme, die sich gemeldet und mit jenem, Warlo noch immer vertrauten, polnischen Akzent gesprochen hatte, den er so mochte, hatte nur ein paarmal verständnislos »Hallo, hallo?« gesagt und kurz danach aufgelegt.

Unter der zweiten Nummer, die er gewählt hatte, hatte ein Mann abgenommen, hörbar angestrengt ins Telefon geatmet, Hello, hello gesagt und ebenfalls sofort wieder eingehängt. Er würde versuchen, in Polen jemanden zu finden, der ihm bei den anstehenden Telefonaten behilflich sein würde. Ihm helfen musste.

ENDE DER LESEPROBE

Die Handlung und alle handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Der Autor dankt der Robert Bosch Stiftung für die Zuerkennungeines Grenzgängerstipendiums zur Finanzierung der Recherchereisensowie der Kunststiftung NRW.

© 2015 Luchterhand Literaturverlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: buxdesign | München

unter Verwendung eines Motivs von

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

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