Die Tüchtigen - Peter Henning - E-Book

Die Tüchtigen E-Book

Peter Henning

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Beschreibung

Die erfolgreiche Unterhaltungsschriftstellerin Katharina Weskott wird fünfzig und sieht das mit gemischten Gefühlen. Wird sich ihr Leben, ihre Selbstwahrnehmung durch diesen Einschnitt verändern? Wie werden andere sie sehen? Um Abstand zu bekommen und gebührend zu feiern, lädt sie gemeinsam mit ihrem Mann drei befreundete Paare für ein Wochenende in ein Luxushotel im niederländischen Zandvoort ein. In rasant wechselnden Perspektiven entrollt der Roman die Geschichten von acht Menschen, die jeder für sich am Scheideweg angelangt sind, getrieben von der Frage: Was ist noch möglich? Können sie noch einmal durchstarten? Oder droht der gesellschaftliche Abstieg? Acht Menschen, deren Leben sich innerhalb von 72 Stunden für immer verändern - eingefangen in mitreißenden Geschichten, verdichtet zu einem Gesellschaftspanorama dieser Jahre.

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Seitenzahl: 774

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Das Buch

Die erfolgreiche Unterhaltungsschriftstellerin Katharina Weskott wird fünfzig und sieht das mit gemischten Gefühlen. Wird sich ihr Leben, ihre Selbstwahrnehmung durch diesen Einschnitt verändern? Wie werden andere sie sehen? Um Abstand zu bekommen und gebührend zu feiern, lädt sie gemeinsam mit ihrem Mann drei befreundete Paare für ein Wochenende in ein Luxushotel im niederländischen Zandvoort ein. In rasant wechselnden Perspektiven entrollt der Roman die Geschichten von acht Menschen, die jeder für sich am Scheideweg angelangt sind, getrieben von der Frage: Was ist noch möglich? Können sie noch einmal durchstarten? Oder droht der gesellschaftliche Abstieg? Acht Menschen, deren Leben sich innerhalb von 72 Stunden für immer verändern – eingefangen in mitreißenden Geschichten, verdichtet zu einem Gesellschaftspanorama dieser Jahre.

Der Autor

Peter Henning, 1959 in Hanau geboren, studierte Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und lebt heute als freier Schriftsteller in Köln. Mit »Tod eines Eisvogels« (1997) und »Aus der Spur« (2000) trat Henning als Schriftsteller in Erscheinung, es folgten die Romane »Die Ängstlichen« (2009), »Leichtes Beben« (2011) und »Ein deutscher Sommer« (2013). Seine Arbeit wurde mit Stipendien der Kunststiftung NRW und der Robert Bosch Stiftung gefördert. Zuletzt erschien sein Roman »Die Chronik des verpassten Glücks« im Luchterhand Literaturverlag (2015).

Peter Henning

Die Tüchtigen

Roman

Luchterhand

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© 2019 Luchterhand Literaturverlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign

Coverillustration: Ruth Botzenhardt

Lektorat: Astrid Roth

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

ISBN 978-3-641-22915-3V001

www.luchterhand-literaturverlag.de

www.facebook.com/luchterhandverlag

www.twitter.com/luchterhandlit

Für Antonia und Marie

»In der Lebensmitte kommen die Rätsel, kommt die Verwirrung. Wenn ich in dieser Stunde überhaupt etwas erkennen kann, dann eine Art Einsamkeit. Sogar die Schönheit der sichtbaren Welt scheint zu bröckeln,ja selbst die Liebe.«

John Cheever

Erster Tag

Sie fuhren dann doch später los, als Katharinas Zeitplan es vorgesehen hatte.

»Ich will, dass wir vor den anderen da sind!«, hatte sie am Vorabend über die Balustrade gebeugt unmissverständlich heruntergerufen. Ihr senkrecht herabhängendes langes Haar hatte dabei ihr schmales, kantiges Gesicht eingerahmt wie schwere Vorhänge eine Theaterbühne, auf der mal wieder das Stück »Die Despotin« gespielt wurde.

»Unbedingt!«, hatte Robert erwidert, wie er es immer tat, wenn er ihr das Gefühl geben wollte, ihr zuzuhören, in Wahrheit aber mit seinen Gedanken woanders war.

Eben noch hatte er den Wagen aus der Werkstatt geholt, wohin er ihn drei Tage zuvor zur Inspektion gebracht hatte. Er hatte das Haus kurz nach neun verlassen, war aber erst zwanzig Minuten nach zehn wieder zurück gewesen. Als Katharina ihn von unten »Ich bin’s!« rufen hörte, kam sie sogleich die Treppe herunter, baute sich vor ihm auf und sah ihn auf ihre unnachahmlich Verstimmung anzeigende Art an und sagte: »Wo kommst du jetzt her? Wir wollten um halb zehn los! Wieso kann ich mich nie auf dich verlassen?«

Robert wich ihrem stechenden Blick aus, der ihn einzufangen versuchte wie ein Glas eine Stubenfliege, und kam sich mal wieder wie ein Schuljunge vor, den man tadelte. Doch ehe er etwas zu seiner Verteidigung vorbringen konnte – was hätte er auch sagen wollen? –, deutete Katharina auf die auf dem Boden stehenden Koffer und Taschen und sagte: »Pack den Wagen! Ich möchte los!«

Er sah an ihr vorbei durch die breite Glasfront hinter ihr hinaus in den Garten, der sich in fahlem, milchigem Grün bis zu der riesigen Trauerweide erstreckte.

Da draußen, zwischen dem Pool und dem Holzschuppen, hatte er Anne das erste Mal flachgelegt. So hatte sie es hinterher ausgedrückt: flachgelegt. In Roberts Ohren hatte das ziemlich ordinär geklungen. Doch inzwischen mochte er es, wenn sie von Ficken sprach und ihm signalisierte, von ihm flachgelegt werden zu wollen.

Es war Nacht gewesen und Katharina auf Lesetour, in jenem immer heißen letzten Sommer. Die eingeschaltete Unterwasserbeleuchtung des Pools hatte ihr blaues Aquariumslicht in die Nacht geschickt und in einem Radius von geschätzten fünf Metern die berauschende Illusion erzeugt, sie befänden sich mitsamt Rasen, Sträuchern und Bäumen in einer Glaskugel, die durch eine fremdartige, eisblau illuminierte Galaxis schwebte.

Anne hatte sich unter ihm gewunden und stoßartig »Ja, oja!« und seinen Namen gehaucht, während er in gleichmäßigem Rhythmus auf ihr vor- und zurückglitt. Robert hatte ihr dabei ein paarmal die flache Hand auf den weit geöffneten Mund legen müssen, um ihre verräterischen Laute zu dämpfen. Dabei mochte er es, wenn sie sich unter seinen Stößen wand und ihm ihre Lust ins Ohr stöhnte. Nur bitte eben nicht da draußen, wo die Sträucher und Hecken Ohren hatten und schon ein unbedachtes Wort oder Geräusch in falsche Kontexte gebracht fatale Folgen für ihn haben konnte.

Wochenlang hatte er es darauf angelegt, endlich bei ihr zum Zug zu kommen. Als sie im Gras sitzend angefangen hatte, ihre Bluse aufzuknöpfen, und ihn zu sich hinabzog, hatte er mit einem wohligen Triumphgefühl in der Brust »Na, endlich!« gedacht.

Wenn sie in einer Viertelstunde losführen und anschließend ohne größere Staus durchkämen, konnten sie gegen halb drei am Meer sein. Am frühen Abend würden sie dann die anderen empfangen. In der Bar des Hotels. Zum Begrüßungsdrink. So hatte Katharina es jedenfalls Wochen zuvor geplant.

Es war Donnerstag, der 7. April 2016, kurz vor halb elf Uhr. Bei Sonnenschein und milden zwölf Grad herrschte eine leichte Brise. Aus Ost wurden im Tagesverlauf mäßige Böen erwartet, und die Niederschlagswahrscheinlichkeit lag bei 0 l/m². Der Frühling zeigte an diesem Morgen sein freundliches Gesicht.

In zwei Tagen würde Katharina Weskott fünfzig Jahre alt werden. Und jene sechs Personen, die sie aktuell für ihre besten Freunde hielt, plus Robert, sollten dieses aus ihrer Sicht fragwürdige Ereignis an einem langen Wochenende (drei Übernachtungen, auf ihre Kosten und ohne Kinder!) im Fünfsternehotel Nice Zand in Zandvoort an Zee gemeinsam mit ihr begehen. Damit sie nicht alleine mit Robert wäre, wenn sie unwiderruflich den geliebten Vierzigern für immer Adieu sagen musste und zugleich ab sofort jenem zweifelhaften Club angehörte, der ausschließlich (jedenfalls in ihren Augen) vom Lebenskampf bereits erkennbar gezeichnete »Schwellenwesen« zu seinen Mitgliedern zählte: Männer und Frauen, die nicht mehr jung und noch nicht wirklich alt waren, sondern irgendetwas Undefinierbares dazwischen.

Robert trug wie befohlen die Koffer und Taschen hinaus zum Wagen und arrangierte sie anschließend so geschickt in dem geräumigen Kofferraum des gerade mal ein halbes Jahr alten nachtblau-metallicfarbenen 5-er-BMW Gran Turismo-Turbo, dass genügend Platz blieb für die beiden Sechserkisten Veuve Clicquot, die er in dem italienischen Großmarkt in der Südstadt gekauft hatte, in dem er sich, sofern es sein Flugplan zuließ, mit Anne auf ein schnelles Glas Prosecco traf.

Auf den ersten hundert Kilometern sprach Katharina kaum ein Wort, sah nur stur raus in die vorbeiziehende Landschaft, um ihn mit ihrem eisernen Schweigen spüren zu lassen, wie sehr er sie verärgert hatte.

Robert hatte eine Hand am Steuer und hielt den Blick starr geradeaus auf die Fahrbahn gerichtet, die sich, zu beiden Seiten durch hüfthohe Zäune begrenzt, wie eine dunkle Trasse durch die flache Landschaft zog und die Vorherrschaft einer streng funktional denkenden Zivilisation über die Natur und ihr chaotisches Wesen demonstrierte. Schwarzweiß gefleckte Kühe hoben träge die Köpfe und schlugen mit den Schwänzen, und in der Ferne jagten kleinere Wolkenformationen über den stahlblauen Himmel.

Irgendwann auf der Höhe von Wesel sah Robert Katharina reuig von der Seite an und sagte: »Hey, ist okay, Kat! Ich hab’s verstanden! Robert war ein böser Junge – tut mir leid, okay?! Also lass es jetzt bitte gut sein, ja?!«

Er sprach Kat wie Cat, Kätzchen, aus. Im Streit sagte er auch oft »Cut«, was auf Deutsch »Schnitt« hieß und die von ihm damit unmissverständlich eingeforderte »Sendepause« bezeichnete, wenn ihm ihr Gerede mal wieder zu viel war.

Katharina sah ihn, begleitet von einer Vierteldrehung ihres Kopfes, an, sagte aber keinen Ton und löste ihren gelangweilten Blick sogleich wieder von ihm, wie von einem absterbenden Baum. Anschließend dauerte es weitere achtzig Kilometer, bis sie sich endlich aus ihrer statuenhaften Vorwurfshaltung löste, und, nachdem sie den stillgelegten, ehemaligen Grenzübergang bei Arnheim passierte hatten, sagte: »Fahr bei der nächsten Gelegenheit raus, ich muss mal!«

Katharina und Robert waren das, was man in den Nullerjahren in den USA abgekürzt DINKS genannt hatte: Double-Income-No-Kid-Wesen und lupenreine Besserverdiener – er Lufthansa-Pilot, sie Bestsellerautorin –, deren materiell abgesicherte Leben neuerdings immer fühlbarer um jene heikle, innerste Leerstelle kreisten, die sich mit dem Wort »Kinderlosigkeit« beschreiben ließ. Die Folge war, dass sie einander immerzu schutz- und ablenkungslos ausgeliefert waren, anders als ihre Freunde, deren Kinder häufig unfreiwillig eine Art Pufferfunktion übernahmen, wenn die beiden Kontrahenten, die sich ihre Eltern nannten, am liebsten Fäuste schwingend aufeinander losgegangen wären.

Katharinas genetisch begründete Sterilität war zu Beginn ihrer Beziehung kein Problem gewesen. Robert war nach seiner Ausbildung in Bremen und später in Arizona in den USA sofort in den zeitintensiven innereuropäischen Linienflugverkehr eingestiegen und dadurch oft tagelang nicht zuhause, während Katharina, nachdem sie ein paar Jahre bei der Kölner Filmproduktionsfirma »Serenade« als Script-Doktorin gearbeitet hatte, auf Anhieb einen großen Erfolg mit ihrem ersten Unterhaltungsroman feiern konnte und die Bestsellerlisten eroberte. Das Buch, das den Titel »SCHICKSAL« trug und den Auftakt zu einer insgesamt siebenbändigen »DIESCHLÄFERIN«-Saga bildete, hatte sie schlagartig bekannt gemacht. Katharina hatte unzählige Interviews geben müssen und war mit ihrem Buch durchs Land gereist, um daraus vorzulesen. Die deutschen Krimispezialisten feierten Katharinas Debüt als gelungene Verschmelzung von E und U, und das international tonangebende Internet-Krimiportal TRUECRIME erkor sie zur legitimen Nachfolgerin von Stieg Larsson.

Sie waren froh gewesen, die wenige Zeit, die ihnen darüber hinaus blieb, miteinander verbringen zu können, ohne sich den schwer durchschaubaren Gesetzmäßigkeiten, Zyklen und Unwägbarkeiten eines Kinderlebens unterordnen zu müssen.

Irgendwann aber hatte Katharina zähneknirschend feststellen müssen, dass ihre Kinderlosigkeit sie mehr und mehr von ihren jüngeren Freundinnen entfernte, die ganz in ihren vor ein paar Jahren angenommenen Mutterrollen aufgingen und immer seltener Zeit für sie hatten. Das hatte zu einer schleichenden Frustration bei ihr geführt, sodass sie Robert eines Tages die Frage stellte, ob sie nicht ein Kind adoptieren sollten.

»Adoptieren?«, hatte er irritiert erwidert und sie dabei angesehen, als spiele sie mit dem Gedanken, zum Mond zu fliegen. »Ein wildfremdes Kind?«

Was da im Kopf seiner Frau vorging, gefiel ihm überhaupt nicht.

Sie hatte es anschließend vermieden, das Thema noch einmal ihm gegenüber anzuschneiden.

Robert hatte sehen können, wie Katharina im Laufe der Zeit bei ihrer Suche nach Sinn und Zufriedenheit immer mehr verkrampfte. Morgens beim Aufstehen schien sie sich als Erstes zu fragen: Wer will ich heute sein? Die katzenhafte Cat, die auf leisen Pfoten durch den Tag geht, geschmeidig und selbstverliebt? Oder die verschlossene, kühl agierende Perfektionistin Katharina, die Gefühle nur auf dem Papier zulässt?

Katharina, davon war Robert inzwischen fest überzeugt, lebte in einem permanenten Dissonanzzustand, einem nicht klar definierten und sie zunehmend frustrierenden Sowohl-als-auch. Das ließ sie oft reizbar und unausgeglichen erscheinen. Zudem suchte sie – für Robert ein typisch weiblicher Reflex wie Angst vor Spinnen, Hysterie in zu engen Fahrstühlen oder beim Einkaufen feilschen zu wollen – den Grund für ihre Unzufriedenheit zumeist bei ihm.

Seit Arnheim folgten sie der A 12 in Richtung Utrecht. Auf der Höhe von Veenendaal setzte Robert den Blinker, sah in den Rückspiegel und fuhr auf die BP-Tankstelle ab.

Auch die Borcherts, zuhause im rheinnahen Rodenkirchen, hinkten ihrer ursprünglichen Tagesplanung heillos, nämlich inzwischen gut vierzig Minuten, hinterher. Der massive Stromausfall, der das gesamte Viertel ab kurz vor neun für mehr als zwei Stunden von der städtischen Elektrizitätsversorgung abgeschnitten hatte, war der Grund dafür, dass Tom Borchert nicht von seinem alten Radiowecker geweckt worden war. Er befand sich gegen halb elf immer noch im Cockpit des in den unerforschten Tiefen seines Schädels ruhenden Neokortex, in welchem er – gefühlt seit Stunden – durch die farbenprächtigen, seinen erotischen Spieltrieb anfeuernden Bilderwelten seines Unterbewusstseins jagte. Die Kinder (Clara, 13, und Lennart, 15) lagen in ihren Betten und sahen sich mit Stöpseln in den Ohren YouTube-Videos an, und seine Frau Belinda machte, wie um diese Zeit häufig, einen kurzen Spaziergang durch die nahen Rheinauen, um anschließend auf dem kleinen Erzeugermarkt bei ihnen um die Ecke noch schnell fürs Frühstück einzukaufen.

Als es an der Tür klingelte, wurde Tom ruckartig aus dem Schlaf gerissen. Erschrocken griff er nach seinem Handy, es zeigte 10:36 Uhr an.

»Oh, verdammt!«, fluchte er, richtete sich auf und wandte sich reflexartig dem rechts von ihm auf dem Nachttisch stehenden Radiowecker zu. Doch wo für gewöhnlich die giftgrün fluoreszierenden Ziffern auf dem Display auszumachen waren, zeigte sich in diesen Sekunden … nichts! Alles war dunkel, schwarz!

Verärgert tastete er nach den Nasentropfen, bekam sie zu fassen und schüttelte die kleine Plastikflasche, bloß um feststellen zu müssen, dass sie leer war.

»Scheiße!«, rief er und feuerte das Ding mit einem Ploppen an die Wand.

Ja, er hatte dieses Nasentropfenproblem, na und! Ohne das Zeug ging er seit Jahren nicht mehr aus dem Haus. PRIV (Blackberry), Autoschlüssel, Nasentropfen. Die magischen drei, ohne die Tom Borchert aufgeschmissen war. Ohne seine Tropfen schlief er nicht ein. Hatte er Stress, reagierte er spontan mit je drei Träufelladungen in jedes Nasenloch. Und wenn er, wie in diesen Sekunden, feststellen musste, dass die kleine Flasche mit der blauen Verschlusspipette leer war, rauschte sein Adrenalinspiegel schlagartig in die Höhe, und seine Nase ging wie auf Knopfdruck zu.

Eine Zeitlang hatte Tom größere Mengen von dem Zeug sowohl in seinem Büro als auch in seinem Nachttischschränkchen gebunkert. Als Belinda ihn Nasentropfen-Junkie genannt und ihn gebeten hatte, deswegen ihren Hausarzt zu konsultieren, war er dazu übergegangen, die Fläschchen wie ein Alkoholiker an den unterschiedlichsten Plätzen in der Wohnung zu deponieren. In den Schränken der Kinder zwischen alten Spielsachen, die nicht mehr in Gebrauch waren, im Bad zwischen den Putzmitteln, in der alten Kababüchse im Vorratsschrank in der Küche, in der sie Batterien aufbewahrten. Und sogar im Gemüsefach im Kühlschrank, indem er zwei Fläschchen in eine alte Schachtel Paracetamol (das sie stets der Kinder wegen im Haus hatten) schob und damit vor Belindas Blicken tarnte.

Bevor sie losfuhren, musste er unbedingt noch zur Apotheke. Alle Depots waren leer!

»Aber bitte nicht länger als eine Woche nehmen!« Wie oft hatte er diesen Satz schon aus dem Mund irgendeiner Apothekerin oder eines Apothekers gehört, wenn sie ihm die blau-weiße Schachtel mit dem befreienden Xylometazolinhydrochlorid über den Tresen schoben.

Während des nervenzehrenden »France – Le Grand«-Deals war Toms Otriven-Konsum in olympische Höhen geschnellt, und manchmal, wenn er die Pipette in ein Nasenloch einführte, hatte er sich gefühlt wie ein Suchtkranker, der kurz vor dem finalen Kollaps stand.

Besonders im Frühling, wenn die Pollen in tödlich hoher Konzentration durch die Luft wirbelten, hing Tom am Otriven wie ein Asthmatiker an einem Sauerstoffgerät. In solchen Phasen hatte er das Gefühl, das Zeug regelrecht saufen zu wollen.

Es klingelte zum zweiten Mal.

Tom fuhr aus dem Bett auf und hatte den Absatz der steilen Wendeltreppe mit drei, vier Schritten erreicht. Unten angekommen tauchte er ein in den Dämmer des weitläufigen Ess- und Wohnraums und trat von dort an die Haustür.

Draußen, das konnte Tom selbst durch die alles ins Unscharfe verzerrende Milchglasscheibe erkennen, stand sein Nachbar Gregor Domaschke. Er würde einen Teufel tun und dem Kerl öffnen oder sich sonst wie bemerkbar machen, denn seit geraumer Zeit drangsalierte der arbeitslose Witwer sie mit idiotischen Beschwerden. Irgendwann hatte er begonnen, ihnen kleine, auf leuchtend gelben Post-its verfasste Beschwerdenoten an den Briefkasten, an die Haustür und sogar an die Windschutzscheiben ihrer Autos zu kleben.

»Hoffentlich kratzt der Typ bald ab!«, hatte Lennart kürzlich hervorgezischt, nachdem er an seinem im Hof zurückgelassenen Longbord ein solches Post-it mit der Aufforderung, nach achtzehn Uhr nicht mehr »mit dem Ding« über die kopfsteingepflasterte Einfahrt zu rollen, gefunden hatte. Belinda hatte den Jungen darauf für seine Wortwahl gerügt, worauf Tom Lennart sogleich beigesprungen war und gesagt hatte: »Am besten morgen!«

Tom konnte sehen, wie Domaschke ein solches Post-it von außen an die Glasscheibe klebte. Es folgte das Geräusch sich entfernender Schritte, und Toms Blick fiel auf die beiden Rollkoffer. Am Vorabend hatten sie sie gepackt und anschließend gemeinsam heruntergeschafft. Wo Belinda nur blieb? Und was war eigentlich mit den Kindern?

Eine Dreiviertelstunde später saß Tom geduscht und angezogen seiner Frau am gedeckten Frühstückstisch gegenüber und stieß die Spitze seines Messers in das goldbraun gebackene Mohnbrötchen. Hinter den feinen cremefarbenen Seidenvorhängen lockte das helle Licht des Tages.

Belinda strich sich mit der linken Hand eine Strähne ihres kräftigen, rostroten Haars hinters Ohr. Sie überlegte kurz, ob sie Tom erzählen sollte, was sie gerade erlebt hatte.

Beim Spazieren in den Rheinauen, auf Höhe der Schönhauser Straße, war sie zwei Frauen begegnet, die auf dem abschüssigen Hang standen, Gummihandschuhe trugen und mit ihren simplen Metallgreifwerkzeugen weggeworfene Kippen, leere Dosen und kleine Papierfetzen aus der buschigen Macchia klaubten und jeweils in einen offenen orangefarbenen Plastiksack beförderten.

»Was tun Sie denn da?«, hatte Belinda die Jüngere gefragt. Auf den Rückenpartien ihrer nachtblauen Fleecejacken war in hellem Rot »RHEIN-PATEN« eingestickt gewesen.

»Na, was wohl?«, hatte ihr die Frau zunächst leicht schnippisch geantwortet. »Müll sammeln, das sehen Sie doch! Oder etwa nicht?!«

»Ja, schon«, hatte Belinda geantwortet. »Aber in wessen Auftrag?«

»In unserem!«, hatte sich plötzlich die Ältere in ihren kleinen Dialog eingeschaltet. »Wir sind nämlich Leute, die glauben, mehr tun zu können, als sich mit dem zufriedenzugeben, was die Stadt tut!«

»Aha, interessant!«, hatte Belinda zunächst überrascht, dann aber zustimmend genickt.

»Wir machen das nämlich nicht für die Leute, die hier spazieren gehen, sondern für die Natur, wenn Sie verstehen?!«, riss die Jüngere das Gespräch wieder an sich. »Die Leute sind nämlich doof! Hier, sehen Sie mal, was die so alles wegwerfen!« Sie hielt Belinda ihren offenen Müllsack hin, damit sie hineinschauen konnte.

Belinda spähte hinein, sagte: »Ja, o Mann!«, und machte ein betroffenes Gesicht. Denn was sie darin sah, war wirklich schockierend. Neben Verpackungen, Cola-Dosen, Papiertaschentüchern und Zigarettenschachteln waren auch erkennbar benutzte Kondome zu sehen. »Echt krass!«

»Sag ich doch«, sagte die Jüngere. »Die Leute sind Schweine!«

»Ja!«, sagte Belinda. Anschließend hatte sie den beiden Frauen einen guten Tag gewünscht und war beeindruckt von ihrem Tun in Richtung der Kranhäuser abgezogen.

Belinda entschied sich, Tom später davon zu erzählen, stattdessen sagte sie: »Das ganze Viertel bis runter nach Bayenthal war von dem Ausfall betroffen!«, und führte die halbvolle Kaffeetasse zum Mund. »Sogar die Bahn fuhr nicht mehr!«

»Weiß man, wie es dazu kam?«, fragte Tom geschäftsmäßig und klappte das erfolgreich aufgeschnittene Brötchen auseinander. In nicht mehr ganz sechs Stunden waren sie mit Katharina und Robert, Anne und Marc und Feline und Stefan in Zandvoort verabredet. Vorher mussten sie noch zur Apotheke (Toms Nasentropfen) und an die Tankstelle. Denn ohne ein paar »Lustige Taschenbücher« und eine Handvoll Marvel-Comics im Gepäck fuhr Tom grundsätzlich nirgendwohin. Seit er als Zehnjähriger, er lag damals nach einer Blinddarmoperation im Krankenhaus, Micky Maus entdeckt hatte, war die Maus sein ständiger Begleiter. Danach würde er bei Bunert auf der Aachener Straße ordentliche Laufschuhe und sturmfeste, wasserabweisende Regenjacken (für Belinda was Warmes von Jack Wolfskin und für sich ein ferrarirotes Duster-Jackett) und zuletzt für Kat einen großen Blumenstrauß besorgen. Wie sie das alles noch schaffen wollten, war ihm ein Rätsel.

Aus den futuristisch anmutenden, eher an avantgardistische Heizlüfter erinnernden BeoLink-Boxen von Bang & Olufsen an den einander gegenüberliegenden Polen des achthundertsechzigtausend Euro teuren, topsanierten Altbaueigenheims erklang wie üblich WDR 2. Seit etwa einer Viertelstunde hatten sie wieder Strom, die Verbindung nach draußen stand.

»Clara und Lennart könnten aber auch langsam mal auftauchen, oder?«, meinte Tom und verstrich jeweils einen glibberigen, goldgelben Klecks seiner derzeitigen Lieblingmarmelade »Schwartau Samt Maxi Aprikose« auf beiden Brötchenhälften.

»Packen noch«, sagte Belinda und tunkte nun die Spitze eines Buttercroissants, von dem goldbraune Teigplättchen herabschneiten, in ihren Kaffee.

»Wir müssen nämlich spätestens in einer halben Stunde los, wenn wir ohne Stress ankommen wollen! Wann holt dein Vater die beiden ab?« Tom biss in die untere Brötchenhälfte und nippte an seinem Kaffee.

»Er wollte eigentlich schon da sein!«, sagte Belinda und sah auf ihre Armbanduhr. Belinda war in dem weich gefilterten, durch die Gardinen hereindringenden Licht immer noch eine sehr attraktive Frau, dynamisch und hellwach.

Auf den Pornoseiten, die Tom neuerdings regelmäßig im Internet besuchte, wenn er spätabends noch in seinem Büro in der Bank saß, bezeichnete man Frauen wie Belinda als MILF, als »Mother I’d like to fuck«.

Tom repräsentierte Sigmund Freuds Trieblehre zufolge den »Sublimierer«, der sich seine Befriedigung bei »Nebenobjekten«, so nannte Freud das, holte, weil ihm das »Hauptobjekt« bei der »Erleichterung seiner Erregungsspannung« zumeist nicht zur Verfügung stand. Nur: Wer oder was sollte dieses Hauptobjekt sein? Tom war ein Spieler und immerzu auf Lust- und Gewinnmaximierung aus. Und so lautete seine berufliche Devise denn auch: »Wer gut ist, dem steht die Welt offen! Wer nicht performed, der fliegt!« Also versuchte er »gut« zu performen! Nein, nicht nur »gut«, sondern besser als die anderen zu sein. Ein MOTU – Ein Master Of The Universe! –, wie die Jungs sich untereinander manchmal scherzhaft in Anspielung auf Marc Bauders Dokumentarfilm über den ehemaligen Investmentbanker Rainer Voss nannten.

Das prädestinierte ihn zum Wertpapierhändler – machte ihn aber auch anfällig. Denn wenn er nicht bekam, wonach es ihn verlangte, begann er zu tricksen und zu manipulieren. Der Gefahr, die darin für ihn (und andere) bestand, war er sich auch jetzt, an diesem strahlenden Morgen des 7. April im Jahr des Affen, durchaus bewusst. Doch Tom redete sie auch in diesen Minuten, da die Gedanken daran ihn kurz anflogen wie eine Handvoll nicht zu unterschätzender Grippeviren, klein. Er schob sie beiseite, verdrängte sie in irgendeinen hinteren Winkel seines ohnehin mit allerlei gezielt Beiseitegeschobenem zugestellten Bewusstseins. So wie stets, wenn sein treuester Gefährte, sein schlechtes Gewissen, sich mal wieder meldete.

So gesehen kam ihm die viertägige Auszeit, die vor ihm lag, nur teilweise gelegen. Denn sein großes Gordon-Gekko-Ding (Tom hatte Oliver Stones Film »Wall Street«, seit er 1987 in die Kinos kam, gefühlt ein Dutzend Mal gesehen), das er am Abend vor ihrer Abreise angeschoben hatte, tickte seither wie eine Zeitbombe in seinem Hinterkopf. Falls alles glattlief, würde sich der Bestand seines Vermögens in Kürze schlagartig ins Atemberaubende potenzieren. Alles andere dagegen käme für Tom einem Super-GAU gleich, dessen Folgen für sich und seine Familie er sich jetzt, da er scheinbar vollkommen entspannt seiner Frau gegenübersaß, nicht einmal ansatzweise vorzustellen wagte. Es ging um ein großes Geschäft mit sogenannten CFDs. CFD stand für »Contracts For Difference« – zu Deutsch »Differenzkontrakte«.

Tom arbeitete seit sechs Jahren als Fondsmanager für die Kölner Privatbank Bargfeldt & Fountaine und verwaltete sogenannte Mischfonds. Das war mit besonderen Regeln verknüpft und hieß in seinem Fall: Er durfte (offiziell) keine großen Risiken eingehen und die Aktienquote nur ein bestimmtes, festgelegtes Maß erreichen! Zudem musste der Anleiheanteil entsprechend hoch sein, und diese Anleihen durften nicht über Ratings außerhalb des Investment-Grade-Bereichs verfügen. Auch durfte er keine Derivate einsetzen oder Leerverkäufe tätigen.

Doch genau das tat er regelmäßig, weil er sich insgeheim für einen ziemlich cleveren Trader, vor allem aber für etwas Besseres als seine biederen Kunden und seinen Chief Investment Officer bei Bargfeldt & Fountaine, Ken van Dyke, hielt, und handelte nebenher auf eigene Rechnung. Die Complianceregeln seiner Bank untersagten dies zwar strikt. Und dabei erwischt zu werden hätte für Tom die sofortige Kündigung bedeutet. Trotzdem handelte er munter drauflos, kaufte und verkaufte CFDs, was das Zeug hielt. Dabei setzte er auf große Indizes wie den DAX.

Anders als beim direkten Kauf eines Wertpapiers musste man bei den CFDs nicht den gesamten Betrag für die Aktie zahlen, sondern es wurde täglich die Differenz zum Vortag abgerechnet. Dafür musste er eine Sicherheit, eine sogenannte Margin, hinterlegen, die deutlich niedriger war als der Gesamtwert des Papiers, das er handelte. So gesehen schien das Ganze ein Kinderspiel zu sein: Es versprach hohe Gewinne bei vergleichsweise niedrigem Einsatz! Denn von irgendwoher musste das Geld für das Haus, die Autos, der nicht unerhebliche monatliche Betrag für den Privatschulbesuch der Kinder und ihre kostspieligen Tauchurlaube ja schließlich kommen. Da reichte das, was er von seinen gemachten Gewinnen für seine »Schwarze Kasse« sowieso abzweigte, nicht aus!

Die dabei allerdings nicht zu unterschätzende Kehrseite lautete: Nicht zu unterschätzende Verluste waren möglich! Denn sobald sich der Basiswert des CFD stark in die falsche Richtung bewegte, musste man frisches Geld nachschießen. In diesem von allen gefürchteten Augenblick läutete das Telefon, und der sogenannte Margin Call erfolgte in Form einer Telefonstimme, die freundlich, aber bestimmt um Nachschuss bat! Und genau vor diesem Margin Call zitterte Tom nun, nach dem, was er da, spiel- und gewinnsüchtig, wie er war, in die schwer kalkulierbaren Umlaufbahnen des Gewinn-und Verlusthandels geschossen hatte.

Eigentlich hatte Tom die Hektik des Handelsraums während des Studiums abgeschreckt. Der ganze Irrsinn, der dort tagtäglich herrschte. Dieses paranoide Spiel mit Ahnungen und Stimmungen, das innerhalb von Sekunden sogar sogenannte Marktriesen ins Wanken bringen konnte. Doch als dann das Angebot von Bargfeldt & Fountaine kam, nachdem er sein Wirtschaftsstudium als Jahrgangsbester abgeschlossen hatte, konnte er einfach nicht ablehnen, und er hatte Blut geleckt.

Bei all seinen Tätigkeiten als Fondsmanager hatte Tom sich stets auf sein Bauchgefühl verlassen können. Vernünftiges Money-Management als Risikokontrolle hatte ihn noch nie interessiert. Außerdem liebte er die Wetten gegen die jeweiligen Anbieter. Jeden Euro, den er gewann, verlor der andere! So einfach war das!

Auch diesmal war er sich sicher gewesen, alles im Griff zu haben. Belinda hatte ihn mal, nachdem sie miteinander geschlafen hatten, gefragt, was das für Geschäfte gewesen seien, mit denen dieser Jérôme Kerviel von der Société Générale, von dem sie damals in der Zeitung gelesen und im Fernsehen gehört hätte, auf die Nase gefallen sei. Und weil Tom in Geberlaune gewesen war und es ihm gefiel, vor ihr mit seinem Wissen zu glänzen, hatte er gesagt: »Der Typ hat damals gegen alle Regeln viel zu große Positionen, sogenannte Futures, aufgemacht und versucht, mit immer neuen, immer riskanteren Geschäften seine bereits gemachten Verluste wieder reinzuholen. An sich keine schlechte Idee. Doch als sie ihm draufkamen, hat die Bank die Derivate innerhalb von drei Tagen auf den Markt geschmissen. Und bei einem so riesigen schnellen Input ist die Börse damals abgeschmiert!«

Belinda hatte immer wieder »aha« und »so, so« gemacht und interessiert genickt. Und als sie wenig später angekommen war und ihn gefragt hatte, was CFDs seien, da hatte er gedacht: Aha, sie hat offenbar angefangen, sich in das Thema einzulesen und sich für meine Arbeit zu interessieren. Doch schon sein nächster Gedanke war gewesen: Gefährlich, sehr gefährlich! Denn wer zu viel wusste, stellte unter Umständen unangenehme Fragen! Was, wenn sie ihn eines Tages fragen würde, ob er ein Zocker sei und mit CFDs handele?

Ja, Tom fühlte, dass da etwas im Anmarsch war. Etwas Ungreifbares, Großes, das sich unaufhaltsam auf ihn zubewegte, näher kam. Aber mit welcher Botschaft? Er wusste es nicht. Noch nicht. Und wollte es auch in diesen Minuten nicht wissen.

In diesem Moment ertönte die Klingel der Wohnungstür, und Belinda sprang auf. »Das wird Papa sein!«, sagte sie und lief zur Tür.

Hast du das neue Kleid eingepackt, in dem du so toll aussiehst?«, fragte Stefan, löste seinen Blick von der Fahrbahn und sah kurz liebevoll zu ihr rüber.

»Na, was denkst du denn?«, antwortete Feline keck, als verböte sich diese Frage. »Fünf Sterne! Da will man doch zeigen, was man hat!«

Sie lächelte. Ihre blassen und nicht sehr breiten, dafür aber betörend herzförmigen Lippen hatte Feline wenige Minuten zuvor mit einem roten Fettstift bearbeitet, sodass sie nun in Stefans Vorstellung schimmerten wie vom Regen nass gewordene Kirschen, in die er am liebsten auf der Stelle reingebissen hätte.

Sie hatte das klassische schwarze und eigentlich für sie viel zu teure Strenesse-Halbarmkleid kürzlich anlässlich der Hochzeit einer Kollegin bei P & C gekauft. Sie hatte darin wie eine andere gewirkt, alterslos schön und anziehender als je zuvor. Und alleine die Erinnerung daran, wie sie in dem Kleid und den farblich dazu passenden hochhackigen Schuhen ausgesehen hatte, machte Stefan auf der Stelle wieder scharf.

»Und hast du an die Tabletten gedacht?«, fragte sie und machte ihr Oberstudienrätin-Gesicht, sodass sich zwischen ihren buschigen, eng beieinanderstehenden Brauen eine tiefe, Respekt gebietende Furche bildete, ein Ausdruck, den sie inzwischen auf Kommando auf ihr schmales, freundliches Gesicht zaubern konnte, darin eingeschlossen ein felinenhaftes Verengen ihrer Augen, wobei sich die zarten Lider wie Muscheln über die von stahlblauen Pupillen dominierten Augäpfel wölbten.

»Na, klar!«, sagte Stefan, fragte sich aber bereits in der gleichen Sekunde, wo er die gelb-weiße Schachtel mit den hundert Filmtabletten der Marke Anafranil 25 mg hingetan hatte. In sein Necessaire? Oder steckte sie in dem vorderen Fach der weißblauen Freitag-Umhängetasche, die Feline ihm unter anderem zu Weihnachten geschenkt hatte? Stefans Gedanken sprangen ruhelos von seinem Kulturbeutel zu der aus LKW-Plane hergestellten Kunststofftasche und wieder zurück.

»Ich hab sie eingepackt, das weiß ich genau!«, stammelte er nun hörbar zweiflerisch, »nur weiß ich jetzt überhaupt nicht mehr, wo ich sie hingetan habe!«

»Sollen wir anhalten und nachsehen?«, fragte Feline in einer Mischung aus Frage- und Befehlston. Denn sie wusste: Ohne seine Tabletten würde es die nächsten Tage Probleme geben.

Sofort stand ihnen beiden unabhängig voneinander wie von einem Beamer übergroß an die weiße Raufasertapete ihres Wohnzimmers geworfen wieder jener, inzwischen etwas mehr als dreieinhalb Monate zurückliegende Tag vor Augen, an dem das seit Jahren in Stefans Unterbewusstsein hausende Finsterwesen namens Depression plötzlich aus seinem Versteck hervorgesprungen war, um erst ihm und dann ihr sein scheußliches Antlitz zu offenbaren.

Es hatte Stefan im Warteraum der Praxis seiner Hausärztin erwischt, es war, als hätte sich ein schweres schwarzes Tuch über ihn geworfen, das ihm augenblicklich die Sicht nahm. Sein Puls war schlagartig in apokalyptische Höhen katapultiert worden, und er hatte das sichere Gefühl gehabt, jeden Moment zu sterben.

Der Verdacht auf einen Herzinfarkt (denn Stefan hatte die dafür typischen Symptome aufgewiesen) bestätigte sich nach dem umgehend erfolgten EKG glücklicherweise nicht, worauf die Ärztin ihn an ihren zwei Stockwerke über ihr praktizierenden Kollegen, den Psychiater Dr. Wolfsohn, überwies.

Stefan, bleich und erschöpft und unverkennbar gezeichnet von der erlittenen Panikattacke, stand wenig später einem Mann gegenüber, der ihn gelangweilt durch seine Designerbrille hindurch fixierte.

»Die Kollegin hat mich bereits darüber informiert, was unten passiert ist. Was Sie da gerade durchmachen, Herr Bantlin, ist nichts Lebensgefährliches, sondern ein sogenanntes Burn-out-Syndrom! Und gut zu therapieren! Ihre Seele will nicht mehr! Sie hat genug davon, wie Sie sie behandeln, und streikt!«, erklärte Dr. Wolfsohn ihm im Ton eines Mannes, der sich exakt diese Worte sicher schon hunderte Male hatte sagen hören. Er redete wie jemand, der eine langweilige Rede langweilig vom Blatt ablas. Trotzdem spendete das Gesagte Stefan ein wenig Trost, es kam ihm vor wie der Hinweis auf einen Streifen Licht an einem ansonsten bedrohlich schwarzen Himmel. »Ich verschreibe Ihnen das hier! Davon nehmen Sie morgens und abends jeweils eine! Und Sie werden sehen, in etwa vier Wochen geht es Ihnen wieder besser!«

Hatte er richtig gehört? In vier Wochen! Das musste ein Scherz sein. Wie sollte er diesen Zustand vier unerträglich lange Wochen aushalten, ohne darüber verrückt zu werden? Es ließ sich ja auch kein Mensch von seinem Zahnarzt, der einem eben sämtliche kariös gewordenen Schneidezähne bis auf die Stümpfe abgeschliffen hatte, sagen: »Fertig, und in vier Wochen bekommen Sie dann die neuen schmucken Kronen!«

Und so brachte Stefan schließlich mit scheinbar letzter Kraft heraus: »Aber wieso erst in vier Wochen? Also, ich weiß wirklich nicht, ob ich das so lange …«

»Weil es sich bei diesem gut wirksamen Präparat um ein trizyklisches Antidepressivum handelt«, unterbrach ihn sein Gegenüber, »das man einschleichen muss, wenn Sie verstehen, was ich meine. Erst wenn sich im Körper ein gewisser Wirkstoffpegel gebildet hat, beginnt dieser seinen sedierenden und angstlösenden Effekt zu entfalten.«

Wenn Stefan aus heutiger Sicht an die erste Zeit nach seinem Besuch bei Dr. Wolfsohn zurückdachte, hatte er das Gefühl, sich an einen Zombie-Film zu erinnern, in dem er die Hauptrolle gespielt hatte. Tage und Wochen, die er mal in reglosem Dämmer, mal in nicht enden wollender innerer Hysterie zugebracht hatte, lust- und appetitlos, gleichzeitig innerlich total gehetzt, Tag und Nacht nassgeschwitzt und umhüllt von einem Geruch, als dünste er Dioxin aus und nicht seine zum großen Teil körpereigenen Stoffe.

Sein damaliger Zustand hatte das Familienleben, so wie es sich zuvor dargestellt hatte, mehr oder weniger zum Erliegen gebracht, und Feline war wochenlang über ihre Grenzen gegangen, um seinen Totalausfall als Vater und Betreuer der Kinder, Ehemann, Ernährer, Abholer, Ansprechpartner, Freizeitbegleiter und Sexualpartner halbwegs schadlos zu kompensieren.

Als es ihm endlich besser zu gehen begann, sah Feline unterdessen so aus, als wolle sie die nun in seinem Zombiefilm frei gewordene Rolle übernehmen: Schmal und blass geworden, die Haut durchscheinend wie Pauspapier und das rötlich blonde Haar strähnig und stumpf, sah sie ihn immer häufiger aus rot geränderten Augen an, wenn sie abends neben ihm ins Bett sank wie in einen Sarg, nachdem sie sieben Stunden Unterricht abgehalten, eingekauft, gekocht und abgespült und zu guter Letzt im Wohnzimmer im Sessel sitzend auch noch fünfzehn Deutschaufsätze korrigiert hatte. Immerzu brachen ihr die Nägel ab, sie hatte häufig Durchfall. Auch eklige Hautausschläge am Hals und auf den Wangen verrieten ihre chronische Überbelastung. Ihr Immunsystem ging sprichwörtlich auf dem Zahnfleisch.

Aber das war ja nun zum Glück vorbei und Geschichte. Sie nahmen wieder teil an dem, was man das normale Leben nannte. Stefan konnte wieder lachen und war zurück auf der Kommandobrücke im heimischen Haushalt und auf der seines kleinen Tonstudios im Belgischen Viertel, in dem er Werbejingles, Sprachaufnahmen und Film- und TV-Vertonungen produzierte.

»Also was jetzt?«, fragte Feline ein weiteres Mal und sah Stefan an. »Anhalten? Ja oder nein?«

Sie waren bereits auf der Höhe von Utrecht und lagen somit mehr als gut im Zeitplan. Stefan überlegte kurz, dann sah er in den Rückspiegel, wechselte von der Überholspur auf die rechte und fuhr bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit von der A 12 ab.

Musst du so rasen?!«, seufzte Anne hörbar genervt, beugte sich ein Stück nach vorn und tastete zögerlich nach dem tief in der edlen, schwarz-roten Ledervollverkleidung des Armaturenbretts versenkten Zigarettenanzünder. Sie drückte ihn verächtlich, wartete, bis er heraussprang, und drückte ihn von neuem. »Ich hab dir schon hundertmal gesagt, dass mir das auf den Magen schlägt!«

Der Tachometer zeigte stramme 231 km/h an, und die vor der schiefergrauen Tempoanzeige gerade mal in der Senkrechten stehende weinrote Nadel machte nicht den Eindruck, als hätte sie bereits genug.

Anne hasste es, wenn sie auf diese Weise Marcs ungebremsten Emotionen ausgesetzt war, weil er mal wieder glaubte, der König der Straße zu sein, der bloß kurz an der Lichthupe rucken musste, damit alle Vorausfahrenden beim Blick in den Rückspiegel kapierten, dass Marc Clever ihnen mit seinem Borussia-Dortmund-gelben 375-kW-starken AMG-GT-Monster im Nacken saß und freie Fahrt begehrte.

Marc wurde innerhalb von Sekunden zum Tier, wenn er in einen PS-starken Wagen stieg. Das verlieh ihm neben seinem guten Aussehen und seiner athletischen Figur das Wilde und Ungestüme einer Siegfried-Erscheinung, die keinen Drachen fürchtete, und machte ihn für das weibliche Geschlecht interessant. Es offenbarte aber zugleich auch seine verwundbarste Stelle: seine unstillbare Sucht nach Geschwindigkeit, die ihn wie nichts anderes fühlen ließ, wer er war und dass er lebte! Umschlossen von den fließenden Formen der Karosserie des GT kam sich der ansonsten beherrschte Geschäftsführer der Mercedes-Niederlassung in Köln-Braunsfeld vor wie ein mit Megatonnenwucht hinauf in faszinierende, erdenferne Galaxien geschossener Astronaut in seiner Kapsel – besoffen vom blauen Licht der Atmosphäre.

Marc, diese Fantasie hatte Anne wiederkehrend, würde dereinst (dann aber bitte ohne sie!) genau so in die ewigen Jagdgründe hineinrasen, wie es die von ihm bewunderten Jochen Rindt und Ayrton Senna getan hatten. Doch im Gegensatz zu Rindt und Senna, deren mythischer Tod sie unsterblich gemacht hatte, wäre er dann bloß ein weiterer hirnloser Raser, den seine Sucht gefressen hatte: jäh an einer Leitplanke zerschellt und im selben Moment zusammengeschrumpft auf die Bedeutung einer Ziffer in Deutschlands grauer Unfallstatistik.

Anne und Marc waren seit gut zweieinhalb Jahren ein Paar. King Marc und seine schöne Aphrodite Anne. Seine Trophäe! Marc war damals, Weihnachten 2013, zu Beginn seiner Suche nach einem ausgefallenen Schal für seine seinerzeit aktuelle Freundin in Annes Abteilung bei ZARA in der Schildergasse gestrandet und hätte am liebsten bereits nach wenigen Minuten die Hand nach ihr ausgestreckt, elektrisiert und angezogen von ihrer exquisiten Erscheinung, ihrer ruhigen, mitfühlenden Art und wie betäubt von der Süße ihres Parfüms.

Die Vorsehung hatte ihm einen Menschen geschickt, der ihm, diesen Eindruck hatte er damals spontan gehabt, innerhalb von Sekunden die Augenbinde heruntergerissen und ihn sehend gemacht hatte, sodass alles mit einem Mal neu und faszinierend zu sein schien.

Er hatte sie, die nur noch selten Kunden betreute, seit sie die Leitung der Damenabteilung übernommen hatte und ihren Alltag in ihrem Büro abspulte, in den folgenden Tagen mit immer neuen Kurzbesuchen überrascht und sie so lange um ein Treffen gebeten, bis sie ihm schließlich nachgegeben hatte und eines Abends nach einem Sushi-Essen und einem sich daran anschließenden ausgedehnten Barbesuch weit nach Mitternacht in seiner aberwitzig geräumigen Penthousewohnung in den Spichernhöfen im Belgischen Viertel gelandet war.

Die ersten Wochen mit Marc erlebte Anne als eine von ihm für sie arrangierte, nicht enden wollende Geburtstagsfeier. Marc schien ihr immer einen Schritt voraus zu sein, als könne er ihre Gedanken – und damit ihre Wünsche – lesen. Er entführte sie an schöne Orte, beschenkte sie mit schönen Dingen und gab ihr mehr als jeder andere zuvor das Gefühl, schön zu sein. Er verstand sich als Botschafter des positiven Lebens: jeder Atemzug der pure Glücksanspruch, jeder neue Tag ein kleiner Triumph über das irgendwo lauernde Dunkel. Jeder beherzte Tritt aufs Gaspedal ein Beweis seiner totalen Unerschrockenheit. Im Kosmos des Marc Clever schienen die Tage einfach kein Gewicht zu besitzen, und bisweilen hatte es sogar den Anschein, als ließen sich die Anzeichen der Vergänglichkeit, so sie denn auf seinen teuren Möbeln oder in seinem Gesicht doch einmal erkennbare Spuren hinterließen, kurzerhand mit einem glanzerneuernden Pflegemittel oder einer 260 Euro teuren Gesichtscreme verscheuchen.

Als Anne ihn irgendwann einmal fragte, weshalb sich in seinem Apartment eigentlich nicht ein einziges Buch fände (abgesehen von den zahllosen Automobil-Bildbänden, die ganze Regalwände füllten) und wieso er sich dauerhaft für Filme begeistern könne, deren Macher wahrscheinlich allerhöchstens einen Hauptschulabschluss besäßen, antwortete er ihr im Ton und mit dem überlegenen Lächeln des offenbar unerschütterlichen Optimisten: »Weil ich lieber selber lebe, anstatt darüber zu lesen, wie man angeblich leben sollte oder könnte! Und was meine Vorliebe für Komödien angeht, so kann ich nur sagen: Wieso soll ich mich unnötig und vor der Zeit mit düsteren Gedanken herumplagen? Das Schlimmste kommt am Ende sowieso. Kein Mensch wird im Schatten glücklich! Und keine Pflanze gedeiht ohne Licht! Also, ich mag’s lieber hell und schön statt dunkel und bedrückend!«

Aha!, hatte sie damals spontan und mit gewisser Erleichterung gedacht: Er weiß also durchaus, dass das Leben auch anders kann, wenn es will.

Marc tat ihr den Gefallen und drosselte kurz vor Arnheim das Tempo auf moderate 160 km/h. Der Wagen schien fühlbar ein Stück zurückzuweichen, als sei er kurz gegen einen virtuellen Bumper gekommen, der ihn sacht abfederte. Marc angelte aus der Mittelkonsole lässig mit der Rechten die transparente Tic-Tac-Box, schnippte den kleinen Verschluss auf und warf sich zwei der kleinen schneeweißen Pfefferminzdragees in den Mund. Dann sah er Anne gönnerhaft von der Seite an und sagte: »Nun, zufrieden?«

Was Anne nach all der Zeit mit Marc verstanden hatte, war, dass er die Welt in streng voneinander getrennte Planquadrate einteilte, die er abwechselnd beackerte. Diese Quadrate waren unsichtbar mit den Begriffen JOB, LIEBE, FUN überschrieben. Und genau so fühlte Anne sich inzwischen häufig neben ihm, nämlich eingesperrt in dem Planquadrat LIEBE, das er stalinistisch überwachte, wobei er ihr, wenn sie mal wieder »rumzickte«, wie er das nannte, regelmäßig das Gefühl gab, ein »Problem« zu sein, das er entweder so lange klein redete, bis es in seinen Augen nicht mehr existierte, oder einfach ignorierte.

Kaum hatten sie den stillgelegten alten Grenzübergang bei Arnheim passiert, ließ Marc die Tachonadel mal kurz auf 235 km/h hochschnellen, ehe sie kurz danach in einen Stau gerieten und er ärgerlich auf die Bremse trat und aufs Lenkrad schlug.

»Verdammt!«, zischte er und griff, da sie nun fast zum Stehen gekommen waren, frustriert wieder nach den Tic-Tacs. Die Hoffnung, bereits in einer guten Stunde infolge Tempo-240-Reisegeschwindigkeit am Meer in Zandvoort sein zu können, konnte er ganz zu Annes heimlicher Freude erst mal begraben.

Sie waren am Ende überstürzt aufgebrochen und lagen in ihrer kleinen Rallye, wer als Erster in Holland einträfe, im Moment abgeschlagen auf dem letzten Platz.

Belindas Vater Hendrik hatte bei einer Tasse Kaffee geduldig darauf gewartet, dass die Kinder endlich fertig würden und er sie mitnehmen konnte nach Lövenich, in sein am Feld gelegenes Haus.

Nun saß Belinda seit gut einer halben Stunde wie versteinert neben ihrem Mann Tom und starrte, umspült von seichten Jazzklängen, die den Innenraum erfüllten, in die unschuldige Landschaft. Sie lauerte, wie er, auf etwas Ungreifbares, Großes, das sich unaufhaltsam auf sie zubewegte. Der Name dieses Etwas war Angst.

Sie war ihr begegnet, als sie zu Beginn der Woche durch Kölns Einkaufsstraßen gelaufen war. Getragen von den wogenden Menschenmassen in der Schildergasse und später in der Breite Straße hatte sie sich plötzlich unwohl gefühlt angesichts dieses permanenten Zuviels an fremder menschlicher Nähe.

Sie hatte nach einem kleinen eigenen Geschenk für Kat gesucht, etwas, das sie ihr alleine schenken wollte, etwas Persönliches jenseits der großen Überraschung, für die sie, die Borcherts, die Bantlins (sie nannte Feline und Stefan gern der Einfachheit halber so) und Anne und Marc zusammengelegt hatten: einen sogenannten WaterRower-Heimtrainer der Marke Horizon, wie ihn Kevin Spacey in »House of Cards« im Keller stehen hatte. Doch am Ende hatte sie den KARSTADT in der Breite Straße nass geschwitzt und geradezu fluchtartig verlassen und war ohne Geschenk mit der dann zum Glück nur halbvollen S 1 nach Hause gefahren.

Inzwischen wusste sie, was ihr plötzlich eine solche Angst gemacht hatte: Sie hatte an Toms Äußerung über Wachstum und Verfall denken müssen und sich, warum auch immer, erneut persönlich davon angesprochen angefühlt. Aber warum eigentlich?

Belinda war inzwischen 44 und hatte, wenn sie auf ihr bisheriges Leben zurückblickte, viele richtige Entscheidungen getroffen. Sie hatte nach dem Abitur nicht gleich studieren wollen und eine mehrmonatige USA-Reise gemacht. Sie hatte anschließend an der Sporthochschule Sportjournalismus und Sportmarketing studiert in der Hoffnung, mit einem guten Abschluss in einer der großen Sportredaktionen des Landes anheuern und dort ihr Interesse an den vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Marketing und Spitzensport vertiefen zu können. Und tatsächlich hatte ihr die Deutsche Presse Agentur DPA nach einer ganzen Reihe von erfolglosen Bewerbungen bei Sendern eine Stelle als Redakteurin mit dem wie auf sie zugeschnittenen Schwerpunktbereich »Sport und Marketing« in der Berliner Zentralredaktion angeboten. Belinda hatte ihr Glück kaum fassen können, war aber kurz vor ihrem geplanten Umzug in die Hauptstadt schwanger geworden – und hatte die Stelle daraufhin schweren Herzens abgesagt.

Tom hatte damals in der Bank bereits so viel verdient, dass sie sich ganz auf ihre Schwangerschaft hatte konzentrieren können. Sie war zur Gymnastik gegangen und zum Schwangerenschwimmen, hatte einen Yogakurs besucht, sich mit Atemtechniken vertraut gemacht und Stillbücher gelesen. Wer ihr damals begegnete, blickte in das erwartungsfrohe Gesicht einer glücklichen jungen Frau und werdenden Mutter.

Auch, dass sie sich nach mehreren durchaus ernsteren Beziehungen am Ende für Tom als ihren Lebenspartner und möglichen Vater ihrer Kinder entschieden hatte, hatte sie nie bereut.

Dann war Lennart geboren worden, das zweifellos schönste Ereignis in ihrem Leben. Denn seine Hervorbringung war das absolut Kreativste, was ihr je gelungen war. Und als sie etwas mehr als ein Jahr später erneut schwanger wurde und Clara zur Welt brachte, war sie endgültig bei sich angekommen – und ihr einstiger Traum von einer Karriere als Sportmarketing-Journalistin war schmerz- und nahezu geräuschlos unter einer Flut von Eindrücken und täglichen Erfahrungen als Mutter zweier wunderbarer Kinder verschwunden. Alles schien dem großen, einst gefassten Plan zu folgen, hatte sich erfüllt und war gut, so wie es war.

»Blindes, ungestümes Wachstum programmiert den Kollaps geradezu vor!«, hatte sie Tom zufällig kürzlich zu jemandem am Telefon sagen hören und spontan gedacht: Gilt das dann womöglich auch für uns? Sind wir als Familie in unseren Ansprüchen zu schnell und zu ungestüm gewachsen? Denn, ja: Aus ihrer ersten raufasertapezierten und eigentlich ziemlich verwinkelten Dreizimmerwohnung war am Ende eine sich über zwei weitläufige Etagen erstreckende 220-Quadratmeter-Topaltbau-Herberge geworden. Ihre alten Wagen – ihren VW Golf und Toms in die Jahre gekommenen Audi A 3 – hatten sie durch einen wuchtigen, mit allen Extras ausgestatteten, perlgrauen Volvo-V 90-Kombi ersetzt und um einen kleineren V 40 gleicher Farbgebung ergänzt, den meistens sie fuhr (Tom hatte ihnen einen tollen Rabatt rausgeholt!). Und statt ihre Ferien wie früher im Bayrischen Wald, im Allgäu oder in Holland am Meer zu verbringen, buchten sie inzwischen, wenn es die Borcherts als Familie nach einem Klima-und Kulturraumwechsel verlangte, als Unterkünfte erste Adressen an der Algarve, in Miami oder auf Kreta.

Hatten sie bei all dem womöglich übersehen, dass sie zu viel wollten? Und vor allem zu schnell? Zu viel Schönes? Zu viel Luxus? Zu viel von allem? Ohne zu bemerken und sich dessen bewusst gewesen zu sein, dass sie damit einen wie auch immer gearteten Kollaps eingeleitet hatten?

Die Vorstellung, dass sie verarmen könnten, ließ Belinda inzwischen nicht mehr los. Denn was, wenn Toms üppig sprudelnde Quellen plötzlich versiegten, die aufgenommenen Kredite sie zu erdrosseln begännen und das Wort Hypothek über ihnen zu kreisen begänne wie ein Geier, der nur darauf wartete, dass sie sich ihm ergaben?

Was, wenn die Kinder die Privatschule in Widdersdorf verlassen und auf ein gewöhnliches Gymnasium überwechseln mussten, downgegradet wurden, weil sie, ihre Eltern, die Mittel dafür nicht mehr aufbrächten? Vor allem Lennart, dieser kleine Snob, würde ihnen das nie verzeihen, nicht er! Und was wäre mit allem anderen: dem Gärtner und der polnischen Putzfrau, die zweimal die Woche kam? Was würde aus ihrer inzwischen liebgewonnenen Gewohnheit, zweimal im Jahr ihre Garderobe von Grund auf zu erneuern, und den exorbitanten Handyverträgen der Kinder, deren Rentabilität und wahrscheinlich irrwitzig hohe Monatsabrechnungen bislang kein Schwein kontrollierte (Warum auch? Wir haben’s ja!)? Was würde aus ihrem Hang zum Erwerb teurer biologischer Nahrungsmittel, dem sie grundsätzlich bei BASIC frönten?

Toms Verfall-Statement verfolgte sie inzwischen bis in ihre Träume, in denen sie sich als abgerissene Pennerin einen mit ihren verdreckten Klamotten und prallen Plastiktüten vollgestopften REWE-Einkaufswagen durch die Südstadt schieben sah, dazu von Tom und den Kindern keine Spur!

»Was ist denn mit dir?«, fragte Tom, der ihre dunklen Gedanken plötzlich mit Händen greifen zu können meinte. »Ist dir nicht gut? Fahre ich zu schnell?«

»Nein, nein!«, wiegelte Belinda ab, sie wollte nicht über das reden, was da in ihrem Kopf zu wachsen und sich auszubreiten schien wie ein Tumor.

Ja, sie hatte Angst! Nicht nur, dass sie aus der schönen Welt ausziehen mussten, die sie ihr Leben nannten, sondern auch, dass sie nicht wieder zurückkonnten in das Davor, weil ihre Ansprüche längst andere, höhere geworden waren! Sie wollte auf keinen Fall raus aus dem Paradies, das sie sich gemeinsam mit Tom lauter und tüchtig erschlossen hatte! Sie war schließlich keine raffgierige, sündige Eva, die – ohne es zu bemerken – von der verbotenen Frucht gekostet hatte! Oder etwa doch?

Sie versuchte, die sie in diesen Minuten wie eine Zwangsjacke umschließende Angst wegzudrücken und die »Jacke« durch regelmäßige tiefe Atemzüge Stück für Stück zu weiten.

Tom konnte Problematisches aus der Gedankenwelt seiner Frau im Moment nicht wirklich gebrauchen. Also lenkte er ihre Aufmerksamkeit schnurstracks nach vorne, nach Holland, und sagte: »Was Kat wohl zu unserem Geschenk sagen wird? Na, die wird vielleicht Augen machen!«

»Ja, das wird sie wohl!«, erwiderte Belinda daraufhin halblaut und wie zu sich selbst und beobachtete im selben Moment perplex, wie auf der im Seitenfenster vorbeiziehenden Weide eine schwarzweiß gefleckte Kuh plötzlich wie vom Blitz getroffen umfiel.

Stefan genoss ihr ruhiges Dahingleiten bei Tempo 120 km/h in Richtung Amsterdam.

Die Kinder, die sie bei Felines Eltern untergebracht hatten, fehlten ihm jetzt schon. Wie zwei schutzbedürftige Kätzchen hatten sie sich am Morgen im Elternbett an ihn gedrückt. Seit seiner Krise wussten sie um seine Gefährdung durch unsichtbare Kräfte. Dass er verwundbar war, und mehr als das: dass sie ihn verlieren konnten!

Tim und Luise hatten ihn erlebt, wie sie ihn nie hätten sehen dürfen. Eines Vaters, wie sie ihn verdienten, unwürdig. Die Anstrengung, dabei wenigstens halbwegs Haltung zu bewahren, sobald sie die Bildfläche betraten, erschien Stefan im Rückblick größer als alles, was er bis dahin in seinem Leben hatte vollbringen müssen. Und er fragte sich, an was genau sie sich erinnern würden, wenn sie in ein paar Jahren auf das zurückblickten, was sie noch vor einem Monat hatten erleben müssen?

Welche Bilder würden sie sehen? Ihren Vater als kurioses, angstmachendes Gregor-Samsa-Etwas, das mal mit den Armen rudernd schlafunfähig durch die dunklen Zimmer spukte, dann wieder jaulend und wie vom Blitz getroffen zu einem Häufchen Asche zusammengesunken in irgendeiner Zimmerecke kauerte – mehr Tier als Mensch?

Oder würden sie, sobald ihr Unterbewusstsein ihnen – warum auch immer – die Eindrücke jener Tage wieder vorspielte, spontan die Escapetaste drücken, und der Bildschirm vor ihrem inneren Auge würde schwarz? Ja, wahrscheinlich wäre das so. Und das wäre gut so.

Stefan setzte diesbezüglich ganz auf die Sublimierungs- und Selbsterhaltungskräfte der Jugend. Was hatte er selbst nicht alles wegstecken müssen, als Sohn eines Alkoholiker-Vaters, der gegen Ende hin, bereits auf weniger als 50 Kilogramm abgemagert, am Frühstückstisch die Literflasche Jägermeister ansetzte oder – wenn nichts anderes im Haus war – auch schon mal Haarwasser soff? Egal. Hauptsache, Ethanol! Dazu das abfällige Gerede der anderen über seinen Säufervater. Dessen täglich fortschreitende Verwahrlosung und Verwirrung, sein langsames Absterben.

Was aber würde er erinnern, wenn er an seine Kinder zum Zeitpunkt seiner Krise dächte? Zwei immer freundliche, jedoch erkennbar irritierte Zuschauer seines Kampfes mit sich selbst, die nicht verstanden, was sie sahen? Ja. Aber auch zwei kleine tapfere Wanderer, die er auf ihrem steinigen Weg im Stich gelassen hatte.

Stefan klopfte sich ein paarmal seitlich mit der zur Faust geballten Hand gegen den Kopf, wie um einen darin entstandenen Wackelkontakt dadurch zu beheben. Dann wandte er sich der leuchtend hell vorbeifliegenden Landschaft zu, die nichts wollte, als da zu sein. Er genoss den Blick auf die sich weithin erstreckenden Ebenen mit ihren das Grün da und dort in weiträumige Parzellen zerteilenden, kaum erkennbaren Kanälen.

Vor nicht allzu langer Zeit wäre für ihn ein solcher Trip nach Holland noch so unvorstellbar gewesen wie eine Reise zum Mars. Doch nun, da sich seine Tabletten tatsächlich wie angenommen in dem Seitenfach seiner Freitag-Tasche befanden und Feline ihn dafür, nachdem sie von der Toilette der kleinen Raststätte zurückgekehrt war, wie zur Belohnung geküsst hatte, war ihm, als schaukele er an Bord einer Jolle auf leichter Dünung in einen Sonnenuntergang hinein.

»Hast du deine Tablette heute auch brav genommen, mein Schatz?«, fragte Feline, obwohl sie natürlich wusste, dass sie nicht seine Krankenschwester war, und verstellte darum – wie um ihm zu signalisieren, dass sie ihre Frage im Grunde selbst doof fand – ihre Stimme ins Roboterhafte. Dabei legte sie ihm zärtlich die linke Hand aufs Knie.

»Ja«, sagte Stefan mit tiefer, ähnlich verstellter Stimme: »Hab meine Tablette genommen. Hab meine Tablette genommen. Hab meine Tablette genommen!«

»Braver Junge!«, fiepte Feline und lachte.

»Was meinst du, wie’s wird?«, fragte Stefan.

»Schön, hoffe ich doch!«, sagte Feline, brach ein Stück von der Tafel Nussschokolade ab, die sie an der Raststätte gekauft hatte, und schob es sich mit einer anmutigen Bewegung in den Mund.

Stefan hatte ihren Namen auf Anhieb gemocht, auch wenn er erst später kapierte, worauf er anspielte, nämlich auf alles Katzenhafte. Selten hatte er zuvor das Gefühl gehabt, dass ein Name treffender zu dem damit verbundenen Menschen passte, als er es im Fall von Feline tat. Sie hatte nämlich tatsächlich etwas Felinenhaftes, war wendig wie eine Katze und immer hellwach. Dazu eine messerscharfe Beobachterin, die zumeist auf Samtpfoten durchs Leben lief. Und manchmal konnte sie auch zu einer Jägerin werden, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, das sie partout haben oder erreichen wollte.

Sie rollten auf Amersfoort zu, und Stefan bekam Hunger. Bis nach Zandvoort waren es anschließend noch knapp achtzig Kilometer. Er verspürte plötzlich Lust anzuhalten, die Decke aus dem Kofferraum zu nehmen und sich für eine Stunde mit Feline ins Gras zu legen. Die kleine Digitalanzeige neben dem Tacho zeigte als aktuelle Außentemperatur 16 Grad an, und die Sonne schien.

»Ich hab Hunger!«, sagte er, löste die rechte Hand vom Steuer und fuhr sich damit demonstrativ im Uhrzeigersinn über den Bauch. »Was haben wir?«

»Wurstbrote, Kefir und ein paar Äpfel«, sagte Feline.

»Super!«, machte er. »Dann lass uns anhalten, und wir picknicken für ’n Stündchen oder so, okay?«

»Gut!«, sagte Feline.

Er sah sie von der Seite an, beobachtete, wie ihr langes Haar sich wie ein Vorhang vor ihr schön geschnittenes, von den hohen Wangenknochen dominiertes Gesicht schob, und sagte: »Du!?«

»Mhm?«, machte sie und verstaute dabei die Schokolade im Handschuhfach.

»Du bist toll!«, sagte er.

»Wieso das?«, fragte sie überrascht, aber auch sichtbar geschmeichelt, und wandte ihm, noch immer leicht vorgebeugt, ihr Gesicht in Form einer leichten Drehung zu.

»Einfach so!«, sagte er und fühlte, wie sich in seinem Innern eine warme Welle der Dankbarkeit aufzubauen begann, die ihm jeden Moment die Tränen in die Augen zu treiben schien. Denn, ja, das war er: dankbar dafür, dass sie ihn in der Dunkelheit, in die es ihn unversehens geschleudert hatte, nicht alleine gelassen hatte. Und dass sie ihm nicht eine Sekunde lang das Gefühl gegeben hatte, in ihren Augen plötzlich weniger wert zu sein, bloß weil er auf einmal nicht mehr richtig funktionierte.

Die hohe Anfangsdosierung des Antidepressivums (150 mg pro Tag) hatte, als es nach vier ihm unendlich lang erscheinenden Wochen endlich zu wirken begann, gleichzeitig dazu geführt, dass jede über ein allgemeines Tumbheitsgefühl hinausgehende Regung in ihm wie abgetötet schien. Die Fähigkeit zu Glücksgefühlen oder das Empfinden von Befriedigung schien ebenso komplett in ihm abgeschaltet zu sein wie das natürliche Kälte- oder Wärmeempfinden oder sexuelle Lust, sodass ihm die Vorstellung, jemals wieder mit Feline Sex haben zu können, mit einem Mal ebenso abstrus erschien wie der Wunsch, fliegen zu können oder nicht mehr zu altern. Zudem hatte die Einnahme der Tabletten anfangs kleinere Halluzinationen bei ihm ausgelöst, dumme, ihm Angst machende Sinnestäuschungen, und den Boden unter seinen Füßen derart massiv schwanken lassen, dass er glaubte, an Deck des in ein gewaltiges Unwetter hineinrasenden Schoners Sloughi aus seinem einstigen Lieblings-Abenteuerroman »Zwei Jahre Ferien« von Jules Verne zu stehen.

Inzwischen kreiste das Anafranil in seiner Blutbahn wie ein friedlicher, weil gut gesättigter Haifisch. Und ja, er war wieder Stefan Bantlin, 45 Jahre alter Betreiber eines Tonstudios, Vater von zwei Kindern und ausgestattet mit einem zu seiner eigenen Verwunderung in diesen Sekunden jäh wiedererwachten Sexualtrieb, was dazu führte, dass er plötzlich an nichts anderes mehr denken konnte als daran, innerhalb der nächsten Viertelstunde mit der neben ihm sitzenden Frau Sex im Freien zu haben.

Katharina war weiterhin gereizt. Erst Roberts Schlendrian am Morgen. Danach der dumme Stau. Und nun auch noch dieser blöde Anruf ihres Verlegers Dr. Cornelius Burkhardt.

Ihr erstes Ziel auf dieser schwierigen Reise in ihr fünfzigstes Lebensjahr, vor allen anderen in Zandvoort einzutreffen, um die Ankömmlinge dann jeweils mit einem Glas Veuve Clicquot zu empfangen, konnte sie inzwischen getrost vergessen. Denn noch immer saßen sie im Wagen.

Sie waren in einen Stau geraten, weil ein umgestürzter LKW seine gesamte Ladung, Tonnen von hellbraunem Sand, über die Fahrbahn ergossen hatte. Die herbeigerufene Feuerwehr hatte das Zeug in mühsamer Kleinbaggerarbeit beiseitegeschafft, sodass der Stau sich nach 56 Minuten endlich aufgelöst hatte.

Burkhardt hatte ihr unlängst, nachdem die University Of Michigan ihr für ihr bislang vorliegendes Werk den angeblich renommierten Edna-Ferber-Award zugesprochen hatte, zum Zustandekommen einer kleinen Lesereise durch die USA gratuliert, nun aber am Telefon mehr als angedeutet, dass das Projekt aufgrund dreier Absagen fest eingeplanter Veranstalter leider wahrscheinlich zu seiner Enttäuschung nicht zustande käme.

Katharina hätte, nachdem der italophile Burkhardt das Gespräch mit einem unangebracht saloppen »Arrivederci, Bella!« beendet hatte, am liebsten auf der Stelle ihr Smartphone aus dem Fenster geworfen.

Was hatte sie im Taumel aus Überschwang, wilder Vorfreude und plötzlich ins Unermessliche angewachsenen Größenfantasien nicht alles hinausposaunt? Wie stand sie denn nun da vor ihren Freunden und Bekannten? Als Aufschneiderin, die so tat, als seien sie und ihre Romane im Begriff, den amerikanischen Buchmarkt zu entern! Kat goes Amerika! Von wegen!

Katharina hasste diesen Burkhardt plötzlich aus tiefster Seele, hasste diesen gottverdammten Tag, hasste die ganze Welt. Und diese Edna Ferber, die, das hatte sie gegoogelt, doch tatsächlich 1925 den Pulitzerpreis erhalten haben sollte, kannte hierzulande auch kein Schwein! Nicht mal ihrer Lieblingsbuchhändlerin im Rheincenter, die, was die Namen von vergessenen Autoren betraf, ein geradezu enzyklopädisches Wissen besaß, hatte »diese Ferber« etwas gesagt. Die Großhändler hatten nicht einen einzigen Titel von ihr gelistet, so, als hätte es die Verfasserin von angeblich mehr als einem Dutzend zum Teil sogar verfilmter Romane nie gegeben. Wahrscheinlich war die Frau in Wahrheit eine Erfindung von Wikipedia, Google und diesen Universitätsleuten da unten in Michigan, um sich und ihre kleine Provinzuni wichtigzumachen. Von ihr aus konnten die sich ihren blöden Award sonst wo hinstecken!

Katharina war nun mächtig in Fahrt und suchte schnaubend Bestätigung für ihr gutes Recht auf ihre schäumende Wut bei Robert, den sie scharf von der Seite ansah. »Das ist doch auch scheiße, oder?!«

Robert war nach all den Jahren an Katharinas Seite inzwischen klug genug, nicht auf ihre Bitte um die ebenfalls wortreich vorgetragene Bestätigung ihrer Gefühle einzugehen. Denn bereits ein falsches Wort konnte genügen, um all ihre sich eben noch gegen Gott und die Welt artikulierte Wut urplötzlich gegen ihn zu richten. Robert kannte die dunklen Schleichwege, die ihre gekränkte Psyche manchmal nahm, wenn es darum ging, ihre angetastete Ehre zu verteidigen und wiederherzustellen.

Mit dem freimütigen Eingeständnis, für eine wirklich sinnvolle Einschätzung der Situation nicht das dazu nötige Hintergrundwissen zu besitzen, zog er sich geschickt hinter seine Worte zurück wie ein Polizist hinter seinen Schutzschild, dem eine Horde aufgebrachter, Steine werfender Demonstranten entgegenkam.

»Na klar! Monsieur hält sich mal wieder aus allem raus! Typisch!«, eiferte Katharina drauflos und trat mit dem Fuß mit voller Wucht gegen die fein geriffelte Frontkonsole. Robert nahm ihren kleinen Ausbruch amüsiert zur Kenntnis.

Doch selbst ein solch herber Rückschlag konnte sie (das impfte sie sich in diesen Minuten im Stillen autosuggestiv ein) auf ihrem begonnenen Eroberungsfeldzug der ausländischen Sellerlisten nicht aufhalten! Dann musste sie eben den britischen Umweg nehmen: London (ist doch super!) statt N.Y. und Birmingham (auch okay!) statt Boston – um die Amis hintenherum zu kriegen.

Dieser Burkhardt musste sie mit der ganzen Macht und Manpower des hinter ihm stehenden Riesenkonzerns in den englischsprachigen Buchmarkt reindrücken und ihren Namen dort dauerhaft auf die Agenda setzen. Sie war schließlich eine deutsche Bestsellerautorin mit Einzelauflagen, von denen die sogenannten Hochliteraten hierzulande nicht mal zu träumen wagten. Die ersten drei Titel ihrer siebenteiligen SCHLÄFERin-Serie hatten sich jeweils im hohen sechsstelligen Bereich verkauft und waren, wie Burkhart es damals, euphorisiert von den GFK-Zahlen, ausgedrückt hatte, »durch die Decke gegangen«. Zu Recht, wie Katharina fand. Denn ihre Heldin Sona Gasparyan war groß und unerschrocken, eine unbeugsame Einzelkämpferin, eine Art Jane Bond in Zeiten von ISIS-Terror, NSA, Facebook und den großen Flüchtlingsströmen. Ein unbestechliches, freigeistiges Wesen – und eine kühle Mischung aus Lara Croft und Lisbeth Salander dazu. Schlau und hochsensibel, dabei so unbeirrbar und unerschrocken in ihrer Mission wie die russische Reporterin der regimekritischen Novaja Gazeta, Anna Politkowskaja, die man umgebracht hatte, weil sie den Machthabern im Kreml zu gefährlich geworden war.

Es gab dabei aus aktueller Sicht gesehen allerdings ein kleines Problem mit Sona: Sie schwieg seit inzwischen gut zwei Monaten beharrlich, hielt sich vor ihr versteckt und gab nicht den leisesten Mucks in Form eines einzigen brauchbaren Satzes von sich, aus dem sich auch nur ansatzweise etwas hätte spinnen oder stricken lassen. Nichts!