Bis du wieder gehst - Peter Henning - E-Book

Bis du wieder gehst E-Book

Peter Henning

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Beschreibung

»Ich hatte seit Jahren nicht mehr an meine Mutter gedacht. Und geglaubt (und, ja, gehofft), die Verbindung zwischen uns sei für immer abgerissen. Holte mich nun alles wieder ein? Die eigenen Wurzeln, das begriff ich plötzlich, lassen sich nicht kappen, so sehr man es auch versucht.«

Seit zehn Jahren hat Henry Kaplan nichts von seiner Mutter gehört. Bis zu dem Anruf aus dem Uni-Klinikum Frankfurt. Seine Mutter sei auf dem Bahnhof zusammengebrochen und liege auf der Intensivstation. Im Koma. Henry sei als Notfallkontakt verzeichnet. Und so fährt der Antiquar aus dem Schwarzwald nach Hessen, ans Krankenbett der Mutter. Es wird eine Reise, die Mut von ihm verlangt und zugleich schmerzhafte Erinnerungen weckt. Henry war vier Jahr alt, als seine Mutter ihn das erste Mal verlassen hat. Ohne ein Wort ist sie in ein wartendes Taxi gestiegen und davongefahren. In ein Leben ohne ihn. Nach ein paar Monaten bei der Großmutter kommt er ins Heim. Eines von vielen traumatischen Erlebnissen. Kann man die Zeit kommentarlos zurückdrehen? Das lebenslange Gefühl von Verlassenheit, die Enttäuschungen und Kränkungen beiseiteschieben? Henry Kaplan begreift, dass dieser Moment auch eine Chance ist. Dass er womöglich erst frei sein wird, wenn er ihr vergibt.

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»Ich hatte seit Jahren nicht mehr an meine Mutter gedacht. Holte mich nun alles wieder ein?«

Seit zehn Jahren hat Henry Kaplan nichts von seiner Mutter gehört. Bis zu dem Anruf aus dem Uni-Klinikum Frankfurt. Seine Mutter sei auf dem Bahnhof zusammengebrochen und liege auf der Inten­sivstation. Im Koma. Henry sei als Notfallkontakt verzeichnet. Und so fährt der Antiquar aus dem Schwarzwald nach Hessen, ans Krankenbett der Mutter. Es wird eine Reise, die Mut von ihm verlangt und zugleich schmerzhafte Erinnerungen weckt. Henry war vier Jahre alt, als seine Mutter ihn das erste Mal verlassen hat. Ohne ein Wort ist sie in ein wartendes Taxi gestiegen und davongefahren. Kann man die Zeit kommentarlos zurück­drehen? Das lebenslange Gefühl von Verlassenheit einfach vergessen, die Enttäuschungen und Kränkungen beiseiteschieben? Henry Kaplan begreift, dass dieser Moment auch eine Chance ist.

PETER HENNING, 1959 in Hanau geboren, verbrachte Teile seiner Kindheit im Heim. Er studierte Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und lebt heute als freier Schriftsteller und Journalist in Köln. Seit 2015 unterrichtet er zudem als Lehrbeauftragter der Universität Köln Kreatives Schreiben. Seine literarische Arbeit wurde mit Stipendien der Kunststiftung NRW und der Robert Bosch Stiftung gefördert. Zuletzt erschien sein Roman »Die Tüchtigen« im Luchterhand Literaturverlag.

Peter Henning

Bis du wieder gehst

Roman

Luchterhand

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Copyright © 2022 Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung buxdesign / München unter Verwendung eines Fotos aus dem Privatarchiv von © Peter Henning

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-641-28510-4V001 

www.luchterhand-literaturverlag.de

www.facebook.com/luchterhandverlag

www.twitter.com/luchterhandlit

»Werde ich eines Tages etwas anderes erzählen

können als meine Geschichte?«

Pierre Drieu La Rochelle

I

»Hallo? Spreche ich mit Henry Kaplan?!«, sagte die Frauen­stimme. Sie formulierte den Satz als Frage, doch er klang wie eine Drohung.

»Ja«, sagte ich in das Halbdunkel des Zimmers, in dem sich trotz der offenen Fenster die Hitze staute. »Wer spricht da?«

»Dr. Beatrice Blum«, fuhr die Frau fort. »Ich bin die Leiterin der Intensivstation am Uni-Klinikum in Frankfurt. Es geht um Ihre Mutter, die eingeliefert wurde. Sie wollte wohl eine Reise antreten und ist im Hauptbahnhof zusammengebrochen. Wahrscheinlich in Folge eines Herzstillstands. So jedenfalls die Vermutung des Rettungssanitäters vor Ort. Genaueres werden die weiteren …«

»Meine Mutter …?«, unterbrach ich sie.

»Wer ist das?«, sagte Martha verschlafen und knipste auf ihrer Seite des Betts das Licht an.

Ich sah sie kurz an, zuckte mit den Achseln und strich ihr mit der freien Hand zärtlich über die Wange.

Tatsächlich aber hatte ich mehr verstanden, als mir lieb sein konnte, und sagte dar­um zu der Frau am Telefon, als ließe sich das Ganze noch aufhalten, schroff: »Woher haben Sie meine Nummer?«

»Unter den Sachen Ihrer Mutter fand sich ein Zettel mit der Notiz: Im Notfall diese Nummer anrufen! Darunter Ihr Name. Sie sind doch Ihr Sohn?«

»Ja, schon«, sagte ich widerwillig und war nun hellwach. »Aber das verstehe ich nicht! Ich habe seit zehn Jahren nichts mehr von meiner Mutter gehört. Woher hatte sie meine Nummer?«

»Keine Ahnung!«

Es ließ sich, so sehr ich mich auch dagegen sträubte, nicht länger leugnen: Meine Mutter war wieder in mein Leben getreten! Sie war zurück. Ganz plötzlich. Genau wie früher, wenn sie eines Tages aus heiterem Himmel anrief oder nach Jahren überraschend in einem Blumenladen hinter mir stand. Sie hatte sich kein bisschen geändert.

»Sie sind also der Sohn von Erika Uhlig, geboren 1952 in Oschersleben, Sachsen-Anhalt.«

Offenbar war sie im Besitz der Kennkarte meiner Mutter.

»Ja«, sagte ich. »Aber die Dinge sind komplizierter.«

Ich heiße Kaplan, seit ich denken kann. Meine Mutter ist eine gebürtige Kaplan. Warum ich nicht den Namen meines Vaters trage, mit dem meine Mutter immerhin kurz verheiratet war, weiß ich nicht. Den Namen annehmen wollte ich allerdings auch nicht. Wer will schon Dittberner heißen?

Der Name »Kaplan« ist jüdischer Herkunft und hat die Bedeutung »Tiger«. Was nicht heißen soll, ich sei ähnlich mutig wie die Raubkatze. Im Gegenteil! Unter meinen Mitschülern galt ich als Schwächling, weil ich den üblichen Schulhofraufereien regelmäßig aus dem Weg ging. Und wenn Martha auf der Kirmes fragt, ob ich mit ihr »Wagon Wheel« fahre, kneife ich regelmäßig. Meine Stärken liegen woanders.

Es gibt, wie ich irgendwann herausfand, einen polnischen Poolbillardspieler namens Kaplan. Und einen israelischen Jazz-Saxofonisten. Insgesamt listet das Internet mehr als fünfundachtzig Personen mit dem Namen Kaplan. Auch ein amerikanischer Pokerspieler ist da­runter. Allesamt Typen mit ungewöhnlichen Professionen, wie mir scheint. Da falle ich als Antiquar, der mit alten Büchern, seltenen Drucken, vergriffenen Postkarten und Autografen handelt, wohl nicht sonderlich aus dem Rahmen.

Und dass man mich seit Ewigkeiten Henry ruft, erklärt sich so: Zwar willigte meine Mutter, so die Legende, ein, mich dem Wunsch meiner Großmutter folgend auf den Namen Heinrich taufen zu lassen, der auf das Alt-Sächsische »Hainrich« zurückgeht. Weil sie aber von jeher ein Faible für alles Amerikanische besaß, bestand sie beim Rufnamen auf der englischen Kurzform.

Ich hatte seit Jahren nicht mehr an meine Mutter gedacht. Und geglaubt (und, ja, gehofft!), die Verbindung zwischen uns sei für immer abgerissen. Holte mich nun alles wieder ein?

Die eigenen Wurzeln, das begriff ich plötzlich, lassen sich nicht kappen, so sehr man es auch versucht.

Vor über zehn Jahren hatte eines Abends mein Telefon geläutet und, nachdem ich abgenommen und meinen Namen genannt hatte, hatte eine Männerstimme gesagt: »Ich bin der Freund Ihrer Mutter und rufe Sie aus folgendem Grund an: Man hat Ihre Mutter in die Psychiatrische Abteilung der Höchster Klinik gebracht, sie wiegt nur noch fünfundvierzig Kilogramm und weigert sich zu essen.«

Ich konnte aus den Worten des Mannes die Sorge he­raushören.

»Ich liebe Ihre Mutter!«, sagte er mit heller, klarer Stimme. »Doch sie will erst wieder essen, wenn Sie zu ihr kommen! Tun Sie das für mich?! Kommen Sie? Ich flehe Sie an! Retten Sie sie für mich! Bitte!«

Ich weiß noch, dass ich mir, während er sprach, das Gesicht des Anrufers vorzustellen versuchte. Das Gehirn tut so etwas: Es ergänzt, um sich ein Bild zu machen, unvollständige Informationen automatisch mit solchen der Fantasie, um dadurch die Unvollkommenheit des Eindrucks wettzumachen.

»Wer sind Sie eigentlich?«, sagte ich. Ich sagte es nüchtern und scheinbar ohne Mitgefühl, was weniger an ihm lag als vielmehr an meinen zwiespältigen Gefühlen meiner Mutter gegenüber. Und fügte sogleich hinzu: »Wenn sie leben will, wird sie wieder essen! Wenn nicht, muss sie sterben!«

Ich konnte mir gut vorstellen, wie das für den Anrufer klingen musste.

Ich beendete das Gespräch mit den Worten: »Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann!« Und es fühlte sich richtig an. Auch jetzt noch, all die Jahre später.

»Wie geht es ihr?«, sagte ich widerwillig und wollte mir gar nicht vorstellen, was die Anruferin mir auf diese Frage antworten würde.

Martha hatte in der Küche etwas zu trinken geholt und hielt mir ein halbvolles Glas Bier hin.

»Sie ist ohne Bewusstsein«, sagte die Stimme.

»Heißt das, sie liegt im Koma?«, sagte ich und trank von dem Bier.

»Ja, aufgrund des kurzzeitigen Herzstillstands müssen wir davon ausgehen, dass ihr Gehirn durch die damit verbundene temporäre Sauerstoffunterversorgung schwer geschädigt wurde. Sie spricht nicht auf gezielte Schmerzreize an.«

Ich stellte mir den reglos in einem Krankenhausbett liegenden, mit einem dünnen blauen oder weißen Hemd bekleideten Körper meiner Mutter vor, verkabelt und angeschlossen an leise rauschende Maschinen, die ihre Vitalfunktionen überwachten und dar­auf programmiert waren, deren möglichen Totalausfall augenblicklich mit einem schrillen Alarmsignal zu melden.

»Hat sie noch andere Verwandte außer Ihnen?«, fragte die Ärztin.

»Nein! Nur mich, soweit ich weiß.«

Wie das klang! Als seien meine Mutter und ich die einzig Verbliebenen in dieser plötzlich auf die wenigen Quadratmeter eines Krankenzimmers geschrumpften Welt.

»Wann können Sie hier sein?«, sagte sie.

Ich holte tief Luft, um Zeit zu gewinnen, warf Martha einen hilflosen Blick zu und sagte: »So bald wie möglich natürlich!«

Im nächsten Moment sah ich meine Mutter wieder vor mir: ein Reh, das in die grellen Scheinwerfer eines heranrasenden Wagens blinzelt.

»Bei dem Versuch, Ihre Mutter vor Ort zu reanimieren, wurde ihre Milz leider so stark verletzt, dass eine Operation unumgänglich ist. Sie wird gerade dar­auf vorbereitet. Sollten dar­über hinaus weitere Krisen oder Komplikationen auftreten, so ist es an Ihnen, zu entscheiden, wie weiter verfahren werden soll.«

In ein verständliches Nicht-Mediziner-Deutsch übersetzt hieß das: Das Leben meiner Mutter lag ab sofort in meinen Händen!

»Verstehe!«, sagte ich, leerte das Glas und stellte es auf meinen Nachttisch. Ich sagte nur dieses eine Wort, unfähig, jene Betroffenheit zu äußern, die in einer solchen Situation wahrscheinlich angebracht gewesen wäre.

Man hat nur eine Mutter, sagte in meinem Lieblingsbuch Der Fremde von Albert Camus der Restaurant­betreiber Céleste zur Hauptfigur Meursault, nachdem dieser vom Tod der eigenen Mutter erfahren hatte. Der auf seine verquere Weise tröstlich gemeinte Satz des Mannes, bei dem der Büroangestellte Meursault regelmäßig sein Mittagessen einnimmt, war mir plötzlich eingefallen. Doch er spendete mir nicht den geringsten Trost.

Im Gegenteil. Er machte mir Angst.

II

Als ich am nächsten Morgen die Wohnung verließ, gab Martha mir einen Kuss auf die Wange und sagte: »Du machst das schon!«

Später, als mir ihr Spruch wieder einfiel, dachte ich: Sie hat gut reden! Was stellte sie sich denn vor? Dass ich das Ganze wie einen schwierigen Ankauf abwickelte und ich mich nur auf mein zweifellos vorhandenes Verhandlungsgeschick zu verlassen brauchte, um gut aus der Sache rauszukommen?

Unten zog ich einen Brief von Hans aus dem Kasten, schob ihn in die Innentasche meines Sakkos und lief zum Taxistand an der Ecke. Mein Zug nach Frankfurt fuhr in knapp vierzig Minuten. Auf dem Weg dorthin bliebe mir genügend Zeit, um den Brief zu lesen.

Dritten gegenüber sprach ich von Hans als meinem Bruder. Und in gewisser Weise war er das auch. Er war der Bruder, den ich nie hatte, ich mir aber immer gewünscht hatte. Genau genommen war er der jüngere Bruder meines Vaters, das sogenannte schwarze Schaf der Familie. Die verdorbene Frucht.

Mein Vater hatte sich für Hans’ Existenz immer geschämt, als lasse sein Anderssein unvorteilhafte Rückschlüsse auf seine eigene Person zu. Einmal war ich Zeuge gewesen, wie er auf die Frage, ob er Geschwister habe, antwortete: »Nein, leider nicht!«

Doch das war lange her, mein Vater alt und schon längst nicht mehr Teil meines Lebens, und Hans, dieser verunglückte Hund, so denke ich inzwischen manchmal, der Einzige, den ich neben Martha noch habe.

Hans hatte Steuerberater werden wollen, doch stattdessen sein halbes Leben hinter Anstaltswänden zugebracht. Genau betrachtet waren wir einander gar nicht so unähnlich: Beide hatten wir einen eher missglückten Start hingelegt.

Hans hatte seine Träume als junger Mann begraben müssen und das, worauf ich zurückblicken konnte, war die Biografie eines viel zu früh auf sich gestellten Einzelgängers, die von gewissen Anfangsschwierigkeiten geprägt war, nachdem meine Mutter sich aus dem Staub gemacht hatte: Kinderheim, eine verunglückte Schulkarriere samt Rauswurf und ein abgebrochenes Studium. Dazu ein paar Frauengeschichten, die im Rückblick nicht bedeutender waren als flüchtig auf eine beschlagene Fensterscheibe geschriebene Buchstabenfolgen. Trotzdem hatte Hans mich dafür immer bewundert. Um sich diesbezüglich nicht als Versager zu fühlen, vögelte er manchmal in der Anstalt irgendwelche Patientinnen auf der Tischtennisplatte des Freizeitraums.

Die Briefe, die er mir schrieb, waren immer noch gespickt mit verdeckten Vorwürfen, sodass ich manchmal nicht fähig war, sie gleich nach dem Öffnen zu lesen. Dass ich seit dem Tod seiner Mutter die Rolle seines gesetzlichen Vormunds übernommen hatte, hatte unser ohnehin kompliziertes Verhältnis zusätzlich belastet. Denn brach er aus der psychiatrischen Anstalt aus, was mehrfach vorgekommen war (zweimal war er im Winter barfuß und in kurzen Hosen weggelaufen), so war es an mir, ihn mithilfe der Polizei suchen zu lassen und zurückzubringen. Wiederholt bezeichnete er mich deswegen als »Verräter«. Einmal schrieb er: »Du machst mit denen gemeinsame Sache! Du bist genau wie die! Du willst nicht, dass ich frei bin und lebe so wie du!« Am Zustand der kantigen Buchstaben konnte ich die Anstrengung ablesen, die es ihn jedes Mal kostete, sie aufs Papier zu setzen.

Er liebte und hasste mich zugleich.

Seit Jahren besuchte ich ihn in wechselnden Einrichtungen, und brachte ihm – einem unumstößlichen Ritual folgend – immer das Gleiche mit: die von ihm gewünschte DeBeukelaer-Prinzenrolle. Eine Stange Filterzigaretten und eine Maxi-Dose löslichen Kaffee. Obendrein gab ich ihm jedes Mal etwas Geld, das ich früher neben dem Studium als Kassierer in einem Großmarkt verdient hatte oder in den Nachtschichten als Gabelstaplerfahrer in der Autoreifenfabrik.

Vordergründig reihte er in seinen Mitteilungen zumeist kleine Beobachtungen aneinander, die er im Park oder von seinem vergitterten Zimmerfenster aus machte. In seinem vorletzten Brief berichtete er von einem Vogel (es sei ein Star gewesen, da sei er sicher!), der mit einem dumpfen Schlag gegen sein vergittertes Fenster geflogen sei und einen gezackten, sternförmigen Blutfleck dar­an hinterlassen habe. Außerdem war dar­in von einer jungen Frau die Rede, der es gelungen sei, das Gitter vor ihrem Fenster zu sprengen und sich hinunter in den Hof zu stürzen.

In einem wiederkehrenden Traum wuchtet er wie der Zyklop in der Odyssee zitternd und schnaufend einen schweren Felsbrocken in die Höhe, um ihn auf mich niederfahren zu lassen. Aber jedes Mal wache ich glücklicherweise im letzten Moment auf und weiche zurück.

Nächtliche Visionen dieser Art suchten mich immer wieder heim. Bedrückender aber waren jene, in denen ich mich im dämmrigen Badezimmer unserer ehemaligen Frankfurter Wohnung in Bornheim stehen sah, in dem meine Mutter (so stellte ich es mir jedenfalls vor) sich schminkte, bevor sie mit den Worten »Ich muss kurz weg!« verschwand und ich, gerade mal vier Jahre alt, am Fenster auf der Couch stehend, mit ansah, wie sie unten in ein bereits wartendes Taxi stieg und davonfuhr. Um alles stehen und liegen zu lassen, wie man so sagt, und, wie ich später herausfand, den Zug nach Ostende zu erreichen? Den Zug in ein neues Leben, wie sie das anderen gegenüber damals genannt haben soll. Ein Leben ohne mich.

Die Frage, wie sie es bewerkstelligt hatte, ihre Flucht vorzubereiten, verfolgt mich ebenso bis heute, wenn ich dar­an zurückdenke, wie jene, weshalb sie die Wohnung ohne eine Tasche oder einen Koffer verließ. Hatte sie die Tasche mit dem Nötigsten dar­in womöglich bereits Tage zuvor gepackt und in einem günstigen Moment hinunter in den Keller geschafft, um sie anderentags zum Bahnhof zu bringen und in einem Schließfach zu deponieren?

Ich habe die kurze Chronologie ihres Verschwindens später, als ich älter war, wieder und wieder in Gedanken zu rekonstruieren versucht und mich gefragt, was der Grund dafür gewesen sein mochte.

Hans hatte sie auf seine oft undurchschaubare Weise gemocht und sogar insgeheim, wie er mir irgendwann verriet, ein wenig für sie geschwärmt, sie aber einmal in einem Moment unkontrollierten Zorns aufgrund ihres Verhaltens als Flittchen bezeichnet.

Es gibt ein Foto, das zeigt ihn gemeinsam mit ihr und meinem Vater in einem Ausflugslokal, sein Blick ruht auf ihr und spricht Bände. Einmal habe sie ihn allein im »Schwarzberg«, wie sie die psychiatrische Einrichtung im Rheingau nannten, besucht, sei aber bereits nach einer Viertelstunde aufgesprungen und mit Tränen in den Augen hinausgelaufen. Im Weglaufen war sie offenbar schon immer ganz groß gewesen.

Vor allem aber fragte ich mich jahrelang, ob sie sich damals auch nur einen Moment lang überlegt hatte, was aus mir, ihrem vierjährigen Sohn, werden würde, als sie verschwand. War sie davon ausgegangen, dass ich, was dann ja auch geschah, automatisch zu meinem Vater und seiner Mutter käme, als sie mich zurückließ? Oder hatte sie sich Fragen wie diesen bewusst verweigert, um nicht, bei dem Versuch ihrer Beantwortung von Skrupeln gepackt, auf den letzten Metern vor der Umsetzung ihres gefassten Plans zurückweichen zu müssen?

Eine Freundin meiner Mutter fand mich am Tag nach ihrem endgültigen Verschwinden in der Badewanne, in die ich mich mit einigen Spielsachen und meiner Kuscheldecke zurückgezogen hatte, um zu warten, und nahm mich erst einmal zu sich. Meine Mutter hatte ihr, wie die Freundin mir später verriet, den Wohnungsschlüssel in den Briefkasten geworfen, dazu einen Zettel, auf dem die Adresse der Mutter meines Vaters stand, der sich nie für mich interessiert hatte, und der Satz: »Ich kann nicht mehr. Kümmere Dich um ihn und veranlasse das Nötige!«

So kam ich zunächst zu meiner Großmutter und ihrem polnischen Liebhaber Pawel und wenig später in ein Kinderheim in einem Dorfflecken in der Nähe von Würzburg.

»Nur für eine Zeit lang, dann holen wir dich!«, hatte meine Großmutter damals gesagt. Am Ende hatte es Jahre gedauert, bis sie es taten.

Das Ganze war inzwischen viele Jahre her, und ich hatte die Bornheimer Wohnung, nachdem meine Mutter mich verlassen hatte und ich wenig später ins Heim kam, nie mehr betreten, obwohl ich als Erwachsener noch manchmal vor dem Haus im Hinterhof einer Autowerkstatt stand, um hinauf in den zweiten Stock zu spähen. Hin und wieder konnte man von dort aus nachts, wenn der Wind günstig stand, das Brüllen bestimmter Zootiere in ihren Gehegen hören. Luftlinie war der Tierpark keine vierhundert Meter von uns entfernt gewesen.

In meinen Fantasien kehrte ich regelmäßig in unsere damalige Wohnung zurück und strich zärtlich mit den Fingern über ihre vielleicht achtlos im Bad zurückgelassenen Nylonstrümpfe, die auf der über der Badewanne von Wand zu Wand gespannten Schnur hingen; berührte ahnungsvoll die Flakons, Tiegel und Cremedöschen auf der Spiegelablage und nahm die zur Hälfte gerauchte, am Rand des Aschenbechers wie eine verschlüsselte Botschaft für mich dort zurückgelassene Zigarette und führte sie an die Lippen. Dabei überfiel mich, nachdem ich sie wieder zurückgelegt hatte, regelmäßig ein vages, mir unerklärliches Gefühl von Sehnsucht. Aber auch die Angst, die Zigarette könnte sich wie von Geisterhand neu entzünden, von einem Luftzug des vielleicht in der Küche gekippten Fensters erfasst werden, auf den vor dem Waschbecken liegenden abgeschabten Frotteevorleger fallen und die Wohnung in Brand setzen.

III

Ich stieg aus dem Zug und lief Richtung Hauptausgang. Durch die Oberlichter der weitläufigen Bahnhofshalle drang das gedämpfte Licht des beginnenden Nachmittags herein.

Früher hatten sich zu beiden Seiten der Halle auf Höhe der zweiten Ebene die Wohnungen der Bahnangestellten befunden. Ich weiß das, weil ich einer Eisenbahnerfamilie entstamme und es Fotos gibt, die meinen Vater als Jungen an der Seite seines weißbärtigen, mit einer dunklen Eisenbahner-Uniform bekleideten Großvaters zeigen. Mein Urgroßvater leitete einst die Gepäckabteilung an der Stirnseite von Gleis 5, dessen Vater war Lokführer gewesen.

Beim Anblick der ein- und auslaufenden Züge packte mich das jähe Verlangen, umzudrehen und den nächstbesten Zug zurück zu nehmen. Was konnte ich hier schon anderes ausrichten, als am Bett meiner Mutter zu sitzen und dar­auf zu warten, dass sie starb, um anschließend den lästigen Papierkram zu erledigen, der den Schlussstrich unter ihr Leben zog?

In der Annahme, nicht lange fort zu sein, hatte ich irgendwelche sommerlichen Kleidungsstücke in meine Reise­tasche gelegt, Halbarm-Hemden, Shorts, ein zweites Paar Schuhe, Waschzeug. Das Allernötigste eben. Doch in Frankfurt angekommen überfiel mich, anders noch als im Zug, in den ich schließlich eingestiegen war, das ungute Gefühl, eine Mission angetreten zu haben, die mich womöglich länger, als mir lieb sein konnte, an das Bett meiner Mutter fesseln würde. Denn was, wenn sie sich Zeit mit dem Sterben ließ? Niemand konnte voraussagen, wann ein Herz sich entschloss, nicht länger schlagen zu wollen.

Unsere Urlaubspläne konnten wir fürs Erste vergessen. Martha und ich hatten geplant, mit dem Wagen wie im Vorjahr nach Istrien ans Meer zu fahren. Nach Wir würden auf den schönen Zeltplatz dort zurückkehren, auf dem wir glücklich gewesen waren, die meiste Zeit am Strand herumliegen, viel schwimmen und abends gegrillten Fisch essen und schweren dalmatinischen Rotwein trinken.

Martha liebte es zu zelten. Als Kind war sie viele Male mit ihren Eltern, die ein Boot besaßen, in Kroatien gewesen und war Wasserski gelaufen. Es gibt Bilder, die zeigen sie als braungebrannte vierzehnjährige Bikini-Schönheit in einem roten Adidas-Shirt, mit von der Sonne ausgebleichten schulterlangen, in der Mitte gescheitelten erdbeerblonden Haaren. Wäre ich ihr damals begegnet – ich hätte mich auf der Stelle unsterblich in sie verliebt.

Ich nannte dem Fahrer als Ziel das Uni-Klinikum und ließ mich missmutig in den Sitz zurücksinken. Sonnenhelle Fassaden zogen vorüber. Banktürme, die in der tiefstehenden Sonne ihre langen Schatten über die Stadt breiteten. Wir überquerten den Main. Ruhig und grau strömte er dahin, so wie er es immer getan hatte. Und immer tun würde. Durch die vorderen offenen Seitenfenster drang brausend der heiße luftabschnürende Fahrtwind herein, sodass ich innerhalb weniger Minuten nass geschwitzt war.

Seit ein paar Wochen litt ganz Europa unter einem Hoch mit Temperaturen bis an die vierzig Grad, sodass wir regelmäßig erst nach Einbruch der Dämmerung die Holzläden öffneten, um die langsam abkühlende, von den tausend Aromen des nahen Waldes durchsetzte Luft hereinzulassen.

Vom Balkon unserer Wohnung aus hatte man einen ungestörten Blick auf die sich sanft erhebenden Hügel des Schwarzwaldes. Immer wieder konnte man beobachten, wie Raubvögel in engen Schleifen über der Landschaft kreisten, eine mögliche Beute in den Blick nahmen, den Radius ihrer Schleifen nach und nach verkleinerten und enger zogen und irgendwann pfeilschnell hinabstießen, um sie zu packen. Was hätte ich in diesen Minuten dafür gegeben, gemeinsam mit Martha auf dem Balkon zu sitzen und bei einem eiskalten Glas Bier in die hereinbrechende Nacht zu schauen. Und den nach und nach verstummenden Geräuschen des Waldes zu lauschen. Im Schein der flackernden Teelichter, welche Martha kürzlich in großer Zahl auf dem Balkongeländer platziert hatte.

Plötzlich hasste ich mich für die dumme Widerspruchs­losigkeit, mit der ich der Bitte der Ärztin, an das Sterbe­bett meiner Mutter zu kommen, nachgekommen war. Denn wo, bitte, stand geschrieben, dass ich ihr Folge zu leisten gehabt hätte? Niemand hätte mich dazu zwingen können.

Wohl dar­um saß ich nun in diesem Taxi, das mich auf direktem Weg in eine Vergangenheit zurückbeförderte, die ich, dessen war ich mir doch bis vor kurzem sicher gewesen, lange hinter mir gelassen hatte. Weil es mir grundsätzlich schwerfiel, jemandem etwas abzuschlagen, Nein zu sagen. Schon gar nicht einer Ärztin, die mich dar­um bat, an das Lager einer Sterbenden zu eilen.

Ich tastete nach dem inzwischen durchgeweichten Brief in der Innentasche meines Sakkos, zog ihn hervor und las erneut die in Hans’ unsicheren Handschrift aufs Papier gedrückten Adressbuchstaben, als ließe sich aus ihnen eine Art alter Sicherheit ableiten und wiederherstellen. Ich würde ihn anrufen, sobald ich mehr sagen konnte, was meinen Aufenthalt hier betraf, und ihm einen Besuch für die nächsten Tage in Aussicht stellen. Die Vorstellung, ihm bald in der kleinen Cafeteria gegenüberzusitzen, vermittelte mir ein Stück alter Gewohnheit, die mir gerade verloren zu gehen schien. Außerdem liebte ich ihn auf eine nie zwischen uns zur Sprache gekommen Weise. Ob er es wusste?

Wir hatten uns in der Familie immer wie Spione in einer fremden Welt gefühlt: Er, der früh durch seine Krankheit Stigmatisierte und von den anderen Isolierte, Weggesperrte und ich, das Kind, das lange keiner haben wollte. Was uns verband, war die Rolle des Beobachters, die wir jeweils für uns eingenommen hatten. Wir waren Teil der Familie, waren dabei – und gehörten doch nie wirklich dazu.

In etwas weniger als einer Stunde war man mit dem Zug von Frankfurt aus bei ihm. Die Vorstellung, Hans bald wiederzusehen, gefiel mir.

Keine zehn Minuten später hielt der Wagen vor dem Haupteingang des Klinikums. Ich bezahlte und nahm meine Reisetasche, stieg aus und blinzelte missmutig in Richtung des riesigen verglasten Gebäudes, in dem irgendwo meine Mutter lag und künstlich am Leben gehalten wurde.

IV

Nach mehrmaligem Läuten öffnete sich die Milchglastür der Intensivstation und eine Frau in einem von häufigem Waschen ausgebleichten grünen Kittel stand vor mir. Nachdem ich der Pflegerin meinen Namen genannt hatte, drehte sie sich auf dem Absatz um, öffnete eine Art Spint und nahm einen ebenfalls grünen Kittel heraus. Anschließend forderte sie mich auf, ihn überzuziehen und meine Hände mithilfe eines der in regelmäßigen Abständen an den Wänden angebrachten Spenders zu desinfizieren. Dann lief sie durch einen langen Flur voraus, vorbei an Zimmern, deren Türen allesamt entfernt worden waren, um schnellstmöglichen Zugang zu den dar­in um ihr Leben Kämpfenden zu gewährleisten.

Ich war nie zuvor auf einer Intensivstation gewesen, und es wäre gelogen, würde ich an dieser Stelle behaupten, der Anblick der reglos in ihren Betten liegenden, von piepsenden oder leise surrenden Maschinen umstellten und an Kabel und Schläuche angeschlossenen Patienten hätte mich kaltgelassen.

Nach etwa fünfundzwanzig Metern blieb die Frau stehen.

Und dann stand ich vor ihr. Ihre nicht sehr großen Augen waren geschlossen, die Haut wirkte im fahlen Licht der an der Decke angebrachten Neonleuchte käsig und stumpf. Früher war meine Mutter einmal eine sehr schöne Frau gewesen, das zeigten die wenigen alten Schwarz-Weiß-Fotos, die ich von ihr besaß. Doch nun kam sie mir verwandelt vor, gealtert und deutlich fülliger. Wie eine leicht verwahrloste Version ihrer selbst.

Das Erste, was ich registrierte, war der Geruch, der von ihr ausging: Sie roch nach Kölnisch Wasser. Offenbar hatte man sie damit eingerieben. Oder bildete ich mir das nur ein? Denn eigentlich hatte meine Mutter billiges Eau de Cologne immer gehasst. Früher war ihr kein Parfüm zu teuer gewesen, um ihre ohnehin vorhandene Wirkung auf Männer mit dem einen oder anderen Spritzer edler Düfte auf beide Handgelenke oder ihr einst üppiges Dekolleté noch zu steigern.

Da lag sie nun, eingeschlossen in einer tiefen Bewusstlosigkeit, die sich langsam über ihr zuzog wie der Reißverschluss des Totensacks, in den man sie wahrscheinlich bald stecken würde. Den von dunklen, spröden halblangen Haaren umflossenen Kopf hielt sie starr nach links gewandt, wie es ältere Menschen tun, die schlecht hören, um so ihr Gegenüber besser verstehen zu können.

Wie sie so dalag, war sie mir vollkommen fremd. Und als hätte es erst dieser physischen Nähe zu ihr bedurft, um dies wieder zu sehen, wich ich unmerklich einen Schritt vor dieser Fremden zurück.

Es hatte früher zwischen uns immer wieder von Missverständnissen und wechselseitigen Kränkungen geprägte Begegnungen gegeben, die dazu führten, dass wir uns so plötzlich wieder aus den Augen verloren, wie wir uns gefunden hatten. Und dann war da die Phase gewesen, in der sie immerzu anrief und minutenlang klingeln ließ, ich aber nicht abhob. Wenn sie dann an meiner Tür läutete, machte ich nicht auf. Ich hatte genug von ihr. Von ihrer Überspanntheit und ihrem dauernden Verlangen nach Nähe.

Was hatte sie denn gedacht? Dass sich das Versäumte einfach so nachholen und oder wiedergutmachen ließ, und dass wir noch einmal Anfang spielten, indem wir uns dauernd trafen und so taten, als gäbe es unsere Geschichte nicht? Und sie mir teure Jacken und Hemden schenkte, mir den Kauf eines neuen Wagens in Aussicht stellte und mir eines Abends eine fünfstellige Summe in einem Umschlag in den Briefkasten warf? Als eine Art verspätete Ausgleichszahlung für verweigerte Geborgenheit und Liebe?