Die Arbeitsgerichtsbarkeit der evangelischen Kirche - Antje Rech - E-Book

Die Arbeitsgerichtsbarkeit der evangelischen Kirche E-Book

Antje Rech

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Beschreibung

Die evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit ist berufen, Rechtsschutz in Fragen des von der evangeli-schen Kirche selbst gesetzten Kollektivarbeitsrechts zu gewähren. Im Rahmen der jüngeren Reformen des evangelischen Prozessrechts lag ein Schwerpunkt auf der Neuordnung der sie betreffenden Vorschriften. Neben diesem innerkirchlichen Veränderungsprozess sieht sich die evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit nicht zuletzt durch die sich wandelnde staatliche Rechtsprechung vor allem zur Jurisdiktionsbefugnis zudem auch von außen kommenden Einflüssen ausgesetzt. Vor diesem Hintergrund untersucht die Arbeit, wie sich das Verhältnis der evangelischen Arbeitsge-richtsbarkeit zum Staat sowohl in rechtshistorischer als auch in verfassungsrechtlicher Perspektive darstellt. Dabei wird in der rechtshistorischen Betrachtung herausgearbeitet, wie sich im Kontext der sich ändernden Beziehungen von evangelischer Kirche und Staat die evangelische Gerichtsbarkeit insgesamt und im Speziellen die evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit entwickelt haben. Im Anschluss erfolgt dann eine zweigeteilte Betrachtung der verfassungsrechtlichen Problematik. So wird zunächst die Stellung der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit im Rahmen des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV betrachtet. Abschließend wird das Verhältnis von Staat und evangelischer Arbeitsgerichtsbarkeit speziell in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip untersucht.

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Antje Rech

Die Arbeitsgerichtsbarkeit der evangelischen Kirche

– unter besonderer Berücksichtigung

der Geschichte der evangelischen Gerichtsbarkeit

im Allgemeinen und ihrer Beziehung zum Staat –

INAUGURALDISSERTATION

zur Erlangung

des akademischen Grades

einer Doktorin der Rechte

durch die Juristische Fakultät

der Ruhr-Universität Bochum

Dekanin:

Prof. Dr. Andrea Lohse

Erstgutachter:

Prof. Dr. Jacob Joussen

Zweitgutachter:

Prof. Dr. Klaus Schreiber

Tag der mündlichen Prüfung:

29.10.2019

Antje Rech

Die Arbeitsgerichtsbarkeit der evangelischen Kirche

– unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte der evangelischen Gerichtsbarkeit im Allgemeinen und ihrer Beziehung zum Staat –

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© 2019, Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau

www.lambertus.de

Umschlaggestaltung: Nathalie Kupfermann, Bollschweil

Druck: Franz X. Stückle Druck und Verlag, Ettenheim

ISBN 978-3-7841-3243-3

ISBN eBook 978-3-7841-3244-0

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil A. Einleitung

I. Ziele und Forschungsstand

II. Inhalt und Gang der Untersuchung

Teil B. Die Geschichte der Gerichtsbarkeit der evangelischen Kirche im Allgemeinen und ihrer Arbeitsgerichtsbarkeit im Besonderen im Kontext der Beziehung von evangelischer Kirche und Staat

I. Die Gerichtsbarkeit der evangelischen Kirche von der Reformation bis 1952 und ihr Verhältnis zum Staat

1. Grundlage: Die frühen Ansätze zur evangelischen Kirchengerichtsbarkeit

a) Die Haltung der Reformatoren gegenüber der kirchlichen Gerichtsbarkeit

b) Die Konsistorien

c) Zwischenergebnis

2. Die Entwicklung der kirchlichen Gerichtsbarkeit unter der Weimarer Reichsverfassung

a) Die Weimarer Reichsverfassung und ihre Kirchenartikel

b) Die Konsequenzen aus der Weimarer Reichsverfassung für die evangelische Kirche und ihre Gerichtsbarkeit

c) Das Verhältnis von staatlicher und kirchlicher Gerichtsbarkeit zur Zeit der Weimarer Reichsverfassung

aa) Die Ansichten in der Lehre

(1) Die Korrelatentheorie

(2) Die Gegenstimmen

(3) Die Ansichten der Lehre bezüglich der Staatsaufsicht über die kirchliche Gerichtsbarkeit

(4) Im Speziellen: Die Ansichten der Lehre zur staatlichen Vollstreckung von kirchlichen Disziplinarentscheidungen

bb) Die Gesetzgebung zur kirchlichen Gerichtsbarkeit

cc) Die Rechtsprechung

d) Zwischenergebnis

3. Die kirchliche Gerichtsbarkeit zur Zeit des Nationalsozialismus

a) Der Kirchenkampf

b) Die Auswirkungen auf die evangelische Gerichtsbarkeit

c) Die Behandlung kirchenrechtlicher Streitfragen durch die staatlichen Gerichte

d) Die Ansichten der Lehre bezüglich Kirchenhoheit und Gerichtsbarkeit

e) Zwischenergebnis

4. Die evangelische Kirchengerichtsbarkeit ab 1945

a) Der (Wieder-) Aufbau der kirchlichen Gerichtsbarkeit der EKD und ihrer Gliedkirchen

b) Die Beweggründe zum (Wieder-) Aufbau der kirchlichen Gerichtsbarkeit

c) Zwischenergebnis

II. Die Entwicklung der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit

1. Das Verhältnis des Betriebsverfassungsrechts zu den Religionsgemeinschaften bis 1952

2. Das Mitarbeitervertretungsrecht der evangelischen Kirche

a) Das Entstehen der gliedkirchlichen Mitarbeitervertretungsgesetze

b) Das Streben nach Rechtsvereinheitlichung

3. Die evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit von 1952 bis heute

a) Die staatliche Haltung bezüglich des Aufbaus einer evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit

b) Die evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit von 1952 bis heute

aa) Das MVG.EKD 1992

bb) Die Änderungsgesetze zum MVG.EKD 1992

c) Das MVG-EKD nach der Reform

aa) Der Aufbau der Gerichtsbarkeit der EKD

bb) Die verfahrensrechtliche Ausgestaltung

d) Die Bindung an Schrift und Bekenntnis

e) Zwischenergebnis

III. Zusammenfassung Teil B

Teil C. Die evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit als Teil des Selbstbestimmungsrechts der Kirche gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV

I. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Kirche und Staat

II. Evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit und kirchliches Selbstbestimmungsrecht

1. Die inhaltliche Ausgestaltung des Selbstbestimmungsrechts unter dem Grundgesetz

a) „eigene Angelegenheiten“

b) „Ordnen und Verwalten“

c) „Religionsgesellschaften“

d) „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“

2. Verfassungswandel

a) Andere Einordnung bekannter Tatbestände

aa) Der Ausgangspunkt: Die in den Briefen von Dibelius und Frings geäußerten Gründe für die Schaffung eines eigenen Mitarbeitervertretungsrechts

(1) (Kirchen-) Politische Gründe

(2) „Andersartigkeit“

bb) Folgen für die evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit

(1) Bekenntnisgebundene Rechtsprechung

(2) Dienstgemeinschaft

b) Neue Tatsachen

c) BVerfG

III. Zusammenfassung Teil C unter besonderer Berücksichtigung der Forderung nach Abschaffung der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit

Teil D. Das Verhältnis der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit zum Staat im Lichte des Rechtsstaatsprinzips

I. Die Einordnung der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit in das staatliche System

1. Evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit und staatliche (Arbeits-) Gerichtsbarkeit

2. Die Evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit und die nicht-staatlichen Gerichtsbarkeiten

a) Evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit und weltliche Schiedsgerichtsbarkeit

aa) Evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit und öffentlich-rechtliche Schiedsgerichtsbarkeit

bb) Evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit und weltliche arbeitsrechtliche Schiedsgerichtsbarkeit

b) Evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit und Vereins- bzw. Verbandsgerichtsbarkeit

3. Zwischenergebnis

II. Die Anwendbarkeit des Rechtsstaatsprinzips auf die evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit

1. Evangelische Kirche und rechtsstaatliche Bindung

a) Die staatliche, insbesondere verfassungsrechtliche Perspektive

aa) Die Ansicht de Walls

bb) Die Ansicht Traulsens

cc) Stellungnahme

b) Die kirchenrechtliche Perspektive

2. Evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit und rechtsstaatliche Bindung

a) Staatliche Perspektive

b) Kirchenrechtliche Perspektive

3. Zwischenergebnis

III. Der Rechtsschutz durch das MVG-EKD vor dem Hintergrund des Rechtsstaatsprinzips

1. Wesentliche Elemente eines rechtsstaatlichen, gerichtsförmigen Verfahrens

a) Wesentliche rechtsstaatliche Verfahrenselemente aus staatlicher Sicht

b) Anwendbarkeit der wesentlichen staatlichen Elemente in der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit

2. Die Einhaltung der wesentlichen Elemente eines rechtsstaatlichen Verfahrens durch die evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit im Einzelnen

a) Die Unabhängigkeit des Gerichtes

aa) Sachliche Unabhängigkeit

(1) Die Rechtslage in der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit

(2) Die staatlichen Mindestanforderungen

(3) Die kirchenrechtliche Perspektive

bb) Persönliche Unabhängigkeit

(1) Die Rechtslage in der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit

(2) Die staatlichen Mindestanforderungen

(3) Die kirchenrechtliche Perspektive

cc) Organisatorische Unabhängigkeit

(1) Die Rechtslage in der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit

(2) Die staatlichen Mindestanforderungen

(3) Die kirchenrechtliche Perspektive

dd) Zwischenergebnis unter besonderer Berücksichtigung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25.11.2015 – BVerwG 6 C 21.14

b) Rechtliches Gehör

aa) Die Rechtslage in der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit

bb) Die staatlichen Mindestanforderungen

cc) Die kirchenrechtliche Perspektive

c) Vorläufiger Rechtsschutz

aa) Die Rechtslage in der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit

bb) Die staatlichen Mindestanforderungen

cc) Die kirchenrechtliche Perspektive

d) Rechtsbeistand und ACK-Klausel

aa) Die Rechtslage in der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit

bb) Die staatlichen Mindestanforderungen

cc) Die kirchenrechtliche Perspektive

e) weitere Elemente

3. Zwischenergebnis

IV. Evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit und staatliche Justizgewährung

1. Die Jurisdiktionsbefugnis in kirchlichen Angelegenheiten

a) Die Rechtsprechung von BGH, BVerwG und BVerfG

aa) Die Entwicklung der Rechtsprechung von BGH und BVerwG

bb) Die Haltung des BVerfG

cc) Stellungnahme

b) Die Rechtprechung des BAG unter besonderer Berücksichtung des Beschlusses des BAG vom 30.04.2014

aa) Der Beschluss des BAG vom 30.04.2014 – der Sachverhalt

bb) Der Beschluss des BAG vom 30.04.2014 – Die Entscheidungsgründe

c) Die Auswirkungen des BAG-Beschlusses vom 30.04.2014 auf die evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit

aa) „Parallele Zuständigkeit“

(1) Rechtliche Einordnung der Problematik

(2) „Parallele Zuständigkeit“ im weltlichen Bereich

(3) „Parallele Zuständigkeit“ bei staatlicher und kirchlicher, insbesondere evangelischer Arbeitsgerichtsbarkeit

(4) Zwischenergebnis unter besonderer Berücksichtigung von Rechtsstaatsprinzip und kirchlichem Selbstbestimmungsrecht

bb) Der Beschluss des BAG vor dem Hintergrund des MVG-EKD

(1) Die konkrete Begründung des BAG hinsichtlich des Antrags zu 1)

(2) Die konkrete Begründung des BAG hinsichtlich des Antrag zu 2)

(3) Die Begründungen des BAG vor dem Hintergrund des MVG-EKD

(4) Zwischenergebnis

d) Zwischenergebnis zur Jurisdiktionsbefugnis in kirchlichen Angelegenheiten

2. Die Vollstreckbarkeit kirchenarbeitsgerichtlicher Urteile vor dem Hintergrund der staatlichen Justizgewährung

a) Die Rechtslage in der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit

b) Die staatliche Vollstreckbarkeit kirchenarbeitsgerichtlicher Entscheidungen vor dem Hintergrund des Justizgewährungsanspruchs

aa) Die Entwicklung in der Rechtsprechung

bb) Die Bewertung der Rechtsprechung vor dem Hintergrund der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit

(1) Die grundsätzliche Verpflichtung zur staatlichen Vollstreckung der Entscheidungen der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit aufgrund der Justizgewährungspflicht

(2) Die Reichweite der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Vollstreckung kirchenarbeitsgerichtlicher Entscheidungen

c) Zwischenergebnis

V. Zusammenfassung Teil D

Teil E. Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Protokolle der Kirchenversammlungen/ Synoden

Sonstige Quellen

Lebenslauf: Antje Rech

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde von der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum im Wintersemester 2019/2020 als Dissertation angenommen. Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur sind bis Juni 2019 berücksichtigt. Allen, die im beruflichen und privaten Umfeld diese Arbeit unterstützt und zu Ihrer Entstehung und Veröffentlichung beigetragen haben, bin ich aufrichtig verbunden.

Mein ganz besonderer Dank gebührt dabei meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Jacob Joussen. Er hat nicht nur die Erstellung dieser Arbeit als externe Dissertation ermöglicht und das Vorhaben umfassend unterstützt, sondern mich auch in meinem Bestreben, wissenschaftlich tätig zu sein, stets bestärkt. Durch seine jederzeitige Gesprächsbereitschaft und wertvollen Anregungen hat er entscheidend zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Auch für die Aufnahme der Arbeit in die vorliegende Schriftenreihe danke ich ihm herzlich.

Darüber hinaus gilt mein Dank Herrn Prof. Dr. Klaus Schreiber für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Zudem möchte ich Herrn Prof. Dr. Arndt Kiehnle danken für sein Mitwirken in der Prüfungskommission.

Weiterhin danke ich den Mitarbeitern und jetzigen Kollegen des Lehrstuhls von Herrn Prof. Dr. Jacob Joussen, insbesondere Dr. Tim Husemann, Ludger Kämper, Stephan Schmidt, Julia Steven, Antje Weihrauch und Barbara Werner ebenso wie den ehemaligen Mitarbeitern Dr. Konrad Dabrowski und Dr. Paul Tophof für ihre stetige Hilfsbereitschaft, die vielen wertvollen Impulse und die Unterstützung vor allem in der Abschlussphase der Promotion.

Danken möchte ich auch meiner Familie, insbesondere meinen Eltern. Sie haben mir den Weg in die Rechtswissenschaft erst ermöglicht. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Mann Dr. Karsten Rech und unseren Töchtern Sophia, Franziska und Anna-Lena, die mich in der gesamten Promotionszeit uneingeschränkt unterstützt haben. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet.

Essen, im November 2019

Antje Rech

Teil A.

Einleitung

Während in den letzten Jahren der Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit nicht zuletzt aufgrund mehrerer Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte1 und des EuGH2 auf dem Bereich des kirchlichen Individualarbeitsrechts lag, haben sich auch im kollektiven kirchlichen Arbeitsrecht der evangelischen Kirche weitreichende Veränderungen vollzogen. Diese betrafen vor allem dessen prozessualen Bereich, die evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit.

Denn wenngleich in individualrechtlichen Streitigkeiten des kirchlichen Arbeitsrechts die staatlichen Gerichte zuständig sind, erfolgt die Kontrolle des selbst gesetzten kollektiven Arbeitsrechts der Kirchen durch kircheneigene Gerichte.3 Dabei umfasst das Kollektivarbeitsrecht der Kirchen – anlehnend an die geschichtlich gewachsene Zweigleisigkeit des staatlichen kollektiven Arbeitsrechts in Deutschland4 – zum einen den Bereich des „Dritten Weges“, bei dem an die Stelle eines ausgehandelten Tarifvertrages die von einer paritätisch besetzten Arbeitsrechtlichen Kommission beschlossenen Dienstvertragsverordnungen treten, zum anderen aber auch den gesamten Bereich des Mitarbeitervertretungsrechts.5 Dieses Mitarbeitervertretungsrecht stellt somit das kircheneigene Betriebsverfassungsrecht dar6 und gilt im Bereich der evangelischen Kirche für die etwa 241 0007 Beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der verfassten Kirche und die mehr als 525 0008 hauptamtlich Beschäftigten der Diakonie.9 Bei letzterer handelt es sich um eine Sammelbezeichnung für vielfältige Unternehmungen, die aus der Inneren Mission und dem Hilfswerk der Evangelischen Kirchen hervorgegangen sind, um die Not der Menschen zu lindern, z.B. in Krankenhäusern, Altenheimen, Kindergärten, Betreuungseinrichtungen und Diensten wie der Bahnhofsmission.10

Die evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit ist berufen, Rechtsschutz in Fragen des evangelischen Kollektivarbeitsrechts zu gewähren. Sie ist der jüngste Zweig der evangelischen Gerichtsbarkeit, die zudem noch über eine Verfassungs-, Verwaltungs- und Disziplinargerichtsbarkeit verfügt. Dabei befindet sich die evangelische Gerichtsbarkeit derzeit insgesamt in einem Prozess der Vereinheitlichung.11 Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg wurde auf der Ebene der EKD durch den Erlass des Kirchengesetzes über die Errichtung, die Organisation und das Verfahren der Kirchengerichte der EKD (KiGOrgG.EKD) vom 06.11.2003 gemacht.12 Hierdurch erfolgte die Zusammenfassung der für alle Kirchengerichte der EKD geltenden Regelungen in einem Kirchengesetz.13 Ein Schwerpunkt der Reform lag zudem auf dem Gebiet der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit. Im Zuge der hier vorgenommenen Veränderungen wurde diese grundlegend umgestaltet.

Neben diesem innerkirchlichen Veränderungsprozess sah sich die evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit aber in den letzten Jahren durch eine sich wandelnde staatliche Rechtsprechung14 auch von außen kommenden Einflüssen ausgesetzt, die gegebenenfalls zu weiteren Umgestaltungen führen können. Denn durch die betreffenden Entscheidungen wird die Beziehung von Staat und Kirche in elementarer Weise berührt. So hatte der BGH in seinem Urteil vom 11.02.200015 die bis dahin restriktive Linie der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Justizgewährung im kirchlichen Bereich verlassen und damit letztlich eine Rechtsprechungsänderung der staatlichen Gerichte eingeleitet, der sich in der Folgezeit auch das BVerwG16 anschloss. Die diesbezüglichen Entscheidungen ergingen zunächst zwar nicht im Umfeld des kirchlichen Arbeitsrechts. Die zugrundeliegende Problematik betrifft jedoch die generelle Frage der Möglichkeit und der Reichweite der staatlichen Jurisdiktionsbefugnis in kirchlichen Angelegenheiten und ist damit für die evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit ebenfalls von maßgeblicher Bedeutung. Darüber hinaus wurde aber auch direkt das Verhältnis von staatlicher und kirchlicher Arbeitsgerichtsbarkeit durch den Beschluss des BAG vom 30.04.2014 in Frage gestellt, sah doch das BAG hier die Möglichkeit einer „parallelen Zuständigkeit“.17

1EGMR, Urteil vom 23.09.2010 – 425/03 – Obst ./. Deutschland, NZA 2011, 277–279; EGMR, Urteil vom 23.09.2010 – 1620/03 – Schüth ./. Deutschland, NZA 2011, 279–283; EGMR, Urteil vom 03.02.2011 – 18136/02 – Siebenhaar ./. Deutschland, NZA 2012, 199–202.

2EuGH, Urteil vom 17.04.2018 – C 414/16 – Vera Egenberger ./. Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung, NZA 2018, 569–575; EuGH, Urteil vom 11.09.2018 – C 68/17 („Chefarzt“), NZA 2018, 1187–1190.

3Vgl. EKD, Nichtamtliche Begründung zum Kirchengerichtsgesetz vom 6. November 2003, 2, abrufbar unter: https://www.kirchenrecht-ekd.de/begruendung/38158.pdf (zuletzt abgerufen: 15.06.2019); s. auch Fey, in: Fey/ Joussen/ Steuernagel, Arbeits- und Tarifrecht, 187; Guntau, ZevKR 51 (2006), 327, 329; Kienitz, NZA 1996, 963, 963.

4Richardi, RdA 1999, 112, 116; vgl. auch Jakobi, Konfessionelle Mitbestimmungspolitik, 65, 66.

5Guntau, ZevKR 51 (2006), 327, 329; Hartmeyer, Präjudizialität, 26.

6Joussen, in: Anke/ de Wall/ Heinig, HevKR § 7 Rn. 20.

7Vgl. die Statistik der Beschäftigen der verfassten Kirche in: EKD, Gezählt 2018, 20, abrufbar unter: https://archiv.ekd.de/download/gezaehlt_zahlen_und_fakten_2018.pdf (zuletzt abgerufen: 15.06.2019), nach der die verfasste Kirche am 01.01.2018 241261 Beschäftigte zählte.

8Vgl. Diakonie Deutschland, Diakonie in Zahlen“, Statistik, Stand 2016, abrufbar unter: https://www.diakonie.de/infografiken/die-diakonie-in-zahlen/ (zuletzt abgerufen: 15.06.2019).

9Vgl. Gehring/ Thiele, in: Schliemann, Das Arbeitsrecht im BGB, § 630 Anhang, Rn. 1; Hempel, NZA 2016, 1496, 1497.

10Vgl. Bartmann, in: Heun/ Honecker/ Morlok/ Wieland, EvStLNeu, Sp. 369–371; Munsonius, in: Heinig/ Munsonius, 100 Begriffe aus dem Staatskirchenrecht, 30.

11de Wall/ Muckel, Kirchenrecht, § 41 Rn. 4.

12Schliemann, NJW 2005, 392, 393; de Wall/ Muckel, Kirchenrecht, § 41 Rn.4.

13Guntau, ZevKR 51 (2006), 327.

14Vgl. etwa BGH, NJW 2000, 1555–1557; BVerwGE 149, 139–153, 153, 282–292.

15BGH, NJW 2000, 1555–1557.

16Vgl. BVerwGE 149, 139–153; 153, 282–292.

I. Ziele und Forschungsstand

Die vorliegende Arbeit will daher der Frage nachgehen, wie sich das Verhältnis der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit zum Staat sowohl in rechtshistorischer als auch in verfassungsrechtlicher Perspektive darstellt. Dabei soll konkret die Problematik untersucht werden, ob einerseits die evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit an sich grundgesetzlich geschützt ist und in ihrer aktuellen Form den gegebenenfalls an sie aus verfassungsrechtlicher Perspektive zu stellenden Anforderungen genügt und ob andererseits auch der Staat sich innerhalb des ihm verfassungsrechtlich zugestandenen Rahmens bewegt. Ein umfassender Blick auf diese Aspekte kann aber nur gelingen, wenn auch die rechtshistorische Perspektive berücksichtigt wird. Denn die verfassungsrechtliche Problematik ist eng verknüpft mit der geschichtlichen Entwicklung nicht nur des Verhältnisses von Staat und evangelischer Arbeitsgerichtsbarkeit, sondern vielmehr auch des Staates zur evangelischen Kirche insgesamt. Daher ist diese Thematik ebenfalls miteinzubeziehen, der verfassungsrechtlichen Fragestellung gleichsam voranzustellen.

Der dargestellte Fragenkomplex wurde bislang größtenteils nur in Teilaspekten in Kommentaren, Aufsätzen und Monographien berücksichtigt. Allein Schilberg widmete sich in seiner Dissertation des Jahres 1991 ausführlich dem arbeitsrechtlichen Rechtsschutz in der evangelischen Kirche.18 In dieser Arbeit untersuchte er im Anschluss an eine staatskirchenrechtliche Grundlegung zum einen die Reichweite des staatlichen Rechtsschutzes im Bereich des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts in den evangelischen Kirchen, zum anderen aber auch die innerkirchlichen Streitschlichtungsmechanismen und die innerkirchliche Rechtskontrolle. Diese Arbeit wurde jedoch vor der weitreichenden Neugestaltung der evangelischen Gerichtsbarkeit verfasst, war vielmehr mitbestimmend für die vorgenommenen Veränderungen im Reformprozess. Insofern lag ein Schwerpunkt der Arbeit auf der „umfangreichen Zusammenstellung wesentlicher Gesichtspunkte hinsichtlich der Schlichtungsausschüsse“19. Darüber hinaus datiert die Untersuchung Schilbergs aus der Zeit vor der beginnenden Rechtsprechungsänderung zur staatlichen Jurisdiktionsbefugnis in kirchlichen Angelegenheiten.

Ein umfassender Blick auf die evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit nach der innerkirchlichen Reform und der einsetzenden Rechtsprechungsänderung staatlicher Gerichte existiert nicht. Zwar bezieht die Arbeit von Hartmeyer20 aus dem Jahr 2015 die derzeitige Rechtslage der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit in ihre Untersuchung mit ein. Der Fokus dieser Dissertation ist jedoch ein anderer, liegt er doch auf der Problematik der Präjudizialität kirchengerichtlicher Entscheidungen sowohl der evangelischen als auch der katholischen Arbeitsgerichtsbarkeit im kollektiven Arbeitsrecht. Weitere Arbeiten, die sich mit der evangelischen kirchlichen Gerichtsbarkeit insgesamt21, mit anderen Zweigen der evangelischen kirchlichen Gerichtsbarkeit22 oder mit dem Rechtsschutz im kirchlichen Bereich allgemein23 auseinandersetzen und insofern Teilaspekte des aufgeworfenen Fragenkomplexes beinhalten, wurden vor dem Erlass des KiGOrgG.EKD verfasst. Gerade das zeitliche Zusammentreffen der grundlegenden gesetzlichen Neuausrichtung der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit im Jahre 2003 und der sich gleichzeitig abzeichnenden Veränderung der staatlichen Rechtsprechung im Hinblick auf das Verhältnis von Kirche und Staat macht aber die eingehende Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex in seiner Gesamtheit erforderlich. Die vorliegende Dissertation möchte diese Forschungslücke schließen.

Darüber hinaus veranschaulicht auch die bereits angeführte Zahl der Mitarbeiter von Diakonie und verfasster Kirche die Relevanz der näheren Betrachtung dieses Fragenkomplexes. Die Zuständigkeit der evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit für eine derart große Anzahl an Beschäftigten erfordert in besonderem Maße, dass im kollektiven Arbeitsrecht klar definierte Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Daher möchte diese Arbeit zudem zur Rechtsvereinheitlichung beitragen und Alternativvorschläge zu potentiellen Problempunkten des gerichtlichen Rechtsschutzes der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit entwickeln.

18S. Schilberg, Rechtsschutz und Arbeitsrecht.

19Schilberg, Rechtsschutz und Arbeitsrecht, 7.

20Hartmeyer, Präjudizialität.

21S. hier Germann, Gerichtsbarkeit; Schoofs, Geschichte und Gegenwartsgestalt.

22S. etwa Hansch, Disziplinargerichtsbarkeit; Maurer, Verwaltungsgerichtsbarkeit.

23S. hier etwa Hesse, Rechtsschutz; Kästner, Staatliche Justizhoheit und religiöse Freiheit.

II. Inhalt und Gang der Untersuchung

Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich dabei auf das Rechtsschutzsystem im Bereich des Mitarbeitervertretungsrechts. Denn die Kammer für mitarbeitervertretungsrechtliche Streitigkeiten des Kirchengerichts der EKD entscheidet zwar gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 5 KiGG.EKD i.V.m § 17 Abs. 1 ARGG-EKD neben den Rechtsstreitigkeiten aus dem Bereich des Mitarbeitervertretungsrechts auch über solche aus dem Arbeitsrechtsregelungsgrundsätzegesetz. Die konkrete Ausgestaltung des Rechtsschutzes in beiden Bereichen divergiert jedoch. Betrachtet man nun die von den evangelischen Arbeitsgerichten entschiedenen Fälle, so stellt man fest, dass der Großteil dieser Streitigkeiten solche des Mitarbeitervertretungsrechts betrifft.24 Das Mitarbeitervertretungsrecht stellt somit in der evangelischen – ähnlich wie im Bereich der katholischen – Kirche den „Kern der Rechtsprechungspraxis“25 dar.26 Dessen prozessuale Ausgestaltung wird daher im Zentrum dieser Untersuchung stehen.

Wie bereits angeführt, liegt dabei ein erster Schwerpunkt der Arbeit auf der rechtshistorischen Betrachtung des Verhältnisses von Staat und evangelischer Arbeitsgerichtsbarkeit. Somit soll in Teil B herausgearbeitet werden, wie sich im Kontext der sich verändernden Beziehung von evangelischer Kirche und Staat die evangelische Gerichtsbarkeit insgesamt und im Speziellen die evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit entwickelt haben. Da mehrere verfassungsrechtliche Problemstellungen im Umfeld der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit letztlich im generellen Verhältnis von Staat und Kirche wurzeln und infolge dessen bisweilen identisch sind mit denjenigen in den übrigen, zeitlich vor ihr entstandenen Zweigen der evangelischen Gerichtsbarkeit, sollen in einem ersten Unterkapitel die Entwicklungen der evangelischen Gerichtsbarkeit allgemein bis zum Entstehen der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit aufgezeigt werden. Hierbei soll die staatliche und kirchliche Sichtweise der Beziehung im entsprechenden zeitlichen Kontext ebenso mit einbezogen werden wie die Auswirkungen des jeweiligen politischen Kontextes auf die Gesetzgebung zur kirchlichen Gerichtsbarkeit und die staatliche Rechtsprechung im Bereich der kirchlichen Angelegenheiten. Sodann kann in der zweiten Hälfte des Teils B unter Berücksichtigung der vorhergehenden Ergebnisse die Historie der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit bis zu ihrer heutigen Form herausgearbeitet werden. Diese Betrachtung darf auch die Entwicklungen im Bereich des materiellen Mitarbeitervertretungsrechts nicht außer Acht lassen. Im Rahmen der hier ebenfalls vorzunehmenden Darstellung der Grundzüge der aktuellen Konzeption der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit wird zudem näher auf den zentralen Unterscheidungspunkt zur staatlichen Gerichtsbarkeit, die Bindung der Richter an „Schrift und Bekenntnis“, einzugehen sein.

Sodann wird ein Wechsel von der rechtshistorischen zur verfassungsrechtlichen Perspektive stattfinden und die heutige Beziehung der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit zum Staat vor dem Hintergrund des Grundgesetzes beleuchtet werden. Dies hat zweigeteilt zu erfolgen. In Teil C soll zunächst die Stellung der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit im Kontext des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV betrachtet werden. Neben dieser grundgesetzlichen Regelung stellt aber zudem das Rechtsstaatsprinzip ein aus verfassungsrechtlicher Perspektive die Beziehung von Staat und evangelischer Gerichtsbarkeit in maßgeblicher Weise prägendes Element dar. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass im Rahmen der staatlichen Rechtsprechung bezüglich der kirchlichen Gerichtsbarkeit in zentraler Weise auf „die Einhaltung elementarer rechtsstaatlichen Anforderungen“27 abgestellt wird. Vor diesem Hintergrund wird daher im Rahmen der verfassungsrechtlichen Betrachtung in Teil D zudem das Verhältnis von Staat und evangelischer Arbeitsgerichtsbarkeit in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip untersucht werden.

In Teil C wird sich die Untersuchung jedoch nicht auf eine Subsumtion unter die Vorschrift des Art. 140 GG iVm Art. 137 Abs. 3 WRV beschränken. Vielmehr soll hier auch die zukunftsgerichtete Frage nach einem möglichen Verfassungswandel beantwortet werden. Eine umfassende Betrachtung wird es zudem erforderlich machen, die bereits in Teil B herausgearbeiteten rechtshistorischen Befunde in diese verfassungsrechtliche Betrachtung miteinzubeziehen. Zugleich soll vor diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund auch eine Auseinandersetzung mit der Forderung nach Abschaffung der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit erfolgen, die bereits im Vorfeld der Reform geäußert worden war.28

Im Zentrum von Teil D wird dann die Problematik stehen, ob einerseits die Arbeitsgerichtsbarkeit der evangelischen Kirche in der aktuell vorliegenden Form die eventuell an sie zu stellenden rechtsstaatlichen Anforderungen an einen ausreichenden Rechtsschutz erfüllt und andererseits auch der Staat gegenüber dieser kirchlichen Gerichtsbarkeit innerhalb der ihm von der Verfassung gesetzten Grenzen agiert. Um nun diese komplexe Fragestellung näher zu betrachten, ist ein mehrstufiges Vorgehen erforderlich. Hier wird in einem ersten Schritt eine Einordnung der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit im Gefüge der übrigen sich im staatlichen System befindlichen Gerichtsbarkeiten vorzunehmen sein. Hierauf aufbauend kann in einem zweiten Schritt herausgearbeitet werden, inwieweit das Rechtsstaatsprinzip überhaupt auf die evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit Anwendung finden kann, um dann anhand dieses Ergebnisses konkrete Anforderungen und Kriterien zu entwickeln, die das Rechtsstaatsstaatsprinzip speziell an die evangelische Arbeitsgerichtsbarkeit stellt. Die hier entwickelte Systematik soll herangezogen werden, um in einem dritten Schritt zu untersuchen, inwieweit die aktuellen Vorschriften im Bereich der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit den an sie zu stellenden Anforderungen entsprechen. Sollten sich hier Diskrepanzen zeigen, so sollen Alternativvorschläge für die jeweilige Regelung erarbeitet werden. Im Rahmen der im vierten Schritt vorzunehmenden Betrachtung der dem Staat durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen ist zunächst die Problematik der Kollision von kirchlichem Selbstbestimmungsrecht und staatlicher Justizgewährung zu untersuchen. Hier sind sowohl die höchstrichterlichen Entscheidungen im Hinblick auf eine Rechtsprechungsänderung im Allgemeinen als auch das bereits eingangs angeführte Urteil des BAG vom 30.04.201429 umfassend zu betrachten. Des Weiteren beinhaltet die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen des staatlichen Handelns auch die Problematik der staatlichen Vollstreckbarkeit kirchengerichtlicher Entscheidungen. Diese ist in einem letzten Unterkapitel des Teils D näher zu beleuchten, bevor dann in Teil E eine abschließende Zusammenfassung der herausgearbeiteten Ergebnisse in Thesenform erfolgen kann.

24Vgl. auch Schliemann, ZMV-Sonderheft 2012, 36.

25So Oxenknecht-Witzsch, ZMV-Sonderheft 2012, 43, 45 für den Bereich der katholischen Kirche.

26Vgl. Hartmeyer, Präjudizialität, 26.

27Vgl. BVerwGE 153, 282, 290 (Rn. 25).

28Vgl. Hammer, U., ZMV 1998, 266, 270; ders., Kirchliches Arbeitsrecht, 571, 572.

Teil B.

Die Geschichte der Gerichtsbarkeit der evangelischen Kirche im Allgemeinen und ihrer Arbeitsgerichtsbarkeit im Besonderen im Kontext der Beziehung von evangelischer Kirche und Staat

„Der Sinnzusammenhang eines Rechtsproblems wird erst deutlich, wenn seine Entstehung, seine Wandlungen, seine wechselnde Bedeutung und seine geschichtliche Einbettung in umfassendere Problemkreise sichtbar werden.“30 Dieser Satz, der der Habilitationsschrift des Jahres 1956 von Konrad Hesse entnommen wurde, hat aufgrund seiner Allgemeingültigkeit auch heute noch Bestand. Will man die Frage der Einordnung der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit unter das grundgesetzlich verankerte Selbstbestimmungsrecht beantworten, so hat zunächst eine Betrachtung ihrer Historie zu erfolgen.

30Hesse, Rechtsschutz, 5.

I. Die Gerichtsbarkeit der evangelischen Kirche von der Reformation bis 1952 und ihr Verhältnis zum Staat

Dabei ist der eigentliche Beginn des Aufbaus der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit in der Zeit ab 1952 zu verorten. Wie bereits angeführt, sind jedoch bis heute auch parallele Problemstellungen in den anderen Zweigen der evangelischen Kirchengerichtsbarkeit zu konstatieren. Nicht zuletzt deswegen müssen die Konzeptionierung und die Wandlungen der evangelischen Arbeitsgerichtsbarkeit, die sie bis zum heutigen Tage durchlaufen hat, im Kontext der Entwicklung der evangelischen Gerichtsbarkeit im Allgemeinen bis zu ihrem Entstehen gesehen werden. Diese wiederum können nicht losgelöst betrachtet werden von den Veränderungen in der Beziehung zwischen evangelischer Kirche und Staat. Die Verbindungen innerhalb dieses komplexen Beziehungsgeflechts sollen in diesem ersten Teil der Arbeit herausgearbeitet werden.

1. Grundlage: Die frühen Ansätze zur evangelischen Kirchengerichtsbarkeit

Grundlegend für alle Zweige der evangelischen Gerichtsbarkeiten ist hierbei die rechtstheologische Vorfrage, welche Haltung die Reformatoren hinsichtlich einer Kirchengerichtsbarkeit insgesamt hatten. Denn als Martin Luther mit seinen Reformbestrebungen Anfang des 16. Jahrhunderts begann, existierte in der katholischen Kirche bereits eine umfassende Gerichtsbarkeit, die den Bischöfen oblag.31Ihre Zuständigkeit umfasste die Rechtsangelegenheiten der Kleriker, rein geistliche Sachen, zu denen auch das Eherecht gezählt wurde, und Angelegenheiten, die mit rein geistlichen Sachen im Zusammenhang standen.32 Daneben entschieden die Gerichte in teilweise konkurrierender Jurisdiktion mit den weltlichen Gerichten über bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten, sofern sie nur in irgendeiner Beziehung zu Religion und Kultus standen.33

a) Die Haltung der Reformatoren gegenüber der kirchlichen Gerichtsbarkeit

Der konkreten Ausübung dieser katholischen Gerichtsbarkeit mit ihrer Ausdehnung der Zuständigkeiten in den weltlichen Bereich in derart weitem Umfang wollten die Reformatoren entgegenwirken. So brachten sie in dem 1530 verfassten Augsburger Bekenntnis ihre missbilligende Haltung gegenüber der bischöflichen Gerichtsbarkeit in der bis dahin bestehenden Form zum Ausdruck.

Ihrer Ansicht nach sollten die geistliche und die weltliche Macht voneinander getrennt sein.34 Insofern sollte nach ihrer Auffassung bei der Gerichtsbarkeit eine Unterscheidung getroffen werden zwischen derjenigen im Bereich der weltlichen Gewalt einerseits und derjenigen im Bereich des geistlichen Amtes der Bischöfe andererseits.35 Dabei besäßen nach ihrer Meinung die Bischöfe ihre weltliche Herrschaft und Gewalt nicht durch göttliches, sondern durch menschliches Recht.36 Dieser Trennung folgend gingen die Reformatoren davon aus, dass die Rechtsprechungsbefugnisse im Bereich der „ehesachen“, des „wuchers“ und des „zehenden“37Kraft menschlichen Rechts verliehen seien.38 Diese insofern als primär weltlich anzusehende Gerichtsbarkeit sollte nach ihrer Ansicht von den Fürsten wahrgenommen werden, „wo … die ordinarien39 in solichem ampt nachlessig seint“40.

Diese Ausführungen zeigen, dass die Reformatoren eine kirchliche Gerichtsbarkeit nicht grundsätzlich ablehnten.41 Zum einen wurde die Befugnis zur Rechtsprechung in geistlichen Angelegenheiten explizit bejaht.42 Zum anderen ist aber auch für den weltlichen Bereich der kirchlichen Gerichtsbarkeit der Confessio Augustana eine grundlegende Missbilligung nicht zu entnehmen. Dies geht schon aus der angeführten Formulierung „wo aber die ordinarien in solichem ampt nachlessig seint“43 hervor, denn einer derartigen Einschränkung hätte es nicht bedurft, wenn die Gerichtsbarkeit in diesem Bereich in Gänze abgelehnt worden wäre. Dieser Nebensatz bringt daher vielmehr zum Ausdruck, dass den grundsätzlich zuständigen Bischöfen in dem, dem weltlichen Bereich zuzuordnenden Teil der Gerichtsbarkeit ihre Jurisdiktionsbefugnis dann entzogen werden sollte, wenn sie ihre – kraft menschlichen Rechts übertragene – Verantwortung bei der tatsächlichen Ausübung des Amtes „nachlessig“ wahrnehmen sollten.

Bestätigt wird diese Auffassung, wenn man die Bedeutung des Wortes „nachlessig“ betrachtet. So steht die heutige Form „nachlässig“ als Synonym für die Begriffe „unsorgfältig“, „pflichtvergessen“ und „nicht gewissenhaft“.44 Dies entspricht aber auch der Etymologie dieses Wortes, das schon im 15. Jahrhundert im Sinne von „unordentlich“ benutzt wurde.45 Insofern erfolgte durch die betreffende Stelle der Confessio Augustana eine Kritik an der ohne die erforderliche Sorgfalt ausgeübten weltlichen Gerichtsbarkeit der Bischöfe. Die Missbilligung richtete sich somit gegen die Art und Weise, nicht gegen die grundsätzliche Befugnis zur Ausübung der weltlichen Gerichtsbarkeit.

Diese Sichtweise legt auch die von einer Arbeitsgruppe der VELKD46 erarbeitete revidierte Fassung des Augsburger Bekenntnisses nahe. Hier wird für die betreffende Stelle folgende Formulierung angeführt: „Soweit nun die Bischöfe sonst noch Macht oder Rechtsprechung in anderen Angelegenheiten ausüben, wie zum Beispiel in Ehe- oder Steuersachen, tun sie dies kraft menschlichen Rechts. Wenn die zuständigen Bischöfe diese Verantwortung nachlässig wahrnehmen, so müssen die Fürsten, ob gern oder ungern, um des Friedens willen ihren Untertanen in diesen Dingen Recht verschaffen, um Unfrieden und große Unruhe in ihren Ländern zu verhüten.“47

Im Ergebnis ist daher ein genereller Ausschluss der Jurisdiktionsbefugnis der Kirche im weltlichen Bereich nicht intendiert gewesen. Vielmehr stellen die Ausführungen der Reformatoren eine Bedingung zur Übernahme des zum Zeitpunkt der Verfassung des Augsburger Bekenntnisses existierenden und von den Bischöfen ausgeübten weltlichen Teils der kirchlichen Gerichtsbarkeit durch die Fürsten dar. Die Kritik betraf ausschließlich die von der katholischen Kirche ausgeübte Gerichtsbarkeit im weltlichen Bereich in ihrer damaligen tatsächlichen Ausführung. Nur dieser, in ihrer konkreten Form durch Vermischung der priesterlichen Bußgewalt mit weltlicher Macht erfolgenden und daher ausufernden Ausübung der Rechtsprechung durch die Kirche, wollten die Reformatoren entgegentreten48, nicht der kirchlichen Gerichtsbarkeit insgesamt.

b) Die Konsistorien

Diese Haltung führte im Ergebnis dann zunächst dazu, dass mit der Einführung der Reformation in den evangelischen Ländern Deutschlands die katholischen bischöflichen Gerichte in der bis dahin bestehenden Gestalt insgesamt ersatzlos abgeschafft wurden.49 Allerdings zeigte sich schon sehr bald, dass wenigstens ein Teil der bislang von diesen entschiedenen Angelegenheiten weiterhin einer ordnungsgemäßen gerichtlichen Erledigung bedurfte.50 Ein solches Bedürfnis trat vor allem im Bereich der zuvor kritisierten Ehesachen zutage. Diese waren ausschließlich von den bischöflichen Behörden gehandhabt worden; die weltlichen Gerichte hatten in diesem Bereich keine Kompetenzen aufgebaut und zeigten sich nun der Aufgabe als nicht gewachsen.51 Daher erfolgte bereits 1538 in einem von den Wittenberger Theologen52 verfassten Gutachten der Vorschlag zur Errichtung sogenannter Konsistorien.53 Bei diesen sollte es sich um ständige Behörden handeln, die mit Theologen und Juristen zu besetzen waren.54 Sie sollten über kirchlichgeistliche Dinge wie die Rechte der Geistlichen befinden; zudem sollten sie aber auch über die kirchlichen Vermögensrechte und Ehesachen entscheiden.55 1539 erfolgte sodann die – zunächst provisorische – Einrichtung eines solchen Konsistoriums in Wittenberg.56 Aufbauend auf dem Gutachten des Jahres 1538 wurde diesem im Jahre 1542 die Wittenberger Konsistorialordnung zugrunde gelegt.57 Weitere Landeskirchen folgten dem Vorbild des Kurfürstentums Sachsen und errichteten ebenfalls Konsistorien.58 Deren Zuständigkeitsbereich wurde schon bald erweitert, indem ihnen zum einen die reinen Kirchenverwaltungsangelegenheiten zugewiesen, zum anderen aber auch wieder Rechtsprechungsbefugnisse in bürgerlichen Streitsachen zugestanden wurden.59 Weitere Zuständigkeiten schlossen sich an, so dass sie schließlich fast dieselben Rechtsprechungsbefugnisse hatten wie zuvor diejenigen der bischöflichen Gerichtsbarkeit nach kanonischem Recht.60

In diesen Konsistorien hatte der Landesherr eine Vormachtstellung inne, denn sie waren Teil des infolge der Reformation entstandenen „Landesherrlichen Kirchenregiments“.61 Dieses bildete sich heraus, weil sich die Hoffnung, die reformatorischen Forderungen innerhalb der römisch-katholischen Kirche durchzusetzen, nicht verwirklichen konnte und die Bischöfe als Träger der Kirchengewalt der Reformation nicht folgten.62 Die Stellung dieser Diözesanbischöfe wurde daher durch den jeweiligen politischen Machthaber, den Landesherrn, als „Notbischof“ eingenommen.63 Sie übernahmen die Kirchenleitungsbefugnisse infolge der Neuordnung des entstehenden evangelischen Kirchenwesens.64 Die lutherische Kirche, die zuerst auf sächsischem Territorium entstand und in anderen Ländern nach diesem Muster eingerichtet wurde, war also von Anfang an Landeskirche, oder genauer formuliert zunächst sogar Landesfürstenkirche.65 Dies hatte zur Folge, dass es der jeweilige Landesherr war, der die Konsistorien ins Leben rief, sie bezahlte und beaufsichtigte sowie die für die Konsistorien tätigen Personen ernannte.66

c) Zwischenergebnis

Die Reformatoren standen einer kirchlichen Gerichtsbarkeit nicht insgesamt abneigend gegenüber, sie lehnten lediglich die bischöfliche Gerichtsbarkeit in ihrer damaligen konkreten Form ab.67 Dies folgt bereits aus der in der Confessio Augustana geäußerten Kritik. Darüber hinaus zeigt sich dies aber auch an der Vorreiterrolle, die gerade das Konsistorium in Wittenberg mit der ihm zugrunde liegenden und auf dem 1538 verfassten Gutachten fußenden Konsistorialordnung für die Errichtung weiterer Konsistorien einnahm.68 Allerdings kann man bei diesen Konsistorien keineswegs von einer kircheneigenen Gerichtsbarkeit nach heutigem Verständnis sprechen, denn es mangelte bereits an der richterlichen Unabhängigkeit.69 Aufgrund der staatlichen Ernennung ihrer Richter und der staatlichen Beaufsichtigung dieser Behörden insgesamt, war eine souveräne kirchliche Rechtsprechung nicht möglich. Die Kirchen waren während der Zeit des landesherrlichen Kirchenregiments dem Staat vielmehr eingegliedert und der Staat war es auch, der in den Konsistorien in letzter Konsequenz die Aufgaben kirchlicher Gerichte übernahm.70 Erst der Sturz der Monarchie und die Entscheidung für die parlamentarische Demokratie des Jahres 1918 machten die Entwicklung einer kircheneigenen Gerichtsbarkeit im heutigen Sinne möglich.71

2. Die Entwicklung der kirchlichen Gerichtsbarkeit unter der Weimarer Reichsverfassung

So hatte man bereits seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in zahlreichen Staaten Europas und Amerikas gefordert, ein Staat müsse eine Verfassung haben, um die Staatsgewalt rechtsstaatlich zu begrenzen und insbesondere um Grundfreiheiten der Bürger zu sichern.72 Diese Forderungen wurden in den Verfassungen der deutschen Territorien im 18. und 19. Jahrhundert nach und nach aufgegriffen.73 Zudem kam es im 19. Jahrhundert zu einer zunehmenden Entflechtung von Staat und Religion.74 Es erfolgte eine fortschreitende Distanzierung von Staat und Kirche, die den Kirchen ein höheres Maß an religiöser Freiheit und Eigenständigkeit sicherte.75 Diese manifestierte sich in dem Erlass von Kirchenverfassungen, der Einrichtungen von Synoden und der einsetzenden kirchlichen Gesetzgebung.76 Auch zeigte sich diese Tendenz in den – nie rechtswirksam gewordenen77 – Bestimmungen der Reichsverfassung der Paulskirche von 1849.78 Aufgrund des Fortbestands des landesherrlichen Kirchenregiments war die evangelische Kirche jedoch viel enger mit dem Staat verbunden als die katholische, so dass die Distanzierung hier nur sehr langsam von statten ging.79

a) Die Weimarer Reichsverfassung und ihre Kirchenartikel

Diese politischen Strömungen und Entwicklungen fanden schließlich nach der Revolution des Jahres 1918 in der Weimarer Reichsverfassung (WRV) vom 11. August 1919 ihre verfassungsrechtliche Verankerung. Sie knüpfte an die liberale und demokratische Tradition der Paulskirchenverfassung an80 und verwirklichte in ihren Vorschriften die Vorstellungen der rechts- und bundesstaatlichen Demokratie.81 Zugleich änderte sie durch die Weimarer Kirchenartikel in den Art. 136–139 und 141 WRV die Grundpfeiler des kirchenpolitischen Systems wesentlich.82

Der Staat wurde durch diese Verfassung in seinen Staatszwecken und in seiner Struktur vollends zum säkularen Staat.83 Dies wurde durch die Vorschrift des Art. 137 Abs. 1 WRV festgeschrieben, die sich in ihrer Formulierung an § 147 der Paulskirchenverfassung anlehnte und feststellte, dass keine Staatskirche bestehe. Diese Vorschrift beschied nun Kirche und Staat eine bislang nicht gekannte Freiheit und Unabhängigkeit voneinander; eine vollständige und radikale Trennung von Staat und Kirche ging mit ihr jedoch nicht einher.84 Es handelte sich vielmehr um eine „freundschaftliche Trennung von Staat und Religion“.85 Denn die weiteren religionsverfassungsrechtlichen86 Bestimmungen relativierten die Vorschrift des Art. 137 Abs. 1 WRV durch die Beibehaltung von Elementen der Bindung von Staat und Kirche wieder.87 So wurde den Kirchen – und anderen Religionsgemeinschaften88 – in Art. 137 Abs. 5 WRV ihre Stellung als Körperschaften des öffentlichen Rechts zugesichert. Hierdurch wurden diese nicht auf die Ebene des Privatrechts „herabgedrückt“,89 sondern es wurde ihnen ihre öffentlich-rechtliche Stellung im bisherigen Umfang und die damit verbundenen Rechte auch für die Zukunft zugestanden.90

Weiterhin von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung der evangelischen kirchlichen Gerichtsbarkeit war auch der Erlass der Vorschrift des Art. 137 Abs. 3 WRV. Dieser enthielt das kirchliche Selbstbestimmungsrecht und bestimmte, dass jede Religionsgemeinschaft ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes ordnet und verwaltet.91 Auch diese Vorschrift lehnte sich an Art. 147 der Paulskirchenverfassung an, wählte jedoch bezüglich der Schrankenklausel eine andere Formulierung und ging auch in der Frage der Ämterbesetzung sachlich weiter als ihre Vorgängernormen.92

b) Die Konsequenzen aus der Weimarer Reichsverfassung für die evangelische Kirche und ihre Gerichtsbarkeit

Aufgrund der verfassungsrechtlichen Festlegungen des Art. 137 Abs. 1 und Abs. 3 WRV mussten die evangelischen Landeskirchen ihre Rechtsordnung und die Verfassung der Kirche eigenständig und nach eigenen Maßstäben und Grundsätzen neu gestalten.93 Durch die Beendigung der Staatskirchenhoheit fand auch das landesherrliche Kirchenregiment sein Ende und die Kirchen verloren ihre weltlichen Oberhäupter.94 Bestehen blieb allerdings das Landeskirchentum, wobei die zuvor existierende territoriale Gliederung größtenteils beibehalten wurde.95 Zum ersten Mal in der Geschichte des reformatorischen Kirchentums in Deutschland waren die Landeskirchen aber nicht von einer staatlichen Gewalt gelenkt.96

Um nun diese Neuordnung vorzunehmen, wurden verfassungsgebende Kirchenversammlungen einberufen, die neue Kirchenverfassungen berieten, beschlossen und erließen.97 Diese Kirchenverfassungen98 übernahmen größtenteils die im staatlichen Bereich nunmehr verankerten herrschenden rechtsstaatlichen und demokratischen Gedanken.99 Dies führte dazu, dass in den einzelnen Landeskirchen nicht nur eine eigenständige, unabhängige Verwaltung und Gesetzgebung in kirchlichen Angelegenheiten entstand, sondern zugleich auch Erweiterungen im Bereich der Rechtsprechung stattfanden.100 Viele Kirchen wiesen sogar ihrer Gerichtsbarkeit ausdrücklich einen Platz in der Verfassung zu.101 Eine einheitliche Bezeichnung fand hingegen nicht statt.102

Im Zuge dieser Neuordnung wurden die bereits zuvor in Grundzügen bestehenden kirchlichen Disziplinar- und Lehrbeanstandungsverfahren ausgebaut.103 Dabei dienten – und dienen auch heute noch – die Disziplinarverfahren dazu, über eventuelle Dienstpflichtverletzungen von Geistlichen und anderen Bediensteten der Kirchen zu befinden, wobei zum einen eine Feststellung, ob eine solche vorliegt, erfolgt, zum anderen aber auch gegebenenfalls Sanktionen hierfür festgelegt werden.104 Bereits in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatten zahlreiche Landeskirchen eigene Disziplinargesetze erlassen, die die Einrichtung von Disziplinarinstanzen für Geistliche enthielten.105 Diese genügten jedoch zumeist nicht den modernen rechtsstaatlichen Anforderungen, da beispielsweise vielfach die Verwaltungsbehörden die Gerichtsbarkeit in erster Instanz ausübten, wodurch schon die Trennung von Rechtsprechung und Verwaltung nicht eingehalten wurde.106 Zur Zeit der Weimarer Republik wurden nun unabhängige Instanzen geschaffen.107 Bei den Lehrbeanstandungsverfahren handelte – und handelt – es sich hingegen um eigenständige Verfahren für den Umgang mit Lehrkonflikten. Deren Ziel ist jedoch keine Verurteilung, sondern lediglich die Feststellung, ob eine Vereinbarkeit der Lehre mit dem Bekenntnis der Kirche vorliegt.108 Da somit keine rechtlich relevanten Entscheidungen getroffen und zudem ausschließlich „genuin theologische Fragen“109 behandelt werden, kann dieses Verfahren nicht als eigenständiger Zweig der evangelischen Kirchengerichtsbarkeit angesehen werden.110

Zudem entstanden auch die ersten kirchlichen Verwaltungsgerichte111, wie beispielsweise dasjenige in Baden im Jahr 1928112. Bis zu diesem Zeitpunkt stand den Beteiligten im Bereich der kirchlichen Verwaltung nur die Möglichkeit einer Beschwerde im Verwaltungswege offen, sofern die betreffende Entscheidung überhaupt anfechtbar war.113 Nunmehr wurden Verwaltungsgerichte errichtet mit dem Zweck, „ein unabhängiges, nur dem Gesetz unterworfenes kirchliches Gericht zu schaffen, dem auf Anrufen die Nachprüfung zukommt, ob in dem oder jenem Falle ein Recht verletzt wurde oder die Grenzen desselben überschritten worden sind.“114 Die Rechtsstreitigkeiten der kirchlichen Verwaltung sollten somit – den Vorstellungen der Zeit entsprechend – nicht mehr durch die Kirchenverwaltungsbehörde selbst, sondern durch unparteiische Richter entschieden werden.115 Dabei sollte dies „möglichst unter Ausschaltung einer staatlichen Beteiligung“ erfolgen.116 Als weiteres Ziel der Schaffung der kirchlichen Verwaltungsgerichte wurde zudem die Entlastung der Verwaltungsbehörden angeführt.117 Vorbild für die verfahrensrechtliche Ausgestaltung dieser neu geschaffenen Rechtsinstanzen waren größtenteils die staatlichen Prozessgesetze.118 Die Ausrichtung und der Umfang der Bezugnahme waren jedoch sehr unterschiedlich ausgestaltet. So wurde teilweise auf die Vorschriften über die staatliche Verwaltungsgerichtsbarkeit verwiesen119, zum Teil wurden aber auch die Regelungen der Zivilprozessordnung herangezogen.120 Wiederum andere Landeskirchen nahmen nur bezüglich einzelner Fragen auf das staatliche Recht Bezug.121 Keine Bezugnahme findet sich hingegen in den Regelungen der Lippischen Landeskirche.122

Neben diesen Disziplinar- und Verwaltungsgerichten wurde auch ein kirchliches Verfassungsgericht 1928 in der lutherischen Landeskirche Hannovers gebildet.123 Dieses war nötig geworden, weil die Kirchenverfassung dieser Landeskirche in Bezug auf die verschiedenen Leitungsgremien derart komplizierte Zuordnungen124 vorgenommen hatte, dass es zu heftigen Konflikten zwischen den Verfassungsorganen gekommen war.125 Um hier eine Möglichkeit der Konfliktlösung zu schaffen, war das Verfassungsgericht berufen, über die Auslegung der Verfassung und der sonstigen Kirchengesetze bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den obersten Verwaltungsstellen dieser Landeskirche, insbesondere über die Abgrenzung ihrer Zuständigkeit zu entscheiden.126

c) Das Verhältnis von staatlicher und kirchlicher Gerichtsbarkeit zur Zeit der Weimarer Reichsverfassung

Schon bei der Errichtung der kirchlichen Gerichtsbarkeiten kam die Frage auf, ob nicht aufgrund des Art. 137 Abs. 3 WRV der Schluss gezogen werden sollte, dass damit die staatliche Gerichtsbarkeit über kirchliche Fragen ein Ende finden sollte.127 So wurde bereits in den Verhandlungen der außerordentlichen Kirchenversammlung zur Feststellung der Verfassung für die evangelische Landeskirche der älteren Provinzen Preußens geäußert, dass die dort konzipierten „Rechtsausschüsse“128 Kompetenzen übernehmen sollten, die bisher von Staatsbehörden wahrgenommen wurden, aber mit fortschreitender Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche den Organen der letzteren zufallen würden.129 Diese Thematik war ein Teilaspekt der allgemeineren Diskussion darüber, ob auch nach Erlass der Weimarer Reichsverfassung eine spezifisch gestaltete Staatsaufsicht, d.h. nicht nur eine „allgemeine“, sondern eine durch „besondere“ Gesetze regulierbare, über die Kirche weiterbestehen kann.130

aa) Die Ansichten in der Lehre

Diese allgemeine Diskussion wurde in der Rechtslehre der damaligen Zeit mit zunehmender Intensivierung geführt. Noch im 19. Jahrhundert war man allgemein vom Erfordernis einer besonderen Staatsaufsicht gegenüber den Kirchen ausgegangen.131 Da der Staat aufgrund des landesherrlichen Kirchenregiments auch inneres Kirchenrecht geschaffen hatte, wurde ihm auch zugestanden, für die Durchführung dieser Gesetze zu sorgen.132 Die Weimarer Staatsrechtslehre war nun mit den Umwälzungen nach 1918 im Bereich des Religionsverfassungsrechts eher unvorbereitet konfrontiert worden und entwickelte nur langsam konsolidierte Auffassungen zum Verständnis der Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung.133

(1) Die Korrelatentheorie

Trotz der verfassungsrechtlich geänderten Verhältnisse lehnte sich zunächst ein Großteil der Lehre an die bisherige Ansicht im Bereich der Kirchenaufsicht an. Bereits vor Erlass der Weimarer Reichsverfassung wurde die Auffassung vertreten, dass die Kirchenaufsicht des Staates gerechtfertigt sei, da die herkömmlichen Kirchen als „öffentlich-rechtliche Corporationen“ anerkannt seien.134 Sie sah die „fortlaufende Regulierung und Kontrolle“ der Religionsgemeinschaften als notwendige Folge aus dem Zugeständnis der „höheren Eigenschaft“ als „qualifizierte Korporationen“.135 In Fortführung dieser bereits in seinem Lehrbuch des Jahrs 1894 geäußerten Ansicht trat Wilhelm Kahl bei der Beratung über den Entwurf der Verfassung in der Nationalversammlung dafür ein, dass die Erhaltung der öffentlichen Stellung der Kirchen als Korrelat die Staatsaufsicht bedinge.136 Diese sogenannte Korrelatentheorie wurde von einem Großteil der Lehre aufgegriffen.137 Begründet wurde sie damit, dass der Status der öffentlich-rechtlichen Körperschaft eine „publizistische Machtstellung“ bedeute, die einem innerstaatlichen Verband niemals von selbst, sondern immer nur insoweit zustehe, als der Staat ihn durch Gesetz oder Verwaltungsakt verleihe.138 Diese Verleihung könne vorbehaltlos, aber auch unter Einschränkungen und Bedingungen so erfolgen, dass der Staat sich eine Kontrolle der dem Verband verliehenen Machtstellung, eine Beaufsichtigung derselben vorbehalte. Es könne nicht angenommen werden, dass die Reichsverfassung, wenn sie bestimme, dass die Kirchen öffentlich-rechtliche Körperschaften „bleiben“, den Kirchen die öffentlich-rechtlich gehobene Stellung im Staat sichern, sie aber gleichzeitig befreien wolle von der besonderen staatlichen Kontrolle, unter deren Vorbehalt ihnen seinerzeit jene eingeräumt worden sei.139

Im Spannungsfeld zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften gemäß Art. 137 Abs. 3 WRV und deren öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus nach Art. 137 Abs. 5 WRV stützte sich diese Auffassung folglich vor allem auf letzteren. Zudem erfolgte die Interpretation der Schrankenklausel des Art. 137 Abs. 3 WRV dahingehend, dass das „für alle geltende Gesetze“ gleichbedeutend sei mit „für jeden“ oder „für jedermann“.140 Als Konsequenz wurde hieraus gezogen, dass die Kirche nicht lediglich den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen, sondern zugleich auch der Erlass besonderer, nur für Religionsgesellschaften bestimmter Gesetze zulässig war, soweit sie dazu bestimmt waren, einer Religionsgesellschaft einerseits besondere Rechte zu verleihen und andererseits für diese privilegierte Sonderstellung durch Auferlegung besonderer Pflichten ein Gegengewicht herzustellen.141

(2) Die Gegenstimmen

Allmählich entwickelten sich in der Lehre aber auch Gegenstimmen zu der Korrelatentheorie. So wies bereits Mausbach unter Bezugnahme auf die infolge der Äußerungen Kahls erfolgten Diskussion in der Nationalversammlung142 in seiner Schrift des Jahres 1920 darauf hin, dass sich die Korrelatentheorie aus der protestantisch-kirchenrechtlichen Doktrin heraus entwickelt und somit bereits auf die katholische Kirche nicht in gleichem Maße zugetroffen hätte.143 Eine derartige Interpretation der Verfassung würde seiner Meinung nach dazu führen, dass letztlich der öffentliche Rechtscharakter einer Religionsgemeinschaft dem in Art. 137 Abs. 3 WRV zugestandenen elementaren Recht auf Selbstverwaltung schade, anstatt es zu festigen.144 Diese ablehnende Auffassung fand in den folgenden Jahren einige Anhänger und wurde um weitere Argumente erweitert.145 So äußerte Löhr dass die Korrelatentheorie viel zu weit gefasst sei; die Konsequenz aus dieser sei letztlich, dass sich mit ihr jede „gesetzliche“ Beschränkung über das allgemeine Maß hinaus begründen ließe.146 Eine besondere, über das Vereinsrecht hinausgehende Aufsicht, sei aber nur insoweit gerechtfertigt, als sie sich aus der Eigenart des einzelnen Rechtsverhältnis ergebe, wie z.B. dem Steuerrecht, nie aber schlechthin. Auch Ebers setzte sich intensiv mit der Problematik auseinander. Seiner Ansicht nach sei bereits die „besondere Staatsaufsicht“ vor 1919 nicht die notwendige Folge der Stellung der Kirchen als Landeskirchen, sondern schon damals eine Frage der Zweckmäßigkeit und damit eine politische Frage gewesen.147 Somit folge aus dem Begriff der öffentlichen Körperschaft alleine nichts für oder gegen eine über die allgemeine Vereinsaufsicht hinausgehende Staatsaufsicht; sie sei nicht das Korrelat der öffentlich-rechtlichen Eigenschaft, sondern eine rein politische Zweckmäßigkeitsfrage. Eine besondere Staatsaufsicht sei mit dem Begriff der öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaft unvereinbar, seitdem deren Voraussetzungen – die Eigenschaft der Kirchen als Landeskirchen – fortgefallen seien. Ebers führte aber noch ein weiteres Argument ins Feld. So hielt er eine „gesteigerte Staatsaufsicht“ auch für unvereinbar mit dem eindeutigen Willen des Verfassungsgebers, mit der Systematik und dem Wortlaut des Art. 137 WRV.148 Die Absicht des Verfassungsgebers sei es gewesen, in Konsequenz des Trennungsgedankens grundsätzlich alle bisherigen staatlichen Beschränkungen der Religionsgesellschaften zu beseitigen und diesen ein von staatlicher Bevormundung, Mitwirkung und Einmischung freies Selbstbestimmungsrecht zu sichern. Es sei widersinnig, anzunehmen, dass dieses unbeschränkte Selbstbestimmungsrecht des Art. 137 Abs. 3 WRV, das nur noch einer der allgemeinen Vereinsaufsicht ähnlichen Überwachung des Staates unterstehen solle, durch die Wahrung der öffentlichen Körperschaftsrechte die bisherige Kirchenhoheit wieder hätte einführen wollen und die Kirchen damit schlechter stellen wollte als die übrigen Religionsgesellschaften.149

Im Gegensatz zur herrschenden Lehre der Zeit sahen die Vertreter dieser Auffassung somit eine in besonderen Gesetzen regelbare Staatsaufsicht über die Kirchen als unvereinbar mit Art. 137 Abs. 3 WRV an. Für sie war die Korrelatentheorie ein unzulässiges Mittel, „auf dem Umweg über den Begriff der öffentlichen Körperschaft in die kirchliche Selbstverwaltung einzugreifen.“150 Sie gaben Art. 137 Abs. 3 WRV den Vorrang vor Art. 137 Abs. 5 WRV.151

Letztlich waren die sich gegenüberstehenden Ansichten zur Frage der staatlichen Kirchenaufsicht auf unterschiedliche Interpretationen der Art. 137 Abs. 3 und Abs. 5 WRV zurückzuführen.152 Herrschende Ansicht während der Zeit der Weimarer Reichsverfassung war die Korrelatentheorie.153 Die Gegenmeinung entwickelte sich nur langsam. So erschienen die meisten Veröffentlichungen zwischen 1925 und 1932 mit einem Schwerpunkt auf dem Jahr 1930.154

(3) Die Ansichten der Lehre bezüglich der Staatsaufsicht über die kirchliche Gerichtsbarkeit

Teilweise wurden in den widerstreitenden Lehrmeinungen dann auch konkrete Konsequenzen für die kirchliche Gerichtsbarkeit angeführt. Bereits Kahl hatte in seinem Lehrbuch des Jahres 1894 die Auffassung vertreten, dass sich die Staatsaufsicht im Bereich der Gerichtsbarkeit darin äußere, dass sie die Entscheidung streitig gewordener Rechtsverhältnisse der Kirchen und Kirchenangehörigen der staatlichen Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit unterstelle, sowie besondere strafrechtliche Folgen an die Verletzung derjenigen Vorschriften knüpfe, welche den Organen der Kirche ein eigentümliches Verhalten vorschreiben würden.155 Diese Ansicht wurde nach Erlass der Weimarer Reichsverfassung von den Vertretern der Korrelatentheorie aufgegriffen. So äußerte Giese, dass das staatliche Oberaufsichtsrecht auch richterlich, z.B. durch straf- oder verwaltungsgerichtliche Urteile, ausgeübt werde.156 Zudem führte dieser eine Reihe möglicher aufsichtlicher Maßnahmen an. Diese umfassten nach seiner Meinung auch solche gegenüber der kirchlichen Rechtspflege wie beispielsweise die „Vollstreckbarerklärung von Disziplinarerkenntnissen“ und die „Berufung an den Staat gegen kirchliche Urteile“.157 Auch gestand er dem Staat Mitwirkungsrechte wie die „Regelung der gerichtlichen und außergerichtlichen Vertretung der Kirche und der ihr eingegliederten Verbände, Körperschaften und Anstalten“ zu.158 Insgesamt ist hier festzuhalten, dass die Vertreter der Korrelatentheorie davon ausgingen, dass auch nach Einführung des Art. 137 Abs. 3 WRV die Kontrolle der kirchlichen Gerichtsbarkeit aufgrund des öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus gerechtfertigt sei.

Dem trat jedoch die abweichende Lehre entgegen. Sowohl Ebers als auch Löhr widmeten sich der Frage der Aufsichtsrechte des Staates im Rahmen der kirchlichen Gerichtsbarkeit. Beide waren der Ansicht, dass neben Rechtsetzung und Verwaltung auch die kirchliche Gerichtsbarkeit grundsätzlich frei sein sollte von jeder materiellen und formellen Mitwirkung des Staates.159Ebers vertiefte dies noch, indem er Entscheidungen, die sich nur auf innerkirchlichem Gebiet auswirken, als bindend darstellte.160 Darüber hinaus vertrat er aber auch die Auffassung, dass sowohl die vom kirchlichen Gericht ausgesprochene Nichtigkeit der Ehe, der im kirchlichen Zivilprozess erkannte Verlust der kirchlichen Pfründe und die durch kirchliches Strafurteil verhängte Aberkennung kirchlicher Mitgliedschaftsrechte als auch die sekundären Auswirkungen eines solchen Urteils der Nachprüfung durch staatliche Behörden oder Gerichte entzogen sein sollten. Für den Staat komme nach seiner Ansicht die kirchliche Gerichtsbarkeit erst und nur insoweit in Betracht, als er ihren Entscheidungen auch bürgerliche Wirkungen zuerkenne oder den Vollstreckungszwang gewähre, was nur bei den Disziplinarentscheidungen der Fall sei.161

Somit spiegelten sich die konträren Meinungen hinsichtlich der allgemeinen Staatsaufsicht über die Kirchen auch in der Haltung bezüglich der Aufsicht über die allgemeine Gerichtbarkeit wider. Lediglich für den Bereich der Vollstreckung von Disziplinarentscheidungen wurde von beiden Seiten dem Staat eine gewisse Kontrollbefugnis zugestanden.162

(4) Im Speziellen: Die Ansichten der Lehre zur staatlichen Vollstreckung von kirchlichen Disziplinarentscheidungen

Eine gesetzliche Verankerung fand diese staatliche Kontrollbefugnis für die Vollstreckung von kirchlichen Disziplinarentscheidungen unter anderem in dem „Staatsgesetz betreffend die Kirchenverfassungen der evangelischen Landeskirchen vom 8. April 1924“.163 In diesem war geregelt, dass die Vollstreckung der kirchlichen Disziplinarentscheidungen durch den Staat nur dann stattfinden sollte, wenn diese von der Staatsbehörde für vollstreckbar erklärt wurden.164 Eine staatliche Überprüfung der Entscheidung wurde als notwendige Voraussetzung der Vollstreckbarkeitserklärung anerkannt.165 Dies wurde damit begründet, dass dann, wenn der Staat eine kirchliche Entscheidung vollstrecke, dieser auch die Verantwortung für diese übernehme.166

Der Umfang der staatlichen Überprüfungsbefugnisse wurde jedoch unterschiedlich beurteilt.167Holstein war der Auffassung, dass dem Staat nur eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit, nicht aber der Zweckmäßigkeit des in Frage kommenden Handelns zustehe.168 Dies begründete er damit, dass eine Kontrolle der Zweckmäßigkeit ein „Hineinregieren in den inhaltlichen Willen des grade hierin selbständigen Handelns sein würde“. Er sah folglich die Kontrollbefugnisse des Staates durch Art. 137 Abs. 3 WRV begrenzt. Demgegenüber vertrat Schoen die Auffassung, dass sich die staatliche Überprüfung gerade nicht darauf beschränke festzustellen, ob die Entscheidung formell nach den staats- und kirchengesetzlichen Bestimmungen ordnungsgemäß zustande gekommen sei, sondern sich auch auf den Inhalt der Entscheidung erstrecke und hier insbesondere darauf, ob die über den Beamten verhängte Strafe in einem angemessenen Verhältnis zu dem ihm vorgeworfenen Vergehen stehe.169 Seiner Meinung nach konnte sich der Staat mit seiner Zwangsgewalt nur für die Durchführung eines auch von ihm als gerecht angesehenen Spruches einsetzen. Einen anderen Weg ging Eichmann, der dem Staat eine Befugnis dahingehend zugestand, die kirchlichen Disziplinarentscheidungen auf ihre Vereinbarkeit mit den Staatsgesetzen oder allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen hin zu überprüfen.170

Es zeigt sich, dass sich hier während der Weimarer Republik eine einheitliche Meinung nicht hat bilden können. Auch sind die verschiedenen Standpunkte nicht eindeutig der Korrelatentheorie oder der sich entwickelnden Gegenauffassung zuzuordnen. Beispielsweise gestand – wie gesehen – Holstein als Vertreter der Lehre der Korrelatentheorie dem Staat nur ein formales Prüfungsrecht zu, welches im Übrigen überwiegend von Gegnern der Korrelatentheorie gefordert wurde.171 Demgegenüber räumte Lilienthal, der die Korrelatentheorie ablehnte172, in diesem Bereich dem Staat das Recht ein, vor der Genehmigungserteilung zur Vollstreckung die verfassungsmäßige formelle Gültigkeit zu prüfen und sich der Richtigkeit der Entscheidung zu vergewissern, was seiner Meinung nach dadurch geschehen könne, dass jeder einzelne Fall inhaltlich nachgeprüft werde.173 Dies bedeutete im Ergebnis das Zugeständnis eines materiellen Prüfungsrechts.

bb) Die Gesetzgebung zur kirchlichen Gerichtsbarkeit

Wirft man nun einen Blick auf die staatliche Gesetzgebung im Bereich der kirchlichen Gerichtsbarkeit, stellt man fest, dass sich die Korrelatentheorie auch hier widerspiegelte.174 Deutlich wird dies vor allem in den bereits angeführten Gesetzen von Preußen und Württemberg,175 in denen neben Regelungen hinsichtlich des Rechtsverhältnisses zwischen Staat und Kirche auch solche in Bezug auf die Gerichtsbarkeit erfolgten. Hier wurde etwa neben der staatlichen Vollstreckung kirchlicher Disziplinarentscheidungen auch die verwaltungsgerichtliche Zuständigkeit für diverse kirchliche Angelegenheiten festgelegt.176 Beispielsweise regelte Art. 17 Abs. 1 S. 1 des preußischen „Staatsgesetzes, betreffend die Kirchenverfassungen der evangelischen Landeskirchen“ vom 08. April 1924, dass über die Anordnung von Neu- und Reparaturbauten bei Kirchen-, Pfarr- und Küstergebäuden sowie anderen der kirchlichen Baulast unterworfenen Baulichkeiten, im Streitfall auf Antrag die Staatsbehörde vorläufig entscheiden sollte.177 Gegen diesen Beschluss fand sodann die Klage im Verwaltungsstreitverfahren statt.178

Darüber hinaus zeigte sich das Festhalten an dem überkommenen Rechtszustand aber nicht nur in den Regelungen der staatlichen Gesetze, sondern auch in denjenigen der kirchlichen Gesetzgebung für die neu entstehenden evangelischen Kirchengerichte. So wurde zwar bei den Verhandlungen der APU die eingangs erwähnte179 Feststellung getroffen, dass mit fortschreitender Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche den Rechtsausschüssen weitere Kompetenzen zufallen sollten. Dieser Gedanke wurde aber weder in der Verfassung der APU des Jahres 1922 noch in der „Geschäftsordnung für die Rechtsausschüsse“ des Jahres 1924 schriftlich niedergelegt. Besonders deutlich trat dieses Festhalten jedoch im Gesetz betreffend „Die Errichtung eines kirchlichen Verwaltungsgerichtes“180 der Landeskirche Baden hervor.181 In diesem wurde durch die Neueinführung des § 137 a KV die kirchenverfassungsrechtliche Grundlage des neuen Gerichtszweiges geschaffen.182 Diese Vorschrift regelte in ihrem Absatz 2, dass dann, wenn die staatlichen ordentlichen Gerichte oder Verwaltungsgerichte angerufen werden können, die kirchlichen Verwaltungsgerichte nicht zuständig sind. Folglich wurde in dieser Vorschrift die Subsidiarität des betreffenden kirchlichen Gerichts gegenüber der staatlichen Gerichtsbarkeit manifestiert.183 Begründet wurde diese Vorschrift damit, dass diese Bestimmung hätte getroffen werden müssen, um Kompetenzkonflikte zu vermeiden, weil nicht zwei verschiedene Gerichte über dieselbe Sache befinden und entgegengesetzte Entscheidungen fällen könnten.184 Diese von dem Berichterstatter – dem Abgeordneten Fitzer – in den Verhandlungen im Vorfeld des Erlasses des Gesetzes geäußerte Auffassung blieb unwidersprochen. Auch wurde in der Begründung des Gesetzes angeführt, dass es der Art der Einstellung der evangelischen Kirche zum Staat entspreche, dass sie über Streitfragen, die vor den staatlichen Gerichten – seien es Zivil-, Straf- oder Verwaltungsgerichte – entschieden werden können, vor diesen Gerichten ihre Rechte nehme; die Anrufung des kirchlichen Verwaltungsgerichts solle daher ausgeschlossen sein, wenn die Beteiligten Rechtsschutz vor staatlichen Gerichten finden könnten.185 Insgesamt zeigt sich hier, dass die in der Literatur begonnene Auseinandersetzung hinsichtlich der besonderen staatlichen Aufsicht bei der Errichtung der kirchlichen Gerichte – wenn überhaupt – nur in den Verhandlungen thematisiert wurde, eine Manifestation in den kirchlichen Gesetzen erfolgte nicht. Vielmehr wurde von einer subsidiären Zuständigkeit ausgegangen.

cc) Die Rechtsprechung

Auch im Bereich der Rechtsprechung ging man überwiegend davon aus, dass dem Staat unter der Weimarer Reichsverfassung weiterhin weitreichende Kontrollbefugnisse im Bereich der kirchlichen Angelegenheiten zustehen würden.186 So führten sowohl das Reichsgericht187 als auch das Preußische Oberverwaltungsgericht (PrOVG)188 an, dass Art. 137 Abs. 3 WRV dem Staat nur verbiete, in die eigentliche Kirchenverwaltung einzugreifen, jedoch im Übrigen durch diese Vorschrift keineswegs die aus der Kirchenhoheit des Staates fließenden Aufsichtsrechte des Staates genommen würden. Ausdrücklich wies sogar das PrOVG auf die Korrelatentheorie hin, und bejahte eine „besonders geartete Aufsicht.“189 In der betreffenden Entscheidung wies es aber auch auf die Problematik der Reichweite dieser kirchenhoheitlichen Aufsichtsbefugnisse hin. Es kam zu dem Schluss, dass sowohl ein Eingriff in die Freiheit der kirchlichen Lehre, als auch in alle innerkirchlichen Verhältnisse unzulässig sei und dass ferner das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nur insoweit beeinträchtigt werden dürfe, wie dies durch die Übertragung öffentlich-rechtlicher Funktionen begründete Interesse an einer Aufsicht gehe.190

Die staatlichen Gerichte entschieden letztlich weiterhin über eine Vielzahl kirchlicher Angelegenheiten. Beispielsweise bejahte das PrOVG in dem zuvor angesprochenen Fall die staatliche Befugnis, Gesetzeswidrigkeiten auf dem Gebiet der kirchlichen Vermögensverwaltung zu beanstanden, unter Hinweis darauf, dass insbesondere die Kirche die „Zwangsgewalt des Staates“ in Anspruch nehme, „um die Steuerkraft ihrer Mitglieder heranzuziehen“191, und entschied im Folgenden über die Rechtsgültigkeit der umstrittenen Maßnahme nicht nur an Hand der staatlichen, sondern auch der kirchlichen Gesetze.192 Zudem ergingen in diversen anderen kirchlichen Streitfragen staatliche Urteile, wie z.B. in Patronatsangelegenheiten193oder in der Frage von vermögensrechtlichen Ansprüchen evangelischer Pfarrer gegen ihre Landeskirchen.194 Insbesondere von der ordentlichen Gerichtsbarkeit wurden aber auch einige Klagen als unzulässig abgewiesen, da es sich bei den betreffenden Fällen um „innerkirchliche“ Angelegenheiten handelte.195

d) Zwischenergebnis

Die Anfänge der evangelischen Gerichtsbarkeit im heutigen Sinne sind in der Zeit der Weimarer Republik zu verorten.196 Größtenteils wurden durch die verfassungsgebenden Versammlungen der Gliedkirchen unabhängige Kirchengerichte errichtet. Allerdings erfolgte hier der Ausbau oder die Neuschaffung von lediglich drei unterschiedlichen Gerichtszweigen: die Disziplinargerichtsbarkeit, die Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Verfassungsgerichtsbarkeit.197 Bei der Konzeptionierung und Ausgestaltung dieser Gerichtsbarkeiten sind die deutschen Landeskirchen sodann derart verschiedene Wege gegangen, dass sich ein gemeinsames System evangelischer Gerichtsbarkeit in dieser Zeit nicht hat bilden können.198

Zudem hatten die politischen Umwälzungen nach 1918 zwar ein neues Verfassungsrecht geschaffen, jedoch blieb das Grundverhältnis zwischen Staat und Kirchen bis auf die zugestandene Selbstverwaltung weiter von dem bisherigen System der staatlichen Kirchenhoheit beherrscht.199 Dabei verdeutlicht bereits ein Blick auf das 1924 erlassene preußische „Staatsgesetz, betreffend die Kirchenverfassungen der evangelischen Landeskirchen“200, wie sehr die zuvor bestehenden Strukturen auch weiterhin das Verhältnis von Staat und Kirche bestimmten. Beispielsweise wurde in dessen Art. 2 Abs. 1 niedergelegt, dass kirchliche Gesetze vor der Verkündung dem für kirchliche Angelegenheiten zuständigen Minister zur Kenntnisnahme vorzulegen waren, gegen die dieser dann unter bestimmten Voraussetzungen Einspruch einlegen konnte.201 Diese Regelung war Ausdruck der vorherrschenden Ansicht in der Lehre, die die sogenannte Korrelatentheorie, wonach trotz Art. 137 Abs. 3 WRV eine besondere Staatsaufsicht gegenüber den Kirchen als Korrelat ihres öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus bestehen sollte202, vertrat. Gegenstimmen zu dieser Lehrmeinung kamen nur allmählich – überwiegend erst gegen Ende der Weimarer Zeit – auf.

Zugleich spiegelte sich das Verhältnis von staatlicher und kirchlicher Gerichtsbarkeit im Sinne dieser Korrelatentheorie sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Rechtsprechung wider. So zeigt das preußische „Staatsgesetz, betreffend die Kirchenverfassungen der evangelischen Landeskirchen“ ebenfalls, dass der Staat in mehrfacher Hinsicht gerichtliche Kontrollbefugnisse über kirchliches Handeln für sich beanspruchte. Hier wurden nicht nur die staatlichen Kontrollrechte im Bereich der kirchlichen Disziplinarentscheidungen geregelt203, sondern es wurde beispielsweise auch die Möglichkeit der Streitentscheidung durch die Staatsbehörde – und gegebenenfalls im weiteren Verlauf durch den Bezirksausschuss204 im Verwaltungsstreitverfahren – bei Unstimmigkeiten über die Anordnung von Neu- und Reparaturarbeiten bei den der kirchlichen Baulast unterworfenen Baulichkeiten gesetzlich verankert.205 Darüber hinaus wurde es aber auch kirchlicherseits als selbstverständlich angesehen, dass bei Streitigkeiten, für die nach staatlichem Recht die Zuständigkeit der staatlichen Gerichte, nach kirchlichem Recht jedoch ebenfalls die Zuständigkeit eines Kirchengerichts begründet war, den staatlichen Gerichten der Vorrang einzuräumen war.206 Diese Subsidiarität wurde in Baden sogar ausdrücklich in § 137 a Abs. 2 KV kirchengesetzlich verankert.207 Das vorherrschende Grundverständnis führte zudem dazu, dass in weitem Umfang die kircheneigenen Angelegenheiten weiterhin der Nachprüfung durch die staatlichen Gerichte unterlagen, lediglich der geistlich-theologische Raum wurde respektiert.208

3. Die kirchliche Gerichtsbarkeit zur Zeit des Nationalsozialismus

Diese staatliche Kontrolle verstärkte sich in den Jahren des Nationalsozialismus noch. Darüber hinaus wurde der Aufbau eines gemeinsamen kirchengerichtlichen Systems den evangelischen Kirchen auch in der Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus unmöglich gemacht. Vielmehr wurden die Errungenschaften der Weimarer Zeit zunächst zunichte gemacht. Denn zum einen wurde infolge der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten im Januar 1933 der Weimarer Reichsverfassung als Staatsgrundgesetz der Boden entzogen, ohne dass sie formal außer Kraft gesetzt worden wäre.209 Zum anderen setzte aber auch der der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten folgende sogenannte Kirchenkampf die evangelische Kirche im Inneren und nach Außen Konflikten in bislang nicht gekanntem Maße aus.

a) Der Kirchenkampf

So hatten sich im Jahr 1922 bereits 28 evangelische Landeskirchen föderal zum „Deutschen Evangelischen Kirchenbund“ zusammengeschlossen.210 Die Umgestaltung dieses föderativen Kirchenbundes in eine Reichskirche wurde von den Nationalsozialisten schon in der ersten Hälfte des Jahres 1933 vorangetrieben.211 Ein erster Schritt dieses Bestrebens sollte der Übergang des Kirchenbundes in die „Deutsche Evangelische Kirche (DEK)“ sein.212 Dieser erfolgte durch die „Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche“ vom 11. Juli 1933.213 In den im Folgenden staatlicherseits äußerst kurzfristig anberaumten Wahlen des 23.07.1933214 sahen die Nationalsozialisten die Möglichkeit der Einflussnahme auf den Protestantismus vor allem über die Liste der „Deutschen Christen“.215 Bei ihnen handelte es sich um eine kirchliche Gruppierung, die das Streben nach einer Nationalkirche zu ihrem Programm gemacht hatte.216 Tatsächlich erlangte diese von den Nationalsozialisten empfohlene Glaubensbewegung dann auch bei der Wahl die Mehrheit.217 Sie besetzten nun fast alle leitenden Stellen in den evangelischen Kirchen.218 Zudem wurde auf der im September 1933 zusammengetretenen Nationalsynode der Königsberger Wehrkreispfarrer Ludwig Müller – der Schirmherr der Deutschen Christen219 und ein überzeugter Nationalsozialist220 – zum Reichsbischof221 gewählt.222 Hierdurch stand er zugleich auch an der Spitze der „Reichskirchenregierung“, die aus dem Reichsbischof und dem Geistlichen Ministerium gebildet wurde.223Müller trieb zunächst die Anpassung der evangelischen Kirche an die Erfordernisse des nationalsozialistischen Staates rücksichtslos voran.224

Besonders die in einigen Landeskirchen erfolgende Übernahme der staatlichen Judengesetzgebung („Arierparagraph“)225 und die Berliner „Sportpalastkundgebung“226 der Glaubensbewegung Deutscher Christen vom 13. November 1933 ließen die innerkirchliche Opposition jedoch stetig anwachsen.227 Diese kirchliche Opposition organisierte sich in der „Bekennenden Kirche“, die im Mai 1934 ihre erste Bekenntnissynode in Wuppertal-Barmen abhielt.228 Dort wurde die Barmer Theologische Erklärung verfasst.229 Mit dieser grenzte sich die Bekennende Kirche in sechs Thesen deutlich von den Deutschen Christen sowie dem Totalitätsanspruch des Staates ab.230 Zudem brachte sie ihre Ablehnung des von den Deutschen Christen getragenen Kirchenregimentes zum Ausdruck.231 Für das Verhältnis zwischen evangelischer Kirche und Staat hatten vor allem die dritte232 und vierte233 These dieser Erklärung weitreichende Folgen.234 Denn während des landesherrlichen Kirchenregimentes hatte die evangelische Kirche ihre rechtliche Ordnung dem Staat überlassen, der sie geschützt und gefördert hatte.235