Die Aufforderung des Schlafwandlers zum Tanz - Mira Jacob - E-Book + Hörbuch

Die Aufforderung des Schlafwandlers zum Tanz Hörbuch

Mira Jacob

4,5

Beschreibung

Da stürzt sich ein Mann von einer Brücke in Seattle - und Amina schießt das Foto, das berühmt werden wird. Doch wie abgebrüht muss man sein, in einem solchen Moment auf den Auslöser zu drücken? Amina verzeiht sich das nicht, verdingt sich fortan als Hochzeitsfotografin. Als ihr Vater sterbenskrank wird, muss sie sich ihrer bewegten Vergangenheit stellen, einer Geschichte, die in den 70er Jahren in Indien begann und nun in New Mexiko ihren Lauf nimmt. Amina beginnt, die Unwägbarkeiten des Lebens anzunehmen, und sich endlich mit den Geistern ihrer Familie auseinanderzusetzen.

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Zeit:7 Std. 40 min

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Inhalt

Über die AutorinÜber das BuchTitelImpressumWidmungProlog1. Teil1. Kapitel2. Kapitel2. Teil 1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel3. Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel4. Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel5. Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel6. Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel7. Teil1. Kapitel 2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel8. Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel9. Teil 1. Kapitel2. Kapitel10. Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel11. Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. KapitelEpilogDanksagungAnmerkung der Autorin

Über die Autorin

Mira Jacob arbeitete als Redakteurin für Onlinemagazine, schreibt Beiträge für Fernsehen, Radio und verschiedene Printtitel. Sie gründete und leitet diverse Lesereihen in New York. Mira Jacob lebt gemeinsam mit ihrem Mann, dem Dokumentarfilmer Jed Rothstein, und ihrem Sohn in Brooklyn. Die Aufforderung des Schlafwandlers zum Tanz ist ihr erster Roman.

Über das Buch

Sechs Tage und Nächte sitzt Aminas Vater Thomas im Garten der Familie, in ein energisches Gespräch vertieft mit seinem Sohn Akhil. Sie diskutieren, streiten, versöhnen sich, lachen. Doch Akhil lebt bereits seit zehn Jahren nicht mehr, er ist bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen, Thomas ist der einzige, der seinen Sohn sehen kann. Er hat einen Tumor im Kopf.

In Seattle versucht Amina, ihre indische Tradition und Familie mit einem emanzipierten, amerikanischen Leben als Fotografin zu versöhnen. Im Herzen Künstlerin, versteckt sie sich hinter einem Job als Hochzeitsfotografin, doch die Sorge um ihren Vater bringt sie zurück in ihre Heimat nach New Mexiko. Dort findet sie sich unversehens im großfamiliären Irrsinn wieder, verliebt sich und kann sich endlich mit der Trauer um ihren älteren Bruder auseinandersetzen. Und sie stellt sich ihrer Vergangenheit: Ihr berühmtestes, weil politischstes und dramatischstes Bild – die Fotografie eines sich aus Protest gegen Landnahme in den Tod stürzenden Indianers – hat sie sich noch nicht verziehen. Wie konnte sie so kaltblütig sein und im Angesicht eines Selbstmords den Auslöser drücken?

Ein tragikomisches, lebenspralles, hochemotionales Debüt.

Mira Jacob

DIE AUFFORDERUNG DES SCHLAFWANDLERS ZUM TANZ

Aus dem amerikanischen Englisch von Edith Beleites

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Sleepwalker’s Guide to Dancing«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2014 by Mira Jacob

Published by arrangement with Random House

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2014 by Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Doris Engelke

Umschlaggestaltung: Christina Hucke, www.christinahucke.de

Einband-/Umschlagmotiv: © picture alliance/Mint images

© Christina Hucke, www.christinahucke.de unter Verwendung

eines Motivs von shutterstock/javarman

E-Book-Produktion: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-0591-3

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für meinen Vater, Philip Jacob, 1939–2006

Prolog

EIN SELBST GEWÄHLTES EXIL

Seattle, Mai 1998

Es war Raserei, blinde Raserei. Drei Nächte in Folge saß Thomas Eapen auf der Veranda, mobilisierte sein gesamtes verbales Arsenal und schickte es ins Gefecht. Es war Sommer, und Thomas sprach so laut, dass er durchs Fliegengitter der Fenster gehört werden konnte. Nicht nur im eigenen Haus; auch die Nachbarn verstanden jedes Wort, seine Frau Kamala konnte nicht schlafen, und Prince Philip, der alte, arthritische Labrador, drehte verzweifelte Runden durch den Hausflur und winselte. Anfang Juni informierte Kamala ihre Tochter Amina per Telefon über das heimische Desaster, aber da sie im Plauderton einer gut gelaunten Fernsehmoderatorin sprach, begriff Amina nicht gleich den Ernst der Lage.

»Ich glaube, innerlich hat er sich schon von uns verabschiedet«, fasste Kamala zusammen, und Amina stellte sich vor, wie ihr Vater am Rand der Wüste auf den nächsten Bus wartete.

»Meinst du wirklich?«

»Ich weiß nicht, ich kann nicht mehr klar denken. Seit Samstag habe ich kein Auge zugetan.«

»Ach, komm! Du übertreibst!«

»Nein, es ist wahr.«

Jeder wusste, dass Kamala schlafen konnte wie ein Baby, egal was ihr nachtaktiver Mann gerade wieder anstellte (Waschbären jagen, Gartenabfälle verbrennen, Trecker in den Graben setzen). Genervt warf Amina den Schlüssel auf den Küchentresen.

»Kommst du gerade von der Arbeit?«, fragte Kamala.

»Ja.« Amina legte die Post und ihre Kamera neben die Schlüssel. Der Anrufbeantworter blinkte fordernd, aber sie drehte ihm den Rücken zu. »Jetzt mal im Ernst, Ma! Drei Nächte?«

»Wie war’s auf der Arbeit?«

»Hektisch. Halb Seattle heiratet nächsten Monat.«

»Du aber nicht.«

Amina versuchte, beim Thema zu bleiben. »Was sagt er denn?«

»Ach … dummes Zeug.«

»Was für dummes Zeug?«

»Spielt doch keine Rolle. Einfach nur dummes Zeug. Ich habe ihn gewarnt, dass ihm die Zunge verdorrt und abfällt, wenn er so weitermacht, aber es nutzt nichts. Er bringt mich noch um den Verstand.«

»Ach, Ma … Das sagst du doch immer.«

»Tu ich nicht!«

»Tust du doch.«

»Aber dieses Mal ist es anders.« Kamala seufzte.

Die Geräusche der Nacht fanden ihren Weg durch die Telefonleitung, Amina konnte New Mexico förmlich hören – den Wind in den Pappeln, Grillengezirp, das aus der Hochebene der Mesa herüberdrang, und das Klicken der Gartentür. Sie schloss die Augen und hatte das Gefühl, in dem dämmrigen Garten zu stehen, wo Wildgräser in den Kniekehlen kitzelten. »Bist du im Garten?«, fragte sie ihre Mutter.

»Hmm. Und du stehst im Regen?«

»Nein, in der Küche.« Amina sah auf das Linoleum unter ihren Stiefeln. Ausgeblichen, wie es war, erinnerte es immer noch an frühere Zeiten, als die Crown Hill Apartments mit ihren Marmorkaminen und sonnengelben Küchenböden als gute Adresse für aufstrebende Mittelschichtfamilien galten. Jetzt war dieser Fußboden ausgebleicht, hatte die Farbe von dünnem Urin und schlug Blasen, die schmatzende Geräusche machten, wenn man darauftrat.

»Wie ist das Wetter bei euch?«, fragte Kamala.

»Es nieselt.«

»Kein Mensch versteht, was dich da hält.«

»Ich hab mich dran gewöhnt.«

»Das ist doch kein Grund! Kein Wunder, dass dieser schreckliche Mann sich erschossen hat. Das war doch kein Leben – ohne Sonne und dazu diese teuflische Frau mit den kaputten Strumpfhosen!«

»Kurt Cobain war ein Junkie, Ma.«

»Weil er nicht genug Sonne bekam.«

Amina seufzte. Hätte sie geahnt, dass die Ausgabe des Rolling Stone, die sie bei ihrem letzten Besuch im Badezimmer vergessen hatte, Kamala zur Expertin für Seattle machen würde (»Diese Grunge-Bands! Diese Starbucks-Filialen! Diese Start-ups!«), hätte sie besser darauf aufgepasst. Andererseits hatte es auch sein Gutes. Kamalas Abneigung gegen Aminas Wohnort hatte ihre Besuche auf ein Minimum reduziert. (»Hier friere ich immerzu!«, sagte Kamala, wenn sie doch einmal zu Besuch kam, und dem netten Verkäufer in Aminas Lieblingscafé hatte sie einmal erklärt, er rieche ganz feucht.)

»Habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass die Minze dieses Jahr wie Unkraut wuchert?«, fragte ihre Mutter jetzt und klang plötzlich ganz lebendig. »Die Pflanzen sind viel kräftiger als letztes Jahr.«

»Wie schön!« Amina machte den Kühlschrank auf, aber da lagen nur ein paar ältere Fertiggerichte, also machte sie ihn wieder zu.

»Gestern waren die Ramakrishnas und Kurians zum Essen hier. Ich habe ein neues Minz-Chutney ausprobiert, und es war so lecker, dass Bala nach dem Rezept gefragt hat.«

»Und welche Zutaten hast du dieses Mal verschwiegen?«

»Gar keine. Bloß Cayennepfeffer und Koriander.«

Kochen betrachtete Amina inzwischen als einen Trick der Evolution, eine Überlebensstrategie, mit der ihre Mutter sich ihren Freundeskreis erhielt. Wie ein schillerndes Federkleid, das einen ganz gewöhnlichen Vogel aufwertete. Aus den simpelsten Zutaten konnte Kamala Mahlzeiten zaubern, die ihr mehr Zuneigung einbrachten, als sich mit ihrer Persönlichkeit erklären ließ.

»Und was halten sie von der Sache mit Dad?«

»Welche Sache?«

»Seine Schimpferei und so …«

»Das habe ich ihnen doch nicht erzählt! Wo denkst du hin?«

»Ach, du hältst es geheim?« Amina war ehrlich überrascht. »Vor der Familie?«

Geheimnisse zwischen den Ramakrishnas, Kurians und Eapens gab es höchstens alle fünf Jahre, und in der Regel kam binnen Kürzestem doch alles heraus, worauf die Geheimniskrämer die Düpierten beschworen, das Schweigen nicht persönlich zu nehmen, vielmehr habe man die Sache als reine Familienangelegenheit betrachtet, und die Düpierten beschworen die Geheimniskrämer, endlich zu begreifen, dass es hier in der Fremde keiner Blutsverwandtschaft bedurfte, um zur Familie zu gehören.

»Wieso geheim? Ich halte doch nichts geheim!«, sagte Kamala so erregt, dass ihr Ton sie Lügen strafte. Dann sagte sie betont gelassen: »Wegen so einer Lappalie wollen wir doch niemand belästigen!«

»Findet außer dir denn keiner, dass er sich komisch benimmt?«

»Er benimmt sich doch nicht komisch!«

»Aber du sagst doch, dass er …«

»So ein Unsinn! Er geht zur Arbeit und alles. Außerdem ist er anderen gegenüber ganz normal. Die Krankenschwestern umschwirren ihn wie eh und je und schnattern wie die Gänse auf ihn ein. Nur nachts kriegt er seine Anfälle.«

Natürlich passierte es nachts. Thomas verließ die Klinik nie vor Sonnenuntergang, und zwischen Mitternacht und sechs Uhr früh machte ihm seine Schlaflosigkeit zu schaffen. Dann saß er auf der Veranda und bastelte irgendwelche rätselhaften Objekte – Luftgewehre oder Vorrichtungen, mit denen man den Hund streicheln konnte.

»Wahrscheinlich spricht er bloß mit dem Hund. Das tut er doch immer«, sagte Amina.

»Nein, das ist es nicht.«

»Woher willst du das wissen?«

»Das hab ich doch gerade gesagt! Der Hund ist im Haus und winselt. Außerdem höre ich ja, was er sagt.«

»Was denn?«

»Er spricht mit Ammachy.«

Amina erstarrte. Ihre Großmutter war seit zwanzig Jahren tot. »Du meinst, er betet für sie?«

Es raschelte in der Leitung. Ihre Mutter schien ein Büschel Unkraut auszureißen. »Nein, das meine ich nicht. Er spricht mit ihr. Erzählt ihr Geschichten.«

»Geschichten?«

Kamala atmete schwer. Wusch – ein Büschel Unkraut. Keuchen. Dann – wusch – das nächste Büschel.

»Was für Geschichten, Ma?«

»Ach, dummes Zeug … Wie du in der zehnten Klasse den Fotowettbewerb gewonnen hast … Wie ich 1982 bei Hickory Farms in Ingwer eingelegte Gurken bestellt und kandierten Ingwer bekommen habe …«

»Warst du bei ihm, als er das gesagt hat? Ich meine, standest du neben ihm?«

»Ich war in der Waschküche.«

Seit 1983 war das Haus der Eapens in feindliche Lager aufgeteilt, deren unsichtbare Grenzen von jedermann beachtet wurden. Seit Jahren hatte Amina ihre Mutter nicht auf der beleuchteten Veranda ihres Vaters gesehen, und soviel sie wusste, betrat er nie ihren Garten.

»Aber du bist dir sicher, dass es Ammachy ist, der er diese Geschichten erzählt?«

Kamala zögerte kurz, ehe sie sagte: »Er kann sie sehen.«

Amina stand stocksteif da. »Wie bitte?«

»Er sagte, sie solle sich gefälligst woanders hinsetzen.«

»Was?«

»Ja. Und er sieht wohl auch …« Kamala sprach nicht weiter, und ihr Schmerz, ein ständiger Begleiter der Eapens, war unüberhörbar.

»Wen?«, fragte Amina mit brüchiger Stimme. »Wen sieht er noch?«

»Keine Ahnung.« Kamala klang weit, weit weg.

»Mom!« Amina begann, sich Sorgen zu machen. »Ist er depressiv?«

»Mach dich nicht lächerlich!« Kamala schnaubte verächtlich und widmete sich einer anderen Tätigkeit. Übers Telefon klang es, als würde sie etwas Schweres fortziehen. »Depressiv! Wenn ich das schon höre! Ich wollte dir nur erzählen, was hier so los ist. Das ist alles. Bestimmt hast du recht. Alles in Ordnung.«

»Aber wenn er glaubt, dass er …«

»Also dann, mein Schatz, ich rufe dich wieder an.«

»Nein, warte!«

»Was denn noch?«

»Ist … Ist Dad zu Hause? Kann ich ihn sprechen?«

»Er ist noch in der Klinik. Ein Notfall. Eine junge Mutter ist vorgestern kopfüber in ein Schwimmbecken gesprungen und auf den Boden geknallt. Seitdem ist sie bewusstlos.« Die Eapens hatten ihrer Tochter nie die Einzelheiten von Thomas’ Arbeit erspart. Schon mit fünf hörte sie Dinge wie Ihr steckt ein Skistock im Rückgrat oder Seine Frau hat ihm ins Gesicht geschossen, aber er wird überleben.

»Kann er in diesem Zustand denn überhaupt arbeiten?« Seit Amina als Zweitklässlerin ihren Vater einmal im OP besucht hatte, konnte sie seinen konzentrierten Blick über der Gesichtsmaske nicht vergessen. Genauso wenig wie den scharf-bitteren Geruch und dass sie umgefallen war, als ihr Vater das Skalpell am Hinterkopf seines Patienten ansetzte und alles rot wurde. Den Rest des Tages hatte sie im Schwesternzimmer verbracht und Süßigkeiten in sich hineingestopft.

»Herrgott, es geht ihm gut, Amina! Du hörst mir nicht zu.«

»O doch, Ma! Du hast gesagt, dass er halluziniert, und ich frage, ob er …«

»ICH HABE NICHT GESAGT, DASS ER HALLUZINIERT! ICH HABE NUR GESAGT, DASS ER MIT SEINER MUTTER GESPROCHEN HAT.«

»Die tot ist«, sagte Amina sanft.

»Natürlich ist sie tot.«

»Und das sind keine Halluzinationen?«

»Wir haben die Wahl, Amina. Als Menschen haben wir immer eine Wahl. Wenn einer an den Teufel glauben will, sieht er ihn natürlich überall. Dein Vater hat keine Halluzinationen. Das ist bloß Sentimentalität.«

»Das glaubst du doch selber nicht!« Diese Äußerung war reines Wunschdenken. Amina wusste nur zu gut, dass Kamala mit ihrem Faible für Jesus, christliche Radiosender und Bibelzitate, die sie nach Belieben umformulierte und -deutete, immer nur glaubte, was ihr gerade in den Kram passte.

»Ich spreche von Tatsachen«, sagte ihre Mutter.

»Aha. Na gut. Also … ich muss los.«

»Aber du bist doch gerade erst nach Haus gekommen. Wo willst du denn nun schon wieder hin?«

»Weg.«

»Jetzt? Mit wem?«

»Dimple.«

»Dimple!« Es klang wie ein Fluch. Kamala fand, dass Dimple Kurians Charakter zu wünschen übrig ließ, und zwar seit dem Tag, als ihre Eltern ihrdiesen lächerlichen Namen gegeben haben, der eher zu einer albernen Gans passt, die Fernsehstar werden will. Umgekehrt sagte Dimple über Kamala: Wo bei anderen Leuten das Herz sitzt, hat sie einen Jesus-Komplex.

»Ist sie immer noch dabei, Beziehungen zu öffnen?«, fragte Kamala verächtlich.

»Sie öffnet keine Beziehungen, Ma, sie hat offene Beziehungen. Aber ja, das tut sie nach wie vor.«

»Damit sie mit mehreren Männern gleichzeitig zusammen sein kann?«

»Sie geht nur mit ihnen aus.«

»Pfui! Was für ein schmutziges Mädchen! Kein Wunder, dass man sie auf die Reformschule schicken musste. Diese jungen Dinger werfen sich jedem an den Hals und jammern dann herum: ›Nein, o nein! Jetzt hält er mich für eine Hure!‹ Selber schuld, kann ich da nur sagen.«

»Hast du Dimple je jammern gehört?«

»Das hab ich im Kino gesehen. … Henry trifft Sally.«

»Du meinst Harry und Sally?«

»Ja. Dieses dumme Ding trifft sich mit Unmengen von Männern und jammert herum, dass keiner sie liebt, und dann heult sie auch noch diesem armen Jungen die Ohren voll und will, dass er sie liebt.«

»Darum geht es deiner Meinung nach in Harry und Sally?«

»Was soll der arme Kerl denn machen? Er kann sich doch nicht an eine wie sie binden!«

»Genau das tut er aber, Ma. So endet der Film.«

»Nein, so endet er nicht. Danach verlässt der Junge sie wieder.« Kamalas Überzeugung, dass Filme nach der Vorstellung weitergingen, hatte Amina immer schon verblüfft, aber ihre Mutter war nicht davon abzubringen. Keine Geschichte war vor ihr sicher, ständig revidierte sie ein Happy End oder milderte tragische Schlüsse ab. »Außerdem müsste jemand Dimple mal sagen, dass sie daheim anrufen soll. Wie können ihre Eltern wissen, dass es ihr gut geht, wenn sie nie anruft?«

»Weil ich sie jeden Tag sehe, Ma, und ihnen Bescheid sagen würde, wenn etwas nicht in Ordnung wäre.«

»Undankbare Brut! Bala macht sich schreckliche Sorgen um sie.«

»Dann sag Tante Bala, dass es ihr gut geht! Ich rufe Dad morgen an.«

Es wurde still in der Leitung. Hatte ihre Mutter aufgelegt?

»Ma?«

»Ruf ihn lieber nicht an.«

»Warum nicht?«

»So was kann man am Telefon nicht besprechen.«

Amina blinzelte fassungslos Richtung Küchenschrank. »Ich soll also erst wieder mit ihm reden, wenn ich das nächste Mal nach Hause komme?«

»Ah!« Kamala sang beinahe – ein glockenheller Ton, mit dem sie Überraschung vortäuschte. »Wenn du es für richtig hältst … Sehr schön. Wir freuen uns.«

»Worüber?«

»Wann kannst du hier sein?«

»Du willst … Ich soll … Moment mal!« Panisch sah sich Amina in der Küche um. Ihr Blick blieb an der Liste hängen, auf der sie notiert hatte, was für die Beale-Hochzeit noch alles zu erledigen war. »Wir haben Juni.«

»Ist das so wichtig? Aber gut, dann kommst du eben nicht.«

»Im Juni ist immer das meiste zu tun.«

»Verstehe. Es geht ja auch nur um deinen Vater.«

»Hör auf, Mom! Wenn du unbedingt willst, dass ich komme, dann tu ich’s natürlich, aber …« Amina rieb sich die Nasenwurzel. Im Sommer freinehmen? Der blanke Irrsinn!

Ihre Mutter holte tief Luft. »O ja. Das wäre wirklich schön. Aber nur, wenn es dir keine Umstände macht.«

Amina nahm den Hörer vom Ohr und starrte ihn an. Die letzte Bemerkung klang ganz und gar nicht nach Kamala. Was hatte Amina nicht mitgekriegt? Sie dachte an ein Tonband, das man rückwärts abspielen musste, um eine verborgene Botschaft zu verstehen. Irgendwas stimmt da nicht. Irgendwas stimmt da ganz und gar nicht!

»Ich buche einen Flug für nächste Woche«, hörte Amina sich sagen. Dann wartete sie auf ein Ach, lass nur oder So wichtig ist es nun auch wieder nicht. Stattdessen hörte sie ein erleichtertes Seufzen und die schmatzenden Geräusche von Wurzeln, die aus der Erde gezogen werden. Dann ein dumpfes Schaben, als ihre Mutter sich die Hände an der Hose abwischte. Amina sah sie förmlich vor sich, wie sie im Garten stand und Pappelsamen ihr schwarzes Haar wie kleine Elfen umschwirrten.

»Gut«, sagte Kamala. »Komm heim.«

1. Teil

WAS IN INDIEN GESCHIEHT, ZÄHLT NICHT NUR DORT

Salem, Indien, 1979

1. KAPITEL

Verräter! Feiglinge! Nichtsnutze!«, schrie Ammachy 1979 und beendete damit zugleich das Gespräch und den Kontakt mit ihrem Sohn, denn erst zu ihrer Beerdigung sollte Thomas nach Indien zurückkehren.

Was für ein Desaster! Mit einem Schlag hatte er Mutter und Heimat verloren. Wer hätte das geahnt? Amina jedenfalls nicht. Schon mit elf verstand sie genug von Tragödien, um zu wissen, dass dazu schmachtende Musik und schlechtes Wetter gehörten (immerhin hatte sie The Champ und Kramer gegen Kramer gesehen).

Was also gab es zu fürchten, solange die Sonne am Morgen ihrer Ankunft auf den Bahnhof von Salem schien und alles – das Gepäck, die Kofferkulis mit ihren roten Hemden und sogar die Bettler – in ein hoffnungsvolles Licht tauchte? Nichts, dachte Amina, als sie aus dem Zug kletterte und auf dem Bahnsteig in ein Gewirr von Achselhöhlen blickte. Plumpe Arme, umweht von Sariärmeln, streiften ihre Wangen; Teeverkäufer brüllten Angebote in die Zugfenster; Kofferkulis wollten ihr Gepäckstücke entreißen, die sie gar nicht bei sich hatte. Irgendwo in all dem Getöse rief jemand ihren Vater.

»Da drüben, Dad«, sagte Akhil und zeigte auf jemanden, den Amina nicht sehen konnte.

Thomas packte sie an der Schulter und schob sie vorwärts. »Babu!« Er klopfte einem alten Mann auf den Rücken. »Wie schön, dich zu sehen!«

Eingehüllt in einen voluminösen Dhobi und dürr wie eh und je schenkte Babu ihnen ein zahnloses Lächeln. Obwohl dünn wie ein unterernährtes Baby, konnte er sich große Lasten auf den Kopf packen und sie durch eine Menschenmenge tragen – so wie jetzt die vier Koffer der Familie. Vor dem Bahnhofsgebäude lud Preetham, der Fahrer, alles in den auf Hochglanz polierten Ambassador, der von bettelnden Kindern umlagert wurde. Abwechselnd zeigten sie auf Aminas oder Akhils Turnschuhe und dann auf die eigenen Münder, als könnten Nikes ihren Hunger stillen.

»Komm schon, Ami!«, rief Kamala und öffnete die Wagentür. Als alle eingestiegen waren (Preetham und Thomas vorne, Akhil, Kamala und Amina hinten, während Babu würdevoll auf der hinteren Stoßstange stand), konnte die Fahrt losgehen. Ihr Ziel lag nur vier Querstraßen entfernt.

Anders als der Rest der Familie hatten Thomas’ Eltern Kerala längst den Rücken gekehrt und sich im trockeneren Bundesstaat Tamil Nadu niedergelassen. Sie waren in ein großes Haus am Stadtrand gezogen, hatten ein Krankenhaus eröffnet (Ammachy war Augenärztin, Appachen HNO-Arzt), und bis zu Appachens tödlichem Herzinfarkt mit fünfundvierzig waren siebzig Prozent aller Köpfe Salems von den beiden behandelt worden.

»Goldene Zeiten«, sagte Ammachy zu jedem, der es hören wollte (oder auch nicht), um dann alles aufzuzählen, was sie seither so bitter enttäuscht hatte. Die unangefochtene Nummer eins dieser Liste war ihr ältester Sohn, der »die Dunkelhäutige« geheiratet hatte und nach Amerika ausgewandert war, obwohl ihr mütterlicher Plan vorgesehen hatte, dass er Kamalas hellhäutigere Cousine heiratete und nach Madras zog. Ihr jüngerer Sohn hatte ein Kind, das ein »Idiot« war, und statt Arzt war er nur Dentist geworden, also ein Zahnarzt ohne Universitätsabschluss. Ein weiterer Quell ihrer Verbitterung waren die vielen Kinos und Krankenhäuser, die in der Nachbarschaft entstanden und Lärm und Gestank verbreiteten.

»Herrgott, ich fasse es nicht!«, murmelte Thomas, als sie in die Tamarind Road einbogen. Amina folgte seinem Blick. »Man kann das Haus ja nicht mehr sehen.«

Das stimmte. Das Einzige, was man sah beziehungsweise unmöglich übersehen konnte, war Die Mauer, Ammachys Antwort auf eine sich wandelnde Welt. Sie bestand aus Mörtel und Scherben und war bei jedem Besuch krummer, höher und schmuddeliger, bis sie schließlich aussah, als seien Außerirdischen die Gebisse ausgefallen und hier im Dreck der belebten Durchgangsstraße stecken geblieben.

»Ist doch nicht so schlimm«, sagte Kamala wenig überzeugend.

»Ich find’s unheimlich«, sagte Akhil.

»Ein neues Tor!«, sagte Preetham stolz und hupte. Alle verstummten, als sich wie von Zauberhand das Tor öffnete und der Ambassador in die Einfahrt rollte.

Das Haus selbst war unverändert. Es war zwei Stockwerke hoch, rosa und gelb angemalt und brütete in der Hitze wie eine schmelzende Geburtstagstorte. Davor stand eine kleine Menschenmenge, die Amina durchs Wagenfenster betrachtete – Onkel Sunil, dunkelhäutig und dickbäuchig; seine Frau, die viel hellere, schmächtige Tante Divya; ihr Sohn Itty, der wie eine spindeldürre Ausgabe von Stevie Wonder unablässig den Kopf wiegte; Mary-die-Köchin und zwei neue Hausmädchen. Weihnachtliche Lichterketten und Lametta blinkten in den Granatapfelbäumen.

»Mikhi! Mittak!«, rief Itty, als der Wagen näher kam, und winkte ausgelassen. Seit ihrem letzten Besuch war er fast so groß geworden wie Sunil. Amina winkte zurück und wappnete sich für die Begegnung mit ihm. Dass er sie »Mittak« nannte, war für sie okay, aber wenn er sich aufregte, was häufig geschah, konnte er schon mal zubeißen, was außer ihr jedoch niemanden zu stören schien. Sie strich über den blassen Halbmond auf ihrem Unterarm und rutschte tiefer in den Sitz.

»Halloalloallo!«, rief Sunil, als der Wagen anhielt. »Willkommen, willkommen!«

»Hallo, Sunil.« Thomas stieg aus, ging mit großen Schritten über den Rasen und schüttelte Sunil die Hand. »Schön, dich wiederzusehen.«

Das war eine glatte Lüge, und beide Brüder wussten es. Sie hatten sich nie sonderlich gemocht, aber es gehörte sich nun mal, so etwas zu sagen.

Sunil strahlte Kamala an. »Schön wie eine Rose, meine Liebe!« Er küsste erst sie und dann Amina auf die Wange und nebelte sie mit seinem Eau de Cologne ein, bevor er sich wieder aufrichtete und mit dramatischer Geste an die Brust fasste. »Wer ist denn dieser wilde Tiger? Mein Gott, Akhil! Bist du das? Du bist ja auf dem besten Weg, der König des Dschungels zu werden!«

»Ja, ja.« Akhil zuckte mit den Schultern.

Plötzlich legten sich zwei Hände um Aminas Hals und drückten so fest zu, dass es wehtat. Mit aller Kraft versuchte sie sich zu befreien, während Itty ihr seinen heißen Atem ins Ohr blies. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass ihre Mutter Divya den Arm tätschelte.

»Mittak!« Endlich ließ Itty sie los und patschte ihr begeistert auf den Kopf.

»Verdammt, Itty!«, japste Amina, Tränen in den Augen. »Mom!«

»Itty.« Lächelnd umarmte Kamala den Jungen, der sein Gesicht grunzend in ihre Halsbeuge grub.

»Guten Tag.« Pockennarbig stand Divya vor Amina und machte ein Gesicht, als hätte sie das Elend der Welt gepachtet. »Wie war die Fahrt?«

»Gut.« Amina liebte den Nachtzug von Madras, das Geschrei der Teeverkäufer an den Bahnhöfen, das Essen, das in jeder Stadt anders roch. »Es gab Eibrote.«

Divya nickte. »Und jetzt bist du krank?«

»Nein.«

»Krank?«, donnerte eine Stimme hinter Divya. »Jetzt schon? Wer denn?«

Unter den blinkenden Lichtern saß Ammachy in ihrem Korbsessel auf der Veranda, und ihre meergrüne Saribluse hatte Schweißflecken. Seit sie sich zuletzt vor zwei Jahren gesehen hatten, war ihr Gesicht nicht freundlicher geworden. Lange weiße Haare sprossen aus ihrem Kinn, und ihre Wirbelsäule war nach Jahrzehnten leidvoller Bitternis so verkrümmt, dass ihr Kopf nur Zentimeter über ihrem Schoß hing.

»Hallo, Amma.« Thomas packte Amina und Akhil am Nacken und schob sie die Stufen hinauf. »Wie schön, dich zu sehen.«

Ammachy deutete auf die Speckrolle unter Akhils Polohemd. »Herrje, was sind das denn für weibische Hüften?«

»Hi, Ammachy.« Akhil beugte sich vor, um ihre Wange zu küssen.

Die alte Frau warf einen tadelnden Blick auf Amina. »Ach! Habe ich dir keine Fair and Lovely-Creme geschickt? Warum benutzt du sie nicht?«

»Lass nur, Amma«, sagte Thomas, aber als Amina sich zögernd vorbeugte, um sie zu küssen, kniff sie der Enkelin in die Wange.

»Wenn du nicht hübsch wirst, musst du schlau sein. Bist du das?«

Amina starrte ihre Großmutter an und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte sich nie für besonders klug gehalten, aber auch nicht für besonders hässlich. Letzteres musste wohl ein Irrtum sein, denn Ammachy kräuselte angewidert die behaarte Oberlippe.

»Amina hat den Rechtschreibwettbewerb gewonnen, an dem Schulen der ganzen Stadt teilgenommen haben«, verkündete Kamala und drückte Aminas Kopf hinunter, bis ihre Lippen auf Ammachys Wange landeten. Zu ihrer Überraschung schmeckte diese nach Menthol und Rosen. Amina wunderte sich noch, da wurde sie schon in das verdunkelte Haus gezogen, durch den Flur, vorbei an den Zimmern, die Sunil, Divya, Itty und Ammachy bewohnten, und ins Esszimmer, wo der Tisch zum Tee gedeckt war.

»Der Zug war voll, was? Und zu essen gab’s auch nichts? Sie freut sich so sehr, euch zu sehen.« Divya zeigte Kamala und den Kindern, wo sie sich hinsetzen sollten, und schob ihnen eine Schale safranfarbener Jalebis zu. »Seit vier Wochen redet sie von nichts anderem.«

»Itty«, rief Sunil, der einen dicken Koffer hinter sich herzog. »Dein Onkel besteht darauf, dass wir die Geschenke auspacken. Wollen wir?«

»Hallo?« Itty nickte wild. »Woll wir? Woll wir?«

»Nichts Besonderes.« Thomas nahm neben Amina Platz.

»Nur ein paar Klitzekleinigkeiten«, sagte Kamala.

Ammachy kam ins Esszimmer gehumpelt und raunzte: »Wer braucht so was?«

So was – das waren: zwei Paar Levis, eine Flasche Johnny Walker Red Label, drei Tüten Nüsse (Mandeln, Cashew, Pistazien), ein Paar Reeboks mit Klettverschluss, ein Paar Wanderstiefel, zwei Flaschen Parfüm (Anaïs Anaïs und Chloé), vier Musikkassetten (Beatles, Rolling Stones, Kenny Rogers, Exile), zwei Töpfe parfümierter Avon-Creme (Topaze und Unspoken), mehrere Paare weißer Baumwollsocken, Puder und eine wie ein Spazierstock geformte Packung Lipgloss mit Marshmallow-, Vanille- und Pfefferminzgeschmack.

»Das ist doch viel zu viel.« Sunil wollte Thomas die Musikkassetten zurückgeben. »Wirklich, das brauchen wir nicht.«

»Wer spricht denn von brauchen?« Thomas grinste, als er sah, wie Divya den Finger in die Avoncreme tauchte. »Ist doch nett, etwas geschenkt zu bekommen. Was meinst du, Itty? Gefallen dir die Klettverschlüsse?«

Vornübergebeugt saß Itty mit gespreizten Beinen auf dem Boden und schwenkte den Oberkörper von einer Seite zur anderen, während er – sprachlos vor Begeisterung – seine weiß beschuhten Füße bewunderte.

»Ihr verwöhnt ihn.« Sunil griff nach dem Whisky, hielt ihn gegens Licht und studierte das Etikett. »Sollen wir den mal probieren?«

»Nach dem Essen«, sagte Thomas. Sunil goss einen ordentlichen Schluck in seine leere Teetasse und roch daran.

»Klettverschlüsse sind in den Staaten der letzte Schrei«, erklärte Kamala in die Runde und machte ein allwissendes Gesicht. »Ist ja auch viel praktischer, als sich die Schuhe zuzubinden.«

Ammachy schnaubte verächtlich. »Diese Irren in Amerika können sich nicht mal die Schuhe zubinden?«

»Lettafuss!«, krähte Itty mit peinlichem Timing und machte seine Reeboks auf und zu, auf und zu, bis Ammachy ihm mit der frisch gepuderten Hand eine Ohrfeige gab. Dann schnupperte sie an den drei Lippencremes und leckte an einer, bevor sie sie angewidert Divya hinschob.

»Hattet ihr einen guten Flug?«, fragte sie.

Thomas nickte. »War ganz okay.«

»Welche Route?«

»San Francisco – Honolulu – Taiwan – Singapur.«

»Singapore Airlines?«

»Ja.«

»Hübsche Stewardessen, was?« Ammachy schenkte Kamala Tee nach. »Schöne helle Haut.«

»Probier doch mal die Wanderstiefel an, Sunil«, sagte Thomas. »Das Fußbett ist gepolstert.«

»Später. Ich muss noch arbeiten.«

»O ja!« Ammachy verdrehte die Augen. »Er und seine Volkssprechstunde! Wie großartig das klingt! Als würde er Leben retten, dabei richtet er bloß Zähne.«

»Zähne sind Leben, Amma«, sagte Sunil düster. »Die Menschen müssen essen, um zu leben.«

Sie ignorierte ihn und fragte Thomas: »Wen wollt ihr alles besuchen?«

»Ich weiß nicht. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.«

»Nun, dein alter Klassenkamerad Yohan Varghese hat neulich nach dir gefragt. Habe ich dir erzählt, dass seine Frau gestorben ist? Das dumme Ding war ihm zwar keine große Hilfe, aber jetzt steht er mit zwei Söhnen ganz allein da. Und wir sollten natürlich Saramma Kochamma besuchen. Ein Nachmittag zum Tee genügt. Und Dr. Abraham will dich sprechen. Er baut das Reha-Zentrum auf, von dem ich dir erzählt habe. Das würdest du doch bestimmt gern sehen, oder?« Letzteres kam so von oben herab, dass es sogar Amina peinlich war.

Thomas nahm sich ein Jalebi und bot auch Amina eins an, doch sie schüttelte den Kopf.

»Jedenfalls braucht er jemanden, der sich mit Kopfverletzungen auskennt. Ich habe versprochen, dass du ihn anrufst.« Ammachy goss Milch in ihren Tee. »Morgen vielleicht?«

»Das ist nicht gerade mein Spezialgebiet.« Thomas biss in den Jalebi. »Operationen, wie ich sie mache, dürften hier eher selten gefragt sein.«

»Niemand wollte, dass du Gehirnchirurg wirst«, schnappte Ammachy.

»Das stimmt.« Thomas kaute bedächtig.

Akhil wollte nach einem Jalebi greifen, doch Ammachy schlug ihm auf die Finger.

»Es ist ja nur ein Angebot.« Ammachy kratzte etwas von der Wachstischdecke. »Aber Kamala will wohl lieber in den Staaten bleiben. Unter lauter emanzipierten Frauen, die ihre Büstenhalter verbrennen.«

»Wie bitte?« Kamala saß kerzengerade auf ihrem Stuhl.

»Deshalb wollte sie doch rüber. Wegen der ganzen Freiheit.«

»Wer verbrennt denn Büstenhalter?«, fragte Kamala indigniert.

»Wie soll ich das wissen?« Ammachy sah sie wütend an. »Du warst doch die Miss Vorlaut, die unbedingt in diesem gottverlassenen Land wohnen wollte.«

»Ich?«

»Wer denn sonst? Hättest du auch nur den geringsten Wunsch, in die Heimat zurückzukehren, wäre Thomas sofort dabei. Männer gehen nur so weit, wie ihre Frauen es zulassen.«

»Ach ja?« Kamala beugte sich über den Tisch. »Wie interessant! Findest du nicht, Thomas?«

»Bitte, Amma! Wir sind gerade erst angekommen.«

»Was bedeutet Vorhaut?«, fragte Amina. Alle sahen sie an, und sie wandte sich ihrer Großmutter zu. »Du hast doch eben gesagt: Mom war immer die Miss Vorhaut.« Unterm Tisch trat Akhil ihr ans Schienbein. »Aua!«

»Wovon redet dieses Kind?«, fragte Ammachy mit versteinerter Miene.

»Zeit für ein Nickerchen, Kinder.« Kamala zeigte aufs Treppenhaus. »Rauf mit euch! Ihr seid völlig übermüdet.«

»Aber es ist noch viel zu früh!«, protestierte Akhil. »Wir sind gerade erst angekommen.«

»Der Jetlag macht euch unausstehlich, wenn ihr heute nicht genug schlaft. Ab mit euch!« Kamala stand auf und scheuchte die beiden zur Treppe. Itty rannte hinterher. »Du bleibst bei uns, Itty, okay? Deine Cousine und dein Cousin müssen schlafen.«

»Hallo? Cricket?« Itty sah Kamala fragend an, doch die schüttelte den Kopf.

»Jetzt nicht, Itty. Die beiden müssen schlafen. Du bleibst bei mir.«

»Na, super!«, schmollte Akhil, als sie die Treppe hinaufgingen. »Jetzt sitzen wir ewig da oben in der Hitze rum.«

»Was bedeutet denn nun Vorhaut?«, fragte Amina.

»Vorlaut, Dumpfbacke! Ammachy hat ›vorlaut‹ gesagt. Es bedeutet, dass jemand immer und überall zum Besten geben muss, was er alles weiß, auch wenn es niemand hören will.«

»Ach so.« Je höher sie stiegen, desto heißer wurde es. Aminas Beine wurden so schwer, als hätten sie ein Nickerchen nicht nur nötig, sondern schliefen bereits. »Stimmt es, dass Gott Amerika verlassen hat?«

»Kann schon sein.« Akhil öffnete die Tür zu dem Zimmer, das sie sich teilen würden. Als Erstes schaltete er den Ventilator auf höchste Stufe und scheuchte damit einen Schwarm Mücken auf. »Jedenfalls sieht Ammachy das so.«

»Und Dad? Sieht er das auch so?«

»Nein, Dumpfbacke! Dad mag Amerika. Darum geht ja der ganze Streit.«

»Sie haben Streit?«

»Was dachtest du denn, was das eben war? Oder was jedes Mal abgeht, wenn wir hier sind? Ammachy will, dass Dad zurückkommt, aber er will nicht. Deswegen ist Ammachy wütend auf Mom. Der klassische Konflikt zwischen Auswanderern und Daheimgebliebenen.«

»Weiß ich doch«, sagte Amina und ärgerte sich, weil sie es keineswegs gewusst hatte. Und weil Akhil sich einbildete, alles über Indien zu wissen, obwohl er nur drei Jahre älter war als sie. Allerdings war er – im Gegensatz zu Amina – in Indien geboren worden. Jedenfalls fand sie ihn ziemlich vorlaut, jetzt da sie das Wort kannte. Sie hob das Moskitonetz eines Betts an und kroch darunter. »Dabei würde Mom doch am liebsten hierbleiben.«

»Ja, und?« Akhil ließ sich auf das andere Bett fallen.

»Warum ist Ammachy dann wütend auf sie?«

Einen Moment lang dachte Akhil darüber nach, dann zuckte er mit den Schultern. »Weil sie nicht auf Dad wütend sein will.«

»Ach so.« Amina hatte sich ins Kissen geschmiegt. »Und du? Würdest du auch lieber hierbleiben?«

»Ich? Bist du verrückt? Indien ist das Letzte!«

Erleichtert schloss Amina die Augen und wunderte sich, wie schnell alles schwarz wurde und der Schlaf sie überkam.

»Sie ist halb Großmutter, halb Wölfin«, flüsterte Akhil einige Sekunden später.

Da Amina schon fast eingeschlafen war, nahm sie seine Worte für bare Münze. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass sich etwas Unvorstellbares als Wahrheit entpuppte. Außerdem hatte sie den kalten Raubtierglanz in den Augen ihrer Großmutter gesehen und ihre arthritischen Klauenhände. Sie nahm sich vor, diesen Klauen für den Rest des Besuchs nicht zu nahe zu kommen.

Wo waren alle? Akhils Bett war leer, und bläuliches Abendlicht schien durchs Fenster, als Amina die Augen aufschlug. Sie stand auf und wartete, bis der Druck in ihrem Kopf nachließ, bevor sie in ihre Flip-Flops schlüpfte und durch den Flur zum Zimmer ihrer Eltern ging.

»Mom?«

Kamala verstaute Kleider in einer Kommode und sah auf, als Amina hereinkam. »Oh, gut! Höchste Zeit aufzustehen, sonst könnt ihr nicht rechtzeitig wieder schlafen gehen.«

»Wo sind denn alle?«

»Die Nachbarn besuchen.«

»Auch Akhil?«

»Der ist in der Küche.«

Amina blinzelte in die trockene Luft und fühlte sich nicht gut. »Ich habe Kopfschmerzen.«

Sofort war Kamala bei ihr und legte ihr eine Hand auf die Stirn. »Hast du Wasser getrunken?«

»Nein.« Das Wasser in Salem schmeckte schrecklich. Nur zum Zähneputzen nahm Amina es in den Mund.

»Dann geh nach unten und trink welches, und zwar sofort.«

Amina stöhnte.

»Mach bloß nicht so ein Theater wie beim letzten Mal, Amina! Da hast du es so weit getrieben, dass du einen Einlauf brauchtest!«

»Mom!«

»Willst du das noch mal erleben? Vier Tage kein Stuhlgang?«

»Okay, okay, ich geh ja schon.«

Die Sonne war schon hinter Der Mauer verschwunden, als Amina durch den schattigen Innenhof zur Küche ging. Das größere der Hausmädchen warf eine Kokosnuss auf den Betonboden und sah Amina stumm an. Amina winkte ihr zu und tat so, als winkte das Mädchen zurück.

»Finger weg vom Ghee, sonst hacke ich sie dir ab!«, schrie Mary-die-Köchin, als Amina die Küche betrat, und sah erst dann, wer hereingekommen war. »Ah! Die Kleine ist aufgewacht. Was brauchst du, Süße? Brot? Zucker?«

»Mom sagt, ich soll Wasser trinken.«

»Ja, ja.« Mary-die-Köchin war schwarz wie ein Autoreifen und hatte schwer an ihren kissengroßen Brüsten zu tragen. Sie war genauso alt wie Ammachy, aber das konnte man kaum glauben, weil ihr Körper über die Jahre an genau den Stellen Polster gebildet hatte, an denen Ammachy geschrumpft war. Das Ergebnis waren ein faltenfreies Gesicht und ein Körper, der sich wie ein hüpfender Fleischklops bewegte. »Wasserwasserwasser. Seit einer Woche tu ich nichts anderes, als für euch Wasser abzukochen. Erinnerst du dich noch, letztes Mal? Da konntest du vier Tage lang nicht …«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Amina schnell und nahm das Glas, das Mary-die-Köchin ihr hinhielt. »Was gibt’s zum Abendessen?«

»Ein Biryani.« Stolz blickte die Köchin auf ein blutiges Hühnchen, das auf dem Küchentresen lag. »Und als Zugabe vielleicht etwas von diesem Komiker hier, wenn er nicht aufhört, Unsinn zu reden.«

»Das ist kein Unsinn«, sagte Akhil. »Woher willst du das überhaupt wissen? Du warst beim Tee nicht dabei!«

»BeimTee? Ich arbeite in diesem Haus, seit dein Vater sechs war, und da meinst du, ich müsste beim Tee dabei sein, um zu wissen, was los ist?«

»Ich sag doch nur, dass Ammachy schon wieder total angepisst war. Sie kann ihn nicht mal normal ansehen.«

»Angepasst?«, fragte die Köchin. »Wie meinst du das?«

»Sie war sauer auf ihn.«

»Niemand ist sauer! Im Gegenteil. Zu viel Liebe, das ist alles. All die Jahre hat Amma geschuftet, damit Thomas eine gute Ausbildung bekommt, und dann heiratet er eure dunkelhäutige Mutter und studiert in Amerika. Und wozu? Für nichts und wieder nichts!« Aus Gründen, die niemand verstehen konnte, war Mary-die-Köchin immer Ammachys stärkste Verbündete gewesen. Als Beweis für eine Gutherzigkeit, die außer ihr niemand an der Matriarchin entdecken konnte, führte sie stets an, dass Ammachy ihr Englisch beigebracht hatte. »Wie der nichtsnutzigste Tagedieb zwischen hier und Bombay läuft der Bursche einfach weg, arbeitet und arbeitet und kommt nicht nach Hause! Wie soll sie das verkraften?«

»Sie kann doch auch in die Staaten ziehen«, sagte Akhil.

»Mach dich nicht dümmer, als du bist! Sie und umziehen? Dafür ist sie zu alt.« Mary schüttelte den Kopf. »Außerdem weiß doch jeder, dass die Kinder in der Pflicht sind, vor allem, wenn die Eltern alt werden. Was, wenn ihr etwas passiert?«

»Sie hat doch Onkel Sunil.«

Mary-die-Köchin schnaubte verächtlich. »Was soll sie mit diesem Versager? Ein Wunder, dass sie ihn überhaupt hier wohnen lässt. Wie der alle anschreit … schlafwandelt wie ein junger Elefant … und immer unglücklich.«

»Wie bitte?« Akhil machte große Augen. »Was hast du gesagt?«

»Onkel Sunil ist Schlafwandler?«, fragte Amina. Bis jetzt hatte sie nur den Comic-Hund Scooby Doo schlafwandeln sehen und nicht gewusst, dass auch Menschen das taten.

Mary-die-Köchin winkte ab. »Nicht so wichtig. Gib mir eine Zwiebel, Akhil!«

»Wohin geht er denn?« Amina stellte sich vor, wie Onkel Sunil sich nachts in der Küche ein riesiges Sandwich machte.

»Eine Zwiebel, Akhil!«

Akhil griff in den Korb hinter sich. »Im Ernst? Macht er das oft? Jede Nacht?«

»Das spielt doch keine Rolle«, sagte Mary-die-Köchin. »Ich sage nur, dass Thomas heimkommen sollte. Wenn er noch lange wartet, ist es zu spät.«

»Hast du mal versucht, ihn aufzuwecken?«, fragte Akhil. »Das soll ja gefährlich sein. Wenn man Schlafwandler stört, greifen sie einen an, oder?«

»Ihn aufwecken? Wozu? Wir haben genug damit zu tun, uns vor ihm in Sicherheit zu bringen.«

»Hat er dir schon mal was getan?«

»Mir nicht. Er vergreift sich nur an Sachen.«

»Was für Sachen?«

»Sachen, die er selbst gekauft hat. Das Porzellan von Ammas sechzigstem Geburtstag. Der Fernseher … zerschmettert wie ein billiges Spielzeug. Der verstellbare Behandlungsstuhl und die Arbeitslampe.«

Akhil kniff die Augen zusammen. »Woher weißt du überhaupt, dass er schlafwandelt?«

»Wer würde denn im Wachen Dinge zerschlagen, für die er so lange gespart hat? Er ist schließlich nicht Thomas, der kaputtmachen kann, was er will, und sich dann einfach was Neues kauft. Und am nächsten Tag heult er sich deswegen die Augen aus dem Kopf.«

»Wow!« Akhil war beeindruckt. »Echt psycho!«

»Stimmt.« Mary-die-Köchin schnitt die Zwiebelenden mit einem rostigen Messer ab.

Nachdem er einen Moment lang überlegt hatte, sagte Akhil: »Also, Dad sagt immer, dass Onkel Sunil gar nicht hier wohnen und Dentist werden wollte. Ammachy hat ihn dazu gezwungen, als er die Aufnahmeprüfung zum Medizinstudium nicht geschafft hatte. Vielleicht will er beim Schlafwandeln bloß …«

»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Mary-die-Köchin. »Er will gar nichts. Er schläft.«

»Ich meine doch unterbewusst.« Akhil verdrehte die Augen.

»Unter was?«

»Na ja … also vielleicht tut er beim Schlafwandeln Sachen, die er gern im Wachzustand tun würde.«

»Und was, bitte, ist das?« Schärfer als Marys Küchenmesser durchschnitt Ammachys Stimme die dämmrige Küche. Erst dann erschien die Hausherrin, wie ein Geist. Krumm wie eine Garnele kam sie herein und blickte Mary böse an.

»Oh, hi, Ammachy«, sagte Akhil und lächelte tapfer. »Wir haben nur …«

»Habe ich dir nicht gesagt, dass du nichts in der Küche zu suchen hast?« Dass ihre Augen funkelten, konnte man trotz der schlechten Lichtverhältnisse sehen.

»Wir wollten nur etwas Wasser trinken. AU!« Akhil heulte auf, als seine Großmutter in seine Speckrolle kniff.

»Wenn ich dich hier noch mal erwische, kriegst du meinen Stock zu spüren. Verstanden?«

Was war daran nicht zu verstehen? Amina beeilte sich zu verschwinden, und Akhil folgte ihr. Er schob sie aus der Tür, und beide hasteten über den dunklen Hof, vorbei an Bergen von Kokosnüssen und zwischen den Granatapfelbäumen hindurch, bis sie die Veranda erreichten. Erst als sie oben angekommen waren, wagten sie einen Blick zurück. Ammachy überschüttete die Köchin mit einer Schimpfkanonade auf Tamilisch, während diese voller Reue auf die Zwiebeln einhackte.

»Mein Gott!«, sagte Akhil düster. »Hat sie uns hinterherspioniert? Das kann doch nicht sein!«

»Beim letzten Mal hat sie uns auch hinterherspioniert, weißt du noch? Überhaupt spioniert sie allen hinterher. Trotzdem hättest du das mit Onkel Sunil nicht sagen dürfen.«

»Warum denn nicht? Alle wissen, dass er unglücklich ist. Sogar Dad sagt, er hätte Salem schon vor Jahren verlassen sollen.« Akhil rieb sich die ausladende Mitte, wo seine Großmutter ihn gekniffen hatte. »Die Wahrheit tut nun mal weh. Drauf geschissen.«

»Raufgeschissen!«, krähte Itty hinter ihnen, und Amina schrie erschrocken auf. Die weißen Turnschuhe ihres Cousins leuchteten im Dunkeln, als er hinter Ammachys Sessel hervorkroch und Cousin und Cousine erwartungsvoll ansah. »Cricket?«

»Dafür ist es zu dunkel«, sagte Akhil.

Itty war die Enttäuschung anzusehen. Amina ahnte plötzlich, dass er die kompletten zwei Jahre seit ihrem letzten Besuch erwartungsvoll am Tor gestanden hatte, den Cricketball in der Hand.

»Morgen spielen wir«, sagte sie, und Itty nickte traurig.

»Hallo? Dach?«, versuchte er seine zweitliebste Beschäftigung ins Spiel zu bringen.

»Nee«, sagte Akhil.

»Ich komme mit«, sagte Amina.

Minuten später traten beide von der oberen Terrasse auf den schmalen Sims, von dem man über eine Leiter aufs Dach klettern konnte. Oben angekommen konnte Amina endlich über Die Mauer sehen. In der Ferne glühte der Himmel im Sonnenuntergang, und überall stieg Rauch von den Feuerstellen auf, auf denen die Menschen ihr Abendessen zubereiteten. Die Durchgangsstraße vorm Haus stand wieder kurz vorm Infarkt. Im stockenden Verkehr hupten Busse und Pkws, während sich Rikschas und Fahrräder an ihnen vorbeischlängelten. Die bettelnden Kinder, die sie bei ihrer Ankunft umringt hatten, waren jetzt über die ganze Straße verteilt, rannten auf Wagen zu, die Schritttempo fuhren, und streckten ihre bettelnden Hände in offene Fenster. Amina atmete tief ein und roch Abgase und brutzelnde Zwiebeln, Kuhfladen, Kanalisation und Schweiß. Itty summte vor sich hin. Amina sah ihn auf das langsam in der Dunkelheit verschwindende Salem blicken. Dann reichte er ihr die Hand, um sie sicher ins Haus zurückzuführen.

Das Essen an diesem Abend war ebenso opulent wie zäh. Mary-die-Köchin hatte es vor lauter Stress anbrennen lassen, und lustlos wurde darauf herumgekaut. Die Erwachsenen diskutierten über den von Indira Gandhi verhängten nationalen Notstand (»Ein kolossaler Fehler«, fand Thomas) und die neue Janata Partei, die für Amina wie »Pyjamaparty« klang.

»Ihr werdet es erleben«, sagte Ammachy, fischte sich einen Hühnerknochen aus dem Mund und legte ihn an den Tellerrand. »Die sind genau wie alle anderen Politiker. Sie reden und reden und versprechen einem das Blaue vom Himmel, und am Ende ruinieren sie das Land.«

»Unsinn!« Thomas nahm sich Reis nach. »Wir haben die Briten überlebt, da kommen wir auch damit zurecht.«

Sunil, der mit geröteten Augen und leicht schwankend am anderen Ende des Tischs saß, schnaubte verächtlich.

»So einfach ist das aber nicht, Thomas«, sagte Ammachy. »Ein äußerer Feind ist leichter zu bekämpfen als das Chaos im Inneren. Und jetzt gibt es so viele Gruppierungen! Antimuslimische, antichristliche, anti alles und jedes!«

»Aber nicht doch!«, sagte Kamala beschwichtigend.

»Hat T. C. Roy nicht gesagt, dass in Madras schon der Mob regiert?« Divya schob Itty eine Handvoll Reis in den Mund. »Er hat sich nicht getraut, aus dem Auto zu steigen, weil er um sein Leben fürchtete.«

»Echt wahr?«, fragte Akhil erschrocken.

»Pah! Roy ist bloß hysterisch.« Thomas machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ihr werdet sehen, alles wendet sich zum Guten. Die Geschichte ist wie ein Pendel, das mal in die eine, mal in die andere Richtung ausschlägt, aber Indien ist und bleibt ein blühendes Land.«

»Aus der Ferne ist das leicht gesagt.« Sunil zermalmte einen Happen Reis zwischen den Fingern.

Thomas plusterte sich auf. »Heißt das, ich darf keine eigene Meinung haben?«

»Ich sage nur, dass es ziemlich einfach ist, vom anderen Ende der Welt durch eine rosarote Brille auf die Heimat zu blicken. Wir, die wir hier leben, müssen uns den Realitäten stellen. Und die sehen nun mal anders aus.«

»Natürlich. Ich behaupte ja auch nicht, dass es leicht ist, in Indien zu leben. Ich wollte nur …«

»Schwer ist es aber auch nicht«, unterbrach Sunil seinen Bruder beleidigt. »Wir haben die gleichen modernen Errungenschaften wie ihr. Kühlschränke. Fernsehen. Kinos. Und so weiter. Schau dich um, Bruder! Hier hat sich viel verändert.«

»Möchte noch jemand Wasser?«, fragte Kamala.

»Es war eine schlichte Feststellung, Sunil.« Thomas stocherte auf seinem Teller herum. »Ich sage, dass Indien dreitausend Jahre des Wandels überstanden hat und sicher noch ein paar weitere Jährchen überstehen wird.«

»Überstehen?«, schrie Sunil und reckte die Fäuste. Seine Aussprache wurde immer undeutlicher. »Habt ihr das gehört? Der Doktor sagt, dass wir’s überstehen werden. Da sollten wir unserem Herrgott aber dankbar sein!«

Was würde als Nächstes passieren? Einen Moment lang herrschte Schweigen, und Amina sah, wie ihrem Vater die Stirnader anschwoll, während Sunil sich kampflustig vorbeugte.

»Du bist ein Säufer«, sagte Thomas.

»Und du ein Arschloch«, erwiderte Sunil.

»Es reicht!« Ammachy schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Mein Gott! Erwachsene Männer, die sich wie kleine Jungen aufführen! Müsst ihr gleich am ersten Abend alles ruinieren?«

Die dunkle Wolke, die sich über den Esstisch senkte, machte sogar Amina klar, dass der erste Abend ruiniert war. Sie blickte zwischen ihrer Großmutter, Divya, Kamala und Akhil hin und her, und einer schien sich unwohler zu fühlen als der andere. Nur Itty lugte grinsend unters Tischtuch, um seine neuen Schuhe zu bewundern.

»Reg dich nicht auf, Amma«, brach Thomas das Schweigen und wandte endlich den Blick von Sunil ab. »Wir unterhalten uns doch bloß. Stimmt’s, Bruder?«

Am anderen Ende des Tischs schloss Sunil die Augen und hielt einen Finger in die Luft, als wollte er die Temperatur messen. Dann richtete er ihn auf Thomas und drückte einen imaginären Abzug. Danach hob er sein Whiskyglas und leerte es in einem Zug.

»Stimmt«, sagte er.

2. KAPITEL

Am nächsten Morgen war es schon heiß, als die Sonne noch tief am wolkenlosen Himmel stand.

Amina schwitzte und fragte sich, warum diese Jahreszeit hier Winter genannt wurde. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es jetzt in New Mexico war. Der tiefschwarze Himmel würde von Sternen übersät sein, und ihr Atem würde in weißen Wölkchen in die Dezemberluft aufsteigen. Sie merkte, dass sie daran zwar denken, es sich aber nicht wirklich vorstellen konnte. Indien war so mächtig, dass es keinen Platz für etwas anderes ließ.

Im gesprungenen Badezimmerspiegel sah sie, dass ihr das schwarze Haar vom Kopf abstand und ihre Nase mit kleinen roten Mückenstichen besprenkelt war. Beides betonte die Züge, die sie ohnehin hasste: Ihr Gesicht war zu schmal und zu lang, auch die Nase war zu lang. Womöglich wurde sie wirklich so hässlich, wie ihre Großmutter vorausgesagt hatte. Sie trat einen Schritt zurück, sah an sich hinunter und hoffte wider jede Vernunft, dass ihr über Nacht Brüste gewachsen waren. Natürlich war das nicht der Fall. Sie stieg in das geflieste Becken, tauchte einen Becher in den rosa Plastikeimer und goss sich lauwarmes Wasser über den Kopf.

Als sie zehn Minuten später die Treppe hinunterging, saßen Ammachy, Divya und ihre Eltern bereits bei einem herzhaften Frühstück. Vergeblich hielt sie nach Mary-der-Köchin Ausschau, die ihr vielleicht einen Toast mit Zimt machen würde. Stattdessen waren nur die Hausmädchen zu sehen, und die machten nicht den Eindruck, als würden sie Sonderwünsche erfüllen.

»Hallo, Krümel!« Thomas lächelte und deutete auf den Stuhl neben seinem. Setz dich! »Hast du gut geschlafen?«

Amina nickte. »Wo ist Akhil?«

»Draußen. Er spielt mit Itty Cricket.«

»Wollen sie denn nicht frühstücken?«

»Sie haben schon gegessen.«

»Oh.« Vom Geruch der Linsensuppe drehte sich ihr fast der Magen um. »Darf ich mitspielen? Ich habe keinen Hunger.«

»Nein.« Ammachy legte ihr drei runde Reisküchlein, sogenannte Idlis, auf den Teller. »Iss!«

»So viel kann ich aber nicht essen.«

»Fang an!«

Amina griff nach einem Idli und dachte: Indien ist wirklich das Letzte!

»Preetham fährt uns nachher zum Zoo«, sagte Kamala. »Sollen wir für den Rückweg eine Rikscha nehmen? Was meinst du, Thomas? Oder nimmst du uns ein Stück mit, wenn du mit Sunil zur Bank fährst?«

»Mal sehen«, sagte Thomas und trank einen Schluck Kaffee.

»Zu deiner Information, Kamala«, sagte Ammachy. »Thomas und ich treffen uns um elf mit Dr. Abraham in seinem Büro. Preetham wird also uns fahren.«

»Was?« Überrascht schaute Thomas auf.

»Er macht für uns eine kleine Führung durch die Klinik. Danach essen wir bei ihm zu Mittag.«

»Aber das geht nicht!« Thomas versuchte, ruhig zu bleiben. »Ich habe Sunil versprochen, heute mit ihm zur Bank zu gehen und den Papierkram zu erledigen.«

»Wo ist Onkel Sunil überhaupt?«, fragte Amina.

»Chutney oder Linsensuppe?« Kamala zeigte auf Aminas Teller.

»Zucker, bitte«, sagte Amina.

Ammachy füllte ihr so viel Linsensuppe auf den Teller, dass die Idlis darin schwammen. Zu Thomas sagte sie: »Vor zwölf kommt Sunil nicht aus dem Bett. Ihr könnt später zur Bank gehen.«

»Um zwölf steht er erst auf?«, fragte Amina.

»Rede nicht, iss!«, sagte Kamala.

Thomas sah seine Mutter düster an. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich …«

»Alles ist arrangiert, Thomas. Ich selbst habe dafür gesorgt. Also mach bitte kein Theater!«

Onkel Sunil war offenbar wieder schlafgewandelt, dachte Amina. Warum sollte er sonst bis mittags im Bett liegen? Sie stellte sich vor, wie er nachts durch den Innenhof wanderte und mit ausgestreckten Armen über Gras und Baumwurzeln stapfte.

»Wie habt ihr geschlafen?«, fragte sie und sah die Erwachsenen rund um den Tisch freundlich an. Niemand erwiderte ihren Blick, nicht einmal Kamala.

Ammachy wischte einen Suppenfleck von der Wachsdecke. »Es ist nur eine Besichtigung, Thomas, nicht mehr. Danach kannst du immer noch überlegen, ob es etwas für dich ist.«

Thomas’ Nasenflügel bebten, aber er sprach leise und beherrscht. »Wir gehen nicht hin. Ich habe dir gesagt, dass ich ihn nicht sehen will, und dabei bleibt es.«

Ammachy hob den Blick, aber ihre Lider blieben halb geschlossen. Man hätte sie für gelangweilt halten können, hätte ihr Blick nicht etwas Bohrendes und sehr Wütendes gehabt. »Gut. Dann sage ich eben ab.«

»Aber Amma, du kannst doch …«

»Schon gut. Ich sage ab.«

Thomas beugte sich angriffslustig vor, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Nach einer Weile sagte er: »Danke.«

»Du brauchst mir nicht zu danken«, sagte Ammachy eisig. »Ich tue dir keinen Gefallen.«

»Also, Ami«, sagte Kamala viel zu fröhlich. »Bist du bereit für den Zoo?«

Amina nickte, schob ihren noch fast vollen Teller weg und wartete darauf, dass einer der Erwachsenen schimpfen würde, weil sie so wenig gegessen hatte. Nichts geschah.

»Sie können zwanzig Meter lang werden und einen Elefanten mit einem einzigen Biss töten! Und sie knurren wie Hunde!«, erzählte Amina ihrem Vater beim Nachmittagstee, während ihre Mutter und ihr Bruder oben schliefen. »Und wenn sie wütend werden, ich meine, richtig wütend, dann stellen sie ihre Nackenhaut zu einer Haube auf, die größer ist als ein Regenschirm. Bei Regen könnten wir uns beide drunter stellen und würden total trocken bleiben.«

»Ach, wirklich?« Thomas schien beeindruckt.

Geräuschvoll stellte Ammachy eine Gebäckschale auf den Tisch.

»Und …« Amina versuchte sich an weitere Einzelheiten zu erinnern, die Akhil bestimmt gern erzählt hätte. »Die, die wir gesehen haben, war ein junges Weibchen, ein Kobramädchen. Aber sie heißt trotzdem Königskobra. Glaub ich wenigstens. Sie hatte sich ein Nest gebaut, obwohl die im Zoo gar kein Männchen haben und keine Eier.«

»Schrei doch nicht so!« Ammachy verzog indigniert das Gesicht und setzte sich. »Hast du dich heute schon gekämmt? Warum siehst du bloß immer so ungepflegt aus?«

»Und«, Amina ignorierte ihre Großmutter, »beinahe wäre sie entwischt und hätte uns angegriffen.«

»Herrje! Was habt ihr dann gemacht?«

»Ermuntere sie nicht noch, Thomas!«, sagte Ammachy. »Ihr verwöhnt sie sowieso viel zu sehr.«

»Akhil und ich sind ruhig geblieben, aber Itty hat sich büschelweise die Haare ausgerissen.« Amina blickte durch den Flur zu Ittys Zimmer hinüber. »Wo ist er eigentlich?«

»Mit Sunil bei der Bank.« Ammachy strich über die Spitzentischdecke, die gegen das Wachstuch ausgetauscht worden war. »Sobald sie alles erledigt haben, kommen sie zurück.«

»Was wollen sie denn erledigen?«, fragte Amina.

»Es geht um das Haus«, sagte Thomas. »Ich habe es Sunil überschrieben.«

»Ach ja?«, sagte Amina überrascht.

»Mein Vater hat uns das Haus zu gleichen Teilen vererbt«, erklärte Thomas. »Ich gebe Sunil meinen Teil.«

Amina blickte zu der hohen Decke des Esszimmers auf, wo rund um den Kronleuchter die Farbe abzublättern begann. »Dir hat ein Teil dieses Hauses gehört?«

»Das tut es immer noch«, murmelte Ammachy.

»Es gehört Sunil«, sagte Thomas mit Nachdruck. »Er ist derjenige, der hier wohnt und sich um alles kümmert. Die Überschreibung war eine reine Formsache.«

»Unsinn!«, sagte Ammachy. »Du kannst überschreiben, was du willst, es bleibt doch immer dein Haus und dein Zuhause.«

Thomas brachte sie mit einem Blick zum Schweigen, und aus Gründen, die sie selbst nicht verstand, war Amina enttäuscht. Sie hatte nicht gewusst, dass das Haus auch ihrem Vater gehört hatte, und nun fragte sie sich, was wohl sein Teil war. Die oberen Zimmer? Das Dach? Bevor sie fragen konnte, klingelte es an der Tür.

Ammachy erhob sich stöhnend.

»Ich gehe schon, Amma«, sagte Thomas.

»Nein, nein. Setz dich wieder!«

Doch Thomas war schon fast an der Tür. Ammachy hatte Mühe, ihm zu folgen.

»Thomas, ich sagte doch …«

Amina spürte, dass etwas Interessantes passieren würde, und folgte den beiden. Sie stand im Flur, als Thomas die Tür öffnete und die flirrende Hitze des Spätnachmittags hereinströmte. Mitten in dem Lichtkegel stand ein großer Mann.

»Hallo?«, sagte der Mann.

»Hallo?«, sagte Thomas genauso fragend.

»Mein Gott, Thomas, bist du’s?«

Der Mann machte einen Schritt aus dem gleißenden Licht in den Flur. Obwohl er jetzt besser zu sehen war, wirkte er nicht weniger imposant. Mit seiner hellbraunen Haut, dem ultrakurzen weißen Haar, der weißen Leinenhose und dem gestärkten und gebügelten rosa Hemd schien er nicht aus jenem Salem zu kommen, das Amina erst wenige Stunden zuvor durchquert hatte.

»Dr. Abraham«, sagte Thomas und machte schnell einen Schritt rückwärts. »Wie schön, Sie zu sehen, Sir. Ich hatte Sie gar nicht erwartet.«

»Chandy!« Ammachy strahlte. »Wie nett, dass Sie kommen konnten! Ich hoffe, es macht Ihnen nicht allzu viel Mühe.«

»Aber nicht doch!« Dr. Abraham kam herein und nickte grüßend in die Runde. »Es ist mir ein Vergnügen.«

Amina zupfte ihren Vater am Ärmel. »Wer ist das?«

»Leisten Sie uns doch beim Tee Gesellschaft, Doktor«, sagte Thomas, ohne Amina zu beachten. »Wir wollten gerade anfangen.«

»Oh, vielen Dank!« Der Mann wandte sich an Ammachy. »Sie sehen gut aus, Miriamma. Wir vermissen Sie in der Klinik.«

»Ach was!« Ammachy platzte beinahe vor Stolz.

»Und wie geht es Sunil?«

»Danke, gut.« Ammachy führte die kleine Prozession ins Esszimmer.

Amina sah, dass jemand – Mary-die-Köchin? – in aller Eile verschiedene Snacks auf den Tisch gestellt hatte, süße und herzhafte, dazu eine frische Kanne Tee und saubere Teller. »Dentisten werden ja immer gebraucht, nicht wahr?«, flötete Ammachy.

»Wenn auch nicht mehr so viele, seit die Briten fort sind.« Dr. Abraham schien zu erwarten, dass man über seinen Scherz lachte.

Ammachy tat ihm den Gefallen und schenkte ihm Tee ein. »Zucker?«

»Ja, bitte. Mir kann’s gar nicht süß genug sein.« Dr. Abraham schaufelte vier Löffel Zucker in seinen Tee, rührte um und trank. »Also, Thomas, was führt Sie in die alte Heimat?«

Thomas nickte nervös, als sei dies die erste Frage einer längeren mündlichen Prüfung. »Nur ein Familienbesuch, Sir. Meine Frau hat ihre Schwester schon viel zu lange nicht gesehen, und dann sollen natürlich auch die Kinder regelmäßig Kontakt zur Familie haben.«

»Ja, ja, die Kinder.« Dr. Abraham blickte zu Amina hinüber, die ihn stumm anstarrte. »Wen haben wir denn da?«

»Meine einzige Enkelin, Amina.« Ammachy schenkte sich selbst Tee ein. »Sie ist elf und die Klassenbeste. Sie hat gerade einen Rechtschreibwettbewerb gewonnen.«

»Tatsächlich?« Dr. Abraham nippte an seinem Tee. »Und später? Willst du einmal Chirurgin werden, wie dein Daddy?«

»Ich werde Tierärztin, aber nur für Welpen und Kätzchen«, sagte Amina.

»Verstehe.« Dr. Abraham verzog keine Miene. »Und wie gefällt dir Indien?«

»Gut. Ziemlich heiß. Heute haben wir eine Kobra gesehen, die sich …«

»Haben Sie schon Akhil kennengelernt, Thomas’ Sohn?« Ammachy reichte dem Doktor eine Schüssel Bananenchips.

»Ja, ich glaube schon, als Thomas das erste Mal auf Heimatbesuch war. Wie alt war er da? Sechs?«

»Vier. Jetzt ist er vierzehn.«

»Ist er in den Staaten geblieben?«

»Nein, Sir. Er ist oben und macht einen Mittagsschlaf, genau wie seine Mutter. Tut mir leid, dass er nicht hier ist, um Sie zu begrüßen, aber ich wusste ja nicht …«

»Kein Problem. Überhaupt kein Problem. Für die Kinder ist es sicher eine große Umstellung. Aber sie gewöhnen sich schnell ein, oder? Sie spüren, dass hier ihre wahre Heimat ist, nicht wahr? Rein physiologisch. Wie sagt man doch gleich?« Er machte eine Pause, und Amina wusste nicht, ob er eine Antwort erwartete oder sich selbst fragte. »Ah ja: Es liegt ihnen im Blut. Meinst du nicht auch, Amina?«

Er sah sie erwartungsvoll an, und Amina nickte vorsichtshalber.

»Und wie geht es Ihnen so, Sir?« Thomas schob ihm eine Schüssel knallbunter Süßigkeiten hin. »Pendeln Sie immer noch zwischen hier und der Schule in Vellore?«

»Zurzeit lehre ich nicht. Der Aufbau des Reha-Zentrums hat alles andere in den Hintergrund gedrängt.« Dr. Abraham legte sich zwei süße Ladoo-Kugeln so vorsichtig auf den Teller, als seien es lebende Küken. »Was ein Jammer wäre, wenn ich nicht wüsste, wie wichtig dieses Projekt ist. Eine enorme Chance. Ihre Mutter hat Ihnen sicher erzählt, worum es geht?«

»Ja, ein wenig.«

Dr. Abraham nickte Thomas ermutigend zu und schien zu erwarten, dass er weitersprach.

»Klingt interessant«, sagte Thomas.

»Freut mich zu hören.« Dr. Abraham lächelte breit. »Natürlich ist es keine neurochirurgische Klinik im eigentlichen Sinne, aber eine erstklassige Einrichtung für Traumapatienten und postoperative Rekonvaleszenz.«

»Ja, ja.« Thomas schien langsam in Panik zu geraten. »Wie schön für Sie.«

»Erinnern Sie sich an M. K. Subramanian aus Ihrem Jahrgang? Er ist gerade dabei, Einstellungsgespräche mit Physiotherapeuten und Psychologen zu führen, während ich landauf, landab nach fähigen Ärzten suche. Da trifft es sich gut, dass Sie gerade in der Stadt sind. Als Ihre Mutter anrief, konnte ich es kaum glauben. Am besten machen Sie gleich für morgen einen Termin mit Subramanian.«

Thomas lächelte gequält. »Also, wissen Sie …«

»Perfekt! Morgen ist perfekt.« Ammachy legte dem Doktor ein Pakora auf den Teller. »Wir wollten am späten Nachmittag sowieso in die Klinik.«

»Fantastisch. Ich werde Sie herumführen, und dann können Sie auch gleich einige Mitarbeiter kennenlernen.« Dr. Abraham stopfte sich die Serviette in den Kragen und blickte auf seinen Teller. »Das sieht ja köstlich aus.« Er war so damit beschäftigt, sich Chutney aufs Pakora zu löffeln, dass er nicht sah, wie Thomas verzweifelt den Kopf in den Händen vergrub und sich mit den Knöcheln die Schläfen rieb, als müsse er Verspannungen lösen.

»Sind die von Sanjay’s?« Der Doktor führte ein Ladoo zum Mund. »Ich liebe deren Süßwaren.«

»Ich weiß.« Ammachy lächelte. »Deswegen habe ich sie extra dort gekauft.«

»Die Mühe hätten Sie sich aber nicht machen müssen.«

»Aber es war keine Mühe. Ganz und gar nicht.«

Thomas entfuhr ein Geräusch zwischen Wimmern und Stöhnen, das langsam anschwoll. Alle sahen ihn an. Der Doktor hob die Augenbrauen, und Ammachy erstarrte, als Thomas seinen Stuhl zurückschob.

»Dr. Abraham, würden Sie wohl mit mir in den Hof kommen?«, fragte er.

»Was? Jetzt?«

»Erst wird gegessen.« Ammachy schob dem Doktor eine Gebäckschale zu.

»Bitte, Doktor!« Thomas sah ganz elend aus. »Würde es Ihnen etwas ausmachen?«

»Nein, nein.« Sehnsüchtig blickte Dr. Abraham auf seinen Teller. »Natürlich nicht.«