Die barmherzige Lüge - Liane Sanden - E-Book

Die barmherzige Lüge E-Book

Liane Sanden

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Beschreibung

Die junge Erdmuthe Bennhoff, eine frühe Medizinstudentin in München, und ihr Kommilitone Michael Erdinger sind sich in uneingestandener Zuneigung zugetan. Sie kommt aus wohlhabenden Verhältnissen, hat eine reiche Familie in Hamburg, er ist mittellos und steht ganz allein auf der Welt. Gemeinsam mit anderen Studienkollegen wollen sie den Jahreswechsel in den Bergen verbringen. Doch erst muss Erdmuthe für die Weihnachtsfeier zu ihrer Familie nach Hamburg zurück. Dumm nur für sie, das Michael, als er zufällig als Bedienung in einem Wintersportgeschäft aushilft, die bildhübsche Tänzerin Anka Campari (respektive Preyssac) aus Triest kennenlernt und sie sich sofort ineinander verlieben. Als Erdmuthe aus Hamburg zurückkehrt, erlebt sie ihr blaues Wunder. Dennoch ist Erdmuthe entschlossen, Michael ihrerseits die Treue zu halten, überzeugt, dass es sich bei der Liaison mit der leichtlebigen Italienerin nur um ein „Irrlicht am Wege" handelt. Doch alle in ihrem Umfeld raten ihr anders, und Michael scheint unwiederbringlich für sie verloren … Ein anrührender Liebesroman, der auch heute noch die Leserherzen fesselt!

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Liane Sanden

Die barmherzige Lüge

Roman von Erich Lennard

Saga

Die barmherzige Lüge

© 1900 Liane Sanden

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711593400

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Als Almuth Ebeling auf der Flucht vor Nasir Halîm in Siût ankommt, steht die Sonne gerade im Mittag.

Die ganze ägyptische Landschaft ist wie in einem weissglühenden Feuer zerschmolzen. Die Palmen am Fruchtland drüben verflimmern in diesem versengenden Weiss, vor dem sogar das Blau des ägyptischen Himmels sich zu entfärben scheint. Eine Sakîe im Dorf jenseits des Nil quietscht noch einmal auf und schweigt dann plötzlich, als verdorre selbst das hölzerne Schwungrad des Brunnens in dieser stummen Glut. Die Lehmhütten, ausgebrannt in ihrem erdigen Eigentümlichen aus, als müssten sie in jedem Augenblick zerspringen. Wie ausgestorben liegt alles. Der stolpernde Hall von Almuths Reittier ist der einzige Laut in der atembetäubenden Mittagsglut.

Nun endlich jenseits der Brücke die kleine ägyptische Landstadt. Auch ihre Gassen wie ausgestorben. Nur ein paar im Staub spielende Kinder schauen erstaunt aus sanften dunklen Tieraugen auf die weisse Frau, die mit halbgeschlossenen Augen sich gerade noch auf dem Esel hält.

Almuths Stimme ist heiser von Staub und Glut.

„Lukanda, Gasthaus?“

„Henâk, Henâk“, der Grösste der Jungen zeigt auf ein grosses Steinhaus schräg über der sonnenflimmernden Strasse.

Almuth hat gerade noch die Kraft, aus dem Sattel zu gleiten. Taumelnd lehnt sie sich an die schmutzige Steintreppe, die zum Haus heraufführt.

Und dann bis zu ihrem Erwachen viel später ist alles wie abgetrennt von ihrem klaren Bewusstsein: der Wirt, dick, mit fettem Watschelgang, rotem Tarbâsch über dem listigen Gesicht. Kühle, ausströmend von Stein und Schatten des Hauses. Ein Zimmer. Die Wände schwanken vor ihren übermüdeten, staubverkrusteten Augen. Ein Bett.

„Ischrâ schif ndifi, reine Laken“, das ist das Letzte, was sie in ihr Bewusstsein aufnimmt. Dann ist nichts mehr als Hinsinken auf dies Bett, das Gefühl der Rettung vor Nasir Halîm. Nichtwissen. Schlaf.

Wie lange sie so gelegen hat, weiss sie nicht. Jäh erwacht sie, noch im Traum befangen. Das Herz schlägt ihr hart und erschreckt. Nasir Halîm, von ihm hatte sie geträumt. Flach atmet sie die Angst aus. Endlich wagt sie, die Augen zu öffnen. Wo ist sie? Dies verwahrloste Zimmer!

Die Sonne weist förmlich mit ihren spitzen Strahlen auf das verblichene Graublau der schlecht gestrichenen Wände. In grossen Flecken bricht das Mauerwerk hervor. Almuth muss plötzlich an die ausschlagzerstörten Gesichter denken, wie man sie auf Märkten und im Basar in Scharen trifft. Die Worte „reine Laken“ hat sie offenbar geträumt. Widerlich verschmutzt ist alles hier. Um das Bett mit seinen hohen Eisenpfosten, mit dem grauen verstaubten Schleiergewölk der zerrissenen Mosquiterie ziehen sich an der Wand eine Reihe von unregelmässigen braunroten Flecken. Ein Vorbewohner dieses Raumes hier hat einen erfolgreichen Kampf gegen Wanzenherden geführt.

Aber ihr ist alles gleich. Erst einmal ist sie in Sicherheit. Was nun weiter? Zehn Millièmes ist alles, was sie besitzt. Sie hat es auf der Flucht vom Gute Nasir Halîms schon hundertmal ausgerechnet. Es wurde nicht mehr. Hätte Siût eine deutsche Niederlassung gehabt — so aber? Der nächste deutsche Konsul sass vielleicht erst in Schendi.

Jetzt scheint es Almuth, als wäre diese Flucht das Törichste gewesen. Alles hinter sich zurücklassen, das erarbeitete Geld, die paar Sachen, die einem gehören? Doch da taucht wieder Nasir Halîms Gesicht vor ihr auf. Das gierige, braune Männergesicht, mit den feuchten, breiten Lippen. Sie hört wieder diese gutturale, unverschämte Stimme, sieht sich in ihrem Zimmer plötzlich ihm gegenüber: Alles im Gutshause schläft — die Nacht trägt jene fremde, lauernde Stille tropischer Nächte mit ihrer vollkommenen Schwärze — hineingeschnitten in den Lichtkreis der Windlampe Nasir Halîms Gesicht.

Nein, Flucht war doch das einzige. Aber Flucht nicht nur vor Nasir Halîm. Vor dem Orient überhaupt. Dies alles ist auf einmal unerträglich. Dieses grelle, schamlose Licht des Südens, es ist erbarmungslos und ohne Scheu, wie alles hier. Dies dumpfe Summen, unaufhörlich von der Strasse heraufbrandend zu ihrem Fenster. Das Sprechen der Menschen unten, Rufen der Kameltreiber, Schnalzen der Eseljungen, dieses unaufhörliche Trappen von Tier- und Menschenfüssen im verbrannten Staube, es ist wie eine ewige dumpfe Melodie. Sie passt zu diesem ganzen Ueberhitzten und Grellen. Oh, nur einen einzigen Augenblick Stille? Wie lautlos konnte es in der Heimat sein. Schmerzhaft überfällt sie die Sehnsucht nach Deutschland. Jetzt ist drüben Winter. Nur einmal einen Weg gehen über die Ebene, nichts wie Weisse und Schnee, Stille.

Ueber das Summen und Raunen da unten schwingt eine psalmodierende Stimme:

„Allah îl Allah,“ der Mueddin.

Also Sonnenuntergang. Sie fühlt sich doch ein wenig erfrischt, steht auf. Da steht das Handköfferchen, das einzige, was sie auf der Flucht mitgenommen hat. Es sieht sonderbar genug aus, das kleine kultivierte Ding mit seinem blitzenden Inhalt in dieser Umgebung hier. Aber sie liebt es. Es ist Erinnerung an die glückliche Zeit. Zu ihrer Konfirmation hat sie es vom Vater bekommen, damals, als sie alle noch zusammen reich und glücklich waren. Nun steht es hier in diesem verlorenen Winkel Aegyptens. Genau so verloren wie sie.

Da klingt Stimmengewirr unten im Haus. Nun tappen nackte Füsse auf den Steintreppen. Es klopft an die Tür, Almuth erschrickt.

„Mîn, wer ist da?“

„Ya sît Marid, eine kranke Frau“, sagte eine Stimme draussen, „wir haben kein anderes Zimmer.“

Almuth öffnet. Beinahe wäre sie über die Tragbahre gestürzt, die gerade von zwei Negern vor ihrer Tür niedergesetzt wird. Die Schwarzen atmen schnell und heftig. Ihre langen braunen Galabyen sind an der Brust geöffnet. Schweissperlen stehen auf der bronzefarbenen Haut und auf dem erschöpften Gesicht.

Nun schaut sie auf die Kranke. Das abgemagerte Gesicht zeigt jenes eigentümliche Weiss, wie man es bei edlem Porzellan findet. Unter den tief eingesunkenen Augenhöhlen ist ein fast violetter Schatten. Die Nase fein geformt, kindlich beinahe, ist streng, die schmalen Lippen sind rissig und verdorrt.

„Hier herein,“ befiehlt Almuth.

Behutsam heben die Sudanesen die Kranke von der Bahre auf Almuths Bett. Sie öffnet die Augen nicht.

Der fette Wirt steht neugierig dabei und lauscht, was die Träger erzählen. Sie sprechen ein arabisches Idiom, dem Almuth nur schwer folgen kann. Soviel aber bekommt sie heraus, dass die Frau hier ganz allein ist und niemanden hat. Sie ist mit ihrem Mann auf einer Expedition in dem oberen Sudan gewesen. Dort ist die Expedition von einem Stamm der Boscharîn überfallen worden, der Mann der Kranken, der Expeditionsleiter war, ist von den Schwarzen getötet worden. Die Expedition wurde in alle Winde zerstreut, ein paar Träger konnten mit der Frau des Expeditionsleiters fliehen — die Leiche ihres Mannes mussten sie zurücklassen. Unterwegs ist die Frau, die durch das Fieber schon sehr geschwächt war, dann infolge der Anstrengungen und Aufregungen völlig zusammengebrochen. Sie wollten sie eigentlich nach Kairo bringen; mit einem kleinen Schiff, einer Feluke, sind sie den Nil abwärts gefahren. Aber nun haben sie es mit der Augst bekommen, die weisse Frau könnte ihnen an Bord sterben, und so haben sie das Schiff verlassen und sind nun hier ...

„Marfisch filûs?“ fragte der Wirt erschrocken, „kein Geld?“ Bedenklich sieht er auf die regungslose Kranke.

„Filûs getir,“ beruhigte einer der Träger ihn und machte die Gebärde des Geldzählens. Aus seiner Galabye holte er einen prallen Beutel. Die Augen des Wirtes leuchteten auf. Seine Hand krümmt sich in einer gierigen Bewegung.

„Lâ-lâ“, der Zeigefinger des Schwarzen bewegt sich abwehrend. Die sanften Tieraugen in dem braunen Gesicht wenden sich zu Almuth, schauen sie an, lange, ganz ruhig, ganz forschend. Es liegt ein tiefes, unbefangenes Suchen darin. Es ist die fragende, einfältige und doch weise Kindlichkeit Afrikas.

„Alimani, Deutsche“, sagt er und deutet auf die Kranke.

Da lächelt Almuth. Alles ist fort. Ihre Verzweiflung von vorhin, der Schreck, dieses Nichtbegreifen der Situation. Hier ist eine deutsche Schwester, die Hilfe braucht.

„Ich will schon für die Frau sorgen!“

Der Schwarze verneigt sich tief, die braunen Hände auf der Brust gekreuzt. Dann reicht er Almuth mit einer feierlichen Gebärde den Beutel. Der Wirt steht mit glitzernden Augen dabei — er wagt nichts zu sagen. Almuth fühlt die Schwere des Beutels in ihrer Hand, Geld und scheinbar auch Papier. Sie wundert sich über nichts mehr — seit ihrer Flucht von Nasir Halîms Landgut ist ja alles ein unwahrscheinliches Abenteuer. Was aber soll sie hier mit der Schwerkranken? Hier in dieser Spelunke konnte kaum ein Gesunder existieren. Keine Medikamente, keine ärztliche Hilfe. Die Kranke atmet fliehend, als wollte das Leben mit diesem dünnen Atem aus ihr verströmen.

„Musch mumkin, unmöglich,“ sagt Almuth entschieden und zeigte auf die Wände ringsum, „getir wasach, zuviel Schmutz“.

„Getir wasach,“ wiederholte der eine Träger ratlos und sieht sie erwartungsvoll an.

Almuth überlegt. Ganz verloren ist man inmitten dieser fremden, unzivilisierten Welt. Da ist ein Aufleuchten auf dem Gesicht des einen Sudanesen, er deutet mit einer aufgeregten Bewegung hinaus auf die Strasse, dann auf sie selbst. Almuth begreift nicht recht. Wieder diese Bewegung, der Schwarze zerrt Almuth ans Fenster. Nun endlich versteht sie. Draussen geht inmitten der orientalischen Menschen ein katholischer Priester. Er schreitet in der stillen, in sich abgeschlossenen Haltung derer, die um der Barmherzigkeit willen leben.

Das Klappen seiner Holzsandalen auf dem steinhart gebrannten Boden dringt zu Almuth empor. Almuth atmet auf:

„Hamdullillilah, lauf, hol den Pater her.“

Almuth horcht gespannt. Die Haustür unten geht. Nun das das Klappen der Holzsandalen, gefolgt von dem Schlürfen nackter Füsse. Neben dem aufgeregten Gesicht des Sudanesen erscheint das ruhige des Paters.

„Aukâtaksa’ idi“, grüsst der Franziskaner-Pater. Dann sieht er verblüfft auf Almuth.

„Gott mit Ihnen,“ sagt er auf englisch.

„Ich bin Deutsche, ehrwürdiger Pater.“

Ein freundliches Lächeln geht über das Gesicht des Paters: „Oh, eine Deutsche, Sie gehören zu der Kranken?“

Almuth schüttelt stumm den Kopf.

Der Pater Franziskus fragt nicht weiter. Das alles hat Zeit. Er tritt zu der Kranken, hebt die Hand der Besinnungslosen auf, prüft den Puls. Die Schwarzen stehen atemlos. Ihre grossen feuchten Tieraugen hängen an dem Gesicht des Paters, als käme von ihm alles Heil.

Nun richtete sich Pater Franziskus auf:

„Hier kann die Kranke nicht bleiben,“ sagt er auf arabisch zu den beiden. Er spricht in einem Dialekt, den Almuth nur teilweise versteht. „Wir wollen sie in unser Missionshaus bringen,“ wendet er sich jetzt deutsch an Almuth und wiederholt dasselbe den Trägern. Die lächeln glücklich, heben die Bahre auf.

„Und Sie?“

„Darf ich mit, ehrwürdiger Pater? Ich — weiss nicht wohin. Ich —“

„Selbstverständlich können Sie mit, meine Tochter, ich hätte Sie sogar darum gebeten,“ sagt Pater Franziskus mit seiner tiefen, ruhigen Stimme. „Wir sind nur zwei Deutsche hier, ein Arzt und ich, auf die Pflege weiblicher Kranken nicht eingerichtet. — Wenn Sie also helfen wollen?“

Almuth nickte stumm. Oh, sie wollte!

Seit Almuth in der kargen Einfachheit des kleinen Missionshauses wohnte, glitt das Jahr, das sie auf der Besitzung Nasir Halîms als Erzieherin seiner Töchter verlebt hatte, gleichsam von ihr ab. Und wäre nicht die gegenwärtige Angst um Elisa Ebbeke, die andere Deutsche, die auf den Tod krank lag, würde sie fast etwas von Glück verspüren.

Sie dachte nicht mehr zurück. Hier vor der weisen Güte von Pater Franziskus und der rauhen Lebenskraft des Arztes Dr. Schonert konnte der Spuk nicht mehr wirksam sein.

Abends sass sie mit Pater Franziskus auf der Veranda des Missionshauses. Elisa schlief in dem kleinen Blockhaus, das man ihr und Almuth eingeräumt hatte.

Vor ihnen lag der Garten. Der bestand aus zwei Palmen, die merkwürdigerweise hier im Wüstenboden gediehen. In der kleinen Baracke, die als Küche diente, hörte man das Klappern von Tellern. Machmut, der schwarze Diener, sang leise dazwischen, ein schwermütiges, arabisches Lied, das die Fellachen seit Jahrtausenden singen. Der Himmel über dem Nil hatte die letzte Röte. Eigentlich kein Rot, sondern ein Orange, über das sich ein Streifen unendlich zarten, reinen Türkisgrüns legte. Die Schatten der beiden Palmen lagen lang und schmal auf dem gelben Wüstensand.

Pater Franziskus schaut hinauf: Dort oben auf der einen Palmenspitze vergnügt sich Jombo, das kleine zahme Aeffchen, das Pater Franziskus von einer sudanesischen Expedition mitgebracht hat. Das Tierchen turnt auf den schwankenden Aesten, schaut mit seinem aufmerksamen Altmännerblick auf die beiden herab.

„Ich wundere mich immer, Pater Franziskus, dass die Bäume hier gedeihen, weit und breit bis zum Fruchtland wächst doch nicht eine Distel. Und diese beiden Bäume halten wirklich durch.“

Pater Franziskus lächelt gütig.

„Dr. Schonert hat mich auch ausgelacht, als ich mit den beiden jungen Stämmchen und dem Karren voll Humusboden ankam. Er meinte, es müsse aller naturwissenschaftlichen Erfahrung widersprechen, wenn hier auch nur ein Keim gedeihe. Aber sehen Sie, liebes Kind, ich halte es mehr mit dem Gleichnis von dem tauben Feigenbaum. Den hat man auch nicht abhauen lassen, weil er zwei Jahre nicht gedeihen wollte. Geduld muss man haben, immer Geduld und Liebe. Es gibt nichts auf der Welt, was so dürr wäre, dass es nicht doch einmal Frucht trägt.“

Almuth musste plötzlich an Hans denken, an Hans Reusser. Sie war damals noch nicht geduldig. Sonst wäre Sie ja vielleicht auch in Deutschland geblieben. Hätte Sie doch versucht, mit Hans weiterzukommen. Was hatte sie eigentlich so unerträglich an ihm gereizt? Er war doch ein guter Mensch. Nur alles mündete in ihm ins Kleinbürgerliche. Sie aber konnte diese Enge nicht vertragen, das ihr Welt und Menschen verstellte. „Das ist nicht nötig für uns. — Das tut man nicht. — Wozu braucht man das?“ — so hatte er immer geredet.

Ueberall, wo neues war, Kunst, neue Probleme, neue Menschen, hatte Hans zurückgeschreckt wie ein Pferd, das den neuen Weg scheut. Und sie war so hungrig gewesen. Je karger das äussere Leben war, um so mehr musste man das innere reich und bunt machen. Sie konnte noch nicht so im Gleise trotten wie er. Sie hätte ihm vieles verziehen, sogar eine Untreue vielleicht. Nur nicht die abgezirkelte Lebensgestaltung ohne Schwung und Ueberschwang. Schliesslich war sie davongelaufen. Die Welt war weit und bunt. Hungern konnte man wo anders auch. Aber die Wände öffneten sich vor dem wunderbaren Leben, so hatte sie damals gemeint.

Wie das wunderbare Leben in Wahrheit sein konnte, das hatte sie jetzt erst erfahren. Sie und die Kameradinnen alle und die Jungens, die mit ihnen arbeiteten und ein Stück Weg gingen — sie hatten alle zu kämpfen gehabt drüben in der Heimat. Aber es war ein Kampf gewesen, der sauber geführt wurde. Jetzt erst im Hause Nasir Halîms hatte sie gelernt, was für Gefahren und Gegner einer Frau drohten.

Ach, alles war verwirrt und schwer. Und die weisen Worte des Paters Franziskus gaben ihr keine wirkliche Kraft. Sie musste sich ja auch einen Lebensplan machen. Immer konnte sie hier nicht bleiben. Wenn Elisa gesund war, würde man sie von hier forttransportieren. Dann war auch ihre Mission hier beendet. Wurde Elisa aber nicht gesund, ach — daran wollte man gar nicht denken.

„Mir ist oft so bange, Pater Franziskus, ich weiss nicht, was aus mir werden wird. Wie wird der Weg weitergehen?“

Der Pater schüttelte wie verwundert den Kopf:

„Warum wollen wir Menschen immer so weit in die Zukunft sehen? Sie haben hier eine Aufgabe. Ist nicht genug zu tun? Was fragen Sie nach dem Später. Hier ist ein Mensch, dem Sie helfen können. Denn unsere Kranke braucht wohl nicht nur körperliche Pflege, sie braucht vielmehr wohl schwesterliches Mitfühlen. Sie hat sich sehr an Sie angeschlossen, mein Kind.“

„Wird Elisa leben bleiben, Pater Franziskus?“

Almuth fühlte sich plötzlich befreit, dass Pater Franziskus sie gleichsam an die Gegenwart gebunden hatte.

„Ich hoffe. Aber wie es auch kommt, in einem höheren Sinn wird sie weiterleben. In Ihnen.“

Almuth lauschte den Worten nach. Was war das, das sie plötzlich mit einer Art Schauer erfüllte?

Wie eine geheime Bestätigung war es jetzt, dass Elisa mit schwacher, aber klarer Stimme „Almuth“ rief.

Als Almuth hereintrat, lag Elisa auf der Seite, das blasse Gesicht in die Hand gestützt. Der Aermel des Nachtkleides war zurückgefallen. Man sah den abgemagerten Arm. Das Gesicht ahnte man, und im ungewissen Schein des Windlichts war es von der weichen, braunen Haarflut wie fortgenommen.

„Ich habe von Thomas geträumt,“ sagte Elisa mit ihrem sanften Lächeln. „Es war so, als ob er da wäre. Es war bei meinem ersten Ausflug, den ich als Lehrerin mit der deutschen Schule machte. Da traf ich Thomas zum erstenmal. Er stand vor dem Zelt drüben bei den Ruinen am Rana. und dann —“

Almuth lächelte heiter:

„Dann hatten Sie wieder einmal ihren ewigen Durst, von dem Sie mir erzählt haben, Elisa. Und dann bot Ihnen Thomas trinken an.“

„Ja,“ fiel Elisa glücklich ein. „Und das alles habe ich so lebhaft geträumt, als wäre es eben erst gewesen. Denken Sie, so klar war alles, dass ich sogar die kleine geflickte Stelle an seinen Reitstiefeln sah. Ich hatte sie ganz vergessen. Jetzt fiel es mir wieder ein. Ich war so glücklich, Almuth.“

Auf ihren Zügen lag noch der Widerschein des schönen Traumes. — Wie lebhaft Almuth sich alles vorstellen konnte. Seitdem Elisa wieder zum Bewusstsein erwacht war und ein wenig Kraft wiedergewonnen zu haben schien, sprach sie nur von Thomas.

Und auch Almuth, ganz auf Elisa eingestellt, glücklich, dass die Kranke in die Rückerinnerung fliehen konnte vor der Gegenwart, brachte immer wieder das Gespräch auf Elisas glückliche Zeit mit Thomas. So deutlich war ihr alles durch Elisa geworden, dass sie beinahe glaubte, sie hätte diese Zeit miterlebt.

Elisa hatte eine eigentümlich suggestive Kraft, ihre Empfindungen gegenwärtig zu machen und auf einen andern zu übertragen. Es schien, als wäre sie nur ruhig, wenn sie Almuth jeden einzelnen Tag ihrer kurzen Gemeinschaft mit Thomas schildern konnte.

„Wird es Ihnen nicht zuviel, Elisa?“ fragte Almuth, wenn ihr die Kranke vom Sprechen erschöpft schien. Dann wehrte Elisa nur ungeduldig ab. Ein geheimnisvoller Zwang schien sie zu treiben, Almuths Leben ganz mit der teuren Erinnerung an Thomas mit zu erfüllen. Wenn Almuth durchs Zimmer ging, fühlte sie, auch ohne es zu sehen, Elisas sanfte, dunkle Augen. Sie folgten ihr mit einem eigentümlichen Blick, umfassten ihre ganze Gestalt mit heisser Eindringlichkeit. Erst dachte sie, es wäre etwas wie Neid des kranken Menschen auf den gesunden, der sich bewegen kann und gehen und seine Kräfte regen. Elisa schien zu ahnen, was Almuth fühlte. Denn ganz zusammenhanglos sagte sie eines Tages plötzlich:

„Mir ist, als würde ich an Ihnen gesund und durch Sie ruhig, Almuth.“ Und dann erzählte sie wieder von Thomas. Dinge, die Almuth längst wusste und die sich schon ganz in ihr Gedächtnis gegraben hatten. Merkwürdigerweise schien es keine Art Vergesslichkeit bei Elisa zu sein, dass sie die gleichen Dinge immer wieder wiederholte. Denn zwischendurch fragte sie immer wieder:

„Sie besinnen sich doch. Almuth, das war damals und das war so.“

Und sie schien erst dann befriedigt, wenn Almuth ihr bewies, dass sie auch kein einziges Detail vergessen hatte.

„Typischer Wiederholungszwang,“ meinte Dr. Schonert, mit dem Almuth darüber sprach. Aber Pater Franziskus schüttelte nur stumm den Kopf:

„Man muss sich vor allzu bequemen Festlegungen hüten. Es wird vielleicht auch einen anderen Sinn haben.“

Dr. Schonert machte wieder sein kampfbereites Gesicht. Er war immer in einem kleinen Streit mit Pater Franziskus befangen. Er konnte den alten Mediziner und die nüchterne, wissenschaftliche Erkenntnis in sich nicht mit der mystischen Glaubensstille des Bruders Franziskus vereinen.

Almuth wachte auf, der Mond stand gross und voll am Himmel. Das ganze Fruchtland bis zum Nil konnte man vom Fenster ihres kleinen Barackenzimmers überschauen. In einem unwahrscheinlichen, violetten Blau lag die Welt. Alles draussen schien in diesem milden, tiefen Leuchten dahinzuschwimmen. Alle Konturen waren unwirklich und von einem geheimen Leuchten wie ausgelöst. Sie hob den Kopf, richtete sich vorsichtig auf:

„Almuth,“ sagte es neben ihr.

„Elisa, Sie schlafen nicht?“

Erschreckt langte Almuth nach dem Bett neben sich. Dort lag Elisa auf dem Rücken. Ganz ruhig lag sie. Die weisse Decke war eng um sie geschlungen. Unendlich schmal und zerbrechlich sah sie aus in dem geisterhaften Licht.

„Nein, ich schlafe nicht,“ Elisa wandte langsam den Kopf. In ihrem weissen Gesicht waren die Augen ganz gross und dunkel.

„Fühlen Sie sich schlechter, Elisa? Soll ich den Doktor rufen?“

Elisa lächelte. Es war ein ganz kleiner Hauch eines Lächelns — ein Lächeln, das traurig machte.

„Lassen Sie Doktor Schonert schlafen, ich brauche ihn nicht. Ich brauche überhaupt nicht mehr viel.“

„Elisa, was für Dummheiten, Sie werden gesund werden. Passen Sie aus, bestimmt werden Sie gesund. Sie wissen doch, was der Doktor gesagt hat. Sie müssen den Mut haben. Mut ist die Hauptsache zum Gesundwerden.“

Elisa lächelte immer noch ganz wenig. Es war, als ob sie sagen wollte: Verzeih, wenn ich nicht glauben kann. Ich bemüh’ mich ja, aber das tu’ ich nur für euch — ich weiss ja Bescheid. Almuth stand auf und ging an das Bett der Kranken heran.

„Nicht mit blossen Füssen,“ mahnte Elisa schwach.

Rührung stieg in Almuth auf. Elisa, die Schwerkranke, dachte auch an alles. Unversehens konnte man auf einen Skorpion treten, eine Tarantel.

„So, Elisa, nur einen Schluck.“ Sie sass auf dem Bettrand, stützte Elisa und führte ihr das Glas an den Mund. Gehorsam schluckte Elisa. Almuth blieb bei ihr sitzen.

„Frieren Sie auch nicht?“

Elisa streichelte leise Almuths Hand:

„Nein, nein.“

Almuth sah sorgenvoll in Elisas Gesicht. Es hatte noch die gleiche erloschene Farbe. Almuth legte ihre Wange an Elisas Schläfe. Wie kühl die war. Selbst von dem weichen dunklen Haar ging Kühle aus.

„Ich habe solche Angst vor dem, was kommt.“

Almuth schauerte zusammen. Jetzt in dieser einsamen Stunde, in dem geheimnisvollen, uralten Licht des uralten Landes war es ihr, als wäre alles Wollen und Wissen gar nichts. Als stünden sie selbst und auch Doktor Schonert mit seinem europäischen Wissen wie Kinder vor einem verschlossenen Tor. In Elisas Augen lag schon das Geheimnis jener verschlossenen Welt. Almuth konnte auf einmal keine Trostworte, nichts mehr finden.

„Aber schauen Sie mich doch an, Almuth.“

Elisa hob die blutlosen Hände, fasste sanft Almuths Kopf, wandte ihn sich zu, dass sie Almuth gerade in die Augen sehen konnte.

„Sie müssen nicht weinen, Almuth. Ich habe nicht Angst vor dem Sterben. Es ist nicht meinetwegen, Almuth. Was soll ich noch? Thomas ist ja tot. Ich habe nur durch Thomas gelebt, Almuth. Ich kann Ihnen das nicht so erklären, wie das ist, wenn man die ganze Welt nur durch einen einzigen Menschen sieht. Ich habe mit Pater Franziskus über Thomas und mich gesprochen. Er meinte, so dürfte man nicht lieben, dass ein Mensch einem das Zentrum der Welt wird. Er meint, es wäre eine Sünde, Gott müsste einem mehr sein als alles. Aber ich kann mir nicht helfen. Thomas war alles für mich.“

Almuth streichelte Elisas Hände.

„Wenn eine Frau leidenschaftlich geliebt wird, beantwortet sie diese Liebe mit ihrer ganzen Ausschliesslichkeit.“

Der Glücksschein in Elisas dunklen Augen blasste. Es zuckte ganz schnell wie von Schmerz um ihre Brauen.

„So ist es auch nicht, Almuth“, flüsterte sie, „aber zu Ihnen kann ich es sagen. Wir sind ja vom Schicksal irgendwie zusammengebunden, und es gehört zu all dem, worum ich Sie bitten möchte, Almuth.“

Elisa atmete mühsam. Ihre Hand bebte in der Almuths und war feucht vor Erregung. Die umschloss Elisas Finger mit einem festen Druck.

„Almuth haben Sie schon einmal einen Mann lieb gehabt, so lieb, dass Sie nichts anderes wussten, als nur für ihn zu sein, seine Liebe zu gewinnen? Ich sag’ Ihnen, Almuth, eine solche Liebe ist Himmel und Hölle zugleich. Himmel, wenn man den geliebten Menschen ganz besitzt, und Hölle, wenn man fühlt, nur ein Stückchen von ihm gehört einem. So ist es mir mit Thomas gegangen. Ich glaube, er hat mich geheiratet, weil er einsam war, und weil er einen Kameraden brauchte für sein Leben, da draussen in der Wildnis unter lauter Schwarzen. Aber mehr als ein Kamerad bin ich ihm nicht gewesen — diesen Posten hätte auch eine andere Frau ausfüllen können. Nur, dass wir beide uns gerade begegnet sind. Aber er ist für mich alles gewesen. Es hatte vor ihm keinen Mann gegeben, und es kann nach ihm keinen geben. Darum“ — es zuckte wieder über ihr abgezehrtes Gesicht, „ist alles andere zwecklos. Es tut mir so leid, dass Ihr alle soviel Mühe mit mir habt. Ihr hättet mich lieber sterben lassen sollen. Ich bin ja doch eigentlich schon gestorben, in dem Augenblick, wo ich hörte, Thomas ist umgekommen. All das jetzt, das rührt ja nur an meinem Körper, Almuth. Und der Körper ist so unwesentlich. Pater Franziskus hat gesagt, man muss leben wollen. Aber ich will nicht mehr leben, Almuth. — Bloss etwas lässt mich nicht ruhig sein, und das ist, worin Sie mir helfen sollen.“

Almuth beugte sich dicht über die Kranke. Deren Stimme war leichter geworden. Fast in Almuths Lippen hinein flüsterte sie jetzt:

„Ich hab Thomas im Leben nie sein können, was ich wollte. Aber vielleicht kann ich jetzt noch etwas für ihn tun, wenn Sie mir helfen, Almuth, wenn Thomas’ Eltern nur irgend jemand hätten, der ihnen ein Stück von Thomas zurückbringt! Seine Mutter ist krank, Almuth. Sie wird es nicht verwinden. Thomas ist das einzige, was sie hat. Soll niemand ihr etwas von Thomas bringen?“

„Sie meinen, ich soll zu den Eltern von Thomas fahren? Aber das kann ich ja tun, das ist doch gar nicht so schwierig. Ich muss sowieso nach Deutschland zurück. Ich werde die Eltern besuchen, ich verspreche es, Elisa.“

Da zog Elisa Almuths Kopf ganz dicht zu sich herunter, bis er auf ihrer Brust lag. Sie sprach in Almuths Ohr hinein.

„Nein, nein“, Almuth schrie auf, „Elisa verlangen Sie das nicht von mir. Das ist ja Wahnsinn, Elisa, das geht nicht. Niemals kann das möglich sein.“

„Es kann, Almuth.“

Almuth richtete sich auf, sah angstvoll in Elisas Gesicht. Die hatte die Augen ganz aufgeschlagen. Ein fanatischer Wille stand in ihnen. Ein Wille, — stärker als das Leben — so stark wie der Tod. Und jetzt redete sie die andere mit dem verpflichtenden „Du“ der Freundschaft an:

„Du musst es tun, Almuth, du kannst es auch. Die Eltern drüben kennen mich nicht. Thomas hat mich ja hier gefunden und geheiratet. Dann sind wir gleich auf Expedition gegangen, die Eltern haben nur ein paar Amateurbilder von mir. Ich habe die ganzen Tage dich beoachtet, Almuth. Aber dich nicht kennt, könnte denken, du bist es auf den Bildern. Ich bitte dich, Almuth, geh zu den Eltern, aber nicht als eine Fremde. Geh hin — für mich, Almuth, für mich.“

Es kam schwächer, wie ein Hauch. Schweiss trat auf Elisas Stirn. Ihre Hände zuckten auf der Decke. Ihr Atem ging schnell, immer schneller, die Schlagader begann am Hals zu fliegen.

„Elisa,“ angstvoll fasste Almuth nach den Händen der Kranken, der Puls unter der dünnen Haut flog, war hart gespannt.