Brücken, die die Sehnsucht schlug - Liane Sanden - E-Book

Brücken, die die Sehnsucht schlug E-Book

Liane Sanden

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Beschreibung

Märta, eine junge Schwedin mit roten Haaren, ist Praktikantin auf Gut Scholtenkamp in Pommern und erweckt die Liebe des jungen Gutsherrn Dr. Jürgen Hauer. Sie jedoch liebt den besten Freund Jürgen Hauers, Victor von Fischer. Vic wiederum entwendet seiner Mutter Geld, um eine kranke Frau zu retten, und flieht aus Angst vor der herzlosen und geizigen Mutter nach Amerika. Jürgen, der zwar nicht die Liebe, aber zumindest doch die Freundschaft von Märta erringt, bietet an, Vic in Amerika zu suchen. Unerwartet schnell kommt es da auf Scholtenkamp zum Bruch zwischen Vater und Sohn. Der Vater, schlecht beraten von einem intriganten Verwalter, hat die Löschanlage des Gutes verkommen lassen, und als es eines Tages brennt, bersten die Schläuche, bevor die Gutsschule gerettet werden kann. Jürgen rettet unter Einsatz seines Lebens die kleine Tochter des Lehrers, muss aber öffentlich einräumen, dass der Vater die Anlage gegen seinen Rat hat verkommen lassen. Dieser wirft ihn daraufhin aus dem Haus. Als Jürgen in Hamburg auf den Überseedampfer wartet, der ihn als Sekretär eines Millionärs nach Amerika bringen soll, lernt er im Restaurant Dr. Lore Halden kennen, und sie erzählen einander ihre jeweilige Lebensgeschichte. Ein Erlebnis, das beide nicht mehr vergessen – und eine "Liebe auf den ersten Blick", ohne das dies den beiden zunächst bewusst ist. Ein ergreifender Schicksalsroman, der tief berührt und unter die Haut geht!-

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Liane Sanden

Brücken, die die Sehnsucht schlug

Saga

Brücken, die die Sehnsucht schlugCopyright © 1930, 2019 Liane Sanden and und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711593332

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Erstes Kapitel

In leuchtender Bläue spannte sich der Himmel über der Insel Vilm. Funkelnde Sonnenstrahlen tanzten auf den schaumgekrönten Wogenkämmen. Sie schlugen in übermütigem Spiel an die Nussschale von Motorboot, das in einer schmalen, zum Strande führenden Fahrtrinne vertäut war. Ein derber Baumstumpf hielt das Tau, dessen Knoten nach seemännischer Art geschlungen, fest. Der nicht abgestellte Motor liess ein leises Brummen hören.

Ein junger blonder Mensch mit einem braungebrannten und festgefügten Gesicht sah einen Augenblick von seiner Arbeit auf. Er stellte die Oelkanne, mit der er den Mortor seines Bootes schmierte, hin, liess seinen Blick von den weissleuchtenden Kreidefelsen der Insel Rügen weit in die Runde schweifen.

„Ist das nicht alles schön wie ein Wunder?“ sagte er halblaut, aber man wusste nicht recht, galt diese Begeisterung allein der wirklich herrlichen Natur — oder auch dem jungen Mädel, das dicht bei ihm auf dem silberweissen Sande des Strandes ausgestreckt ruhte. Märta blickte von ihrem Zeichenblock auf, liess den emsig gleitenden Stift sinken und lächelte dem jungen Manne zu. Da drosselte er schnell das klopfende Herzchen seines Schiffes, den Motor, ab, sprang mit einem Satz hinüber zu der ruhenden Mädchengestalt. Lächelnd sass er nun und betrachtete sie, die, ganz der Wärme und der Sonne und dem Sommer hingegeben, da in ihrem lichten Kleidchen ruhte.

Sie waren ein eigentümlicher Kontrast, und doch passten sie zueinander, wie von der gütig schaffenden Natur für einander bestimmt, der blauäugige, energische Sohn der Waterkant mit seiner hochgereckten, sportlichen Erscheinung — und die zierliche Märta mit den grossen lichtgrauen Augensternen in einem lieblich geschnittenen Gesichtchen unter einer rotgoldflammenden Haarmähne. „Ja, schön“, sagte Märta — und ihre Augen leuchteten in die des Gefährten. „Ist es nicht eigentümlich zu denken, Jürgen, dass ich dies alles vielleicht niemals kennengelernt hätte und auch dich niemals so gut, wenn ich nicht darauf bestanden hätte, zu deinen Eltern als Werkstudentin zu kommen, nur weil ich als Backfisch hier einmal ein paar flüchtige Stunden zugebracht hatte?“

„Das ist gar nicht eigentümlich, Märta, das musste so sein“, sagte Jürgen überzeugt. „Es gibt Dinge, die einfach vom Schicksal so und nicht anders bestimmt sind.“

Märta lächelte.

„Bemühst du das Schicksal immer so, Jürgen?“

„Immer, wenn es mir passt“, gab er übermütig zur Antwort. „Aber im Ernst, Märta, ich darf gar nicht daran denken, dass ich dich vielleicht niemals kennengelernt hätte.“

Heiss sah er sie an, die unter seinem Blick dunkel errötete. Hastig setzte sie sich auf. Sie hatte auf einmal das Empfinden, zu sehr seinen Blicken preisgegeben zu sein.

„Dummer Jürgen“, versuchte sie die Befangenheit mit ein paar scherzhaften Worten abzuschütteln und griff wieder nach ihrem Skzizzenbuch. „Du hast doch auch vorher gelebt, ehe du mich kennengelernt hast.“

Das lachende Jungmännergesicht Jürgens wurde ernst — etwas Schweres kam in die hellen Augen, das Märta eifrig versuchte mit ihrem Zeichenstift festzuhalten:

„Aber wie habe ich gelebt, Märta? Glücklich nicht, seitdem ich erwachsen bin.“

Da schwieg sie — wieder sanken Block und Stift zu Boden. Ihre kleine, feste Hand stahl sich in die seine — und so verharrten die beiden jungen Menschenkinder schweigend, jedes seinen Gedanken hingegeben. Aber diese Gedanken kreisten doch gemeinsam um das eine, ihnen gegenwärtige Leben auf Gut Scholtenkamp, wo Jürgen der einzige Sohn, und Märta, die junge Schwedin, als Haushaltsstudentin lebte.

Jürgen Hauer hatte schon eine ganze Reihe solch jugendlicher Haushaltselevinnen kommen und gehen sehen. Das Gut, auf dem die Hauers seit Jahrhunderten sassen, bot die besten Lehrmöglichkeiten in der ganzen pommerschen Provinz. Und zu jedem Quartal ging ein wahrer Wettlauf unter den Praktikantinnen vom Stapel, in dem jedoch nur die siegten, die besonders empfohlen worden waren.

So ausgezeichnet aber Frau Renate Hauer Haus und Keller instand hielt, so wenig verstand ihr Eheherr, Malte, die Erfordernisse rationeller Wirtschaftsmethoden. Die neue Zeit hatte wenig Einfluss auf das versteckte, grosse Rittergut erlangt, das am Rande urwaldähnlicher Laubwälder wie versunken träumte. Es wurde heute noch beinahe ebenso bewirtschaftet wie vor hundert Jahren.

Das Herrenhaus auf Scholtenkamp, bis in seine kleinsten Einzelheiten, dem fürstlichen Schlosse von Putbus nachgebildet, besass noch heute wenig Komfort. Brummend hatte sich der jetzige Besitzer, Jürgens Vater Malte, darein gefügt, dass seine Gattin, die er sich als Hofdame aus dem fürstlichen Schlosse zu Putbus geholt, elektrisches Licht anlegen liess und den Segen der Kanalisation einsah. Aber noch wärmten gemütliche, vorsintflutliche Kachelöfen die riesigen Zimmer, und das nie verlöschende Feuer des Küchenherdes ward von Kienspänen, Holzkohle und Torf gespeist. Der alte Scholtenkamper duzte seine Scharwerker noch genau so, wie es seit Jahrhunderten seine Vorfahren getan. Für Mine und Line, Stine oder Trine aber, denn andere Namen kamen für die Mägde nicht in Frage, mochten sie auch sonstwie heissen, war die Schlossfrau nach wie vor die „Madam“ und der jüngste Scholtenkamper, der sich jetzt neben Märta am Strande von Vilm in der Sonne braunbraten liess, bleib: „uns’ jung’ Harr“! Ein Auto verschrie der alte Malte ebenso als Teufelswerk wie jede landwirtschaftliche Maschine. So standen die Erträgnisse des Guts in keinerlei Verhältnis zu dem, was sie bei moderner Bewirtschaftung hätten bringen können.

Trotzdem die Hauers dem pommerschen Landadel vielfach versippt waren, konnten sie dennoch kein „von“ dem uralten Namen voransetzen. Ein Hausgesetz hatte ihnen kategorisch jede Namensänderung untersagt. Aber das Wort der Scholtenkamper Männer hatte zu manchen Zeiten mehr gegolten als das ihrer blaublütigen Nachbarn, an die sie übrigens mit wenig Ausnahmen bestes Einvernehmen band.

Als Jürgens Vater, Malte Hauer, um das Hoffräulein Renate von Klitzingen freite, tat er es einmal, weil er sie liebte und dann, wiel sie ihm aus dem Schrot und Korn zu sein schien, um einer stattlichen Reihe von Söhnen das Leben zu schenken. Malte Hauer war nicht mehr der Jüngste, sah aber mit seinen 45 Jahren wie ein Dreissiger aus, und Frau Renate, die das dritte Jahrzehnt an ihrem Hochzeitstag vollendete, gab ihm an jugendlichem Aeusseren nichts nach. Ihre Liebe hatte ihm, ohne dass er es wusste, seit langem gehört, und ihr „Ja“ vor dem Altar des Kirchleins in Putbus klang so beseligt, dass Malte es niemals wieder vergass.

Ein Jahr später hob der Fürst, der mit seiner Gattin bei dem jungen Ehepaar bereits Trauzeuge gewesen, den kleinen Jürgen über das Taufbecken. Es war ein Prachtjunge, der da schrie, aber leider blieb er der einzige. Renate badete in Franzensbad und gebrauchte die Kur in Elster, tauchte in das Moor von Pyrmont und hielt sich lange Wochen in Polzin auf. Aber Jürgen blieb allein, und so kam es, dass er mit ganz besonderer Sorgfalt aufgezogen wurde. Er durfte kaum einen Schritt allein zurücklegen, und als er es als Tertianer endlich durchsetzte, dass er zum Gymnasium in Putbus radeln durfte, anstatt täglich von dem alten Krischan dorthin kutschiert zu werden, lebten seine Eltern täglich von 7 bis 15 Uhr in Todesangst um ihn.

Ihre Sorgen wurden noch verstärkt, als nach und nach aus dem wohlerzogenen und ängstlich behüteten Knaben ein regelrechter Draufgänger wurde. Schuld daran war sein bester Freund, Victor von Fischer, kurzweg „Vic“ genannt, der Jürgen bewog, der „Räuberbande“ beizutreten, die sich — frei nach Schiller — in den weiten Wäldern um Putbus herum niedergelassen hatte. Freilich waren es friedliche Räuber, die „nur so taten“ und höchstens einmal einen Einbruch in die Vorratskammern der Mütter riskierten. Sie forderten wohl auch mit versteller Handschrift die Schwestern ihrer Mitglieder auf, „um eine bestimmte Stunde an einem bestimmten Ort fünf Tafeln Schokolade oder etliche Pfund Keks niederzulegen, widrigenfalls man ihr Tagebuch der hohen, elterlichen Obrigkeit in die Hände spielen und die Ungehorsame auf der ganzen Insel Rügen blamieren würde“. Oder das Dutzend Pennäler, aus dem „Die Bande der Zwölf“ bestand, legte sich auf die Lauer, und wenn die Gutsmägde sich mit den Knechten nach Feierabend in den stillen Buchenhainen ergingen, erschreckten sie die Ahnungslosen durch markerschütterndes Geheul, besprengten sie an Sonntagsnachmittagen — wenn es zum Tanz nach Putbus ging — wohl auch einmal aus einer Gummiblase mit Wasser oder trieben sonst allerhand lächerlichen Schabernack mit ihnen. Ab und zu setzte es wohl vom Oberförster, dessen Jüngster ebenfalls einer der „Zwölf“ war, eine gelinde Tracht Prügel, oder einer der anderen Väter wurde aufsässig und schwor, die ganze Räuberspielerei zu verbieten. Als es jedoch den Jungens eines Tages gelang, einen langgesuchten Wilderer und Hühnerdieb — einen äusserst rohen und gewalttätigen Menschen — zu ertappen und ihn dingfest zu machen, ehe er zu seiner Flinte greifen konnte, erhielt die Räuberbande nicht nur vom Oberpräsidenten in Stralsund eine öffentliche Belobigung, sondern man liess sie auch stillschweigend weiter gewähren.

Für Jürgen mit seiner leidenschaftlichen Lebenskraft und Phantasie barg die Zugehörigkeit zu der Räuberbande jedoch eine wirkliche Gefahr. Victor von Fischer nämlich entwickelte sich zu einer regelrechten Abenteurernatur. Von seiner mexikanischen Mutter, die einem uralten spanischen Adelsgeschlechte entstammte, floss temperamentvolles Blut in Victors Adern. Ueber den Nachahmungen alter peruanischer Inkabauten aus pommerschem Seesande und der Errichtug von Hütten, wie sie noch heute die Indios bewohnen, vergass er Latein und Mathematik, Grammatik und moderne Sprachen, kurz alle Schulpflichten. Dafür beherrschte er das Spanische wie seine Muttersprache, und in Geographie war er der beste Schüler der Anstalt. Er träumte von Wildnis, dem freien Leben der Cowboys auf der Pampas und der malerischen Prärie. Die pommersche Gutsheimat schien ihm wie ein Gefängnis, in dem die glühenden Träume seiner unruhigen Knabenseele keine Erfüllung fanden. Jedoch in Jürgens Gemüt erweckten sie begeisterte gleiche Träume. In dieser Zeit, vielleicht der gefährlichsten im Seelenleben heranwachsender Knaben, schlug die Saat, die sie durch ihre abenteuerliche Phantasie in sich selbst legten, kraus und wirr aus.

— — — — — — — — — —

Eines Tages herrschte auf Buchenhorst, dem Fischerschen Gut, grösste Bestürzung. Ein Gelddiebstahl war vorgekommen — Donna Carola, Vics Mutter, waren hundert Mark entwendet worden, die anonym aus Stralsund einer kranken Händlersfrau zugingen, deren Leben sie durch eine nun möglcihe Operation retteten. Zugleich war Victor verschwunden . . .

Er blieb unauffindbar. Reichswehr- und Polizeistreifen vereinten sich mit den höheren Gymnasialklassen und den Gutsarbeitern zu tagelanger Suche. Systematisch wurden die Wälder „durchkämmt“, wobei sich Kriminalbeamte mit Suchhunden gleichfalls emsig betätigten. Fingeradrucksvergleiche ergaben in dieser Zeit, dass für den Diebstahl auf Buchenhorst nur Victor in Frage kommen konnte. Als auch nicht das gernigste darauf hinwies, dass er im Walde oder beim täglichen Bade in der Ostsee verunglückt sei, sagte Jürgen eines Abends nachdenklich beim Essen: „Sicher lebt Victor jetzt irgendwo als einsamer Wolf . . .“

Sein Vater fuhr auf; und zum ersten Male zeigte sich ihm die Gefahr, die das Leben in dem engen Kreise, in dem sein Sohn aufwuchs, für den regen Knaben bedeutete.

„Als was lebt er, und wie kommst du darauf?“ Als der Knabe schwieg, brauste er auf. „Heraus mit der Sprache, wenn du etwas über das Verschwinden des diebischen Schlingels weisst.“

Flammende Röte überzog das Gesicht Jürgens. „Dass Victor gestohlen hat, muss ich leider zugeben, Vater“, sagte er mit einer Beherrschung, von der ein besserer Psychologe als der alte Hauer wohl bemerkt haben würde, wie erzwungen sie war. „Aber er hat durch seine Tat ein Menschenleben gerettet, denn seine Mutter weigerte sich, dem Manne der Fietje Predöl das notwendige Geld für seine kranke Frau und die Operation zu geben! Also war das Motiv, aus dem heraus Victor stahl, bestimmt kein unedels.“

„So fängt es an, und endet im Rinnstein oder auf der Landstrasse. Aber jetzt will ich augenblicklich wissen, was es mit dem „einsamen Wolf“ auf sich hat, Bengel! Siehst du denn nicht, in welcher Angst Victors Eltern und Geschwister leben, und fühlst du nicht die moralische Pflicht in dir, zu sagen, was du weisst?“

So sehr Jürgen innerlich für den Freund Partei nahm, — mit dem, was der Vater über die Furcht von Victors Angehörigen sagte, mochte er recht haben. Er musste dabei an seine eigene Mutter denken. Was wäre aus ihr geworden, wenn er so heimlich bei Nacht und Nebel Scholtenkamp verlassen hätte? Mit einem Gefühl, als bräche er dem verschwundenen Freunde die beschworene Treue, brachte er stockend hervor:

 „Wenn in Texas jemand, der etwas ausgefressen hat, sonst aber ein braver Mensch ist, landflüchtig werden muss, die Gemeinschaft mit berufsmässigen Verbrechern aber ablehnt, so lebt er, fernab von den Verkehrsstrassen, als einsamer Wolf. Er meidet die Menschen und ihre Siedlungen, ernährt sich durch selbsterlegtes Wild, Waldfrüchte und Fischfang, bis er entweder begnadigt wird oder stirbt . . .“

„Dumme-Jungens-Ideen!“ brummte Malte Hauer empört. „Das geht so lange gut, mein Sohn, bis der Hunger kommt, gegen den bekanntlich trotz eures so modernen Jahrhunderts, wo die verfluchten Maschinen nach und nach den Menschen wohl völlig ersetzen werden, immer noch kein Kraut gewaschen ist. Hat sich was — einsamer Wolf! Na, ich wüsste, was ich täte, wenn in meinem Hause jemand wider mich wäre!“ schloss er und erhob sich, „es ist übrigens nur eine Frage von Tagen, bis sie den Ausreisser wieder haben. Der Berliner Detektiv hat seine Spur bis hinauf nach Malmö verfolgen können und telegraphiert, alles andere sei ein Kindespiel. Fischer will kurzen Prozess machen und den Lümmel in die stengste Erziehungsanstalt schicken, die es gibt. So ʼne Art von Fürsorgeinstitut für gebildete Kreise! Mir ganz aus der Seele gehandelt.“

Zitterend vor Furcht hatte Jürgen damals die nächsten Tage verstreichen sehen. So sehr er den Freund vermisste so sehr fürchtete er für Victor ein Misslingen der Flucht. Vic in einer strengen Erzeihungsanstalt, er der Freie, Unbeugsame — unmöglich! Aber zu seiner Freude wurde der „einsame Wolf“ nicht gefasst, und man hörte lange nichts von ihm. Bis zu jenem Tage, an dem ein Trupp schwedischer Schüler und Schülerinnen auf der Insel Rügen eintraf, die auf einer Deutschlandreise begriffen waren. Nach stets geübter, gastfreundlicher Weise nahm man die zwanzig Mädchen und Jünglinge für ein paar Erholungsstunden liebevoll auf Scholtenkamp auf. Unter ihnen war Märta Sverdrup gewesen, ein lang aufgeschossener, schöner Backfisch, der gut deutsch sprach und sich sofort an Jürgen heranpirschte, sobald sie seiner habhaft werden konnte.

„Du bist der Freund von Vic von Fischer, nicht wahr?“, hatte sie heimlich gefragt und den vollkommen erstarrten Jürgen schnell abseits gezogen, fort von den neugierigen Augen und Ohren der anderen. Dann hatte sie ihm voll Stolz ob des Geheimnisses, dessen Ueberbringerin sie war, alles erzählt:

„Bei Nacht und Nebel, in einem furchtbaren Regenwetter, hat mein Vater den Vic gefunden — unten, im Laderaum eines Schiffes. Es goss so furchtbar, dass man keinen Hund, geschweige einen Menschen hätte vor die Tür jagen mögen. Wir leben in Gotenburg, und mein Vater ist Kapitän. Er führt die „Ingeborg“, ein 20 000-Tonnen-Schiff, das mit Eisenerzen und Salpeter zwischen Schweden und Nordamerika geht. Ein schönes Schiff — ich bin auch einmal damit herübergefahren. . .“

„Weiter — weiter“, hatte Jürgen fiebernd gesagt, ihm lag damals nicht das geringste an der Schilderung des 20 000-Tonner-Dampfers, den Märtas Vater führte. Er wollte nur wissen, was mit seinem geliebten Freunde Victor geschehen war. Und Märta hatte bereitwillig weitererzählt. Der Vic wäre also aufgefunden worden, abgerissen und elend. Aber er hätte mit seinen blauen Augen und seiner ehrlichen Art einen so guten Eindruck auf den Vater gemacht, der stets bedauerte, keinen Sohn zu haben, dass er ihn einfach auf seinen kleinen Selbstfahrer geladen und geradwegs vom Hafen aus mit ins Haus gebracht hätte.

„Wäre der Vic nicht ein Deutscher gewesen“, hatte die junge Märta nachdenklich gesagt, „vielleicht hätte Vater doch nicht viel Federlesens mit ihm gemacht und hätte ihn der Polizei übergeben. Aber weil der Vic deutsch sprach — und noch dazu ein pommmersches Platt — die Mutter war nämlich auch eine Deutsche, und der Vater hatte sie unendlich lieb, brachte er’s nicht übers Herz, Vic der Behörde auszuliefern. Denn der hatte Stein und Bein geschworen, dass er sich, wenn er zurückgebracht würde, vor den ersten besten Eisenbahnzug werfen würde. Na, da hat der Vater ihn sich einmal vorgenommen und mit ihm geredet, das heisst, erst nachdem er ihn in die Badewanne gesteckt und mir ihn ein ordentliches Essen gegeben hatten“ — fuhr Märta lachend fort. „Also, er hat ihn zu sich gerufen und mit ihm gesprochen, aber weisst du, nicht so dumm, wie Väter es mit Söhnen wohl manchmal tun und wie es Victor von zu Hause wohl auch nicht anders gekannt hat. So von oben herab, als hätten die Väter alle Weisheit der Welt mit Lösseln gegessen, und wir Kinder wären dumme Babies, denen man noch —“

Sie hatte geschwiegen und ihren neuen Kameraden Jürgen eir wenig unsicher angesehen, denn es schickte sich doch wohl nicht, das zu sagen, was sie eben gesagt hatte. Aber Jürgen schien kein ehrpussliger Mensch zu sein, denn er sagte ganz heiss und begeistert: „Weisst du, Märta, dein Vater muss ein famoses altes Haus sein, so einen Vater hab’ ich mir schon immer gewünscht!“ Bitter dachte er daran, wie er selbst von Kindheit an bis jetzt immer gegängelt worden war. „Famoses altes Haus“, diese Bezeichnung hatte Märta gefallen. Der blonde, schlanke Jürgen Hauer war ein Junge, mit dem man vernünftig reden konnte. Und so hatte sie denn hastig weitererzählt. Der Vater wäre seinerzeit auch einmal als junger Mensch so von zu Hause losgezogen und hätte sich allein durchs Leben gekämpst. Und da ihm der Vic ganz aus dem Schrot und Korn gemacht zu sein schien, auch allein weiterzukommen, und da ihm nichts daran gelegen war, dass sich sein Schützling von irgendeinem Eisenbahnzuge überfahren liess, da hatte er ihm denn geholfen. Er heuerte den Vic als Schiffsjungen an und ermöglichte es ihm, ohne Einwanderungspapiere in New York an Land zu gehen, indem er ihn bei Verwandten unterbrachte.

Jürgen hatte zugehört, wie wenn man ihm als Kind Märchen vorgelesen — sein Mund stand vor atemlosen Staunen offen. Da war der Vic also wirklich und wahrhaftig in Amerika. Neid, Begeisterung, Sehnsucht überkam ihn — er sass hier in der Enge, ein Hauslehrer, den man auf die Geschichte von dem einsamen Wolf hin engagiert hatte, bewachte jeden seiner Schritte. Immer mehr entfernte er sich von dem Vater, immer mehr von der Mutter, die seit dem Unglück mit Vic nichts anderes für ihren eigenen Sohn übrig hatte, als Klagen und Ermahnungen. Inzwischen war Vic ein freier Mann, würde vielleicht alle die Träume der Knabenzeit in Wahrheit erleben, würde nach Wildwest gehen, wilde Mustangs fangen, eine Ranch mit der Waffe in der Hand gegen räuberische Diebe verteidigen, als Meldereiter in einer freiwilligen Miliz eine Farmeransiedlung vor dem Ueberfall der wilden Indianer schützen und schliesslich die Tochter des reichen Farmbesitzers als Braut heimführen. Nur eigentümlich, diese Braut sah in den Träumen des jungen Jürgen auf einmal aus wie die rotblonde zierliche Märta mit den silbergrauen, übergrossen Augensternen.

Aber Märta hatte seine begeisterte Phantasie schnell in die Wirklichkeit zurückgeführt.

„Was ist das schon, Amerika?“ hatte sie gesagt. „Das ist auch nichts anderes wie ein anderes Land. Nur tüchtig muss man sein — und ich glaube, der Vic ist es. Aber nur nichts ausplaudern, du!“

Das hatte er ihr mit tausend heiligen Eiden beschworen, und die Freundschaft zwischen den beiden jungen Menschen war besiegelt.

Als die schweidischen Austauschschüler nach zwei wundervollen Ruhetagen auf Scholtenkamp weiterreisten, da stand ein blonder Junge mit mühsam unterdrückten Tränen und einem vor Abscheidsweh zusammengeschlossenen Knabenmunde am Bollwerk und sah lange, lange dem weissen Tuche nach, das Märta winkend schwenkte. Erst als der letzte Schimmer ihres rotgoldenen Haares verschwunden war, ging Jürgen damals heim. Aber er vergass die neue Freundin nicht. Und manch Brief kam von ihr zu ihm. Die Eltern hatten gegen diesen Briefwechsel nichts einzuwenden. Glaubten sie doch, dass er ein gutes Gegengewicht wäre gegen die verrückten Jungensideen, die dieser Lump von Victor — anders nannten sie den jungen Fischer nicht — ihrem Sohne eingeimpft hatte. Eine Freundschaft mit einem wohlerzogenen Mädchen, das ja fast noch ein Kind war, musste ein guter, besänftigender Ausgleich sein. Sie ahnten nicht, dass Märta alles andere war als ein sanftes, dünnblütiges Frauenwesen, vielmehr ein herzhafter Mensch mit einer Lebenskraft, die die verrückten Ideen Jürgens ebenso gut verstand, wie sie einst Vic Fischer verstanden hatte. Und ebensowenig ahnten die alten Hauers, dass die lieblose, veständnislose Verurteilung von Vics Tat ihnen den Sohn immer mehr entfremdete. Es hätte so wenig bedurft, nur ein bisschen liebevolles Eingehen auf das vollkommen verwirrte Gemüt ihres Jungen. Er konnte ja nich verstehen, dass man Vic für eine Tat hart verdammte, die nur der Nächstenliebe entsprungen war. Er war noch zu jung, einzusehen, dass man zwar wohltätig sein konnte, aber doch nicht heimlich und durch Diebstahl, wie Vic. Die Eltern versäumten den Zeitpunkt, sich die Seele des Heranwachsenden zu gewinnen. Sie waren zufrieden, dass äusserlich alles gut ging. Der Junge lernte, erfüllte seine Pflichten und schien auch von den törichten Indianer- und Trappermärchen zu lassen. Dass in Wahrheit Jürgen seit jener Zeit mit seinem wahren Sein nur noch bei Vic war — und bei der neu gewonnenen Freundin Märta — das wussten sie nicht. Sie glaubten, Jürgen gebändigt und in ihrem Sinne gelenkt zu haben. Er aber lebte sein eigenes Leben, das zwischen den Gedanken an seinen fernen Freund und an die Freundin Märta geteilt war. — Vic liess nie ein direktes Lebenszeichen an Jürgen gelangen, aus Furcht, der Brief könnte in unrechte Hände geraten. Nur Märta schrieb an Jürgen mitunter in versteckten Andeutungen, die nur der Eingeweihte verstand, von Vic. Aber auch sie hörte nur wenig von ihm — und das schmerzte sie. Das zeichnerisch hochbegate Mädchen versuchte immer wieder aus der Erinnerung heraus, Vics Antlitz im Bilde festzuhalten, denn der tatentschlossene Junge, der sein Schicksal so mutig in seine jungen Hände genommen, hatte ihr einen tiefen Eindruck hinterlassen.

Zweites Kapitel

Ein Dampfer, der mit lautem Tuten dem Hafen drüben zulenkte, riss die beiden jungen Menschenkinder auf Vilm aus ihren Träumen.

„Schon der Mittagdampfer, Märta“, sagte Jürgen erschrocken, „wenn wir uns nicht beeilen, sind wir nicht zur Zeit beim Essen. Na, und was es dann an Strafpredigten und Schelte setzt, das weisst du ja.“

Auf seinem hageren Jungensgesicht stand beinahe etwas wie Angst. Märta sah den Freund an: „Du, Jürgen, kommt es mir nur so vor, oder ist dein alter Herr jetzt viel gereizter und unduldsamer als früher? Ein wenig poltrig war er ja schon immer — aber so wie jetzt? Ich war früher so gern bei euch auf Scholtenkamp, obwohl die ganze Art deiner Eltern so himmelweit verschieden ist von der Art meines Vaters — aber jetzt bin ich beinahe froh, dass meine Lehrlingszeit zu Ende geht.“

„Froh, Märta?“ fragte der junge Mensch bitter — „und ich —? Weisst du, dass ich traurig bin, wenn du gehst? Du bist doch der einzige Mensch hier, der mich versteht — den ich —“

Er wollte sagen: „den ich lieb habe . . .“ Aber die tiefe Scheu einer Jünglingsseele, die noch nicht zum wahren Bewusstsein ihrer Empfindugen gekommen ist, oder die nicht wagt, sich diese Empfindugen einzugestehen, hinderten ihn weiterzusprechen.

Er sah Märta nur an. Etwas Hilfloses war in seinen Augen.

„Armer Jürgen“, Märta fugr ihm leicht und liebevoll durch die Haare, „natürlich bin ich auch traurig, von dir wegzugehen, aber pass nur auf“, fuhr sie schnell fort, als er heiss nach ihrer Hand griff, „die Zeit geht auch bald hin, du machst dein Abitur, dann bist du ein freier Student und gehst auf die Universität. Kannst reisen, vielleicht besuche ich dich auch einmal in Heidelberg oder wo du sonst sein wirst. — Oder du kommst zu uns nach Schweden. Du, das wird ein schönes Leben für dich werden, wenn du erst aus alledem hier heraus bist. —“

„Ein schönes Leben ohne dich“, wollte Jürgen sagen, aber er verschluckte auch das — und statt dessen meinte er nur, „ich glaube, Märta, das sind Zukunftsträume, die sich nicht erfüllen werden. Natürlich, ich werde das Abitur machen, sogar gut, denke ich, denn ich will meinen alten Herrschaften zeigen, dass ich trotz ihrer ewigen Ermahnungen doch etwas leiste, und ich werde auch auf die Universität gehen . . . Das hat mir der Vater versprochen — und sein Wort hält er immer, so wunderlich er auch sonst ist. Aber im übringen — mit dem freien Studentenleben und Lebengeniessen wird es nicht viel werden. Ich weiss durch Zufall, dass der Vater bei dem letzten Zusammenbruch der Landesbank grossen Geldverlust gehabt hat. Scholtenkamp wirst nichts ab —.“ Ein finsterer Blick kam in seine Augen. Wieder strich Märta ihm wie in Mitleid über die sonnengebräunte Hand. Sie wusste, wie Jürgen im geheimen über die altmodische Bewirtschaftung des Gutes und den Oberinspektor insbesondere dachte, ohne dass seine bescheidenen Hinweise den Vater hätten umstimmen können. Er lachte den Sohn als einen Klugschnack nud dummen Jungen aus und schwor auf seinen Oberinspektor. „Ja, da werde ich mich wohl sehr nach der Decke strecken müssen, kleine Märta.“

„Tut auch nichts, Jürgen“, tröstete sie, „denke daran, wieviel schwerer es andere junge Menschen haben, die sich ein Studium Pfennig für Pfennig selber verdienen müssen. Denk an Vic, dem es sicher auch nicht zum besten geht.“

Ihr feines, seelenvolles Gesicht nahm einen sorgenvollen Ausdruck an. „Ich habe Angst um Vic“, gestand sie leise, „ich habe so lange nichts von ihm gehört.“

Da war es denn jetzt Jürgen, der Märta zu trösten hatte. „Sag’ einmal“, meinte er, um sie abzuleneken, „so herrlich es auch ist, dass du bei uns bist — aber wozu lernst du mit deinem grossen zeichnerischen Talent hier eigentlich die Landwirtschaft, wenn du doch einmal in die Welt gehen und Illustrationszeichnerin werden willst?“

„Das geschieht auf Wunsch meines Vaters, der selbst grosse Ländereien besitzt, die er von seinen Eltern ererbt hat. Gelbstverständlich wäre es mir auch lieber, schon heute hier und morgen dort zu sein, aber ich muss meinem Vater recht geben, dass man zuerst irgendeine handfeste Tätigkeit so auszuüben verstehen soll, dass man sich dadurch zu ernähren vermag. Weisst du, meine zeichnerischen Fähigkeiten in allen Ehren — aber das ist doch mehr Luxussache, und ich kann froh sein, wenn ich dadurch einmal soviel verdiene, wie neine Reisespesen ausmachen werden. Denn die Welt will ich sehen“, schloss sie begeistert. „Meine Schwester Thora denkt übrigens ähnlich wie ich. Sie möchte leidenschaftlich gern Filmschauspielerin werden, wofür ich nun keinerlei Eignung hätte. Aber Vater hat darauf bestanden, dass sie erst ihr Examerals Zahnärztin macht — ein Beruf, für den sie sich auch sehr interessiert. Was ihr später tut, Mädels, ist eure Sache!ʻ sagt er immer. Ihr sollt aber eurem alten Herrn nie vorwerfen können, das ser euch nicht etwas lernen liess, was vielleicht seinen Mann besser ernährt wie allerhand Faxereien. Findest du diese Ansicht nicht äusserst vernünftig, Jürgen?“ schloss sie mit einem Seitenblick auf ihren Kameraden, und dieser nickte. Inzwischen war es Zeit geworden, dass sie endlich in höchster Eile ihr Motorboot bestiegen und den Gute Scholtenkamp zusteuerten.

„Du, Jürgen“ — Märta kam nochmals auf das Gespräch über die veränderte Stimmung Malte Hauers zurück — „vielleicht ist dein Vater deshalb jetzt so leicht böse und gereizt, weil ihn ausser den Geldverlusten der Gedanke an deine Zukunft bedrückt. Hältst du das nicht auch für möglich?“ Dabei spähte sie sorglich voraus, ob auch kein Segelboot ihre Fahrtrinne kreuzte. „Wenn er eine bessere Wirtschaft auf Scholtenkamp führte“, gab Jürgen hart zur Antwort, „dann hätte er weder das eine noch das andere nötig. Na, jedenfalls heute hagelt es uns gehörig in die Suppe, Märta — aber sie sollen mich nicht zu sehr quälen“, brach er plötzlich aus, „ich bin schliesslich kein kleines Kind mehr, und wenn es mir zu dumm wird —“ er sprach nicht weiter — aber seine Gedanken gingen einen bestimmten Weg. — — —

Schweigend fuhren sie dahin, Jürgen sass am Steur. Seine Augen waren zusammengepresst; scharf wie ein Falke spähte er — die Fahrtrinne hier war nur schmal, ein wenig zu weit nach links, und man kam auf Grund. Märta sass träumerisch in dem Boot, Jürgen musste sich mit aller Macht bezwingen, seinen Blick aufs Wasser zu richten, aber immer wieder musste er Märtas feines, süsses Jungmädchengesicht auschauen. Der Gedanke, dass er sie morgen nicht mehr sehen würde, brannte wie ein glühendes Feuer in seinem einsamen Herzen. Märta hielt den schönen gemmenhaften Kopf leicht erhoben, sie dachte hinaus weit über die blaue Flut — weit über das Weltmeer, dort, wo in einer unbekannten Ferne, in einem unbekannten Leben ein schlanker, dunkeläugiger, verwegener Junge um seine Leben kämpfte. Und eine Sehnsucht kam über sie, einmal dies Land drüben mit eigenen Augen zu sehen, das Vic Fischer magisch angezogen hatte — um dessentwillen er hier die lachende, sonnige Heimat zwischen den dunklen Buchenwäldern und den blauen Meeren verlassen. —

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Auf Scholtenkamp war es still geworden. Märta war längst wieder in Schweden auf den Besitzungen des Vaters, von denen sie Jürgen erzählt, und versuchte dort das bei Frau Renate Erlernte zu verwerten. Oft, wenn die Sonne unterging, sass sie auf der Terrasse, die zum Park führte, und dachte an die beiden jungen Menschen, die ihr so teuer waren. Dann griff sie selbstvergessen zum Skizzenbuch und zeichnete immer wieder dieselben Jünglingsköpfe. Aber Vics Porträt war immer viel feiner durchdacht, und in seinen Augen lag ein Ausdruck, der von ganz besonders tiefer Empfindung sprach. Fuhr Märta dann aus ihren Träumerein auf, so vernichtete sie gewöhnlich das Blatt, das ihr klarer als ihr eigenes Herz zeigte, wie es um ihr Gefühl für den fernen Kameraden eigentlich bestellt war.

Jürgen Hauer hatte nicht nur das Abiturium, sondern auch den landwirtschaftlichen Doktor auf der Universität Greifswald mit Auszeichnung bestanden. Er hatte sich ein paar Studiensemster in Heidelberg erkämpft, denn der Vater hielt nicht viel von Ländern, die ausserhalb seiner engen pommerschen Heimat lagen. Dazu kam, dass sich die immer schlechter werdende wirtschaftliche Lage auch bei dem Vater sehr auswirkte, ihn verbitterte und die Heftigkeit seines Charakters ins Unerträgliche steigerte. Er wollte oder konnte nich einsehen, dass seine veraltete Wirtschaftsmethode das Wenige, was man aus Scholtenkamp hätte herausholen können, immer mehr verringerte. Er war alt geworden, sehr alt und eigensinnig, der Herr auf Scholtenkamp. — Und immer mehr geriet er in die Hände seines Inspektors, eines zähen, bauernschlauen Mannes, gegen den Jürgen immer ein instinktives Misstrauen gehabt. Wenn er aber einmal vorsichtig die Rede darauf gebracht hatte, ob die geradezu lächerlichen Ernteerträge mit rechten Dingen zugingen — oder ob Inspektor Schlinker vielleicht ein wenig in die eigene Tasche wirtschafte, war der Vater wie ein Rasender aufgefahren. Er hatte Jürgen einen frechen Grünschnabel geheissen, „der erst trocken hinter den Ohren werden sollte, ehe er es wagte, alte und erfahrene Männer, denen sein Vater Vertrauen schenke, zu verdächtigen.“

Da war Jürgen still hinausgegangen, seinen Zorn in sich hineinwürgend. Oh, er wusste wohl, womit der scheinheilige Inspektor sich das Vertrauen des alten Herrn erkauft — mit seinem glänzenden Whyst- und Kartenspiel — und mit der Geschmeidigkeit, mit der er allen Launen des Scholtenkamper Herrn nachgab. Er redete ihm in allem zu Mund, schimpfte mit ihm über die schlechten Zeiten und tat nichts, um die Abneigung des alten Herrn gegen neumodische Betriebsmethoden zu überwinden. Er hatte es verstanden, alle wichtigen Posten mit seinen Leuten zu besetzen, der Oberschweizer, die Vorarbeiter waren seine Kreaturen, Jürgen fühlte es, ohne es doch beweisen zu können, und er hätte darauf schwören mögen, dass der Vater nach allen Regeln der Kunst betrogen wurde. Aber wie sollte er es ihm nachweisen, so dass der Vater es ihm glauben musste? Alles, was nötig gewesen wäre, um einen rationellen Betrieb zu sichern, Dampfpflüge, Sämaschinen, elektrisch betriebene Dreschapparate, hygienisch einwandfreie Vorrichtungen zum Melken, alles erklärte der Herr auf Scholtenkamp für neumodisches Teufelszeug, und der Oberinspektor pflichtete ihm bei. Es war ein eigentümlicher Einfluss, den dieser dunkeläugige, gelbgesichtige Inspektor Schlinker auf den Vater ausübte. Jürgen zerbrach sich schon lange den Kopf darüber. Als er einmal die Mutter fragte: „Sag mal, Mutter, was hat der Vater eigentlich an dem Inspektor gefunden, dass er sich ihm so blindlings in die Hände gibt?“ war das müde Gesicht Frau Renates schneeweiss geworden.

„Kümmere dich nicht darum, mein Sohn“, hatte sie erregt erwidert, und dann, als wollte sie das Schroffe ihrer Worte abschwächen, hatte sie leichter hinzugefügt: „Der Vater findet gar nichts Besonderes an ihm, er hat nur mehr Menschenkenntnis als du und weiss, was der Oberinspektor wert ist. Im übrigen hast du deinen Vater nicht zu kritisieren.“

Da hatte Jürgen geschwiegen. Aber mit Sehnsucht dachte er an den Tag, an dem er hier einmal vollberechtigter Mitarbeiter sein würde. Dann wollte er dem Inspektor und auch dem Vater zeigen, wie man ein Gut rationell bewirtschaftete. Denn auch der Wald, der zu Schlotenkamp gehörte, wurde nicht mehr regelmässig durchforstet. Hauers Oberförster war alt und liess drei gerade sein. Renate wuchsen alle diese Dinge über den Kopf, vielleicht aber verstand sie auch nicht allzuviel von der Aussenwirtschaft. In ihrer ureigensten Domäne hingegen, im Haus, Garten und Hühnerhof, war sie eine anerkannte, weit und breit berühmte Meisterin. Freilich, allmählich wurde sie auch müde, zu schaffen und zu streben, wenn sie immer wieder sah, sie konnte es allein mit den Erzeugnissen ihrer Kleinvieh-, Geflügel- und Gartenwirtschaft nicht schaffen. Wenn nicht auch der Grossbetrieb ebenso musterhaft organisiert war und gute Erträgnisse abwarf, dann war auch die grösste Mühe einer Landfrau umsonst. Als Jürgen das letztemal von der landwirtschaftlichen Schule in Greifswald kam, hatte er dem Vater glühend zugeredet, die alten, unzulänglichen Viehställe niederzureissen, neue, moderne Baulichkeiten an ihre Stelle zu setzen und die ganze Milchwirtschaft von Grund auf fachmännisch aufzubauen. Aber es hatte einen furchtbaren Auftritt gegeben, und Inspektor Schlinker hatte mit einem hämischen Lächeln dabeigestanden, als der alte Scholtenkamp seinen Sohn wie einen Schuljungen abkanzelte. Wären nicht Frau Renates Bitten und Beschwörungen gewesen — es wäre in dieser Stunde schon zu einem unheilbaren Bruch zwischen Vater und Sohn gekommen. Aber dieser Bruch konnte nicht ausbleiben — und er kam schneller, als Frau Renate selbst in ihren schlimmsten Angstträumen gefürchtet.

Es war ein heisser, schwüler Sommerabend. Die ganze Zeit schon hatte ein schieferfarbener Gewitterhimmel über der Insel gestanden — und ein dumpfes Schweigen lag drohend über dem sommerträchtigen Lande. Jürgen war an seinem letzten Ferientage mit dem Boot auf dem Meer gewesen. Aber er war bald heimgekehrt. Unheimlich dünkte ihn die bleierne Stille, in der das dunkle Wasser der See unter einem drohenden Himmel lag. Nur ein leises empörtes Murmeln war hörbar, wenn die weissen Wogenkämme gegen den weissen Strand gischten. Mit einem eigentümlichen Gefühl der Bedrückung hatte Jürgen gestanden und über die weite Wasserfläche hinweggesehen. Wie oft war er mit Märta hier gewesen. Sie liebte diesen kleinen Wasserarm, der zwischen dem Schilf eines kleinen Wasserlaufs, wie abgeschlossen, ein winziger Binnensee, hier träumte. Damals war blühender, lichter Frühling gewesen, vor wieviel Jahren. — Es waren erst zwölf Monate her, dass sie hier auf Scholtenkamp zu Besuch war, als er auch Ferien hatte — und die glücklcihe, unbeschwerte Jugendzeit war mit ihr zu dem Einsamen zurückgekehrt. Nur stiller war Märta geworden, und sie gestand ihm auch den Grund: Vic war verschollen . . .