Herzen im Kampf - Liane Sanden - E-Book

Herzen im Kampf E-Book

Liane Sanden

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Beschreibung

Hanna Sturm – aufgrund ihres Temperaments auch "Stürmchen" genannt – arbeitet als erfolgreiche Journalistin für eine große Berliner Zeitung. Heute hat sie den besonderen Auftrag, den Mediziner Geheimrat Schrombeck zu interviewen, der ein neues, narbenloses Transplantationsverfahren entwickelt hat. Marlene Hagen dagegen ist völlig mittellos und mit ihren Nerven am Ende. Mit ihrer Vorgeschichte – ein aufsehenerregender Prozess und allseits bekannte Verurteilung – ist es der hochbegabten Tochter einer Französin und eines Polfahrers völlig unmöglich, eine Stelle zu finden, die sie zu ernähren vermag. "Setzen Sie sich doch einmal mit Hanna Sturm von der ›Zeit‹ in Verbindung", hat ihr ihr gütiger Verteidiger, Dr. Lerch, wiederholt geraten, doch mit ihrer Vorgeschichte ist sie ein gebranntes Kind und scheut die Presse wie der Teufel das Weihwasser. Doch schließlich begegnen sich die beiden jungen Frauen doch, und das ist auch gut so ... Als "Hilde Hall" tritt Marlene Hagen in die Redaktion der "Zeit" ein und wird zum Ersatz für Hanna Sturm, als diese sich auf eine abenteuerliche Reise nach Schweden begibt ... Liane Sandens einfühlsamer Roman über die Geschicke zweier junger Frauen und ihre "Herzen im Kampf" fesselt und begeistert den Leser von den ersten Seiten an, so dass sie oder er das Buch am liebsten überhaupt nicht mehr aus der Hand legen will!-

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Liane Sanden

Herzen im Kampf

Roman

Saga

Herzen im Kampf

© 1934 Liane Sanden

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711593424

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

I.

„Stürmchen, machen Sie Ihrem Namen und unserer Zeitung Ehre, und stürmen Sie davon! Wenn Sie hören, was man von Ihnen erwartet, werden Sie vor Begeisterung gleich den Kopf verlieren!“

Unwillig fuhr ein blondes Geschöpf von der Arbeit auf. Ein nicht allzu freundlicher Blick traf den hünenhaften Christians, den Chef vom Feuilleton, Hanna Sturms direkten Vorgesetzten. Wäre er es nicht gewesen, sie hätte wohl in ihrer temperamentvollen Art ihrer Wut in ein paar energischen Ausdrücken Luft gemacht.

Das war nun ungefähr die sechste Unterbrechung während der letzten halben Stunde. Und dabei sollte man die Post sichten, Korrekturen lesen und dem Falter, der kleinen buckligen Sekretärin mit dem lieblichen Namen, das Interview mit dem berühmten Wirtschaftsführer diktieren, das Hannas Tüchtigkeit früher als ihre Konkurrenz ergattert hatte.

„Sie scheinen es heute besonders auf mich abgesehen zu haben, Chef!“ brummte sie halb lachend, halb ärgerlich. „Ich habe doch heute Umbruch der Frauenseite, die Atelierbesichtigung in Staaken und abends die Uraufführung ...“

„... und dass morgen Sonntag ist, weiss ich auch! Da können Sie ja stundenlang in Ihrem neuen Auto spazierenfahren. Heute müssen Sie noch einmal fort. Und zwar zu Ihrem alten Freunde, Geheimrat Schrombeck.“

Ein schneller Schatten flog über Hanna Sturms Gesicht. Doch schon hatte sie sich wieder in der Gewalt.

„Was soll ich bei Schrombeck?“

„Durch Ihre journalistische Gewandtheit herausbekommen, wie es um sein neues, narbenloses Transplantationsverfahren steht. Wetten, dass Sie bei diesem Auftrag nicht streiken?“

Hanna Sturm ging ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit diesmal nicht auf den freundschaftlichen Neckten des Chefredakteurs Christians ein. Sehr knapp kam ihre Gegenantwort:

„Sie sind mit Wetten voreilig, verehrter Chef. Natürlich streike ich nicht. Aber ich sehe nicht ein, warum gerade ich ausgerechnet zu diesem Interview angespannt werden soll. Da sind doch noch andere, die das auch können.“

„Nee, können sie eben nicht. Ich habe schon den kleinen Fischer hingeschickt. Aber Schrombeck hat erklärt, es wäre ihm unmöglich, sich mit einem Laien so schnell zu verständigen, wie seine beschränkte Zeit das fordert. Wenn wir nicht jemand hätten, der einigermassen mit ihm Fach reden könnte, bedauert er. Und das war doch ein Wink mit dem Zaunpfahl, Stürmchen; damit meinte Schrombeck doch natürlich Sie ehemalige Medizinerin. Vermutlich tat er Sehnsucht, Sie zu sehen.“

Hanna Sturm antwortete nicht.

Sie sprach zu dem ältlichen Mädchen hinüber, das von seiner Schreibmaschine her verzückt den stattlichen Christians anstarrte.

„Falterchen, du wirst’s schon ohne mich schaffen, gelt? Alles, was mir der schwedische Nobelpreisträger im ‚Adlon‘ gesagt hat, habe ich gleich so mitstenographiert, dass es nur übertragen zu werden braucht. War keine Kleinigkeit; denn entweder er überlegte sich jedes Wort stundenlang, oder er sprach ohne die geringste Atempause. Und wenn du alles fein säuberlich zu Papier gebracht hast, bringst du’s dem Chef! Aber nicht kürzen, und die Autorin nicht vergessen, mein Lieber!“ Ein lachend drohender Blick traf den Hünen, ehe Hanna Sturm fortfuhr, zu reden: „Sie wissen doch, dass ich es vertraglich habe, bei grossen Artikeln mit Namen herauszukommen!“

„Weiss schon, werde nichts vergessen!“ knurrte es unzufrieden zurück. Unsanft flog eine Tür ins Schloss — der Feuilletonchef liebte es nicht, an Schlappen irgendwelcher Art erinnert zu werden.

Draussen stand Hanna Sturm einen Augenblick still. Nun sie allein war, flog die Maske der munteren Forschheit gleichsam von ihrem Gesicht ab. Unruhe, Schmerz und Beherrschenwollen dieser Empfindungen gingen wie Licht und Schatten wechselnd über ihre strengen, schönen Züge.

„Herrgott, immer noch diese Torheit“, dachte sie dann. Energisch warf sie den Kopf zurück. Sie hatte sich wieder in der Gewalt. Fünf Minuten später sauste ein roter Sportzweisitzer, von Hanna gesteuert, die Strasse entlang. Geschickt wand er sich durch alle Lücken, jeden zwangsläufigen Aufenthalt auf das geringste Minimum beschränkend.

An einer Kreuzung musste sie ein wenig länger warten. Ein paar Lastwagen sperrten den Übergang. Diesen Augenblick der Musse benutzte Hanna Sturm, um die Passanten zu mustern. Ihr lebhafter Geist nahm das Strassenbild in sich auf wie eine Reihe von Momentphotographien. Jeder Mensch hier, selbst der gleichgültigste, war ja ein Lebensschicksal für sich. Sie hatte es geradezu zu einem Sport ausgebildet, aus Gang, Haltung, Gesichtsausdruck das Milieu und das Erleben des Menschen in sich zu konstruieren. Dieser ältliche Herr, der da mit kurzen pedantischen Schritten gleichsam abgehackt die Strasse überquerte, drei abgezählte Stengel Goldlack in den mageren Händen, war sicher ein pedantischer Angestellter, der daheim eine Frau und jetzt hier irgendwo ein Rendezvous mit einem kleinen Mädchen hatte. Er sah geradezu nach schlechtem Gewissen aus, und das kümmerliche Bündelchen Blumen in seiner Hand nach abgezirkeltem Geiz. Der junge Mann dort, in dem etwas zu knappen, modischen Anzug, der sich in jeder Spiegelscheibe musterte, war sicherlich ein Jüngling aus der Konfektion. Sie musste lächeln über die eitle Gebärde, mit der er sich immer wieder das Jackett zurechtzog. Aber nun wurde ihr Blick ernst. Gerade ehe das grüne Licht die Freifahrt anzeigte, ging ein junges Mädchen über den Damm. Es sah Hanna Sturm au. Das heisst, eigentlich sah es durch sie hindurch mit einem Ausdruck der vollkommenen Verzweiflung. Dies völlig Gebrochene war zu der zarten Schönheit des jungen Gesichts ein so erschütternder Kontrast, dass Hanna Sturm geradezu einen Ruck am Herzen spürte. Es war eine jener Begegnungen, an denen man nicht so achtlos hätte vorübergehen sollen. Bei denen man das unabweisbare Bedürfnis spürte, ein verzweifeltes Menschenkind anzuhalten, zu fragen: „Was ist dir, wer bist du? Woher kommst du? Wohin gehst du? Kann man dir helfen?“

Aber ehe noch Hanna Sturm diesen jähen Anruf ihres Herzens richtig ins Bewusstsein dringen fühlte, flammte das Freifahrtzeichen auf. Ganz mechanisch schalteten ihre Hände den Wagen ein. Schon fuhr er an. Nun war es zu spät. Hinter ihr kamen schon die anderen Fahrzeuge. Das blasse junge Gesicht war bereits auf der anderen Strassenseite im Gewühl verschwunden.

*

Hanna Sturm durchfuhr schon die Vorortsstrassen, da ging Marlene Hagen noch ganz mechanisch den Weg an der Universität entlang. Die Sonne schien heisser, als es an Maitagen üblich war — Marlene hatte das pelzbesetzte Jäckchen über der blauen Bluse geöffnet und das schwarze Mützchen in die Hand genommen. Ab und zu hob ein Luftzug ihre rötlichbraunen, lockigen Haare. Dann sah das ganze schlanke, grauäugige Mädel aus, als ob eine Wolke von gesponnenem Golde es umwehte.

Verzweifelt blickte Marlene Hagen vor sich hin. Wieder war der Gang nach Arbeit, den sie so hoffnungsvoll angetreten hatte, ein vergeblicher gewesen. Am Morgen hatte sie das Inserat in der Zeitung gefunden, durch das eine Übersetzerin gesucht wurde, die das Argot, jene südfranzösische, heute fast ausgestorbene Mundart ins Deutsche zu übertragen verstand; da hatte sie aufgeatmet. Ihre verstorbene Mutter war in Arles geboren und erzogen worden. Sie hatte der kleinen Marlene schon in ihrer frühesten Kinderzeit Märchen in jener weichen Sprache erzählt und vorgelesen, deren Kenntnis jetzt durch das Inserat verlangt wurde.

Wie gerufen kam das Angebot; denn Marlene wusste nicht mehr aus noch ein. Augenblicklich waren die beiden Fünfmarkstücke in ihrer Handtasche das letzte Geld, das sie noch besass. Die Wirtin der Fremdenpension, in der Marlene lebte, sah sie von Tag zu Tag unfreundlicher an. Sie hatte ja seit Wochen keine Zahlung mehr für Essen und Unterkunft bekommen. Dabei wohnte man bei Frau Reschke sowieso nur geduldet. Ohne das Machtwort von Marlenes Rechtsanwalt, des berühmten Strafverteidigers Lerch, den Frau Reschke gut kannte und ausserordentlich schätzte, hätte sie niemals eine „Vorbestrafte“ bei sich aufgenommen. Das bekam das junge Mädchen täglich von ihr zu hören.

Als ob sie selber nicht die Schande und den Schmerz immer wieder in sich aufbrennen fühlte! Immer wieder bäumte sie sich auf gegen die Ungerechtigkeit dieses Urteilsspruchs. Die Justiz, in deren Maschen sie geraten, hatte nur die Tat und nicht die Motive gesehen. Aber die Tat hatte nun eben für ihre Schuld gesprochen. Es war ihr nicht möglich gewesen, den Beweis für den guten Glunben, aus dem heraus sie gehandelt, zu geben. Keinen Menschen hatte sie mehr auf der Welt, der zu ihr stand. Der einzige wäre der Pflegevater gewesen. Trotz und allem hätte er vielleicht an sie geglaubt, doch er war ja plötzlich gestorben. Wäre nicht der Verteidiger, Dr. Lerch, so menschenfreundlich gewesen, die ersten Tage nach ihrer Entlassung sich ihrer anzunehmen, sie hätte auf der Strasse gelegen. Doch er hatte Marlene in seine Obhut genommen und sie zu Frau Reschke gebracht. Als er sich dann kurz von ihr verabschiedete, lag eine kleine Geldsumme auf dem Tisch des bescheidenen Stübchens, das ihr eingeräumt worden war. Zum Schlusse hatte er ihr noch gesagt, sie möchte sich wieder einmal bei ihm melden, um ihm zu sagen, was sie unternehmen wolle und ob er ihr irgendwie behilflich sein könne. Aber in ihrem übertriebenen Feingefühl, durch die furchtbaren Erlebnisse geradezu krankhaft empfindlich geworden, konnte sich Marlene nicht entschliessen, den vielbeschäftigten Anwalt nochmals aufzusuchen. Sie wollte nicht ein zweitesmal ein Almosen von ihm in die Hand gedrückt bekommen. Und Dr. Lerch, der arbeitsüberlastete, vergass im Drange der Geschäfte seine junge Klientin. In seinen Akten wie in seinen Gedanken hatte die Tragödie „Marlene Hagen“ ihren vorläufigen Abschluss gefunden ...

Wäre Marlene etwas leichtsinniger oder weniger stolz gewesen, es hätte sich vielleicht eine schnelle Verdienstmöglichkeit für sie gefunden. Aber keines der verlockenden Angebote, die ihr bereits am Morgen des zweiten Prozesstages zugegangen waren, kamen für sie in Betracht. Sie wollte weder in einem Film, der ihre traurigen Erlebnisse auf die Leinwand brachte, die Hauptrolle übernehmen, also sich selbst spielen, noch über ihr Schicksal, in Gestalt von „Lebenserinnerungen“, schreiben, oder andere schreiben lassen. Sie wollte Arbeit, Verdienst, um an ihrem früheren Brotgeber das gutzumachen, worum sie ihn geschädigt hatte.

„Setzen Sie sich doch einmal mit Hanna Sturm von der ‚Zeit‘ in Verbindung, und beziehen Sie sich auf mich!“ hatte ihr Dr. Lerch wiederholt geraten. „Leute von der Presse wissen meistens einen Rat!“

„Niemals würde ich in meiner Lage die Bekanntschaft einer Journalistin suchen!“ wehrte Marlene angstvoll ab. „Ebensogut könnte ich ja filmen oder das, was ich erlebte, selbst in die Blätter bringen. Für Fräulein Sturm wäre ich sicherlich nichts anderes, als ein interessantes Objekt für Zeitungsartikel!“

Wie war sie doch plötzlich auf Hanna Sturm gekommen? Ach, vermutlich, weil sie jetzt die neueste Ausgabe der Zeitung „Die Zeit“ ausrufen hörte, bei der diese Hanna Sturm Redakteurin war.

Nur um sich abzulenken, kaufte sie ein Blatt und ging mit ihrem Handköfferchen, das sie seit dem Morgen bei sich trug, in eine nahgelegene Konditorei. Dort wollte sie überlegen, wo sie unterschlüpfen konnte, Mädchenheim oder Heilsarmee? Haus für alleinstehende junge Mädchen? Unterkunft für arbeitende Frauen? Gehört hatte sie im Gefängnis von allen. Vielleicht liess sich durchs Telephon feststellen, wo noch ein Winkel für Marlene Hagen frei sei. —

Was es heisst, mit einem Makel belastet, ganz auf sich selbst angewiesen zu sein, war Marlene erst heute wieder klargeworden, als sie vor dem Leiter des grossen Buchverlags gestanden, der die südfranzösische Übersetzerin gesucht. Sie sollte im Hause selbst beschäftigt werden, um ständig zur Verfügung zu sein. Nach einer längeren Unterhaltung mit dem jungen Mädchen hatte der Verleger erkannt, dass sie die richtige Kraft für sein Unternehmen wäre. Beglückt atmete sie auf, als man ihr den Vorschlag machte, ihre Arbeit bereits am kommenden Tage zu beginnen. Er liess sich ihre Papiere geben, um den Anstellungsvertrag, der sie zunächst auf einen Probemonat verpflichten sollte, im Sekretariat ausstellen zu lassen. Dann verliess er das Zimmer. Als er nach einer Weile es wieder betrat, Marlenes Schul- und Lehrzeugnisse in der Hand, sah sie an seinem Gesichtsausdruck, dass ihre Aussicht auf Tätigkeit und Verdienst wiederum vernichtet war. —

„Es tut mir leid, mein liebes Kind, dass ich Sie enttäuschen muss“, sagte der alte Herr. „Ich irre mich doch nicht in meiner Annahme, in Ihnen die Hauptperson eines Prozesses zu sehen, der vor nicht allzu langer Zeit die Öffentlichkeit auf das lebhafteste bewegte?“

Blutrot vor Scham senkte Marlene den Kopf.

„Fräulein Hagen“, es kam nun sehr kühl, „ich kann Sie auf Grund dieser Tatsachen unmöglich bei uns einstellen! Bedenken Sie die vielen wertvollen Sammlungen, die Ihnen hier anvertraut werden müssten!“

Marlene stiess einen schluchzenden Laut aus.

„Aber Fräulein Hagen, wenn ich Ihnen sonst vielleicht irgendwie behilflich sein darf?“

Seine Hand fuhr in der Richtung der Brieftasche, doch schon hatte Marlene fluchtartig das Zimmer verlossen.

Nun hatte sie, völlig entmutigt, auf einer Bank im Tiergarten vor sich hingestarrt, bis es Mittag geworden war und sie todmüde und verzweifelt in die Pension zurückkehrte. Sie überlegte, was ihr nun noch zu tun übrigblieb, welche Hilfsquellen ihr offenstanden und wie sie zu einer gesicherten Existenz käme, ohne sich dem Film oder der Zeitung, durch Preisgabe ihres eigenen Schicksals, zu verschreiben.

Frau Reschke öffnete ihr und sah sie forschend von der Seite an. „Na, erfolgreich gewesen, heute morgen?“ erkundigte sie sich neugierig. „Ich wünsche es in Ihrem Interesse ebenso, Fräulein, wie in dem meinen, denn jetzt sind gute Zimmer in dieser Gegend rar. Übrigens, was ich Ihnen noch sagen wollte, Marie hat heute Besuch aus der Heimat. Ich selbst habe gleichfalls etwas Wichtiges vor und möchte Sie daher bitten, doch das Mittagessen für die Herrschaften von Zimmer drei, vier und fünf zu servieren und nachmittags Tee und Mokka zu brühen. Sie können sich dann ja auch eine Tasse nehmen. Ich kann mich doch wohl auf Sie verlassen, wenn ich Sie um diese kleine Gefälligkeit bitte, nicht wahr?“

Gequält lächelnd sagte Marlene ihre Bereitwilligkeit zu, die Stütze zu vertreten. Müde schlich sie ihrem kärglichen kleinen Hinterzimmer zu, seelisch und körperlich gleichermassen erledigt. Ein eigentümlicher Schwindel liess sie taumeln, aber sie hatte keine Zeit, um sich auszuruhen. Sie musste ja für heute abend noch etwas richten, wenn sie servieren sollte.

Sie besass ein einfaches schwarzes Kleidchen mit einem weissen Krägelchen. Es verlangte nach einer Reinigung, und so trennte sie den Kragen ab, griff nach einer Flasche Benzin und suchte das Badezimmer auf. Achtsam setzte sie ihre Last auf den kleinen Tisch neben den brennenden Gasbadeofen. Sie wollte schnell noch ein heisses Bad nehmen, um sich zu erfrischen. Nun entkorkte sie die Flasche, tränkte das Krägelchen gründlich mit Benzin, schloss die Flasche wieder und begann den feinen Stoff vorsichtig zu reiben.

Plötzlich fuhr sie schreiend zurück — eine mächtige Stichflamme loderte vor ihr auf, schlug ihr ins Gesicht und frass sich durch ihre Kleider. Gleichzeitig ertönte das Geräusch einer schweren Explosion, Fensterscheiben barsten, und Kalk und Mauersteine stürzten zu Boden. Wahnsinnig vor Schmerzen raste Marlene den Korridor entlang in die Küche, wo sie besinnungslos zusammenbrach, während Frau Reschke schleunigst nasse Tücher über die Unglückliche warf, die sofort die Flammen erstickten ...

II.

Eine halbe Stunde, nachdem Hanna das Redaktionsgebäude verlassen, hielt ihr Wagen vor einem grossen, weissen Gebäudekomplex draussen in einer Villenvorstadt. Dieses Haus schien den ganzen Zauber des Frühlings hier gleichsam eingefangen zu haben. Eine grüne Birke beugte sich über die Eingangspforte. Auf dem Rasen blühte es gelb und lila von Krokus. Weiterhin nach dem Garten zu sah man Blumenbeete blau, weiss und rötlich aufleuchten, überall war Werden und Blühen.

Geheimrat Schrombeck, Besitzer des Parksanatoriums und der grossen Klinik, gab auf die gärtnerische Ausgestaltung seines Anstaltsparks mehr, als sparsame Kollegen seiner Fakultät verstanden. Aber Schrombeck kannte nicht nur die Körper seiner Patienten. Er kannte ebensogut ihre Seelen. Er wusste, wie gerade leidende Menschen von ihrem eigenen Elend abgelenkt und zur Schönheit der Natur hingeführt werden müssen, um wenigstens zeitweise zu vergessen. Er hatte überhaupt so seine eigene Art der Menschenbehandlung. Er beschränkte sich nicht auf die täglichen, offiziellen Chefvisiten, bei denen er, gefolgt von einem Schwarm von Assistenten und Schwestern, durch tadellos vorbereitete Räume zu tadellos zurechtgemachten Patienten ging. Er erschien zu den unerwartetsten Zeiten in den Klinikzimmern, im Laboratorium, in allen Räumen genau so, wie im Park der Anstalt. Er wusste genau, dass er auf diese Weise vieles zu sehen bekam, was ihm sonst vielleicht verborgen geblieben wäre. Ein witziger Patient hatte dem vergötterten Professor den Namen: „Harun Al Raschid“ gegeben. Schrombeck hatte herzlich darüber gelacht und bezeichnet sich selbst gelegentlich gleichfalls so. Auch heute mittag ging der Geheimrat, nachdem er mit der Visite durch war, noch einmal in den Park.

Hier und dort tauchte seine elastische, hohe Gestalt in dem weissen Arztkittel auf, einmal bei einem Liegestuhl stehenbleibend, um ein paar freundliche Worte mit einem Patienten zu sprechen, dann einer der Schwestern zunickend, die mit beladenem Tablett, Geräten oder Zeitungen durch den Park eilten. Und wo Schrombeck erschien, mit seinem scharfgeschnittenen, leicht angegrauten Gelehrtenkopf und den jugendlichen, hellen Augen, da ging es wie eine Welle von Mut und Gesundung durch den kranken Menschen.

„Na, also, Herr Schröder —“, er blieb einen Augenblick stehen, nickte einem älteren Manne zu, der mühsam an zwei Stöcken den Weg entlanghumpelte, „das geht ja schon wieder mit dem Laufen. Und wer hat mir noch vor acht Tagen erzählt, dass er überhaupt nicht mehr in die schöne Welt hinaus könnte? Sehen Sie, was man ernstlich will, das erreicht man auch!“

„Das hab’ ich mir auch gedacht, Herr Geheimrat!“ sagte eine energische Stimme hinter Schrombeck. „Der Arzt vom Dienst hat Stein und Bein geschworen, dass Sie schon längst über alle Berge wären. Aber ich hab’ geschworen, dass ich Sie noch erwischen müsste. Und ich hab’ Sie erwischt!“ Hanna Sturm stand vor dem erstaunten Schrombeck.

„Der Kollege vom Dienst ist ein Esel“, erklärte Schrombeck überzeugt, „aber verraten Sie’s ihm nicht, Stürmchen. Allmählich könnte er schon kapiert haben, dass Sie trotz unserer ewigen Kabbelei die einzige Frau sind, von der ich mich gern erwischen lasse!“

Unwillkürlich musste sie lachen.

„Was möchten Sie also von mir wissen?“

„Das Neueste, Herr Geheimrat, immer das Neueste. Also in diesem Falle Ihre neueste Behandlungsmethode der schmerz- und narbenlosen Transplantation.“

„Ach so, das wollen Sie? Ich glaubte schon, Sie wollten etwas über mein neues Drüsenpräparat wissen. Aber das kann ich sogar Ihrem Reporterspürsinn nicht ausliefern. Das ist nämlich das Neueste!“

„Und auch mir werden Sie es nicht sagen?“

„Nein, auch Ihnen nicht.“ In aller Liebenswürdigkeit lag etwas Bestimmtes. „Sie wissen, ich gehöre nicht zu den Medizinern, die von einigen erfolgreichen Versuchen auf ein endgültiges Resultat schliessen. Ich bin nicht eitel genug, um mich dauernd in der Presse wiederfinden zu wollen.“

„Oder zu eitel“, stellte Hanna Sturm fest.

„Ein guter Menschenkenner sind Sie. Muss man Ihnen lassen. Ihnen kann man nichts vormachen. Gnade dem Mann, der Ihnen einmal in die Hände fällt.“ Es sollte scherzhaft klingen, aber ein bitterer Unterton war deutlich herauszuhören.

Hanna Sturm schwieg. Eine plötzliche Stille lag zwischen den beiden Menschen. Gerade wollte Schrombeck etwas sagen, da wandte er sein Gesicht gespannt dem Laboratoriumseingang zu. Von dort aus kam ein Assistenzarzt sehr eilig über den grünen Rasen ihnen entgegen. Von weitem hob er schon die Hand. Nun hörte man auch, wie er „Herr Geheimrat, Herr Geheimrat!“ rief.

„Aha, da brennt’s schon wieder einmal“, seufzte Schrombeck. „Na sehen Sie, Stürmchen, mit meinem Privatkolleg Ihnen gegenüber ist’s schon wieder aus. Ja, was gibt’s denn, Kollege?“ fragte er, als Dr. Winkler heran war.

„Herr Geheimrat, eben ist eine Patientin eingeliefert worden, schwere Brandwunden nach einer Explosion. Man wird operieren müssen. Oberarzt Schmidts ist bereits fort.“

„Ich komme schon. Also auf Wiedersehen, Fräulein Sturm.“

„Kann ich nicht mit?“ fragte Hanna Sturm. „Vielleicht, dass da etwas für mich ist.“

„Immer wissensdurstig? Na also, kommen Sie mit! Vielleicht ist es wirklich etwas, was Sie interessieren könnte.“

Hanna Sturm ging neben den beiden dem Hauseingang zu. Der Assistent erläuterte schon den Fall. Der Polizeibericht, den man mit der Patientin zusammen erhalten hatte, lautete wie folgt:

„Ein junges Mädchen hat durch Reinigen von Handschuhen mit Benzin in der Nähe einer Flamme eine Explosion durch Benzingase hervorgerufen und dadurch schwere Verbrennungen im Gesicht, an den Händen und Oberarm davongetragen.“

Der Assistent gab die ungefähre Grösse der Verbrennungsfläche an.

„Sechs Zoll?“ fragte Schrombeck. „Da werden wir wohl ohne Transplantation schwer auskommen. Sehen Sie, Fräulein Sturm, da hätten Sie gleich den Fall in praxi. Wollen Sie Näheres hören? Sie sind ja eine halbe Kollegin — haben wohl Ihre medizinischen Studien noch nicht vergessen.“

„Gern“, sagte Hanna Sturm heiss. Wenn sie in die ärztliche Atmosphäre kam, war es ihr immer noch eine vertraute Luft. Sie hatte damals das Studium aufgegeben, weil die Journalistik sie unrettbar anzog. Sicher war sie da auch besser am Platze. Aber ihre alte Liebe zur Medizin lebte doch noch in ihr. Sie sah Schrombeck von der Seite an, sah sein angespanntes, klares Arztgesicht — die gesammelte Energie in den klaren Augen — so musste ein Arzt aussehen, zu dem man Vertrauen haben konnte.

„In welchem Zustande ist die Patientin?“ erkundigte sich Schrombeck.

„In denkbar schlechtestem Ernährungszustande, Herr Geheimrat, sieht aus, als ob sie seit Monaten kaum gegessen hätte. Selbstverständlich habe ich ihr sofort eine tüchtige Spritze gegeben, sie fühlt im Augenblick nichts.“

„Sechs Zoll Verbrennungsfläche“, dachte Hanna Sturm. Sie stellte sich das vor. Schon als Kind hatte sie vor nichts eine so rasende Furcht empfunden, wie vor Verbrennen.

Vielleicht hing das mit einem Bild aus einem Kinderbuch zusammen, auf dem sie ein brennendes Mädchen gesehen, vielleicht auch damit, dass sie selbst einmal mit Kleid und Händen an den Weihnachtsbaum geraten war. Es blieb ihre einzige Erinnerung aus ihrer frühesten Jugendzeit. Sie konnte damals zwei Jahre alt gewesen sein. Aber immer wieder tauchte bei dem Wort „Feuer“, bei dem Anblick eines Brandes, ja bei jeder Gedankenverbindung diese furchtbare Erinnerung in ihr auf — der wahnwitzige Schmerz, das helle Lohen, die Schreie der Eltern, bis alles in einem wimmernden Dunkel der Bewusstlosigkeit unterging.

Sie war sehr blass, als sie jetzt Geheimrat Schrombeck durch die Korridore folgte. Vor der Tür eines Krankenzimmers hielten die Ärzte an und Schrombeck meinte:

„Wenn Sie hier warten wollen, Fräulein Sturm? Ich kann Sie natürlich nicht mit hineinnehmen. Wenn es zur Transplantation kommen sollte, werde ich Ihnen Nachricht geben.“

Er nickte ihr kurz zu. Eilig ging er mit dem Assistenten in das Krankenzimmer: durch den Türspalt konnte Hanna Sturm gerade noch das Bild eines grünlich blassen, leblosen Gesichts in sich aufnehmen, das aus dicken Bandagen und dem Weiss der Bahre geisterhaft hervorschaute.

Woher kannte sie dies Gesicht? Sie musste es schon einmal gesehen haben. Aber wann?

Der grosse, langgestreckte Operationssaal lag nach dem Park zu. Zahlreiche hohe Fenster mit matten Glasscheiben liessen Helligkeit bis in den letzten Winkel fallen, unterstützt von starkkerzigen elektrischen Birnen und Scheinwerfern. Der ganze Raum blitzte und funkelte von Glas, Porzellan und Nickel. Alles strahlte in Weiss. Die Wände waren abwaschbar, die Operationsgeräte lagen zu Dutzenden hinter Glas oder wurden in den grossen Nickelkesseln, die man durch Elektrizität erhitzte, im kochenden Wasser steril gemacht. Schneeweiss gekleidete Assistenzärzte und Operationsschwestern waren in anhaltender Tätigkeit. Wattevorräte wurden sortiert, Verbandszeug herausgegeben, Instrumente vorbereitet. Alles arbeitete fieberhaft. Wenn der Chef selbst operierte, war sein Personal, das für ihn durchs Feuer ging, mit noch stärkerem Arbeitseifer bei der Sache als sonst, wo es sich schon keine Ruhe gönnte.

„Zunächst möchte ich die Patientin doch noch einmal sprechen, sobald sie wieder erwacht ist“, meinte der Geheimrat nachdenklich, als er wieder auf den Gang heraustrat und auf Hanna zuging. „Wenn sie nicht allzu schwach ist, können wir sie vielleicht mit ihrer eigenen Haut ausflicken. Das wäre natürlich das angenehmste. Wenn man es nicht riskieren kann, ja, dann muss man sehen, wer für das arme Wurm seine Haut zu Markte tragen will!“ schloss er mit dem Versuche, den Ernst der Situation abzubiegen. „Vielleicht hat die Kleine irgendwelche Menschen, die sich dafür opfern. Sonst ist sie entstellt auf Lebenszeit, wäre schade um das schöne junge Geschöpf.“

„Entstellt auf Lebenszeit?“ Es ging wieder wie ein Schauer durch Hanna Sturm.

„Missen Sie, wer das arme Ding ist, Geheimrat?“

„Journalistenneugier?“

Schrombeck war im Augenblick beinahe etwas ärgerlich auf seine Freundin Hanna Sturm. „Wollen Sie vielleicht ein stimmungsvolles Essay aus der Sache machen? Für ewig entstellt, oder so?“

Mit blitzenden Augen sah ihn die Journalistin an:

„Auch in meinem Beruf kann man Privatmensch sein, Herr Geheimrat, das scheinen Sie immer noch nicht begriffen zu haben.“

„Nein, Sie haben mir bisher dazu wirklich keine Veranlassung gegeben.“

„Ich dachte nur, ob man für das arme Mädel irgend etwas tun könnte?“

„Im Augenblick nichts, es sei denn, Sie hätten ein paar Quadratzentimeter eigene Haut übrig, — Ihre würde übrigens im Ton schön passen“, Schrombeck schaute sehr genau auf Hannas gepflegte, weisse Hände.

„Kollege, wie heisst doch die Patientin da drinnen?“ fragte er den jungen Assistenzarzt, der jetzt aus dem Zimmer der Verunglückten herauskam.

„Hagen, Herr Geheimrat.“

„Vorname?“ fragte Hanna atemlos, „vielleicht Marlene?“

Der Assistenzarzt sah Hanna Sturm erstaunt an. „Ich glaube ja, gnädiges Fräulein, kennen Sie sie denn?“

„Nein, nein“, Hanna rief es beinahe unhöflich, „mir war nur, als hätte ich den Namen schon einmal gehört. — Herr Geheimrat, ich darf mich heute noch einmal erkundigen, was aus der Patientin geworden ist? Wann denken Sie die Operation vorzunehmen?“

„Sobald als möglich; denn man darf bei einer Hautverpflanzung nicht zögern. Aber zwei Stunden dürften doch noch darüber hingehen. Erstens muss ich die Verunglückte untersuchen, zweitens muss ich, wenn irgend möglich, ihre Einwilligung resp. die ihrer Angehörigen haben und — last not least — den gütigen Spender. Nun auf Wiedersehen, ich habe noch allerhand zu tun.“

„Ich auch!“ war Hanna Sturms Antwort.

Schrombeck sah ihr noch einen Augenblick nach, wie sie da mit ihrem sportlich entschiedenen Schritt durch den sonnenhellen Korridor ging. Dem Gange nach hätte man sie für einen Jungen halten können. Auch im Wesen hatte sie dies knappe, selbstsichere, männliche. Typ der modernen Berufsfrau, stellte er bei sich fest, prachtvoller Kamerad vielleicht, wenn nicht die Selbständigkeit und der unerschütterliche Wille zur Selbstgeltung in der Ehe störend sein könnten für einen Mann mit ausgeprägtem Willen. Wäre sie nur ein wenig weiblicher, ein wenig schmiegsamer gewesen, diese prachtvolle Hanna Sturm. Aber für einen Mann wie er war so eine Frau wohl indiskutabel. Es würde Kampf und immer wieder Kampf geben. Schade — er fühlte, er war doch noch nicht ganz über diese Liebe hinweg. — Der junge Dr. Winkler sah seinen Chef von der Seite an — da hatte er ihn doch schon zum zweiten Male gefragt, ob man bei der Patientin aus 56 heute die Fäden ziehen, oder noch ein paar Tage warten sollte. Aber der Chef schien heute mit seinen Gedanken nicht ganz bei der Sache zu sein.

Hanna Sturm fuhr inzwischen in rasendem Tempo vom Krankenhause in Zehlendorf über die Kronprinzenallee, Roseneck, der inneren Stadt zu. In einer eleganten Strasse des Westens hatte Justizrat Lerch seine Büroräume.

„Herr Justizrat ist jetzt stark beschäftigt!“ erklärte der junge Mann in der ersten Kanzlei auf Hannas Frage.

„Bitte, bringen Sie ihm meine Karte, vielleicht ist er dennoch zu sprechen.“

Der junge Kanzlist zuckte die Achseln und ging. Erstaunt kehrte er gleich darauf zurück; denn der Justizrat hatte nach einem kurzen Blick auf diese Karte entschieden:

„Ich lasse Fräulein Sturm bitten.“

„Wissen Sie, wer das ist?“ fragte der kleine Kanzlist den Registrator, der gerade mit einem Aktenbündel aus der Registratur kam, „Sturm heisst sie.“

„Mensch“, meinte der Registrator und schaute über seine Brillengläser Hanna Sturms Gestalt nach, „das ist doch die bekannte Journalistin, die hat doch vor einem Jahr in dem Schiebungsprozess Klapper und Genossen den Haupttäter entdeckt. Die Kriminaler sollen schön geschimpft haben, dass ihnen ein Frauenzimmer bei der Entdeckung zuvorgekommen ist. Ein fixer Kerl, die Sturm“, schloss er anerkennend und schoss mit seinem Aktenbündel weiter.

Justizrat Lerch erhob sich lebhaft. Er ging mit ausgestreckten Händen Hanna Sturm entgegen.

„Störe ich Sie sehr, Herr Justizrat?“

Hanna sah den Aktenberg neben seinem Schreibtisch und seine verarbeitete Miene.

„Solche Störung, liebes Fräulein Sturm, lasse ich mir gern gefallen. Wie geht es Ihnen? Worin kann ich Ihnen helfen? Oder sind Sie es wieder einmal, die mir helfen will?“ fragte er lächelnd in Anspielung auf die Sache „Klapper und Genossen“.

„Nein, Herr Justizrat. Diesmal habe ich etwas von Ihnen zu erbitten.“

„Und das wäre? Aber nehmen Sie doch Platz.

„Lieber Herr Justizrat, ich habe soeben etwas erlebt, was mich tief erschüttert hat.“

Sie erzählte kurz von der Einlieferung der Patientin ins Krankenhaus, von Geheimrat Schrombeck und den knappen Tatsachen, welche der Polizeibericht für das Krankenhaus mitgegeben.

„Denken Sie, es handelt sich um Marlene Hagen. Sie haben sie doch seinerzeit verteidigt, Herr Justizrat?“

„Du lieber Gott, das arme Mädel. Hat auch nichts wie Unglück. Dabei bin ich der festen Überzeugung, dass sie unschuldig gewesen ist.“

„Derselben Meinung war ich damals auch. Leider habe ich ja den Prozess nur aus den Zeitungen verfolgen können. Ich war ja damals, wie Sie wissen, auf meiner südamerikanischen Redaktionsreise. Sonst hätte ich mich in den Fall schon hineingekniet. Das steht fest.“

„An Ihnen ist auch ein Kriminalkommissar verlorengegangen, Fräulein Sturm.“

„Mein Gott, wie viele Berufe wollen Sie denn noch für mich reklamieren, Herr Justizrat? Schrombeck wirft mir immer noch etwas von meiner Fahnenflucht vor der Medizin vor. Aber nun zu der kleinen Hagen. Es muss da etwas geschehen. Sie scheint in jämmerlichen Verhältnissen zu sein. Schrombecks Untersuchung hat völlige Unterernährung ergeben. Doppelt schlimm bei ihrem Zustande jetzt.“

Lerch war ehrlich erschüttert. Selten war ihm ein Fall aus seiner Praxis so nahegegangen wie der Marlene Hagens.

„Aber warum sie sich nicht ein einziges Mal mehr an mich gewandt hat, ich hab’ ihr doch ausdrücklich gesagt, sowie sie in Not ist — scheint ein sehr stolzes Kerlchen zu sein.“

„Darum muss man eingreifen, auch ohne dass sie was dazu tut, Herr Justizrat. Und das möchte ich.“

„Es ist doch merkwürdig, Fräulein Sturm, wie die Dinge zusammenkommen. Wissen Sie, dass ich selbst der kleinen Hagen damals geraten habe, sich an Sie zu wenden? Ich habe ihr sogar Ihre Adresse in Rio gegeben. Sie sollte Ihnen schreiben. Denn Sie haben bisher immer noch einen Rat gewusst, besonders für so ein armes Menschenkind.“

„Der Brief ist nie angekommen.“

„Vermutlich nie geschrieben worden. Fräulein Hagen hatte eine geradezu panische Angst vor allem, was Zeitung und Zeitungsleute hiess. Sie witterte darin nur eine Zurschaustellung ihres schweren Schicksals.“

„Wenn ich an Marlene Hagens Stelle gewesen wäre, hätte ich vermutlich damals das gleiche Misstrauen gegen eine Journalistin gehabt.“

Hanna Sturm musste plötzlich an das Gespräch heute morgen mit Geheimrat Schrombeck denken. Etwas bitter war ihr aber doch zumute, warum traute man ihr nur Sensationsinteresse und kein rein menschliches zu?

„Also wollen wir dieser kleinen Hagen einmal beweisen, dass wir doch bessere Manschen sind als sie denkt“, meinte sie leicht lächelnd. „Ich kam, um Sie nach der Adresse der Armen zu fragen, vielleicht, dass sie aus Ihren Akten noch zu ermitteln ist. Dann würde ich mir den Weg über das Einwohnermeldeamt sparen.“

Lerch griff nach dem Telephonhörer und gab die Anfrage nach Marlenes Wohnung an seine Kanzlei durch. „Wenn sie noch dort ist“, meinte er zwischendurch zu Hanna Sturm, „ich habe sie damals in eine leidliche Pension zu einer Frau Reschke gebracht. Eben sagt man mir durch, dass bei uns keine Wohnungsänderung bekannt geworden sei. Wollen wir mal anrufen?“

„Lieber fahre ich selbst hin, Herr Justizrat. Bitte, wie lautet die Adresse? Lützowstrasse 24?“ Sie notierte eifrig. „Ehe wir Anschluss bekommen, bin ich auch schon da; ich habe nämlich den Wagen unten.“

„Und mit wieviel Strafmandaten? Gut, dass Sie den armen Anwälten durch Ihr rasendes Fahren auch mal was zu verdienen geben“, neckte Lerch, Hanna Sturm zur Tür begleitend. „Und wenn Sie etwas über die kleine Hagen erfahren haben, bitte, geben Sie mir Nachricht, ich beteilige mich auch an der Hilfsaktion, wenn es mir möglich ist.“

III.

Diese drittklassigen Pensionen sind doch eine wie die andere, dachte Hanna Sturm, als sie sich in dem „Salon“ der Pensionsinhaberin Reschke umsah. Da waren die gleichen, etwas abgewetzten Samtmöbel, denen man an diesen Orten immer wieder begegnete, da war der Tisch mit der unvermeidlichen Batikdecke. Da gab es den sogenannten Damenschreibtisch, an dem man niemals einen vernünftigen Brief zu Papier bringen konnte, so vollgestellt war er mit verblassten Photographien und allerlei Krimskrams. Da war auch Frau Reschke mit dem ge schäftsmässig krampfhaften Lächeln all derer, die heute vermieten müssen, um jeden Preis vermieten. Sie vermutete in Hanna Sturm zunächst auch einen sehr zahlungskräftigen Gast, sie hatte von ihrem Wohnzimmerfenster aus den eleganten Sportwagen ihrer Besucherin gesehen und taxierte die elegante junge Frau sofort auf Reichtum ab.

Aber sie wurde enttäuscht und misstrauisch, als sie hörte, dass Hanna, die ihren Namen nicht nannte, nur in Sachen Marlene Hagens hierhergekommen sei.

„Da kann ich Ihnen gar nichts sagen, Fräulein“, erklärte sie. Unter dem konventionellen Lächeln kam die Härte ihres Wesens für Hanna deutlich erkennbar zum Vorschein. „Ich habe schon genug Aufregung und Kosten durch die Person gehabt. Wer kommt mir für die Schäden der Explosion auf? Die Versicherung macht jetzt schon Sperenzien. Offenbare Fahrlässigkeit, hat mir der Mensch von der ‚Allemannia‘ gleich am Telephon gesagt. Wenn einer mit der Benzinflasche neben dem offenen Gasofen hantiert, da muss ja etwas passieren. Und das zu allem andern, was mir die Hagen noch schuldig ist. Das werde ich auch nie wiedersehen. Das kommt davon, wenn man solche Leute aus Mitleid bei sich aufnimmt!“

„Nun, das Mitleid scheint bei Ihnen nicht allzu ausgebildet zu sein, verehrte Frau Reschke.“ Hannas Empörung über die Hartherzigkeit der Frau ging mit ihr durch. „Im übrigen beruhigen Sie sich. Für die Schulden von Fräulein Hagen wird man aufkommen. Bitte, stellen Sie mir in den nächsten Tagen die Abrechnung zusammen. Ich lasse sie mir abholen und sorge für Begleichung.“

Frau Emma Reschke war im Augenblick wie umgewandelt:

„Das ist schön von Ihnen, Fräuleinchen, das ist wirklich schön. Sie müssen mir meine Worte nicht krumm nehmen; aber ich muss heute auch auf mein Geld schauen. Wenn ich am Ersten nicht pünktlich meine Miete zahle und Gas und Elektrisch, dann geht’s mir auch schlecht. Die Abgaben sind zu gross heute, sie erdrücken einen ja!“

Frau Reschke begann in längerer Rede, Hanna die Schwierigkeiten des Vermieterinnenberufs zu schildern. Hanna hörte sich das alles ruhig an. Sie wollte die Frau gefügig haben, um Näheres über Marlenes Leben hier zu erfahren.

Bald hatte sie denn auch aus Frau Reschkes Erzählung ein klares Bild gewonnen von Marlenes verzweifeltem Kampf, wieder festen Boden unter den Füssen zu erringen.

Wie Frau Reschke dazwischen immer wieder sagte:

„Man kann’s ja den Arbeitgebern auch nicht verdenken, Fräulein, wo so viele Kräfte mit tadelloser Vergangenheit auf der Strasse liegen, da nimmt man doch nicht gerade eine Diebin“, wurde ihr Gesicht hart.