Sieger über das Dunkel - Liane Sanden - E-Book

Sieger über das Dunkel E-Book

Liane Sanden

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Beschreibung

Bei der Lektüre könnte sich der geneigte Leser an Schillers Worte des Glaubens erinnert fühlen: "Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall, der Mensch kann sie üben im Leben und sollt er auch straucheln überall. Er kann nach der göttlichen streben!" Nach dieser Prämisse handelt sie, die kleine Angestellte Fränzi Müller, die in diesem ergreifenden Schicksalsroman von der Nebenfigur zur Hauptfigur avanciert. Dr. Gerhard Hessenbrock, genialer Chemiker und Erfinder der Werffen Farbwerke liebt de einzige Tochter seines Chefs und Onkels Geheimrat Werffen, Annelore. Er hält sich indes für zu alt und zu langweilig für die quirlige, ein wenig einsame junge Frau. Da tritt der Sohn eines Geschäftsfreundes in das Leben der drei – leichtsinnig, jung, verantwortungslos und gut aussehend. Dr. Heinz Mühlensiefen ist natürlich ebenfalls Chemiker, doch nicht so genial. Nach einem Flirt mit Fränzi Müller, die ihm sehr schnell seine Grenzen aufzeigt, beschließt er, angestachelt durch gewaltige Spielschulden, sich an die Eroberung der ein wenig naiven Annelore zu machen. Dies scheint zu gelingen, doch dann gibt es eine Explosion im Labor des Dr. Herssenbrock ...-

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Liane Sanden

Sieger über das Dunkel

Roman

Saga

Sieger über das Dunkel

© 1935 Liane Sanden

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711593370

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

„Zum letzten Male sage ich dir, ich warne dich!“ Die schwere blaugeäderte Hand des alten Herrn fiel dröhnend auf den grossen Schreibtisch. Die Aderstränge auf der mächtigen Stirn waren angeschwollen. Er atmete schwer, bemühte sich, ruhig zu werden. Aber es war ein drohendes Grollen in seiner Stimme, wie er jetzt noch einmal sagte:

„Ich warne dich zum letztenmal, Heinz!

Wenn du dieses Leben nicht aufgibst, dann habe ich einen Sohn besessen. Verstehst du mich? Ich werde es nicht dulden, dass du durch deinen Leichtsinn mein altes Werk gefährdest.“

„Aber Vater“, versuchte der hübsche blonde Mensch einzuwerfen.

Mit einer harten Handbewegung schnitt Kommerzienrat Mühlensiefen die Worte des Sohnes ab:

„Genug von deinen Entschuldigungen. Ich kenne sie bis zum Überdruss. Aber ich sage dir, ich mache Ernst. Ich gebe dir eine letzte Möglichkeit. Du gehst in die Fabrik eines meiner Freunde und versuchst, dort wie jeder anständige Mensch zu arbeiten. Begabt genug bist du. An deiner Ausbildung ist nicht gespart worden. Wenn du wolltest, du könntest viel leisten. Aber du willst eben nicht.“

Das letzte klang gramvoll. Gramvoll war auch der Blick, mit dem Kommerzienrat Mühlensiefen in das Gesicht seines Einzigen sah. Wie war es nur möglich, dass der Junge so aus der Art geschlagen? Er und seine Frau, sie hatten sich von klein heraufgearbeitet. Vom kleinen Werkmeister bis zum Gründer und Besitzer der Fabriken Mühlensiefen. Und für wen hatten sie dies alles getan? Für diesen einzigen Sohn, der jetzt mit diesem halb verlegenen, halb leichtsinnigen Ausdruck vor Kommerzienrat Mühlensiefen stand. Mühlensiefen seufzte auf. Vielleicht war es nicht doch nur Schuld des Jungen, sondern auch Schuld der Erziehung. Mühlensiefen hatte ja immer versucht, gegen die Vergötterung anzugehen, welche die Mutter mit dem kleinen Heinz trieb. Innerlich musste er sich zugestehen, er selbst war oft schwach gewesen. Alles, was er und seine jüngst verstorbene Frau in dem harten Leben der Jugend entbehrt, der kleine Heinz hatte es haben sollen in unzerstörter Fülle. Das hatte sich gerächt. Heinz hatte wohl nichts anderes gelernt, als dass der Vater unerschöpfliche Mittel und die Mutter unerschöpfliche Liebe für ihn bereithielt. Er wusste nicht, dass Reichtum verpflichtete. Die Fabrik des Vaters schien nur dazu da zu sein, um ein bequemes und leichtsinniges Leben zu gewährleisten. Hart und härter waren die Kämpfe geworden, die Kommerzienrat Mühlensiefen mit dem Sohn führte, um seinen Einzigen zu einer anderen Lebensauffassung zu bekehren. Aber alles war vergeblich gewesen. Trotz aller Begabung, die Heinz besass, führte er ein Leben des Luxus, des Leichtsinns: Schulden, Spiel, Frauen waren die ständigen Etappen auf seinem Wege. Dann riss er sich wieder einmal zusammen, versuchte zu arbeiten. Und die Resultate waren glänzend. Aber das alles war nur wie ein trügerisches Aufflammen der Energie. Bald war es Heinz Mühlensiefen wieder viel bequemer, mit andern jungen Leuten sich einem bedenkenlosen Müssiggang hinzugeben. Vor einem Jahre schon war es zu schweren Kämpfen zwischen ihm und dem Vater gekommen. Der Vater hatte ihn damals nach Südamerika geschickt zu einer ihm befreundeten Firma. Er hatte Heinz gedroht, sich von ihm loszusagen, wenn die Berichte über sein Verhalten dort ungünstig wären. Merkwürdigerweise schien mit Heinz dort eine Wandlung vor sich gegangen zu sein. Denn die Nachrichten von Señor Aldrianos an den verehrten Geschäftsfreund, Kommerzienrat Mühlensiefen, waren des Lobes voll gewesen über Heinz. Seit einem halben Jahre war Heinz zurück. Noch in dem Augenblick, in dem er die Heimat betreten, schien er alles an guten Vorsätzen, Fleiss und Stetigkeit vergessen zu haben. Der Wechsel, den Kommerzienrat Mühlensiefen seinem Einzigen ausgesetzt, reichte nicht. Gestern waren ein paar sehr unangenehme Mahnbriefe in das Privatkontor des Kommerzienrats gekommen. Sie hatten den Groll des alten Herrn zum Überlaufen gebracht. Sein einziger Sohn, der Erbe der alten Firma, liess sich wegen Spielschulden mahnen — das war dem rechtlichen Sinn des alten Herrn unerträglich. Und darum sagte er jetzt noch einmal drohend:

„Du kennst nun meinen Entschluss. Wenn du durch deinen Leichtsinn dein Leben ruinieren willst, so weh es mir tut, ich kann es nicht ändern. Aber meine Firma lass ich mir nicht ruinieren. Es hängt ja nicht nur mein Name daran. Ich bin verantwortlich für Hunderte von Menschen, die bei mir Brot und Lohn finden. Ich werde es nicht dulden, dass die Sicherheit der Firma durch deinen Leichtsinn allmählich unterhöhlt wird. Ich erwarte Bescheid von meinem alten Freunde aus Hamburg, Geheimrat Werffen, ob man dich dort gebrauchen kann. Dann werden wir weitersehen.“

Heinz Mühlensiefen wollte etwas erwidern. Aber der Kommerzienrat hatte sich bereits wieder seiner Arbeit an seinem Schreibtisch zugewandt. So stand Heinz auf, zuckte die Achseln und ging mit einem leisen Gruss hinaus. Aber sowie er die Tür zu dem Privatbüro des Vaters geschlossen, nahm er eine unbefangene Haltung an und bemühte sich, möglichst heiter zu erscheinen. Es war nicht nötig, dass ihm die Angestellten, die ihm begegneten, etwas von dem anmerkten, was sich da drin abgespielt hatte. So ging er denn, den grauen Sommerhut schräg aufgesetzt, mit einem nachlässigen Lächeln durch die Gänge und erwiderte von oben herab die Grüsse der ihm Entgegenkommenden. In seinem Innern aber kochte es. Schauderhaft war es, dass man als erwachsener Mensch noch so von seinem alten Herrn abhängig war, nur weil der die Brieftasche zu — oder aufmachen konnte. Drüben, das war ein anderes Leben gewesen. Señor Aldrianos war ein Mann, der lebte und leben liess. Drüben bekam man Kredit, soviel man wollte. Und niemand drängte einen mit der Rückzahlung. Der einzige Sohn und Erbe von Kommerzienrat Mühlensiefen war den Leuten drüben sicher! Hier war alles ein Krämergeist, mit dem man nicht fertig wurde. Die Leute hier waren alle wie besessen von der Angst um das Geld. Zugegeben, es waren schwere Zeiten. Aber sie wurden schliesslich nicht besser, wenn man ewig klagte. Wozu war man jung und reich? Doch nicht, um wie ein Kuli von früh bis abends zu schaffen. Sein Vater freilich war anderer Meinung. Der war früh um acht einer der ersten im Betrieb. Und dachte noch längst nicht an Arbeitsschluss, wenn die Angestellten Feierabend gemacht hatten. So mochte er selbst nicht leben. Die Jugend war nur einmal da und man musste sie geniessen.

Was das nun wieder für eine Kateridee von dem alten Herrn war, ihn da quasi unter Aufsicht in irgendein Werk zu bringen! Heinz Mühlensiefen hatte nicht viel übrig für diese alten Geschäftsfreunde seines Vaters. Er kannte einige von ihnen. Alles respektable Herren. Gewiss, ungeheuer respektabel. Aber sie kannten auch nur eine Auffassung vom Leben: Arbeit und nochmals Arbeit. Und das würde nicht anders sein bei diesem Geschäftsfreunde, zu dem der Vater ihn schicken wollte. Aber es half nichts. Man musste gute Miene zum bösen Spiel machen. Denn die Ebbe in der eigenen Kasse war erschreckend. Man musste durch Wohlverhalten den Vater zunächst wieder dahin bringen, dass er einen flott machte. Man brauchte ja nicht nur das Geld für sich allein. Da war auch noch Lou, die kleine süsse Krabbe. Und Frauen vom Schlage Lous waren niemals billig.

Der Gedanke an Lou stimmte Heinz Mühlensiefen fröhlicher. Sicherlich würde auf der Post einer ihrer lustigen Briefe liegen. Er musste ihr auch sofort schreiben, dass er von Hannover wegginge. Sie hatte ihm versprochen, sich mit ihm in Berlin zu treffen. Er würde ihr vorschlagen, falls er in die Verbannung zu irgendeinem dieser langweiligen Geschäftsfreunde musste, ihn zu begleiten. Hamburg war ja schliesslich kein Dorf. Auch in Hamburg liess es sich leben und sogar sehr gut.

Heinz Mühlensiefen war schon wieder ganz vergnügt. Er schlenderte in dem schönen Morgen die Hauptstrasse hinunter, sah mit aufmunterndem Lächeln manch hübschem Mädchen ins Gesicht und konstatierte mit Vergnügen, dass ebenso wohlgefällige Blicke ihn trafen. Man war jung. Man gefiel den Frauen. Und die Frauen gefielen einem selbst. Es gab doch noch allerhand Freude im Leben!

*

Geheimrat Werffen schob seufzend die Berichte und Zusammenstellungen zurück. Müde nahm er die Brille ab, legte sie sorgsam auf ihren Platz auf dem grossen Schreibtisch. Das Ergebnis seiner Prüfung war recht wenig zufriedenstellend. Sollte man wirklich zu Betriebseinschränkungen, zu Arbeiterentlassungen schreiten? Es war sein Stolz gewesen, dass er sein Werk langsam, aber stetig hatte entwickeln können. Seit einiger Zeit gingen die Umsätze zurück. Es lag nicht an der Krise. Farben wurden nach wie vor gebraucht. Aber andere, jüngere Kräfte, eine Gesellschaft mit grossem ausländischem Kapital drohte, den Markt an sich zu reissen. Die rote Lampe an der Aussentür, die jedem Werksangehörigen sagte „Eintritt verboten“, brannte. Dennoch klopfte es. Erstaunt blickte der Geheimrat zur Tür. Wer klopfte da so ungestüm, als hätte er das Recht, sich darüber einfach hinwegzusetzen? Jetzt wurde die Tür ohne weiteres aufgerissen. Ärgerlich erhob sich der Geheimrat. Aber seine Züge milderten sich, als er seinen Neffen, den Chefchemiker des Werkes, erkannte.

„Was gibt es so wichtiges, Gerhard, dass du mich so überfällst?“

„Onkel, ich muss dich sofort sprechen! Ich hab es! Hier, sieh her. Die neuen Proben! Ein glänzendes Resultat! Das macht uns so leicht keiner nach.“

Der grosse, schlanke Mensch, dem Freude und Stolz aus den Augen leuchteten, war vor Aufregung rot. Erstaunt betrachtete ihn der Geheimrat. Diese Lebhaftigkeit war er an Gerhard gar nicht gewöhnt. Gerhard war ihm mit seinen 32 Jahren oft viel zu ernst erschienen. Und es war ihm immer ein Rätsel gewesen, dass sein Wildfang, seine Annelore sich so schnell an den ernsten Vetter angeschlossen hatte. Dabei war Gerhard dem Mädel gegenüber keineswegs ein bequemer, nachgiebiger Vertrauter gewesen. Aber seine verwöhnte Einzige, der man schon um ihrer Mutterlosigkeit willen von früh auf so manches nachgesehen hatte, und die so überempfindlich und leicht scheu war, wenn ihr jemand nicht den Willen liess, mit Gerhard hatte sie vom ersten Tage eine Ausnahme gemacht. Wenn Gerhard etwas getadelt hatte, dann konnte man sicher sein, dass Annelore sich danach richtete. Es war manchmal eigenartig, die beiden zu beobachten. Annelore, die in ihrer jugendlichen Lebhaftigkeit Gerhard immer mit fortreissen wollte, und der über seine Jahre ruhige, gesetzte Gerhard, an dessen Ruhe diese Versuche wirkungslos abprallten. Dr. Gerhard Hessenbrock hatte inzwischen, immer noch mit dem Ausdruck einer bei ihm ganz ungewohnt wirkenden Lebhaftigkeit eine Anzahl Stoffproben auf dem Schreibtisch ausgebreitet und dann die mitgebrachten Papiere geordnet. Nun wandte er sich mit scherzhafter Feierlichkeit an Geheimrat Werffen:

„Gestatten Sie, Herr Geheimrat, dass ich Ihnen einen kurzen Vortrag halte über die ohne Ihr Wissen in Ihrem Laboratorium gemachten Versuche mit lichtechten Farbstoffen. Hier sind die Stoffe in allen Farbtönungen, die mit dem neuen Farbstoff gefärbt sind. Hier“, er überreichte dem Onkel eine Anzahl Aufstellungen, „die Belichtungstabellen. Hier eine Aufstellung der Herstellungskosten, ausserordentlich niedrig. Hier Probe und Gegenprobe der Belichtungseffekte der Konkurrenzfarben. Wo sich bei den andern Farbmitteln bei den empfindlichsten Tönungen, bei bleu und lila schon Bleicheffekte zeigen, bleiben die mit unsrem neuen Mittel gefärbten Gegenproben noch vollkommen lichtecht. Und das Wichtigste: wir sind bei der von mir ausprobierten Herstellungsart vollkommen unabhängig vom Ausland. Alle Bestandteile für die Fabrikation sind in Deutschland zu haben. „Herr Geheimrat“, Gerhard verbeugte sich scherzhaft, „gestatten Sie mir, Ihnen zu dem neuen Aufschwung der Werffen-Werke Glück zu wünschen. Wenn Ihr Chefchemiker sich nicht gründlich täuscht — und das glaube ich nicht — schlagen wir auf Jahre hinaus mit diesen Farben alle konkurrierenden Werke, selbst die allmächtige Farbstoff-Gesellschaft aus dem Felde.“

Jede Spur von Müdigkeit war aus den Zügen des Geheimrats Werffen gewichen. Stück für Stück prüfte er jede der neuen Farben sorgsam, hielt sie unter die Tageslichtlampe, betrachtete sie mit einem starken Vergrösserungsglas und untersuchte in gleicher Weise die Gegenproben. Nach einem kurzen Blick auf die Belichtungstabellen sah er zu Gerhard auf, der ruhig abwartend seinen Untersuchungen zusah.

„Bist du dir darüber klar, dass dir hier ein ganz grosser Wurf gelungen ist? Und du Geheimniskrämer hast mir nichts von deinen Versuchen gesagt?“

„Ich wollte schweigen, Onkel, bis ich meiner Sache ganz sicher war. Du hast in den letzten Monaten Sorgen und Enttäuschungen zur Genüge gehabt. Glückte es, und es ist ja gottlob geglückt, dann war es noch immer Zeit. Aber die Enttäuschung eines Fehlschlages wollte ich dir ersparen.“

Bewegt schüttelte Geheimrat Werffen seinem Neffen die Hand:

„Ich danke dir, Gerhard. Es ist in den letzten Monaten wirklich manches schief gegangen. Aber nun haben die Werffen-Werke wieder neuen Auftrieb. Nochmals Dank, mein Junge, du sollst dabei nicht zu kurz kommen. Wir wollen jetzt einmal die chemischen Formeln zusammen durcharbeiten.“

Fast zwei Stunden dauerte die Unterredung. Dann erhob sich Geheimrat Werffen:

„Genug für heute, Gerhard. Es ist ein grosser Erfolg, den du erreicht hast. Zum Abendessen bist du heut doch bei uns? Vielleicht sprechen wir dann noch über einiges.“

„Ich wollte zwar heute noch einen weiteren Versuch machen, Onkel. Die Farben machen mir viel zu schaffen.“

„Ist das der einzige Grund? Oder hast du dich mit Annelore gezankt? Das Mädel kommt mir seit einiger Zeit etwas still vor.“

„Kein Gedanke, Onkel. Und gezankt schon gar nicht. Dazu kommt es bei mir nicht so leicht. Ist etwas Besonderes mit Annelore?“

„Das nicht. Aber sie ist jetzt recht still. Erst dachte ich, du hättest ihr eine Standpauke gehalten. Also das ist es nicht. Nun, mit jungen Mädchen ist das so ’ne Sache. Man weiss da nie recht Bescheid. Die Mutter fehlt eben. Wird schon nichts weiter sein. — Also um 8 Uhr, Gerhard.“

Damit schüttelte Geheimrat Werffen seinem Neffen die Hand und ging nach der Wohnung. Die lag dicht neben dem Werk in einem schönen Garten, den Werffen beim Bau hatte anlegen lassen. Seine Frau hatte es gewünscht. Sie liebte Sonne und Licht. Lange hatte sie sich nicht am Garten freuen können. Eine tückische Erkrankung hatte sie fortgerafft, viel zu früh für die lebensfrohe Frau. Viel zu zeitig aber auch für Werffen und vor allem für die kleine Annelore, die damals erst zehn Jahre alt war. Geheimrat Werffen hatte es nicht leicht gehabt mit der Kleinen. Gegen jede Hausdame, die an der Verwaisten Mutterstelle vertreten sollte, gegen jede Erzieherin hatte das Kind revoltiert. Und der Geheimrat hatte seinem Liebling nachgegeben. Immer wieder, bis er schliesslich alle derartigen Versuche aufgab. Annelore hatte sich zu einem schönen klugen Mädchen entwickelt. Aber eigenwillig war sie geblieben. Und für ihre Jugend zu verschlossen gegen Fremde. Nun, das legte sich vielleicht später, wenn ihr Herz einmal sprechen würde. Der Geheimrat überlegte: wie alt war das Mädel jetzt? Siebzehn? Da hatte er ja bald eine heiratsfähige Tochter! Aber heutzutage hatten die Mädels es damit nicht so eilig. Glücklicherweise, denn Werffen wünschte sehnlich, seinen Liebling noch recht lange bei sich behalten zu können.

Gerhard Hessenbrock war nach der Unterredung mit seinem Onkel noch einmal ins Laboratorium zurückgegangen. Am liebsten hätte er sich noch einmal in seine Arbeit vertieft. Aber er fühlte jetzt, nachdem der entscheidende Erfolg errungen, doch plötzlich die Abspannung nach der rastlosen Arbeit der letzten Wochen. Die Tage hatten nicht mehr ausgereicht. Nein, zuletzt hatte er auch noch die Nächte zu Hilfe genommen. Das Entdeckerfieber hatte ihn so gepackt, dass er von seinen chemischen Versuchen nicht mehr loskam. Jetzt fühlte er einen starken Druck über den Schläfen. Wieviel Tage war er eigentlich schon nicht herausgekommen? Er öffnete das Fenster. Eine milde Herbstluft kam ihm entgegen. In der Luft lag jener eigentümlich bläuliche, matte Schimmer, der die letzten schönen Tage begleitet. Gerhard Hessenbrock empfand Sehnsucht, einmal etwas anderes zu sehen als die Wände seines Laboratoriums, und etwas anderes zu atmen als die scharfe chemikaliendurchtränkte Luft seiner Arbeitsstätte. Man musste auch einmal eine Pause machen, vor allem wenn man heute abend frisch sein wollte. Und das musste er. Sein Onkel würde sicher wieder einen ganzen Zettel voll Fragen bereithalten. Er kannte die übergründliche Art des verehrten Mannes. Und Annelore war schliesslich nicht auch ganz bequem. Sie hatte ihn, Gerhard, in die Rolle des lieben Gottes hineinmanövriert, der alles und jedes wissen musste, was ihr junges Mädchengemüt bewegte. Das war für den Arbeitsüberlasteten oft nicht ganz leicht. Es würde ihm gut tun, einen Augenblick andere Gedanken zu bekommen.

Über den Alsteranlagen lag ein wunderbarer Herbsttag. Das Laub begann sich zu färben. Der wilde Wein an den vornehmen Villen zeigte die vielfarbigen Tönungen von Grün über Gelb zu blendendem Rot und Goldbraun. Hessenbrock fühlte, wie dies ruhige Wandern und Schauen Geist und Körper entspannte. Er mochte etwa zehn Minuten gegangen sein. Da liess ihn fröhliches Lachen aufblicken. Er blickte in das Gesicht seines Freundes Dr. Veldten und das seiner jungen Frau. Beinahe wäre er in seinen Gedanken an den beiden vorübergegangen. Lachend hielt ihm die junge Frau Dr. Veldten die Hand zur Begrüssung entgegen:

„Dass Sie Ihre Freunde schneiden, Gerhard, haben wir an Ihrem Ausbleiben leider schon gemerkt. Fritz wollte Sie schon aufsuchen, um zu hören, was los ist. Aber, dass Sie an uns vorbeilaufen, das lassen wir uns doch nicht gefallen.“

„Gnade für einen reuigen Sünder“, antwortete Gerhard, „muss ich erst versichern, dass ich Sie wirklich nicht gesehen habe?“

„Nein, das brauchen Sie nicht“, sagte Dr. Veldten, ihm gleichfalls die Hand schüttelnd. „Aber warum Sie sich so lange nicht haben sehen lassen, das würde ich gern hören.“

„Arbeit, Arbeit! Ich habe ein neues Verfahren für Farbstoffe ausgearbeitet. Ich erzähle nächstens ausführlich darüber. Heut darf man noch nicht recht davon sprechen.“

„Haben Sie dabei auch rote Farbtönungen, Gerhard?“, fragte Brigitte Veldten dazwischen.

„Ja, sogar ein sehr schönes Rot. Seit wann aber interessieren Sie sich für chemische Zusammenstellungen, Frau Brigitte?“

„Ich wollte Ihnen nur empfehlen, etwas von Ihrem Rot aufzulegen, Gerhard. Sie sehen gar nicht gut aus. Wenn Fritz Ihnen nichts anderes verordnet, dann können Sie es ja mal damit versuchen.“

„Brigitte hat recht, Sie sehen blass und abgearbeitet aus. Ich muss da als Arzt entschieden eingreifen. Die Behandlungsmethode meiner Frau scheint mir nicht recht geeignet. Sind Sie heut abend frei? Dann kommen Sie zu uns.“

„Nein, heut geht es leider nicht. Ich bin abends beim Onkel. Aber ich sage mich bestimmt bald an.“

„Also auf bald, wir müssen hier rechts abbiegen.“

Im Vorgarten der Villa des Geheimrats Werffen begegnete Gerhard seiner Kusine Annelore, die eine Freundin bis zur Gartenpforte begleitete. Die jungen Mädchen hatten offenbar wichtige Dinge zu erörtern. Eng aneinandergeschmiegt — die Freundin hatte ihren Arm um Annelos Schulter gelegt — gaben die beiden ein nettes Bild. Annelore war eine schlanke, graziöse Figur mit leuchtenden, hellbraunen Augen unter dem tiefdunklen, schwarzen Haar, das gut zu der hellen Haut wirkte, wie man sie sonst meist bei Blondinen findet. Neben ihr die Freundin im weissen Strickkleid mit lachenden blauen Augen und strohblondem Haar: kleiner, untersetzt und zu ihrem grossen Leidwesen etwas zur Fülle neigend. Es war Annelores beste Freundin, der Gerhard bei früheren Besuchen schon öfter begegnet war. Annelore hatte Gerhard sonst immer gern in ein lustiges Wortgeplänkel verwickelt. Aber heute hatten die beiden offenbar dazu keine Zeit. Nach wenigen Worten der Begrüssung ging Gerhard in den Gartensaal, wo Geheimrat Werffen mit einer Zigarette schon wartete:

„Ich habe da eben von meinem Freunde Mühlensiefen aus Essen einen Brief bekommen. Er möchte seinen Sohn, der sich im Ausland etwas umgesehen hat, gern ein paar Monate bei uns arbeiten lassen, damit er sich wieder in einem deutschen Betrieb einlebt. Ganz recht ist mir das nicht. Ich kann es aber einem so guten Freunde schlecht abschlagen. Mühlensiefen hat mir mal ziemlich eingehend sein Leid geklagt. Der Sohn scheint ein leichtsinniger Mensch zu sein. Das Geld des Vaters ist ihm zu Kopf gestiegen, und er soll ein recht wüstes Leben geführt haben. Der Alte ist aber so kränklich, dass er jetzt dringend die Rückkehr des Sohnes verlangte. Er hat Sorge, dass der junge Mensch eines Tages plötzlich ohne genügende Vorbereitung die Firma übernehmen muss.“

„Es muss dir doch ganz erwünscht sein, Onkel, zu dem zukünftigen Inhaber dieses grossen Hauses ebenso gute Beziehungen zu haben, wie zum Seniorchef.“

Der Geheimrat lächelte skeptisch: „Erst abwarten, wie der Junge sich stellt. Jedenfalls, ich muss zusagen.“

Annelore Werffen hatte ihre Freundin bis zum Gartentor begleitet. Sie winkte ihr mit heiterm Gesicht zu und sah der kleinen weissen Gestalt nach. In dem Augenblick, in dem sie allein war, veränderte sich Annelores eben noch so heiteres Gesicht. Es bekam einen grüblerischen, schmerzlichen Ausdruck. Sie blieb stehen, sah wie abwesend vor sich hin. Mechanisch glitt ihre Hand über eine wundervolle Rose, die, als letzte Spätsommerblüte, tief dunkelrot, an dem kräftigen Stamm prangte. Unter der Berührung aber entblätterte sie sich schon. Leise segelten die blutroten Blätter zur Erde hernieder.

„Herbst“, sagte Annelore zu sich selbst, „Herbst und wieder Einsamkeit.“

Sie seufzte auf. Dann strich sie sich energisch mit der Hand über das Gesicht. Und als sie jetzt zur Gartentreppe herauskam, wo sie ihren Vater und ihren Vetter Gerhard in lebhaftem Gespräch im Gartensaal traf, hatte das Gesicht wieder das Heitere und Sorglose.

„Wem willst du zusagen, Vater?“ fragte sie, die letzten Worte von dessen Gespräch aufnehmend.

„Ach, ich spreche nur von dem jungen Mühlensiefen, der auf Bitten seines Vaters einige Monate im Werk arbeiten soll. Er war ein paar Jahre im Ausland und soll sich jetzt in einem deutschen Betrieb etwas umsehen.“

„Kennst du ihn denn, Pa? Ist er nett?“

„Mein Geschmack ist er nicht, Kleines. Übrigens, er wird ja natürlich bei uns Besuch machen. Da kannst du selbst urteilen. Aber ich möchte nicht über den notwendigen offiziellen Verkehr hinausgehen.“

„Bist du nicht ein wenig voreingenommen, Pa? Es sind nun doch mal nicht alle solche Mustermenschen wie du und Gerhard.“

Der hatte bisher schweigend dem Zwiegespräch zugehört. Jetzt fragte er mit leichtem Auflachen:

„Mustermensch? Warum bist du denn so herzerfrischend ironisch, Annelore? Es klang doch reichlich spöttisch.“

„Bitte sehr, Gerhard! Meinst du, dass ich Pa verspotte? Ich habe doch auch von ihm gesprochen.“

„Aber nur, um mir dabei eins zu versetzen, Annelore. Womit hab ich mir deine Ungnade zugezogen?“

„Ungnade? Dazu hast du ja gar keine Gelegenheit gegeben. Seit Wochen sieht man dich ja überhaupt kaum. Schliesslich kann ich doch nicht mehr wie früher zu dir ins Laboratorium laufen, wenn ich mal was erzählen möchte! Und dann hast du womöglich noch nicht mal Zeit.“

„Mach dem Gerhard keine Vorwürfe, Kind. Der hat in den letzten Wochen wirklich sehr viel zu arbeiten gehabt. Und hat dabei etwas gefunden, das für die Zukunft des Werkes von sehr, sehr grosser Bedeutung werden kann.“

„Ja, ja, Pa“, lachte Annelore auf, „etwas, das dir noch soundso viel jährlich mehr einbringt. Ich weiss schon. Ist das denn wirklich so wichtig, dass man die Menschen dabei vergisst? Das ist doch auch nur eine Art Sport! Ob du noch mehr verdienst oder nicht, darauf kommt es doch wirklich nicht so an. Wir haben doch zu leben. Viel mehr als tausend andere. Wozu muss es denn noch mehr werden!“

„Aber Annelo! Erstens überschätzt du das und dann, die Arbeiter müssen doch auch beschäftigt werden. Wenn sie keine Arbeit haben? Wovon sollen sie dann leben?“

„Ach, Pa, das mag schon alles ganz richtig sein. Dass deine Arbeiter nicht hungern, dafür sorgst du schon. Aber ich hungere manchmal“, sie fügte das letzte leiser hinzu.

„Nanu, Kind, du hast doch einen ganz gesegneten Appetit und bekommst wohl auch genug zu essen?“

Gerhard hatte beinahe erschreckt zu Annelore aufgeblickt. Wie ernst hatten ihre Worte geklungen:

„Onkel, so meint Annelore es offenbar nicht. Du hast recht, Annelore, ich hätte mich trotz der Arbeit für dich freimachen sollen. Ich verspreche auch Besserung. Wollen wir morgen wieder einmal einen Spaziergang machen wie früher, Annelore?“

„Du vergisst es ja doch wieder, Gerhard“, sagte Annelore mit gerunzelten Brauen, „wenn man mal einen Schwatz machen will, das kann man dann nicht wie zu einer Schulstunde aufsparen. Aber, nun zu Tisch! Anna wartet schon verzweifelt.“

Sie deutete auf die geöffnete Schiebetür, in der das Hausmädchen erschienen war.

Konferenz im Werffenwerk. Die Herren der verschiedenen Abteilungen, die Geschäftsführer und Prokuristen, die leitenden Chemiker der einzelnen Gruppen kamen um 11 Uhr zusammen. In den weitläufigen Büroräumen sprang das Gerücht über bevorstehende bedeutende Ereignisse von Zimmer zu Zimmer. Aber niemand wusste etwas Genaues. Denn die einzelnen Abteilungen des Werkes waren streng voneinander abgegrenzt. Jede Abteilung hatte ihre eigene Anmeldung, eine Konferenzzimmer, eigenes Personal und eigene Telefonanschlüsse. Die Fabrikräume wurden selbst gegen Werksangehörige streng abgeschlossen. Wer in der Farbenabteilung beschäftigt war, hatte keinen Zutritt zur Filmabteilung. Diese strenge Kontrolle hatte sich als notwendig erwiesen, nachdem wiederholt Versuche zu Industrie-Spionage festgestellt waren. Als Folge davon ergab sich die eigenartige Situation, dass die Besucher der verschiedenen Abteilungen zwar das Werk an verschiedenen Eingängen betraten, dass es aber für alle nur einen Ausgang gab. Eine scheinbar etwas altmodische Kontrolle zwang alle Besucher, einen Augenblick im Vorraum der Ausgangskontrolle zu verweilen, während die Unterschrift geprüft wurde, welche den Ausgang frei gab. Dieser Augenblick im Vorraum genügte vollkommen, um etwa im Geheimen aufgenommene Photographien von Werksanlagen unschädlich zu machen. Der Druck, mit dem der Pförtner die klinkenlose Klapptür öffnete, setzte gleichzeitig einen Apparat in Tätigkeit, dessen Strahlen, unmerkbar für den Besucher, nach Röntgenart selbst Metalle durchdrangen und photographische Filme so stark belichteten, dass eine Reproduktion später unmöglich war. Scherzend hatte Geheimrat Werffen einmal seinem alten Freunde Mühlensiefen, dem er diese Einrichtung erklärte, gesagt:

„Es ist eine Art Mausefalle. Herein kann jeder, auch mit den raffiniertesten photographischen Apparaten. Aber heraus kann nur, wer diese Sperre passiert hat.“

Mühlensiefen hatte die Anlage ehrlich bewundert, dann aber erwidert:

„Wenn Sie nur Werksfremde hier passieren lassen, wie sichern Sie sich da gegen Werksangehörige?“

Da hatte Werffen nur kurz bemerkt:

„Dadurch, dass ich ihnen eine gute und sichere Existenz gebe. Sich vor Hausdieben zu schützen, ist bekanntlich unmöglich. Aber von meinen Leuten hat bisher keiner einen derartigen Versuch gemacht. Auf die kann ich mich verlassen. Meine Leute wissen aber auch, dass sie sich auf mich verlassen können.“

Heute aber waren die Grenzen der Abteilungen doch mehr verwischt, als selbst Geheimrat Werffen geglaubt hätte. Wenn zwei Beamte ganz verschiedener Gruppen sich im Werk oder auf dem Flur trafen, Menschen, die sich nur ganz flüchtig vom Sehen kannten, dann fragte sicher der eine den anderen:

„Wissen Sie, was los ist? Warum dieser Generalappell im grossen Konferenzsaal! Alle führenden Persönlichkeiten sollen versammelt sein.“

Die Antwort lautete immer:

„Offenbar eine grosse Sache. Aber wir wissen auch nichts Genaues. Es scheint, dass die Farbenabteilung etwas Neues ausgeknobelt hat. Aber damit haben wir doch nichts zu tun.“

Jedoch, die einzelnen Abteilungen hatten mit der neuen Erfindung mehr zu tun, als sie ahnten. Kassenabteilung und Zentralbüro hatten von Monat zu Monat dringlichere Vorstellungen erhoben, dass irgend etwas Neues herausgebracht werden müsse. Zwar stand das Werk gesichert und ungefährdet da. Aber die Umsätze und Eingänge waren von Monat zu Monat geringer geworden, während die Generalunkosten in der gleichen Höhe bestehen blieben. Da musste beizeiten vorgesorgt werden, damit nicht eines Tages eine unerwünschte Überraschung eintrat. Gerhard Hessenbrocks Erfindung war ein Glücksfall in dieser Situation. Darüber waren sich die Direktoren alle einig, die Geheimrat Werffen kurz nach 9 Uhr bei sich versammelt hatte. Nur der Syndikus des Unternehmens, Dr. Walther, war, wie immer, der einzige, der sich dem allgemeinen Optimismus nicht gleich anschloss. Er hatte sich über die Grundzüge der neuen Erfindung unterrichten lassen. Dann hatte er sich beurlaubt und war im Auto sofort zum Patentamt gefahren. Während sein Hilfsarbeiter die vorhandenen Patente der Konkurrenzunternehmungen im Archiv durchprüfte, sah Dr. Walther im Patentamt die Originalschriften ein. Es war ein Grundsatz bei der Industrie, den Patentanspruch möglichst umfassend zu gestalten. Damit wurden auch Dinge unter Patentschutz gestellt, die noch gar nicht vorhanden waren. Ein einziges Wort eines solchen Patentanspruchs vernichtete oft die jahrelange Arbeit eines Erfinders.

Um halb elf kam endlich die telefonische Meldung Dr. Walthers an Geheimrat Werffen, dass das Hessenbrocksche Verfahren mit keiner Patentanmeldung kollidiere. Werffen atmete unwillkürlich auf. Wenn Walther die Nachricht durchgab, war man in bezug auf das neue Patent gesichert. Die grosse Fachkenntnis und die jahrelange Spezialisierung setzten den Syndikus in die Lage, schnell alle einschlägigen Schriften durchzusehen und zu diesem erfreulichen Ergebnis zu kommen. Walther war ein ständiger Besucher des Patentamts und stand in einem freundschaftlichen Verhältnis zu einem Teil der Beamten.

Mit einer gewissen Feierlichkeit eröffnete Geheimrat Werffen um 11 Uhr die allgemeine Besprechung. Der Unbeteiligte, der sich in diesem Saal eingefunden hätte, wäre überrascht gewesen von der grossen Anzahl prägnanter Gesichter. Werffen hielt sich in seiner Ansprache knapp an die Tatsachen, die, im einzelnen auseinanderzusetzen, auch bei einer neuen Erfindung in diesem Kreise nicht notwendig war. Nicht nur mit den einfachen, sondern auch schon mit komplizierteren chemischen Formeln wussten auch die kaufmännischen und oberen Kassenbeamten Bescheid. Die Herren von der Farbenabteilung konnten ihren Stolz und ihre Genugtuung darüber nur schwer verbergen, dass es ihre Abteilung war, der der grosse Wurf gelungen. Seine eindrucksvollen Mitteilungen über die neue wichtige Erfindung schloss Geheimrat Werffen mit den Worten:

„Meine Herren, es ist nötig, eins zu erwähnen. Die neue Erfindung des Herrn Dr. Hessenbrock wird hoffentlich den Namen des Werks auch in Zukunft über Deutschlands Grenzen hinaus zu Ehren bringen. In einem Augenblick, in dem die allgemeine Wirtschaftslage sich von Woche zu Woche verschlechtert, wird sie eine Anregung bringen, die auch der Allgemeinheit nützlich sein wird. Das Werffenwerk selbst wird durch die eintretende Belebung in der Lage sein, leichter, als sonst möglich, die schwierige Wirtschaftslage zu überwinden. Ich benutze die Gelegenheit, meinem Neffen, Dr. Hessenbrock, den Dank des Werkes auszusprechen. Auch in Ihrem Namen, meine Herren, denn das Werk bin nicht ich, sondern sind alle Mitarbeiter, vom jüngsten Arbeiter bis zu mir.“

*

Für Dr. Gerhard Hessenbrock gab es an diesem Tage noch viel Arbeit. Der erste, der ihn für längere Zeit mit Beschlag belegte, war Dr. Walther:

„Bevor Sie irgend etwas anderes tun, Dr. Hessenbrock, müssen wir für die Patentanmeldung sorgen. Der Geheimrat ist in seiner Freude über die neue Erfindung etwas schneller damit in einem grösseren Kreis hervorgetreten, als mir erwünscht ist. Ich habe schon bei den Herren von der Presse und der Propagandaabteilung energisch Einspruch erheben müssen, damit keine Meldung an die Öffentlichkeit kommt. Es scheint etwas durchgesickert zu sein. Die Patentschrift muss heut noch eingereicht werden. Kommen Sie bitte gleich mit allen Unterlagen in die juristische Abteilung.“

„Herr Dr. Walther, ich habe eigentlich jetzt eine dringende Arbeit vor und würde lieber nachmittags zu Ihnen kommen.“

„Das geht auf keinen Fall oder wollen Sie die Patentierung Ihrer neuen Erfindung gefährden? Wir müssen unbedingt uns sofort an die Arbeit machen. Ein Geheimnis, das so viele Menschen wissen, ist kein Geheimnis mehr. Eine einzige Indiskretion könnte alles verderben.“

Gerhard musste dem Syndikus recht geben. Nach Stunden angestrengter gemeinsamer Arbeit brachte Dr. Walther die Patentanmeldung selbst zum Patentamt. Im Amt wurde er mit fröhlichem Gelächter begrüsst:

„Ihr Erscheinen heut hat eine Wette entschieden“, erklärte ein Beamter, „der Kollege Frenzel hat mit mir gewettet, dass Sie heut noch mit einer wichtigen Sache kommen. Es muss aber etwas sehr Grosses sein, da Sie es persönlich jetzt noch bringen.“

Bald hatte Dr. Walther die Patentschrift übergeben und die notwendigen Formalitäten erledigt. Als er wieder auf die Strasse heraustrat, riefen die Zeitungshändler die ersten Abendausgaben aus. Dr. Walther kaufte ein Blatt und überflog flüchtig die fetten Überschriften. Dann stutzte er und trat an ein hellerleuchtetes Schaufenster. Er hatte sich nicht getäuscht. Eine der Überschriften lautete:

„Wichtige Erfindung der Werffenwerke.“

„Soeben erfahren wir, dass die bekannten Werffenwerke in Kürze mit einer neuen, epochenmachenden Neuheit hervortreten werden. Herr Dr. Gerhard Hessenbrock, der zu Geheimrat Werffen in verwandtschaftlichem Verhältnis steht, hat nach langen Versuchen eine Erfindung gemacht, die geeignet ist, den Farbenmarkt zu revolutionieren. Die Lichtechtheit und Lichtbeständigkeit der neuen Färbemethode sollen alles Bisherige übertreffen. Wir hoffen schon in einer der nächsten Nummern unseren Lesern genauere Mitteilungen machen zu können.“

Dr. Walther faltete das Blatt sorgsam zusammen und legte es in seine Brieftasche.

„Gut, dass wir Juristen nicht die Vertrauensseligkeit der Erfinder besitzen. Morgen wird eine Flut von Anmeldungen beim Patentamt eingehen.“

Ehe Dr. Walther sich am nächsten Tage darüber vergewisserte, rief er bei Gerhard Hessenbrock über den Hausapparat an.

„Herr Doktor, ich würde Sie gern eine Viertelstunde ganz ungestört sprechen. Passt es Ihnen, wenn ich jetzt einmal zu Ihnen herüberkomme?“

Es passte Gerhard Hessenbrock gar nicht. Er steckte bis über den Kopf in der Arbeit. Aber wenn Dr. Walther sich in dieser Weise anmeldete, ohne — wie es sonst üblich war, dem anderen zu überlassen, eine Zeit für die Besprechung vorzuschlagen — dann musste es etwas sehr Dringendes sein. So antwortete denn Gerhart sofort:

„Sie wissen ja, lieber Herr Dr. Walther, dass es mit der Arbeit bei mir augenblicklich etwas brennt. Ich habe aber den Eindruck, dass die Angelegenheit Ihnen eilig ist. Ich stehe selbstverständlich zur Verfügung. Um was handelt es sich denn?“

„Telefonisch möchte ich darüber nicht gern sprechen, Herr Dr. Hessenbrock. Ich suche Sie sofort auf.“

Gerhard Hessenbrock hing resigniert den Hörer ein. Da war nichts zu machen, er musste seinen heutigen Arbeitsplan umwerfen. Die berühmte Viertelstunde kannte er schon. Das gab wahrscheinlich eine ziemlich ausführliche Besprechung. Gerhard erledigte schnell ein paar dringende Unterschriften, da wurde ihm auch schon Dr. Walther gemeldet. Nach ein paar Begrüssungsredensarten, die grade so lange dauerten, bis die anwesende Dame ihre Stenogrammhefte und Akten zusammengepackt und das Zimmer verlassen hatte, nahm Dr. Walther das Abendblatt, das er gestern zu sich gesteckt hatte, aus seiner Brieftasche und legte es vor Gerhard Hessenbrock hin.

„Haben Sie diese Meldung gelesen, Herr Doktor?“ fragte er.

Gerhard überflog die Nachricht. Er gab das Blatt zurück und erwidert: „Nein. Ich lese dieses Blatt auch sonst nicht, und gestern war ich abends noch beim Chef. Da bin ich zum Zeitungslesen nicht mehr gekommen.“

„Setzt Sie denn diese kleine Notiz gar nicht in Erstaunen?“

„Nein, Herr Dr. Walther. Gegen den Inhalt ist doch auch kaum etwas Sachliches zu sagen. Aber ich werde gleich Anweisung geben, dass ich nicht zu sprechen bin, wenn etwa jemand von der Zeitung wegen näherer Informationen kommt.“

„Warum, lieber Herr Hessenbrock, wollen Sie den Herrn nicht empfangen?“

„Weil ich noch nicht so weit bin, und weil auch Sie, Herr Doktor, wenn ich mich recht erinnere, gegen vorzeitige Veröffentlichungen sind.“

„Da sind wir beim Kernpunkt der Angelegenheit, Herr Dr. Hessenbrock. Von uns aus ist keine Nachricht an die Presse gegeben worden. Woher hat also das Blatt die Information?“

„Ja, das weiss ich auch nicht. Von mir, wie Sie sich denken können, nicht.“

„Darüber war ich mir klar, Herr Dr. Hessenbrock. Aber Sie scheinen den wichtigsten Punkt zu übersehen. Ich komme zu Ihnen, weil Sie der Erfinder sind. Ich möchte es auch gern vermeiden, den Herrn Geheimrat zu beunruhigen. Weder Sie, Herr Dr. Hessenbrock, noch die Werksleitung hat die Zeitung informiert. Nun bedenken Sie: die Konferenz hat um 11 Uhr begonnen und war nicht viel vor ein Uhr zu Ende. Mit der Anmeldung bin ich erst nach 3 Uhr zum Patentamt gekommen, eigentlich schon später, als zulässig, aber man hat so seine Verbindungen. Um 3 Uhr ist die Abendzeitung aber schon fertig im Druck. Das Amt, kommt also — abgesehen von anderen Gründen — als Quelle nicht in Betracht. Ich frage mich also: Wer ist im Werk von so diskret behandelten Angelegenheiten so schnell und so überraschend zutreffend unterrichtet, dass er die Möglichkeit hatte, Aussenstehende zu informieren? Oder war etwa schon vorher irgend jemand über Ihre Versuche unterrichtet, Herr Dr. Hessenbrock, und hat nur die Konferenz abgewartet, ehe er zur Veröffentlichung schritt? Denn das jemand vom Werk aus an die Zeitung telefoniert habe, ist ja bei dem generellen Verbot der Privatgespräche ausgeschlossen. Ich habe mich noch besonders davon überzeugt, dass die Telefonzentrale pflichtgemäss solche Gespräche nicht ausführt.“

„Was Sie sagen, leuchtet mir ein. Aber ich weiss doch noch nicht, weshalb Sie einer einfachen Zeitungsnotiz eine solche Bedeutung beimessen, Herr Dr. Walther.“

„Es ist nicht die Zeitungsnotiz. Die wäre mir ganz gleich. Es ist für mich die Frage, ob wir jemand im Werk haben, der nicht dicht hält, und aus welchen Gründen das geschieht. Erinnern Sie sich der vertraulichen Meldung des Zentralverbandes, worin auf Vorkommnisse bei anderen Werken hingewiesen wird, die sich nie ganz haben aufklären lassen? Denken Sie auch an Direktor Bergeholz, der auf Grund von Ereignissen bei den Febawerken vorschlug, wir sollten untereinander Geheimlisten über neu angestellte Mitarbeiter, ganz gleich welcher Art, austauschen, damit man auf diese Weise vielleicht einen Fingerzeig bekomme? Haben Sie neulich davon gehört, dass die Mühlensiefenwerke ein Rundschreiben haben zirkulieren lassen, in dem sie um Nachricht bitten, ob festzustellen ist, wer die Nachahmungen ihrer Fabrikate nach Südamerika geliefert hat? In keinem Falle war bisher eine Aufklärung möglich. Die Werffenwerke waren bisher verschont. Aber diese Zeitungsnotiz macht mich stutzig. Und deshalb möchte ich nicht abwarten, sondern schon bei dem ersten Anzeichen einzugreifen suchen.“

„Das scheint mir auch zweckmässig. Ich überlege mir die ganze Zeit“, sagte Gerhard Hessenbrock nachdenklich, „ob ich etwa selbst mit jemand über die Sache gesprochen habe. Das halte ich aber für ausgeschlossen. Und die beiden Herren, mit denen ich die Versuche zusammen durchgeführt habe, kennen Sie ja ebensogut wie ich, Herr Dr. Walther, die scheiden von vornherein aus. Der alte Berken, unser Laboratoriumsdiener, das ist doch das Hausfaktotum. Der liesse sich eher totschlagen, ehe ein Wort über seine Lippen käme. Die Kontrollergebnisse und die Statistiken über die Belichtungsversuche hat Fräulein Merkewald geschrieben, die vorhin im Zimmer war, als Sie kamen.“

„Auch die ist schon seit Jahren im Werk tätig. Ich war schon in der Personalabteilung und habe mir Fräulein Merkewalds Personalbogen angesehen, mich auch sonst umgehört. Ich halte es für ausgeschlossen, dass sie die Hand im Spiel hat. Das macht ja grade die Sache so rätselhaft für mich. Ich möchte einen Vorschlag machen. Wir werden unter irgendeinem Vorwand Fräulein Merkewald an eine andere Stelle versetzen lassen. Es muss natürlich aussehen, wie eine Beförderung.