Schiffbruch der Liebe - Liane Sanden - E-Book

Schiffbruch der Liebe E-Book

Liane Sanden

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Beschreibung

Als Assistenzarzt Malte Rasmussen eine Beziehung mit der mondänen Lucie Brandow beginnt und ihrem Liebesgarnen nach kurzer Zeit völlig verfällt, stehen ihm schlimme Zeiten bevor. Dem Luxusweibchen ist die Stellung als Frau Assistenzarzt bald zu wenig, und als sie merkt, dass Malte Rasmussen der Eid des Hippokrates und das Heilen wichtiger sind, als beruflich vorwärtszukommen, lässt sie ihn fallen wie eine heiße Kartoffel. An der Seele verwundet nimmt er eine Stelle als Assistenzarzt in einem Krankenhaus an und lernt dort die Schwesternschülerin Christine kennen, die ein wenig herb und dennoch schön und vor allem voll echter Menschlichkeit ist. Darin ähnelt sie seiner Schwester Dorothee, die ihn zu Hause langsam wieder ins Gleichgewicht bringt. Doch sein Ziel ist es, selbständig zu sein, und als er auf ein Angebot zur Übernahme einer Praxis an der Ostsee stößt, beschließt er, zusammen mit seiner Schwester nach Swanhöh zu übersiedeln. Am Abend vor der Abreise feiert er mit Christine Abschied, die sich inzwischen in ihn verliebt hat.....-

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Liane Sanden

Schiffbruch der Liebe

Saga

Schiffbruch der LiebeCopyright © 1930, 2019 Liane Sanden und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711593356

1. Ebook-Auflage, 2019 Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

1.

„Schwester Christine!“ klang eine scharfe, harte Frauenstimme von der Tür.

„O weh!“ Die kleine Lehrschwester Gertrud verschwand blitzschnell im Verbandzimmer, das neben der Station gelegen war.

Schwester Christine hatte sich hastig von dem Kinderbett erhoben, das in der letzten Reihe an der hellgrünen Wand stand.

„Frau Oberin?“

„Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, Sie haben sich jetzt nicht hier aufzuhalten, die Kinder sollen chlafen.“

„Frikchen hat so geweint, Frau Oberin, er scheint sich schwer einzugewöhnen.“

„Je mehr man ein Kind verzieht, um so schwerer gewöhnt es sich ein! Wenn wir hier einem jeden Kinde eine Extrawurst braten wollten, wo kämen wir da hin!“

Schwester Christine erhob sich mit blutrotem Gesicht, aber die kleine Kinderhand, die ihre fest umklammert hielt, gab sie nicht frei.

„Hierbleiben, hierbleiben!“ schrie es in jammernder Bitte.

Aus den Betten nebenan erhoben sich schlaftrunkene Kindergesichter, die Kleinsten fingen an, mitzuweinen.

„Was ist denn das für ein Geschrei?“ fragte die Oberin streng. „Werdet ihr wohl still sein!“ Sie ging rasch zu Schwester Christine an das Kinderbett:

„Sofort bist du vernünftig, legst dich auf die Seite und schläfst. Du hast keinen Grund, zu schreien. Also, was willst du?“

Streng sah die Oberin Hartung aus ihren Brillengläsern auf das bleiche magere Kerlchen, das da in dem weissen Anstaltsbett lag. Aber es war, als hätte der Blick der Oberin das Kind nur noch mehr erregt, es schrie gellender und klammerte sich mit aller Kraft seiner durchsichtigen Händchen an Schwester Christine.

„Er hat Angst, Frau Oberin. Es ist noch die Erinnerung an all das, was er daheim durchgemacht hat.“

„Unsinn! Er muss lernen, sich zusammenzunehmen. Das ist doch alles längst vorbei. Hier tut ihm kein Mensch etwas. Er macht mir die anderen Kinder, die vernünftig sind, noch rebellisch.“

„Was gibt es denn hier, Frau Oberin?“

Eine ruhige, energische Männerstimme klang von der Tür. Doktor Malte Rasmussen kam schnell durch den grossen Raum.

„Der kleine Fritz, Herr Doktor.“ Schwester Christine sah bittend zu dem jungen Arzt.

„Ich bin gefragt, Schwester Christine. Seien Sie nicht immer so vordringlich!“

Ärger und eine gewisse Feindseligkeit sprachen aus den tadelnden Worten der Oberin.

„Nichts gibt es. Ungezogen ist der Junge, schreit ohne Grund und lässt mir die anderen Kinder nicht zur Nachmittagsruhe kommen.“

Doktor Rasmussen sah mit einem Blick die Angst die hinter der Ungebärdigkeit des kleinen Kranken steckte.

„Auch Unart hat ihre tieferen Gründe, Frau Oberin. Wenn wir die klarlegen, ist es gewöhnlich auch mit der Unart vorbei.“

„Also Sie sind der Meinung, dass man jedem Eigensinn eines Kindes nachgeben muss, Herr Doktor? Da käme ich weit in meinem Krankenhause.“

„Nicht dem Eigensinn im allgemeinen, aber in einem besonderen Falle, und der scheint mir hier vorzuliegen.“

„Haben Sie sonst noch etwas für mich, Herr Doktor?“ fragte die Oberin knapp.

Sie wartete die Antwort des jungen Arztes nicht ab, sondern ging mit ihren kurzen, harten Schritten hinaus.

Christine Storm sah ihr angstvoll nach. Diese Auseinandersetzung, deren unschuldige Ursache sie war, würde sie wieder büssen müssen. Der kleine Kranke aber hatte sich in dem Augenblick, in dem die Oberin sich entfernte, schon beruhigt. Ein letztes Aufschluchzen endete das wütende Schreien. Er legte sich auf die Seite, Schwester Christines Hand dabei nicht loslassend.

Doktor Rasmussen setzte sich auf das Bett:

„Sag mal, mein Kerlchen“, meinte er und strich über das dünne blonde Haar, das wirr in die bläulichweisse Stirn hing, „willst du die arme Schwester Christine nicht loslassen? Sieh einmal, die hat noch anderes zu tun, als nur bei dir zu stehen. Und du wirst ja jetzt sicher ruhiger sein. Schön schlafen!“

„Nicht weggehen, nicht weggehen!“ flüsterte der kleine Fritz, und die Tränen kamen schon wieder in seine hübschen braunen Augen.

„Vollkommen überreizt“, meinte Doktor Rasmussen zu Schwester Christine. „Wissen Sie Näheres, Schwester Christine?“

„Ja, Herr Doktor.“ Aber sie zögerte, warf einen Blick auf das Kind. Sie wollte offenbar vor diesem nervösen kleinen Kerlchen hier nicht sprechen.

„Lassen Sie nur, wir reden später darüber.“

„Darf ich noch ein Weilchen bei Fritz bleiben? Er schläft mir sonst nicht ein.“

Rasmussen nickte:

„Schön, für ein paar Tage wollen wir ihn noch ein bisschen verwöhnen. Ich denke, es wird dann schon gelingen, ihn allmählich in die Ordnung hier hineinzubekommen.“

„Sicherlich, Herr Doktor. Wenn er nur ein bisschen Mut gefasst hat und glaubt, dass man ihm hier nichts tut.“

Rasmussen nickte freundlich, ging hinaus, hier und dort an einem Kinderbett stehen bleibend. Die kleinen Gesichter leuchteten, schmerzverzerrte Münder lächelten dem jungen Arzt entgegen. Der kleine Fritz lag ganz still, und seine Hände hielten immer noch die der Schwester Christine. Aber seine Augen folgten aufmerksam dem jungen Doktor Rasmussen.

„Der soll auch hierbleiben“, sagte er plötzlich, „den mag ich. Magst du ihn auch?“

Seine helle Kinderstimme trompetete durch den Raum. Rasmussen drehte sich in der Tür um und sah belustigt hinüber:

„Eine Gewissensfrage, nicht wahr, Schwester Christine?“

Schwester Christine beugte sich tiefer über das Kinderbett:

„Du sollst jetzt nicht immerfort schwatzen, Fritz. Schwester Christine bleibt nur bei dir, wenn du dich ganz brav auf die Seite legst und schläfst. Das könnte dir so passen, kleiner Frechdachs, alle Leute um dich herum zu haben!“

„Nein, bloss du und der dort“, sagte Fritz noch einmal entschieden. Dann drehte er sich auf die Seite und schloss die Augen.

Die helle Morgensonne lag in den Korridoren des Krankenhauses. Sie blitzte auf den schneeweiss gestrichenen Wänden, legte sich zärtlich auf die blühenden rosa und weissen Hyazinthen, die zwischen den Blattpflanzen auf den breiten Fensterbrettern standen. Schwester Christine hielt einen Augenblick still, beugte sich über das duftende Rosa und Weiss der kleinen Blumenglöckchen, atmete tief den süssen Duft ein. So zart er war, er drang doch durch diese Krankenhausatmosphäre mit ihrem Geruch nach Äther und Seife.

Doktor Rasmussen kam im weissen Kittel eilig von der Station. Er sah die zarte Biegung des hellen Nackens, der aus dem Schwesternkleide herausstieg.

„Morgen, Schwester Christine.“

Sie fuhr herum.

„Na nu, so schreckhaft? Ist doch nicht verboten, schnell eine Portion Frühling mitzunehmen.“

„Ich dachte, die Frau Oberin“, stammelte Christine.

„Na und wenn?“ sagte Doktor Rasmussen seelenruhig. „Selbst die Frau Oberin kann keinem Menschen verbieten, sich über die schönen Blumen hier zu freuen. Sie mögen wohl Blumen gern?“

„O ja.“ Schwester Christines Blick streichelte förmlich die zarten Hyazinthen. Wie aus Wachs gebildet waren ihre eben aufgebrochenen Glockenkelche.

„Wir hatten viel schöne Blumen daheim, als wir noch das Haus hatten. Ich habe viele selber gezogen und gepflegt.“

„Gute Vorbereitung auf Ihren Beruf, Schwester Christine. Wer Kinder pflegen will, muss eigentlich verstehen, mit Blumen umzugehen. Klingt sehr sentimental, hängt aber wirklich miteinander zusammen. Für Kinder und Blumen sind die zartesten Hände gerade gut genug.“

Christine sah den jungen Arzt an. Er war erst acht Tage auf der Station. Aber sie hatte das Gefühl, als müsste sie ihn schon seit Jahren kennen. Es war etwas von Wärme und Klarheit in ihm, was ihr vertraut war. Wie er am Krankenbett war, bestimmt und doch zart, das war die gleiche Art, in der der Vater Kranke behandelt hatte. In jedem Kranken nicht den Kranken, sondern den kranken Menschen zu sehen, das war der Lebensgrundsatz des Vaters gewesen. Ein Grundsatz, den manche Ärzte nicht zu teilen schienen und auch manche der Schwestern nicht. In ihrer kurzen Lehrzeit jetzt hatte sie das schon erfahren. Besonders die Oberin kannte nichts als Pflichterfüllung. Aber diese Pflichterfüllung war hart und kalt. Darum befand sie sich selbst auch ewig in Widerspruch zu ihr. Die Oberin schien das zu fühlen. Vom ersten Tage an war sie ihr mit einer ausgesprochenen Feindseligkeit entgegengekommen. Der gestrige Zusammenstoss, bei dem Doktor Rasmussen ihre Partei genommen, würde die Sache nicht besser gemacht haben. Aber Doktor Rasmussen wusste, wie man zu Kindern sein musste.

Er wusste wohl überhaupt sehr viel. Sie sah das an der sicheren Art, mit der er seine Anordnungen traf. Auch an der Art, wie der Chef, Professor Möller, sich ihm gegenüber stellte. Es war ungewöhnlich, dass ein so junger Arzt schon Privatassistent des Chefs wurde.

Die erste Frühlingssonne legte einen schmalen Lichtkreis um sie und den jungen Arzt.

„Na, woran denken Sie denn, Schwester Christine?“ fragte Doktor Rasmussen lächelnd. Er hatte ihre innerliche Abwesenheit wohl gespürt.

Christine erwachte, wurde sehr rot.

„Verzeihung, Herr Doktor, ich muss nun aber wirklich weiter. Ich bin ja auf 3b mit dem Aufräumen nicht fertig.“

Sie sah erschrocken auf ihre Armbanduhr:

„Mein Gott, um neun Uhr ist ja Visite!“

„Na“, lachte Doktor Rasmussen, „ich beisse ja schliesslich nicht. Lassen Sie schon mal einen Stuhl einen Zentimeter weiter links stehen, als es Anstaltsvorschrift ist.“

„Um Gottes willen, was würde dann Frau Oberin —“

„Die soll uns gern haben, Schwester Christine. Herrgott, das ist ja hier eine Angst, nicht zu sagen. Übrigens, halt, laufen Sie mir doch nicht weg. Sie wollten mir doch noch von dem kleinen Fritz erzählen. Also, was ist mit ihm los?“

„Misshandlung zu Hause, Herr Doktor, schwerster Art“, sagte Schwester Christine und sah unruhig den Korridor hinunter, ob die Oberin nicht irgendwoher auftauchen würde. „Das Fürsorgeamt hat ihn uns hier eingeliefert. Nun ist er vollkommen verstört. Wittert überall Gefahr. Darum denke ich, man müsste erst einmal die Seele in Ordnung bekommen, sonst wird es auch körperlich nichts. Und darum habe ich —“ Sie brach ab — nein, sie konnte doch als kleine Lehrschwester nichts von ihrem Konflikt mit der Oberin sagen. Taktlos wäre das gewesen und hätte ausgesehen, als wollte sie sich einen Bundesgenossen in Doktor Rasmussen suchen.

„Ich muss nun wirklich gehen, Herr Doktor. Verzeihen Sie.“

„Na, gehen Sie schon, Schwester Christine, und falls es Sie beruhigt, ich werde heute auf Station 3a aller Voraussicht nach länger zu tun haben.“

„Wieso?“ fragte Schwester Christine ganz verwundert. „Da sind doch keine neuen Fälle eingeliefert.“

„Nein, das gerade nicht. Aber ich möchte verhindern, dass eine gewisse Schwester Christine mit ihrer Station noch nicht fertig ist.“

Er nickte ihr lächelnd zu, sah ihr nach, wie sie schnell in ihrem gestreiften Schwesternkleide den Gang hinablief. Ihre schwarzen Schuhe klapperten, dann klappte die Tür zu Station 3b.

Doktor Rasmussen ging rasch, ein kleines Lächeln auf dem Gesicht, in sein Zimmer. Da waren noch ein paar Berichte fertig zu machen, bis der Chef erschien. Aber, es war merkwürdig. So konzentriert er sonst arbeitete, heute drängte sich immer die Erinnerung an das Gespräch mit Schwester Christine dazwischen. Immer wieder sah er den blonden zarten Nacken, die sehnsüchtige weiche Gebärde, mit der sie sich über die Blüten gebeugt. Zum ersten Male musste Doktor Rasmussen denken, wie ungemäss das Leben einer Krankenschwester für ein blühendes junges Mädchenwesen doch war. Dass ihm das noch niemals in den Sinn gekommen war! Da war man jahrelang durch Krankenhäuser gegangen. Jahrelang hatte man mit Schwestern zusammengearbeitet. Mit alten und jungen, mürrischen und freundlichen. Aber nie war einem der Widerspruch zwischen Jungsein und Krankenhausarbeit so ins Bewusstsein gedrungen. Zu allen Schwestern hatte er bisher sachlich gestanden. Sie gehörten zum Krankenhaus wie er selbst und die anderen Ärzte. Er hasste es, die Liebeleien anderer Kollegen mit Schwestern und Laborantinnen mitzumachen. Privates war bisher für ihn vom Beruflichen streng getrennt gewesen. Aber heute, diese junge zarte Mädchengestalt, das helle Licht der Sonne auf ihrem Gesicht, das zarte Rosa und Weiss der Blüten. Alles war ein Bild gewesen, zu dem eigentlich nur Sommer und Freude gehörte. Nicht dies hier. Er schüttelte den Kopf. Da hatte er weiss Gott eine falsche Bescheinigung für Krankenbogen 25c, Rosina Schmidt, geborene Werner, geschrieben.

Ärgerlich machte er einen dicken Strich durch die Notiz links oben. Als striche er damit auch seine Gedanken hinweg.

Als er nach einer Weile mit den Akten herauskam, war der Vormittagsbetrieb des grossen Krankenhauses schon in vollem Gange. Esswagen rollten in die Küche zurück. Tassen und Teller klapperten leise. Aufräumefrauen mit Eimern, in denen es nach Lysoform und Seife roch, schlürften an ihm vorüber. Ein paar Krankenwagen wurden zum Fahrstuhl geschoben, um in den Operationssaal hinaufbefördert zu werden. Bleiche, angstvolle Gesichter sahen ihm entgegen. Die erste Operation oben bei Professor Dönnis schien schon vorbei zu sein. Auf einem Wagen kam eine Frau heruntergefahren. Ihr Gesicht war grünlich-bleich in der Erstarrung der Narkose. Ein betäubender Duft von Äther ging von ihr aus. Die weissen Kittel der Ärzte wehten durch die Gänge. Schwestern gingen grüssend vorüber, trugen Gefässe mit Thermometern, Instrumenten, Verbandzeug.

Ein paar junge Ärzte kamen im Gespräch aus dem Seitenkorridor.

„Schade, dass Sie nicht oben waren, Rasmussen“, meinte ein blonder Untersetzter, „Dönnis hat eine Rippenresektion gemacht, fabelhaft, sag ich Ihnen.“

Während er sich Rasmussen anschloss, erzählte er lebhaft vom Verlauf des Eingriffs.

2.

Schwester Christine hatte Pech. Als sie eilig in die Station hineinkam, prallte sie schon in der Tür auf die Oberin. An der Art, wie die ihren Gruss übersah, merkte sie, die Oberin hatte den Zusammenstoss an dem Krankenbett des kleinen Fritz Dumke nicht vergessen.

„Vielleicht kommen Sie das nächste Mal erst nach der Visite, Schwester Christine“, sagte sie spitz. „Warum waren Sie so lange von der Station weg?“

„Verzeihung, Frau Oberin, Herr Doktor Rasmussen hatte mich etwas zu fragen.“

Die Oberin lächelte eigentümlich:

„Aha. Und das war so wichtig, dass Sie hier Ihre Arbeit versäumen. Sie haben mit den Ärzten nur dienstlich zu sprechen, Schwester Christine. Das könnten Sie eigentlich bereits wissen.“

Christine war das Blut ins Gesicht gestiegen. Sie wollte etwas sagen, aber die Oberin schnitt ihr das Wort ab:

„Ich wünsche keine Widerrede. Sie haben sich nach den Dienstvorschriften zu richten. Sie haben bis zur Visite Ihre Station fertig zu machen und nicht irgendwo herumzuflirten.“

„Sie müssen sich nichts daraus machen, Schwester Christine“, tröstete Schwester Elisabeth leise, nachdem die Oberin das Zimmer verlassen. „Sie ist nun einmal so. Versucht uns zu ducken, damit wir nicht übermütig werden. Man gewöhnt sich auch daran.“

Christines Gesicht war sehr bleich. Sie warf den Kopf zurück. Eine kleine steile Falte stand zwischen ihren hellen Brauen:

„Nie gewöhne ich mich daran, niemals“, sagte sie leidenschaftlich. „Sie kann streng sein, sie kann von uns Arbeit verlangen, soviel sie will. Aber sie muss gerecht sein.“

Schwester Elisabeth zuckte die Adseln und rieb heftiger an dem Nickel des Hahns über dem Waschtisch: „Du lieber Gott, Gerechtigkeit? Das gibt’s doch gar nicht.“

Christine sah die junge Schwester Elisabeth an:

„Wenn’s das nicht gäbe, möchte ich nicht leben.“

Eine ältere Schwester mit blassem, übermüdetem Gesicht, die einen Schwung frischer Bettwäsche über dem Arm trug, kam herein und hörte Christines leidenschaftliche Worte:

„Es gibt viele Dinge“, sagte sie so halb zu Chrisstine, halb zu sich, „ohne die man nicht leben möchte, und man lebt doch ohne sie. Das legt sich alles, Schwester Christine. Seien Sie erst mal zehn Jahre hier, dann wundert man sich über nichts mehr.“

Christine sah das verblühte graue Gesicht, die Müdigkeit in den schmalen Schultern, in der ganzen Haltung des Körpers.

„Zehn Jahre“, dachte sie, „hier?“ Das Herz schlug ihr plötzlich schwer und angstvoll.

Ein Tag ging wie der andere. Eine Woche wie die andere. Man wachte auf in dem nüchternen Schwesternzimmer. Drei Betten standen nebeneinander. Dazu drei Schränke, drei Kommoden und ein kleiner Tisch. Mehr brauchte man auch nicht. Denn vom Augenblick des Anziehens an, wenn die steife Schwesternhaube feindlich knitternd den Kopf umschloss, war die eigene Persönlichkeit ausgelöscht. Frühstück unten in dem grossen Schwesternsaal. Es ging alles nach der Uhr. Dann fing der Dienst den Menschen ein, nahm ihm die eigene Persönlichkeit, die eigenen Gedanken. Man war nicht mehr Christine Storm, ein Mensch für sich mit eigenem Hoffen, eigenen Träumen, eigenen Wünschen. Man war die Schwester Christine, die auf Station 3b früh um fünf Uhr die Fieberthermometer einzulegen hatte, dann die Kinder zu waschen, die Unsauberen frisch zu betten, das Frühstück hereinzufahren, zu füttern, zu ermahnen, zu beschwichtigen. Man hatte die Station aufzuräumen; alles in fliegender Eile, um ja nur fertig zu sein; und doch peinlichst genau. Man hatte in Reihe und Glied zu stehen, wenn der Chef, das Gefolge der Assistenzärzte und Praktikanten hinter sich, Visite machte. Man hatte die tausend Anordnungen im Kopf zu behalten, die oft nur so im Vorübergehen gegeben wurden, und diese Anordnungen dann auszuführen. Bett 24 bekam einen Alkoholumschlag, 26 einen Öleinlauf, 34 und 35 lagen unter der Höhensonne. Man durfte das Klingeln der Alarmglocke nicht überhören, obgleich das Kind im Bett 32 gerade einen Asthmaanfall bekam und die feindlichen Brüder in 42 und 43 sich trok ihrer Krankheit wilde Kissenschlachten lieferten, bei der Wassergläser und Arzneiflaschen klirrend ihr Leben lassen mussten. Man war nichts mehr als gehetztes Denken, zusammengeraffter Wille. Aber alles wäre nicht schlimm gewesen. Alles hätte man geschafft. Denn man war ja gewöhnt, sich zusammenzuraffen und zu arbeiten. Wäre nur das Verhältnis zu der Oberin anders gewesen. Gefürchtet von allen Schwestern, liess sie an niemand ihre Launenhaftigkeit so aus wie an Schwester Christine. Obwohl Schwester Christine sich bemühte, durch sorgfältigste Arbeit keinen Anlass zum Tadel zu geben, fand sich doch immer irgend ein Grund zu einer spitzen oder feindseligen Bemerkung der Oberin. Es ging wirklich nicht nach Gerechtigkeit bei dieser Oberin. Das hatte Christine längst eingesehen. Es ging nur nach Laune. Es war wie ein Kampf, den die Oberin gegen die Lehrschwester Christine Storm führte. Ein Kampf, der von vornherein entschieden war. Denn was konnte eine kleine Lehrschwester der Oberin entgegensetzen? Nichts als das innerliche und unerschütterliche Bewusstsein, dass sie auf dem rechten Wege war, wenn sie versuchte, jeden der Kranken als einen Menschen für sich, als ein Wesen mit eigenen Wünschen und eigenem Kummer zu betrachtert. Vermutlich war es diese innere Einstellung, die die Oberin unbewusst spürte und gegen die sie den Kampf führte. Christine konnte es sich nicht anders erklären. Sie wusste nichts von dem Zwang herrischer alternder Menschen, junge mutige Seelen so lange zu unterdrücken, bis sie unterlegen waren. Es war der ewige Kampf zwischen Alter und Jugend. Zwischen Skepsis und Glauben. Dazu kam noch die Erbitterung der Oberin darüber, dass Schwester Christine offensichtlich von dem neuen Stationsarzt bevorzugt wurde. Der alte Stationsarzt, der vor Rasmussen die Station gehabt, war der Oberin ähnlich gewesen. Pflichtgetreu bis zum letzten, hatte er doch die Kranken als eine Sache betrachtet. Als eine Sache, die man nach allen Regeln der ärztlichen Kunst in Ordnung zu bringen hatte, weil das Pflicht war, aber nicht als Menschen, für die das menschliche Interesse wach sein musste. Die Oberin liebte es nicht, wenn allzuviel Wärme und persönliches Mitempfinden auf ihrer Station sich einbürgerte. Das gab nur Schwierigkeiten und machte das sichere Gefüge der Ordnung unruhig. Man war dazu da, um Kranke gesund zu machen, Aber nicht, um die Seele einzelner zu betreuen. Das war Sache der Anstaltsgeistlichen und der Fürsorgerinnen, die in regelmässigen Abständen die Kranken aufsüchten. Sehr zum geheimen Ärger der Oberin. Sie hasste überhaupt alles, was nicht in die harte Sachlichkeit der Krankenarbeit hineinpasste. Diese Fürsorgerinnen, die für die Kranken persönliche Angelegenheiten erledigten, waren eine neumodische Einrichtung. Es war früher auch ohne sie gegangen. Man verwöhnte jetzt den einzelnen Menschen viel zu sehr. Wer hatte je etwas mit ihr hergemacht? Ihre eigene Jugend als Älteste in einem grossen Geschwisterkreise war ja auch hart und karg verlaufen. Man konnte mit einem Mindestmass an Empfindungen auskommen. Man tat seine Pflicht. Weiter war nichts nötig. Und dieses „Mehr“ der leidenschaftlichen Menschenliebe, das war es, was die Oberin unbewusst in Schwester Christine Storm empfand und bekämpfte. Sie war sich über die tiefsten Gründe ihrer Abneigung gegen Schwester Christine vielleicht gar nicht klar. Aber gerade dies Unklare verstärkte ihren Hass. Diesen Hass bekam Christine bei allen möglichen Gelegenheiten zu spüren. Er lähmte alle ihre Freudigkeit. Er dersetzte sie in einen Zustand dauernder Angst. Doch man musste aushalten, bis die Lehrzeit vorüber war. Denn don dem Urteil der Oberin hing es entscheidend mit ab, was aus einem wurde.

Oft, wenn Christine abends schlaflos vor Übermüdung nach dem gehetzten Arbeitstage in ihr Bett fiel, dachte sie: „Einmal sich aussprechen können mit der Oberin, ihr einmal sagen, wie weh es tat, wenn man für alle Mühe nur immer diese verletzende Kälte oder diese tadelnde Ironie fand.“ Es war ja ohnehin soviel Schweres gewesen in dem letzten Jahr. Der plötzliche Tod des Vaters. Er hatte eine gute Praxis gehabt dort oben an der Küste. Aber er hatte nie gelernt, dass eine Praxis ausser Arbeit noch etwas anderes bringen musste, nämlich Geld. Wenn ihn ein Patient zahlte, war es gut gewesen. Wenn er nicht zahlte, war es ihm peinlich, zu mahnen. Und von den Armen hatte er niemals etwas nehmen mögen. Das war so lange gegangen, als ein grosses Privatvermögen einen Rückhalt gegeben. Aber dieses Vermögen ging wie die meisten in den wirtschaftlichen Katastrophenzeiten verloren. Als der Vater starb, war kaum so viel da, dass die Mutter das Haus halten und mit Hilfe von Pensionären ihr Leben fristen konnte. Christine war in die Schwesternlehranstalt gegangen, um sich auszubilden. Sie war bereit, zu arbeiten und sich durchzukämpfen. Sie hatte auch Kraft. Aber gegenüber Böswilligkeit erlahmte diese Kraft. Immer schmaler und blasser wurde Schwester Christine. Das Strahlende, Leuchtende, das von ihr ausgegangen, welkte förmlich. Die warmen braunen Augen bekamen einen angst vollen Ausdruck.

Doktor Rasmussen hatte schon ein paarmal etwas sagen wollen. Es stand ja alles deutlich in diesen braunen angstvollen Augen geschrieben. Aber Schwester Christine war eigentümlich scheu geworden. Wenn er sie in den Korridoren traf, so lief sie wie gehetzt an ihm vorbei. Auf der Station traf er sie nur noch, wenn dieser Wachtmeister, wie er bei sich selbst die Oberin respektlos nannte, dabei war.

Malte Rasmussen brauchte nicht lange Zeit, um einen Betrieb ganz zu durchschauen. Er hatte es sehr bald heraus, dass hier alle Schwestern und sogar die jungen Ärzte vor der Oberin zitterten. Die Oberin war die rechte Hand des Chefs und hatte das Krankenhaus im Zuge wie kaum jemand anders. Aber Malte Rasmussen fand, dass das nicht genug wäre. Er hatte sich gar nicht gescheut, der Oberin ein paarmal sehr energisch die Meinung zu sagen, weil der „Kasernenton“, wie er ihn im geheimen nannte, ihm im Krankenhaus nicht angezeigt erschien.

„Ich glaube, dass ich etwas länger im Krankenhausbetrieb bin, Herr Doktor“, hatte die Oberin scharf erklärt, „um mehr Erfahrung zu besitzen.“

„Vermutlich sind Sie eben schon zu lange drin, Frau Oberin“, war Malte Rasmussens Entgegnung gewesen, „es gibt Leute, bei denen die Länge der Zeit nur schädigend wirkt.“

„Ob meine Methode für das Krankenhaus schädigend ist oder nicht, Herr Doktor, diese Entscheidung wollen Sie bitte Herrn Geheimrat überlassen“, hatte die Oberin darauf erklärt.

Aber auch vor dieser Beschwörung duckte sich Malte Rasmussen nicht, wie er sich nie im Leben vor etwas duckte, wenn er es für nötig hält, eine Sache durchzukämpfen.

„Falls Sie die Entscheidung des Geheimrats wünschen, Frau Oberin, steht dem nichts im Wege. Es geht mich auch nichts an, wie Sie andere Stationen leiten. Das untersteht meinen Kollegen. Für die Station, für die ich verantwortlich bin, erkläre ich Ihnen, dass ich einen humaneren Ton meinen Kranken gegenüber verlange. Falls Sie sonst etwas wünschen, bitte, der Beschwerdeweg steht Ihnen offent.“

Trotz seiner Wut musste er innerlich lachen. Die Geschichte von der zur Salzsäule erstarrten Frau Lot kam ihm unwillkürlich in den Sinn, wie er die erstarrte Gestalt, das versteinerte Gesicht der Oberin sah. Die Schwestern ringsum standen wie verschüchterte Hühner, wenn der Habicht unter sie fährt. Einen Augenblick machte sich Malte Vorwürfe, dass er diese Auseinandersetzung mit der Oberin in Gegenwart der Schwestern geführt hatte. Aber schliesslich war ja sie es gewesen, die versucht hatte, ihn auch vor den Schwestern zu ducken. Das war eine Frau, die man nicht mit Glacéhandschuhen anfassen konnte. Und Malte Rasmussen lag es viel mehr, mit den Fäusten anzupacken als mit Glacéhandschuhen. Das heisst nur, wenn es sich um gesunde Menschen handelte. Seinen Kranken gegenüber war er trotz aller ärztlichen Bestimmtheit von zartester Behutsamkeit. Aber mit dem „Wachtmeister“ hier musste der Gang einmal gewagt werden.