Die Beisetzung - Lars Saabye Christensen - E-Book

Die Beisetzung E-Book

Lars Saabye Christensen

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Beschreibung

Was haben ein Walross, eine Wahrsagerin und ein toter, nackter Unbekannter miteinander zu tun?

Kim Karlsen wacht eines Morgens in einem Hotelzimmer in Sortland auf. Er ist alleine, er ist nackt – und er kann sich auch nicht daran erinnern, wer er überhaupt ist. Sein Gebiss findet er, auch seinen Anzug und außerdem einen Taschenkalender aus dem Jahr 2001. Herausfinden muss er noch, was es mit seiner Vergangenheit auf sich hat. Er macht sich auf den Weg, begegnet einem Friseur, der in den sechziger Jahren zu leben scheint, einer Wahrsagerin, einem Walross und einer Band namens Dirty Fingers. Eine fantastische, traumhafte und surrealistische Reise, die ihm immer mehr Hinweise auf sein altes Leben gibt …

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Seitenzahl: 572

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Kim Karlsen wacht eines Morgens in einem Hotelzimmer in Sortland auf. Er ist alleine, er ist nackt, hat keine Zähne im Mund – und er kann sich auch nicht daran erinnern, wer er überhaupt ist. Sein Gebiss findet er, auch seinen Anzug und außerdem einen Taschenkalender aus dem Jahr 2001. Herausfinden muss er noch, was es mit seiner Vergangenheit auf sich hat. Er macht sich auf den Weg, begegnet einem Friseur, der in den sechziger Jahren zu leben scheint, einer Wahrsagerin, einem Walross und einer Band namens Dirty Fingers. Eine fantastische, traumhafte und surrealistische Reise, die ihm immer mehr Hinweise auf sein altes Leben gibt …

LARS SAABYE CHRISTENSEN, 1953 in Oslo geboren, ist einer der bedeutendsten norwegischen Autoren der Gegenwart. Seine Bücher sind vielfach preisgekrönt und wurden in mehr als dreißig Sprachen übersetzt. Mit seinem Roman »Der Halbbruder«, für den er den »Nordischen Literaturpreis« erhielt, feierte er in ganz Europa und den USA Triumphe. Der Autor lebt in Oslo.

Lars Saabye Christensen

Die Beisetzung

Roman

Aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt

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Die norwegische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »Bisettelsen« bei Cappelen Damm, Oslo.
Deutsche Erstveröffentlichung September 2015, btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München Copyright © der Originalausgabe 2008 by CAPPELEN DAMM AS, Oslo Umschlaggestaltung: semper smile, München, nach einem Umschlagentwurf von © Cover by Stian Hole, Norway Satz: Uhl + Massopust, Aalen LW · Herstellung: sc ISBN 978-3-641-16608-3V002www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag Besuchen Sie unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de

let’s all get up and dance to a songthat was a hit before your mother was bornthough she was born a long, long time agoyour mother should know

Lennon/McCartney

Alter Freund

Heute Nacht konnte ich wieder nicht schlafen. Ich zog mich an und ging hinaus auf den Flur. Ich hatte ja keine Ahnung, dass es dort so still sein konnte. Das Einzige, was ich hörte, war das Atmen der anderen Gäste und jemand, der weinte oder lachte, ich weiß es nicht. Sie lachten und weinten. So viele Paar Schuhe hatte ich noch nie zuvor gesehen. Sie standen vor den Zimmern und warteten darauf, geputzt zu werden. Wenn ich sie jetzt vertauschte, was würde passieren? Würden sich am nächsten Morgen alle verlaufen oder glauben, sie wären im falschen Zimmer gelandet? Aber ich tat es nicht, die Schuhe vertauschen, meine ich. Irgendwann fand ich den Fahrstuhl. Ich wohnte im 47. Stockwerk. Verstanden? Das ist fast ganz oben, aber ich bin schon höher gewesen, also kein Problem. Die Fahrstuhltüren gingen auf, ich trat ein, die Türen schoben sich hinter mir zu wie eine verdammte Wand, und ich dachte schon, dass ich jetzt vielleicht dort hingehen könnte, zum Dakota, nachdem ich doch ohnehin nicht schlafen konnte. Mitten in der Nacht würde es dort bestimmt nicht so voll sein. Aber vielleicht denken ja alle genau wie ich in dieser genau passend schwachsinnigen Stadt, wenn sie nicht schlafen können und wach daliegen, und dann ist es doch proppevoll dort. Aber weißt du was? Weißt du was, alter Freund? Auf einem Bildschirm über den glänzenden Fahrstuhltüren wurde ein alter Chaplin-Film gezeigt, Modern Times. Ich nahm den Fahrstuhl nach unten und hoch und wieder nach unten, mindestens 159-mal, und er war immer noch nicht fertig, aber dann kam irgend so eine Wache von der Rezeption und holte mich dort raus und bat mich, entweder ins Bett zu gehen oder abzuhauen, jemand hatte sich beschwert, es gibt immer jemanden, der sich beschwert, nicht wahr, ist dir das schon mal aufgefallen, obwohl es doch ein Stummfilm ist und ich still wie nur was bin. Erinnerst du dich an die alten Filme, die wir uns bei den Geburtstagsfeiern angesehen haben, vor allem bei Ola, die Filme, die rissen, geklebt werden mussten und dann rückwärts liefen und vorwärts und zurück? Erinnerst du dich daran noch, alter Freund? Doch darum ging es ja immer nur: Chaplins Kampf mit der Uhr, Chaplins Kampf mit der Zeit an sich, das Fließband, das schneller läuft als der Tod, und der Tod arbeitet im Akkord, und Chaplin, der versucht, mit dem Tod Schritt zu halten und der mit dem Schraubenschlüssel Amok läuft und ins Krankenhaus zwangseingewiesen werden muss, ich lachte, dass es durch die Stockwerke hallte, vielleicht kamen deshalb ja die Beschwerden, und als Chaplin wieder aus dem Krankenhaus entlassen wird, frisch gewaschen, seine Ecken und Kanten passend abgeschliffen und mit beiden Füßen fest auf dem Boden, da findet er eine Flagge – eine rote Flagge in Schwarz-Weiß –, die jemand verloren hat, und er will sie zurückgeben, denn Chaplin ist eine ehrliche Haut, nicht wahr, und plötzlich läuft er einer riesigen Demonstration voran, er ist ihr Anführer, er ist der erste Mann, Chaplin ist derjenige, dem alle folgen, und in diesem Moment dachte ich, während ich eher weinte als lachte, denn es fällt mir ein wenig schwer zu lachen, weißt du, weinen tut nicht so weh, da dachte ich, dass die Welt voll von solchen Missverständnissen ist, das meiste sind Missverständnisse, überleg mal, wie viel jeden einzelnen Tag missverstanden wird, überleg es dir nur mal, und trotzdem geht es weiter, und das verwundert mich fast am meisten, dass es trotz allem weitergeht, und das muss ja wohl bedeuten, dass wir, die Menschen, dass wir trotz allem nicht ganz so schlecht sind. Irgendwie kriegen wir es immer noch hin und bringen es weiter, wenn man es mal genau betrachtet, oder nicht? Es gibt übrigens eine andere Sache, über die ich ziemlich oft nachgedacht habe: Warum ist Chaplin nicht mit auf dem Cover von Sergeant Pepper, wenn sogar Dick und Doof dabei sind? Das tut weh, finde ich. Schließlich ist Chaplin doch der Chef. Zumindest daran gibt es keinen Zweifel. Aber es gibt immer jemanden, der nicht an Ort und Stelle ist, nicht wahr? Es ist nicht wahnsinnig viel Platz auf dieser Karte, wie du siehst, und da ist es nicht besonders schlau, den Platz zu verwenden, um zu schreiben, dass bald kein Platz mehr ist, sorry, alter Freund, aber du möchtest sicher wissen, was ich eigentlich hier tue. Mein Plan war, den Tatort am Dakota Building zu besuchen, wo Lennon erschossen wurde, wo die Brille fiel, und ich dachte, dass ich dann dort vielleicht gleich auch vier Blumen ablegen könnte, von uns, The Snafus, wir sind schließlich immer noch zu viert, nicht wahr, das wäre doch in Ordnung, das war irgendwie mein Auftrag, aber so weit bin ich nicht gekommen, denn als ich die Horde sah, die dort stand, habe ich aufgegeben, ich konnte ganz einfach nicht mehr, es kamen Busladungen mit Menschen, als wäre das so ein verdammter Zirkus, den sie dort besuchten, verdammt, es war noch schlimmer als bei Morrison auf dem Père Lachaise, und das will was heißen, oh ja, also bin ich umgekehrt, in unser aller Namen, kann ich wohl sagen, in unser aller Namen, alter Freund, bin ich umgekehrt, mit Anstand gewissermaßen, und bin zurückgegangen durch den Central Park, habe mich dort auf eine Bank gesetzt, die Vögel um den grünen, feisten Teich beobachtet, und plötzlich kam mir ein Gedanke, ich fragte mich nämlich, was aus den toten Vögeln wurde, es starben doch an jedem Tag Tausende Vögel allein im Central Park, aber ich habe sie nie gesehen, die toten Vögel, ich habe ziemlich lange darüber nachgedacht, weißt du, vielleicht sinken sie ja auf den Grund des grünen Sees, oder vielleicht, wer weiß das schon, gibt es irgendeine Stelle hinter der Stadt, hinter allen Städten, wo Vögel sich sammeln, um dort in aller Ruhe zu sterben. Aber weißt du, was ich glaube? Ich glaube, dass sie auf dem Ast sterben, auf dem sie sitzen, und zu einem Blatt werden, das im Herbst zu Boden fällt. Was wollte ich sagen? Es ist fast kein Platz mehr. Bringt es etwas, wenn ich kleiner schreibe, ich meine, mit kleineren Buchstaben? Je kleiner ich schreibe, umso mehr habe ich zu erzählen, alter Freund. Übrigens habe ich diese Karte gekauft, als ich in Florenz war. Sie passt gut, findest du nicht? Leonardo da Vincis spiegelverkehrte Schrift ist genauso schön wie Missverständnisse, Jammern und Umwege, findest du nicht? Dreh die Karte um, halt sie gegen das Licht und lies. La sapienza è figliola dell’esperienza. Was ich noch sagen wollte, solange noch Platz ist, solange noch Zeit ist: Wir dürfen nicht alt werden wie die Alten vor uns. Wir müssen auf eine andere Art und Weise alt werden. Wir dürfen nicht so sterben, wie es die vor uns getan haben. Und kein anderer soll das Leben für uns leben, das schaffen wir schon allein, ist das klar? Wir allein sind es, die es leben können. Wir müssen versuchen, würdig zu werden. Ist das zu viel verlangt? Verstehst du, was ich meine? Jetzt ist übrigens kein Platz mehr. Grüß alle von mir. Falls du jemanden siehst. Zum Schluss ist nur noch für das hier Platz: Die Sherpas wissen, wer zuerst gehen muss. Hinauf ist einfach. Hinunter ist schwer. Wenn du den Gipfel erreichst, hast du erst die Hälfte geschafft. Das hat Kipa Lama gesagt. Er wusste, dass der Stärkste als Letzter geht. Er ging immer als Letzter. Er, der das Seil hält. Er, der uns alle hält.

Linkshändige Grüße

Paul

THE END

In seinem fünfzigsten Jahr verlor Kim Karlsen sein Gedächtnis. Vielleicht wissen Sie nicht, wer das ist. Sie wissen vielleicht auch nicht, wer ich bin. Aber das spielt keine Rolle. Ich weiß es. Und ich weiß auch, wer Sie sind. Stelle ich ganz einfach hiermit fest. Kim Karlsen wachte also eines Morgens auf und war ein leerer Bogen, ein unbeschriebenes Blatt. Lief auf der innersten Rille. Er näherte sich dem Loch. Aus diesem Grund ist er, wie die meisten inzwischen begriffen haben werden, nicht in der Lage, den Stift selbst zu führen, und da ich derjenige bin, der ihm immer am nächsten stand und ihn nur selten aus den Augen ließ, habe ich diese Aufgabe übernommen, nämlich seine Interessen zu wahren, sein Begleiter zu sein, und ich will nach bestem Wissen und Gewissen versuchen, dies auf eine so präzise und rechtschaffene Art zu tun wie nur möglich.

Kim Karlsen wachte also eines Morgens auf, am 4. Januar 2001, und hatte sein Gedächtnis verloren. Ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass es nicht das erste Mal ist, dass so etwas passiert, weder in der Literatur noch im Film und übrigens auch nicht in dem, was Sie das wahre Leben nennen, aber es war das erste Mal, dass Kim Karlsen das Gedächtnis verlor, und das genügt für mich. Es geschah leise und ohne viel Dramatik. Er schlug lediglich die Augen auf und spürte in diesem Moment noch überhaupt keinen Unterschied. Dort, wo er lag, war es dunkel. Er hätte ebenso gut die Augen weiter geschlossen halten können. Er sah nichts, und er konnte nichts sehen. Er lauschte, hörte aber auch nichts. Er konnte nicht einmal seinen eigenen Körper hören, dieses merkwürdige Getöse, mal schön, mal hässlich, meistens beides zugleich, das dem Menschen bestätigt, wie selbstverständlich der Schlag des Herzens ist, der zwiefache Lauf des Bluts, das Absinken, der ununterbrochene Kreislauf, das hässliche Räuspern, wenn sich Schleim im Hals festsetzt, das Knistern in Haut, Haaren und Nerven, das langsame, ruhige Säuseln, als stünde im Innern ein Wald, durch den der Wind weht, die nicht gar so willkommene Bewegung der Darmgase oder das spitze, grelle Summen im Innenohr, wenn man beispielsweise zu viel laute Musik gehört hat, der Tinnitus, eine Hundeflöte, die das ganze Universum ausfüllt und die nur derjenige, der so etwas hat, hören kann – und die Bluthunde. Kim Karlsen hörte wie gesagt nichts. Er fühlte nur seinen Körper, wie ein Joch. Es hätte, zumindest vorläufig, ein Morgen wie jeder andere in Kim Karlsens Kalender sein können, aber das war er nicht. Kim blieb eine Weile liegen, ohne sich zu bewegen, in der verstummenden, stummen Dunkelheit, und versuchte, sich zu erinnern. Was ihm nicht gelang. Er versuchte, sich vorzustellen, was dieser Tag, zu dem er gerade erwacht war, mit sich bringen würde an großen und kleinen Begebenheiten, an Vergnügungen und Rückschlägen. Doch auch das missglückte ihm. Und wie hätte er überhaupt wissen sollen, ob es Tag oder Nacht oder immer noch Abend war? Er wusste es nicht. Seine Gedanken fanden nirgends Halt. Sie ließen sich nicht zu Ende denken. Sie kamen von nirgendwoher und entglitten ihm wieder, noch ehe sie fertig gedacht waren. Doch es war nicht bloß die Dunkelheit, die ihn am Sehen hinderte. Er konnte auch nicht über den Augenblick hinaussehen, in dem er sich befand. Er war im Augenblick gefangen. Er erinnerte sich nicht mehr daran, wer er war. Er erinnerte sich nicht mehr daran, wo er war. Er erinnerte sich nicht mehr daran, welcher Tag es war. Nicht einmal an den vergangenen Schlaf konnte er sich noch erinnern. Er spürte dem Nachspann nach. Womöglich glaubte er, dass es vorübergehen würde. Vielleicht glaubte er, es wäre nur ein vorübergehendes Phänomen – wenn es ihm überhaupt möglich war, so weit zu denken, denn die Vorstellung, die er vom Vorübergehen hatte, war ebenfalls nur vorübergehend und verschwand hinter reihenweise anderer vergeblicher Gedanken. Auf jeden Fall irrte er sich. Es war nicht vorübergehend. Ab hier gab es keinen Plan, keine Worte, keine Abmachung, nur mehr Chancen. Er war zu einem vorübergehenden Augenblick geworden. Und es war weder Furcht, Angst noch Panik, die Kim Karlsen verspürte: Er fühlte sich nur aus tiefstem Herzen verlegen.

Und jetzt ist es meine Aufgabe, ernsthaft zu beginnen.

Und ich fange ganz vorsichtig an.

»Hallo«, sagte Kim Karlsen.

Leise, testend sagte er das, als lernte er eine neue Sprache und wendete sich an den Rest der Welt.

»Hallo?«

Kim Karlsen lauschte seiner eigenen Stimme in der Dunkelheit, wenn es überhaupt seine war. Er erkannte sie nicht wieder. Sie war ihm überhaupt nicht ähnlich. Gleichzeitig schien sein Mund zu groß für sein Gesicht zu sein – weich, fast nicht zu schließen –, und das Gesicht um diesen Mund herum fühlte sich zu stramm an, als wäre es irgendwie eine Nummer zu klein. Er verstand kaum, was er sagte. Es klang wie Geschnatter.

»Hallo?«

Offenbar war sonst niemand in der Nähe, denn Kim Karlsen erhielt keine Antwort, weder beim ersten noch beim zweiten oder dritten Versuch. Ich kann übrigens hier schon verraten, ein für alle Mal, dass er allein war, damit diesbezüglich kein Zweifel besteht, denn das wäre das Letzte, was ich wollte: Zweifel säen. Zweifel ist das absolut Letzte, was ich säen möchte. So ein Gärtner bin ich nicht. In meinem Treibhaus soll ohnehin alles welken. Denn Zweifel, das ist nicht mein Ding. Wie schon gesagt, ich bemühe mich, rechtschaffen und präzise zu sein. Kim Karlsen war so allein, wie ein Mensch es nur sein kann. Er war dort, wo es nicht einmal mehr Einsamkeit gibt.

Kim Karlsen hob den Arm, traf die Wand und fand einen Lichtschalter. Den drückte er. Eine Deckenlampe flammte auf. Die Decke war weiß. Die Wände waren weiß. Das Licht blendete ihn ebenso stark, wie es zuvor die Dunkelheit getan hatte. Die Dunkelheit und das Licht sind ja bekanntlich nur zwei Seiten derselben Sache. Nun konnte er endlich sehen. Er lag nackt auf einem Doppelbett. Er blickte an sich selbst hinab. Das war also er. Das war also der Körper, in dem er aufgewacht war. Wie alt war dieser Körper? Denk an eine Zahl, dachte Kim Karlsen, und nähere dich der fünfzig. Er dachte – oder erriet vielmehr – sein eigenes Alter, doch diese Zahl nahe der fünfzig machte keinen Eindruck auf ihn, vielleicht war der Körper ja noch älter, auf jeden Fall nicht jünger, er wirkte abgenutzt irgendwie, kein Wrack, nein, nur erschöpft, mager, leer, die Haut an den Hüften und über der Leiste war fleckig, als hätte er genau dort einen Sonnenbrand. Ich bin wohl Nudist, schoss es Kim Karlsen durch den Kopf, und er war wie vom Donner gerührt, ehe auch dieser Gedanke sich ihm entzog und er von Neuem anfangen musste zu denken. Kalt war ihm nicht. Sein Blick schweifte umher. Ein schwarzer Anzug lag ordentlich über einem Stuhl. Auf dem Fußboden, der mit einem roten Teppich bedeckt war, stand ein Paar Schuhe, ebenfalls schwarz. Es sah fast so aus, als trieben sie in rotem Wasser. Die Gardinen, grün, schwer, waren vor dem einzigen Fenster im Raum zugezogen. Eine Schultertasche hing über einem Haken neben der Badezimmertür, die offen stand. Im Spiegel über dem Waschbecken sah er ein Stück gelben Duschvorhang. Eine weitere Tür war verschlossen, und an ihr war eine Art Plakat befestigt, wie er sehen konnte, mit Instruktionen für die Evakuierung und einer Übersicht der Notausgänge für den Fall eines Feuers. In der Ecke neben der Tür war ein Fernsehgerät hingestellt worden.

Worte, die Kim Karlsen einfielen: Schiff, Gefängnis, Krankenhaus.

In einer anderen Ecke stand ein niedriger viereckiger Schrank: die Minibar.

Dann flüsterte er mit dieser fremden Stimme: »Ich bin wohl in einem Hotel.«

Hotel.

Aber in welcher Stadt, in welchem Erdteil und aus welchem Grund?

Auf dem Nachttisch lag eine Fernbedienung. Als er danach griff, fiel sein Blick auf seine Hand, die rechte, das war gar nicht zu vermeiden, denn es war eine hässliche Hand, eine ungewöhnlich hässliche Hand, die man nicht so ohne Weiteres übersehen konnte, mit Narben übersät, kreuz und quer von einem Knöchel zum anderen, und besonders der Zeigefinger – der Zeigefinger war das Schlimmste an der ganzen Hand, er war gekrümmt und schief und zeigte in alle Richtungen, als hätte er sich in der Mitte irgendwie im Gelenk gelöst. Und wenn das Auge der Spiegel der Seele ist, wie einige von Ihnen behaupten, dann ist die Hand das Werkzeug der Seele. Die Hand segnet und schlägt. Die Hand streichelt und droht. Die Hand gibt und nimmt.

Es war zweifellos seine Hand.

Sie gehörte zu ihm.

Ich habe mich verletzt, dachte Kim Karlsen.

Und dieser Gedanke schaffte es, ihn anzutreiben, ihn zu einer Fortsetzung zu zwingen, denn er dachte außerdem: Das ist eine Narbe und keine Wunde.

Zwischen Wunde und Narbe liegt Zeit.

Die Zeit hatte also irgendwelche Wunden geheilt.

Kim Karlsen war halbwegs zufrieden mit diesem Gedankengang. Dass er gute Laune bekommen hätte, wäre zu viel gesagt gewesen, denn mit der Hand selbst war er ganz und gar nicht zufrieden.

Sie war nicht nur hässlich anzusehen. Er stellte überdies fest, dass daran etwas fehlte.

Ein grauer Streifen auf der Haut um sein schmales Handgelenk wies darauf hin. Seine Uhr war weg.

Er schaltete den Fernseher ein. Das Bild, das sich vor ihm aufbaute, war mächtig unscharf. Es hätte ebenso gut in Schwarz-Weiß sein können und nicht in Farbe. Er versuchte, den Ton lauter zu stellen, doch der Bildschirm blieb stumm und grau. Erst allmählich gelang es ihm zu erkennen, was das Bild darstellen sollte. Eine Sprungschanze. Eine gebeugte Gestalt fegte über die steile Bahn hinab und verschwand im körnigen Nebel. Ganz oben in der Ecke des Bildschirms stand etwas geschrieben. Es gelang ihm, es zu entziffern, mit anderen Worten: Er konnte noch lesen. Wiederholung, stand dort.

Im selben Moment wurde die Tür, die bislang verschlossen gewesen war – welche hätte es auch sonst sein sollen –, aufgerissen, und eine Frau, vermutlich asiatischer Herkunft, stürmte ins Zimmer. Sie hielt den Schlauch eines Staubsaugers in der einen Hand, die Maschine selbst zog sie an der anderen Hand hinter sich her und hüpfte über die Türschwelle. Dann blieb sie abrupt stehen, riss die Augen auf – fast schon auf wilde Art und Weise, wenn man die Disziplin asiatischer Mimik in Betracht zieht – und schlug die Hand auf den Mund, als wollte sie einen markerschütternden Schrei zurückhalten. Manch einer mag auch von einem irrsinnigen Lachen ausgehen. Damit machte sie kehrt – es sah aus wie ein unbeholfener Tanzschritt, eine panische Pirouette –, stolperte hinaus, immer noch mit dem Staubsauger im Schlepptau, und schloss die Tür ebenso schnell, wie sie sie gerade eben erst geöffnet hatte.

Kim Karlsen lag immer noch reglos und nackt auf dem Doppelbett und versuchte von Neuem, sich zu sammeln, das heißt, die Situation für sich zusammenzufassen. Die Worte, die ihm dazu einfielen, die Sprache seines Augenblicks, waren: Nudist, Hotel, Narbe, Wiederholung.

Kim Karlsens gesamtes knappes Lexikon am 4. Januar 2001: Nudist, Hotel, Staubsauger, Narbe, Wiederholung.

Dann dachte er: Was nun?

Ein verhältnismäßig präziser Gedanke. Er war, wie ich schon betont habe, umringt vom Augenblick, denn der Augenblick ist die einzige Geschichte des Gedächtnislosen, ja, der Gedächtnislose lebt nur mehr im Augenblick, wie es so schön heißt. Der nächste Schritt wird der erste sein und ist gleichzeitig der letzte.

Mit anderen Worten: kein Plan, keine Verabredung, keine Ordnung.

Und so stand Kim Karlsen auf an diesem Morgen, am 4. Januar 2001, langsam und bedächtig stemmte er sich aus dem Doppelbett, stellte die Füße auf den weichen roten Fußboden, wickelte die Bettdecke um sich, auf eine scheue, schüchterne Art, die ihm stand und gleichzeitig komisch wirkte, wenn man das Gesamtbild in Betracht zog, und dann ging er noch langsamer, Schritt für Schritt, zum Fenster und schob die Gardinen beiseite.

Es schneite. Der Schnee war allerdings nicht weiß. Der Schnee war grau und hing wie ein schmutziges Gitter schräg in der Luft. Dahinter standen ein paar Häuser. Die Außenwände waren blau, so viel konnte er sehen. Es schneite in einer blauen Stadt. Hinter den blauen Wänden endete der Schnee in nebligen Schatten, die weder der Nacht noch dem Tag ähnelten. Er verstand es nicht und zog die Gardinen wieder zu.

Dann ging er, immer noch langsam und in die Bettdecke gewickelt, als der verlegene Mensch, zu dem er geworden war, ins Bad. Über dem Waschbecken hing in der Dunkelheit ein Spiegel. Er machte Licht und sah ein Gesicht vor sich.

Und das ist es, was Kim Karlsen sehen konnte: eine scharfe, spitze Nase, magere, fast schon eingefallene Wangen, ein Faltenfächer um die Augen, als hätte er einst zu viel gelacht oder geweint. Sie wirkten gleichzeitig müde und hellwach, seine Augen, wenn er es hätte beurteilen sollen, aber dem war nicht so, denn wie gesagt bin ich derjenige, der diese schwere Aufgabe auf sich genommen hat. An seinem Haar war übrigens nichts auszusetzen, es war immer noch üppig, voll, verhältnismäßig lang, es hing ihm über die Ohren, der Pony verbarg fast die ganze Stirn, und abgesehen von ein paar grauen, fast weißen Strähnen entlang der Schläfen konnte die Frisur fast als Widerspruch in sich selbst angesehen werden, ein paradoxer Triumph, der dieses – man möge mir den Ausdruck entschuldigen – hippokratische Gesicht krönte.

Aber, wie gesagt, da war etwas mit dem Mund. Der Unterkiefer, dieser hufeisenförmige Knochen, unersetzlich, um sprechen und kauen zu können, unabdingbar für Alphabet und Aufnahme von Nahrung, war irgendwo lose. Er musste ihn die ganze Zeit anheben. Und er entdeckte noch etwas anderes. Auf dem schmalen Regal unter dem Spiegel lag ein grinsendes Gebiss. Ja, tatsächlich, war das nicht ein Gebiss, das dort lag und ihn angrinste? Gehörte das ihm, dieses Gebiss, diese Prothese des Lachens und des Weinens, Kastagnetten der Kiefer? Ich bin kein Spaßvogel, mitnichten, das braucht niemand zu glauben, dass ich ein Spaßvogel wäre, ich bin sachlich und streng, ich möchte so rechtschaffen und präzise wie nur möglich sein, aber es muss mir trotzdem erlaubt sein, mir gewisse Freiheiten zu nehmen. Um das alles überhaupt ertragen zu können. Kastagnetten der Kiefer. Auf jeden Fall fuhr er sich mit der Zunge über den Gaumen, hin und her, blickte erneut auf und schob die Lippen zur Seite. Rosarote, zahnlose Gaumen kamen zum Vorschein, und das war vielleicht ein Anblick, dieses weiche Maul, diese Schnute eines Säuglings, inmitten der harten, mageren Falten! Er zögerte. Dann zirkelte er sich das Gebiss mit einigem Wenn und Aber in den Mund, und es passte. Er biss die künstlichen Zähne zusammen, und der Kiefer mit seinen vierzehn Paar Muskeln rutschte an Ort und Stelle.

So gut er konnte, lächelte Kim Karlsen in den Spiegel.

Er war immer noch genauso klug, wenn nicht sogar weniger.

Dann ging er zurück zu dem Stuhl neben dem Bett, legte die Bettdecke ab und begann, sich anzuziehen, ganz vorsichtig, als stände er in der Umkleidekabine eines exklusiven Geschäfts und hätte Angst, die Kleidungsstücke in irgendeiner Weise kaputt oder schmutzig zu machen. Der dunkle Anzug stand ihm. Die Schuhe hatten ebenfalls genau die richtige Größe. Es waren zweifellos seine Kleider. Es war zweifellos sein Gebiss. Es war – trotz allem – zweifellos sein Körper. Das Einzige, woran er seine Zweifel haben konnte, und das war nur bedauerlich, war, ob dies hier sein Leben war. Doch so weit reichte der Zweifel nicht. Zweifel erfordert Zeit, und er war schließlich bloß ein Augenblick, und er war nicht einen Augenblick lang im Zweifel. Außerdem ist Zweifel wie gesagt das Letzte, was ich mir wünsche. Wer Zweifel sät, wird Willkür und Widerstand ernten. Er blieb eine Weile auf dem roten Teppich stehen und horchte in sich hinein, ohne zu wissen, wonach er horchte. Er spürte nur, dass die Jackentaschen, wenn er sich darauf konzentrierte, schwer erschienen. Da lag etwas drin. Inzwischen war derselbe Springer wieder auf dem Weg die Sprungschanze hinunter und schwebte lautlos im körnigen Nebel auf einen unsichtbaren Punkt jenseits des Bildschirms zu. Ganz oben stand es immer noch geschrieben, mit diesen schiefen, weißen Buchstaben, dieses Wort, dasselbe wie zuvor: Wiederholung.

Er schob die Hand in die Tasche und fand zuerst einen Schlüsselbund, einen ganz normalen Ring mit zwei Schlüsseln daran, einem großen und einem kleinen. In der anderen Tasche lag eine Armbanduhr, eine altmodische, wasserdichte Uhr der Marke Certina mit abgenutztem braunem Lederband, mit Zeigern und Datum. Sie war stehen geblieben. Auf zwanzig vor zwölf. Aber war sie des Nachts oder am Tag stehen geblieben? Unmöglich zu sagen, jedenfalls für alle außer mir. Und stimmt es etwa nicht, dass eine Uhr, die stillsteht, zweimal am Tag richtig geht? Mit einem Datum ist es schlimmer. 4. Januar, das stimmt nur einmal im Jahr. Die Uhr aufzuziehen brachte überhaupt nichts. Die Zeiger rührten sich nicht. Trotzdem band er sie sich ums Handgelenk, die Uhr stand ihm auch, und dann untersuchte er die Innentaschen. In der rechten fand er eine flache Brieftasche, die das enthielt, was Brieftaschen nur mehr selten enthalten, nämlich Geld, Scheine, Münzen, eine eher bescheidene Summe, ein Wochenlohn, er zählte und kam nach vielem Hin und Her auf fünfunddreißig Kronen. Hinter der Brieftasche lag ein Kamm, krumm, verbogen. Er ließ ihn stecken. In der linken Innentasche fand er einen Taschenkalender. Er setzte sich aufs Bett. Es handelte sich um einen Taschenkalender für das Jahr 2001. Er blätterte ein bisschen hin und her, doch soweit er sehen konnte, waren die Seiten leer. Das ganze Jahr war leer, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, bis 2002, wo dieses dünne Büchlein endete, mit einem ebenso leeren und unbenutzten Epilog, dem Kalender des nächsten Jahres, mit anderen Worten war es genau, wie ich gesagt habe, und darum sage ich es noch einmal: Ab hier gab es keinen Plan mehr, keine Abmachung, keine Ordnung. Er blätterte zurück, und zwischen der Zukunft und dem ersten Tag des Jahres 2001 stand etwas, in der Spalte für Persönliche Daten, wie um sich selbst daran zu erinnern, wer man ist, oder für den Fall, dass man den Kalender verlöre, und es war mit leserlicher Handschrift geschrieben. Name: Kim Karlsen. Adresse: Universum. Erde. Europa. Skandinavien. Norwegen. Oslo. Skillebekk. Svoldergate 7.

Und ganz zum Schluss eine Telefonnummer.

»Kim Karlsen«, sagte Kim Karlsen.

Doch da klingelte nichts, wie man so sagt.

Kim Karlsen?

Wer um alles in der Welt konnte sich so einen Namen ausdenken, mit Stabreim und allem?

Seine Eltern natürlich, er hatte sich das jedenfalls nicht selbst ausgedacht und den Kopf freiwillig ins Taufbecken gesteckt, aber sowie dieses schwere Wort – Eltern – ihm in den Sinn kam, verschwand es auch schon wieder, der Schlag traf nicht, oder, genauer: Das Wort war leer, ein Schatten, es waren nur Buchstaben in einer gewissen Reihenfolge, die nicht das enthielten, was sie bedeuten sollten, nämlich Mutter und Vater.

An eine Mutter oder einen Vater konnte er sich nicht erinnern.

Er konnte sich nicht daran erinnern, ob sie lebten oder tot waren.

Seine Verlegenheit wuchs.

Seine Personenkennziffer stand dort ebenfalls in seinem Kalender, elf Ziffern, und Kim Karlsen las, dass er im September geboren war, 1951, gerade noch im Zeichen der Jungfrau.

Er überschlug die Zahlen und kam auf fünfzig.

Wenn heute der 4. Januar 2001 war, dann befand er, Kim Karlsen, sich folglich in seinem fünfzigsten Lebensjahr, wie er selbst schon geschätzt hatte beim Anblick seines malträtierten Körpers. Aber im selben Moment, als er sein Alter errechnet hatte, war es auch schon wieder weg. Er war und blieb nur einen Augenblick alt.

Aber da war doch noch etwas, was er übersehen hatte, in dem Taschenkalender. Unter dem Datum 3. Januar, also am Vortag, hatte jemand etwas aufgeschrieben, und das musste aller Wahrscheinlichkeit nach er selbst gewesen sein.

Auftrag III, zufriedenstellend.

Kim Karlsen wurde daraus auch nicht schlauer, er wurde immer dümmer, ja, je mehr er erfuhr, umso sinnloser erschien ihm alles. Je mehr Mühe er sich gab, umso leerer wurde er. Welcher Auftrag war ausgeführt worden, und das obendrein auf eine zufriedenstellende Art und Weise? Und gab es noch weitere Aufträge? War dies nur der Anfang, oder war es das Ende?

Aber für jemanden, der das Gedächtnis verloren hat, verschmelzen Anfang und Ende zu einem.

Kim Karlsen klappte den Taschenkalender zu.

In der Brusttasche lag noch etwas anderes, eine Lochkarte in der Größe einer normalen Kreditkarte, mit der konnte man das Konto eines Zimmers leeren und Träume in sämtlichen Währungen wahr machen, Albträume, hellseherische, Lügengeschichten, Offenbarungen und Tiefschlaf, der das Kupfer ist, das sich nicht austauschen lässt, das musste mit anderen Worten der flache Schlüssel für das Hotelzimmer sein, und der Hotelname war aufgedruckt: Sortland Hotel, Zimmer 313.

Kim Karlsen, zurzeit im Sortland Hotel, Zimmer 313.

Wie lange war er schon hier?

Zumindest seit gestern.

Kim Karlsen schlug erneut seinen Kalender auf. Unter der Spalte Wichtige Telefonnummern, wo Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst bereits aufgedruckt waren, man war schließlich stets in Gefahr, standen auch noch drei weitere Nummern, handgeschrieben, augenscheinlich zufällig angeordnete Ziffern, eine nach der anderen, und exakt gleich viele in jeder Reihe.

Doch auch sie sagten ihm nichts.

Was sollten Zahlen ihm auch sagen?

Auf dem Nachttisch stand ein Telefon. Sollte er eine dieser Nummern anrufen?

Er blieb auf dem Bett sitzen, während er darüber nachdachte.

Die Gedanken fanden, wie schon gesagt, keinen Halt.

Sie rutschten einfach weg.

Der Untergrund war schlicht zu glatt.

Stattdessen dachte Kim Karlsen an die Verlegenheit, das einzig Konstante in ihm, seit er aufgewacht war, und diese Verlegenheit ging allmählich Verbindung ein mit einem anderen Empfinden, einem anderen Gefühl, nämlich Freiheit. Er stand außerhalb der Zeit. Er stand außerhalb der Sitten und Gebräuche. Er war der große Feierabend. Das machte ihn nicht froher. Er wusste nicht, wozu ihm diese Freiheit dienen sollte. Die Freiheit war so grenzenlos, dass sie ihm unmöglich vorkam. Er wusste nur noch, dass er wieder nach Hause wollte.

Kim Karlsen rief sich selbst an, doch in der Svoldergate, Oslo, nahm niemand den Hörer ab. Es dauerte und dauerte. Doch dann, nach zwölf Freizeichen, geschah etwas – ein Anrufbeantworter sprang an, und der Ton dieser Stimme, die dort zu ihm sprach, war ihm ebenso fremd wie alles andere an diesem Morgen, wie das Zimmer, in dem er aufgewacht war, und der Körper, in dem er aufgewacht war, wie das Gesicht im Spiegel und der Mund in dem Gesicht und das Gebiss in jenem Mund, und die Stimme sprach schnell, ungeduldig, fast schon belehrend, auf eine lächerliche Art und Weise, zum Glück aber zumindest in einer Sprache, die er verstand, und das war also er, Kim Karlsen. Normalerweise klang er tatsächlich so wie ein leicht melancholischer, atemloser, möglicherweise betrunkener Wichtigtuer, oder klangen die meisten Männer mittleren Alters so bei ihren einsamen Antworten? Auf jeden Fall war es Folgendes, was Kim Karlsen zu hören bekam, als er bei sich selbst anrief: Sie haben den Anschluss von Kim Karlsen gewählt. Wie wohl schon gedacht, bin ich nicht zu Hause. Ich bin wieder unterwegs in Sachen Abenteuer. Oder ich will jetzt einfach nicht mit Ihnen reden. Wenn Sie dennoch eine Nachricht hinterlassen möchten, dann können Sie das nach dem Pfeifton tun. Mal sehen, ob ich zurückrufe.

Kim Karlsen legte vor dem Pfeifton auf.

Da saß er also, mit feuchten Händen.

Sollte er eine Nachricht für sich selbst hinterlassen, auf seinem eigenen Anrufbeantworter? War das üblich so? Nein, das war ganz und gar nicht üblich. Kim Karlsen war schließlich der Einzige, der absolut sicher wusste, dass er nicht zu Hause war und somit auch nicht ans Telefon gehen konnte. Denn er war ja in Sachen Abenteuer unterwegs. Er war in Sachen Abenteuer unterwegs und wollte nach Hause. Andererseits – vielleicht gab es ja andere, die diese Nachricht entgegennehmen konnten, vielleicht war er sogar verheiratet, vielleicht hatte er Kinder, und dieser Gedanke war so überwältigend, dass er ihm fast den Atem raubte, bevor er noch im selben Moment von einem viel weniger überwältigenden Gedanken abgelöst wurde, eher beklemmend als überwältigend, nämlich dass er immer noch bei seinen Eltern wohnen könnte, bei Menschen, die seine Mutter und sein Vater sein mussten und die ihm seinerzeit diesen Namen gegeben hatten, Kim Karlsen. Aber wäre es dann nicht normal gewesen, dass alle auf dem Anrufbeantworter genannt würden, ob nun die Eltern oder Frau und Kinder, und nicht bloß er allein?

Kim Karlsen war verlegen, frei und verwirrt.

Wieder in Sachen Abenteuer unterwegs?

War das hier ein Abenteuer? War er früher schon in Sachen Abenteuer unterwegs gewesen?

Sein Blick wanderte zu der Tasche, die immer noch über dem Haken hing. Er ging auf ihn zu, auf den Haken, an dem die Tasche hing. Sie sah aus wie eine Anglertasche, mit Fächern für Angelhaken, Blinker, Angelschnur, Sucher, Schwimmer und was man eben alles noch so brauchte für diese Art der Jagd, eine, wie man sie früher benutzt hatte, in einer Zeit, die genau genommen seine Jugend gewesen war, und wie sie außerdem in gewissen Kreisen modisch geworden war, ein Signal an einem Schulterriemen, das darauf verwies, wo man in den meisten Bereichen stand, ohne dass er damit diese Tasche verfluchen wollte, weder hinsichtlich Fisch, Politik noch Jugend, er stellte lediglich fest, dass sie schwer war.

Er öffnete sie und holte etwas aus dem größten Fach heraus. Es war eine Urkunde oder eine Plakette, hinter Glas und gerahmt. In den Ecken steckten vier lose Schrauben, und Putz rieselte davon herab. Aller Wahrscheinlichkeit nach musste irgendjemand dieses Ding von einer Wand gerissen oder genommen haben. Aber was machte diese Urkunde, diese Plakette, in seiner Tasche, wenn es denn nun seine Tasche war? Er versuchte zu lesen, was auf dem kunstvoll gestalteten Bogen geschrieben stand: Outstanding Achievement Award presented to Sortland Kino, in regarding of the fact that the total attendance for 20th Century Fox’s The Sound of Music has set a new record for roadshow attendance in Kino, with 2331 admits. October 3, 1967. Er las es noch einmal, verstand beim zweiten Mal aber genauso wenig. Das hier war eine andere Sprache, eine andere Zunge, nicht dieselbe wie diejenige, die aus seinem Mund kam oder aus dem Anrufbeantworter, und sie ergab keinen Sinn. Das Einzige, was er verstand, abgesehen davon, dass diese Urkunde eine Art Ehrenauszeichnung höchsten Ranges sein musste, waren Zeit und Ort, Sortland Kino, 3. Oktober 1967, sowie die Zahl 2331. All das machte ihn für einen Moment unruhig, sehr unruhig. War das Diebesgut? War es ein Geschenk? Wie würde er das rausbekommen? Er wusste es nicht. Deshalb legte er die Urkunde schnell zurück in die Tasche, drehte sich ebenso schnell um, als wäre er auf frischer Tat ertappt worden, was er natürlich nicht war. Er war allein, so allein, wie nur Sie sein können. Er setzte sich aufs Bett, nahm den Telefonhörer zur Hand und rief noch einmal in der Svoldergate an. Im Sortland Hotel hörte Kim Karlsen die gleiche Nachricht wie zuvor, aber klang die Stimme dieses Mal nicht anders, weniger berauscht und munter, eher aufgekratzt, erwartungsvoll, und das ist durchaus etwas anderes, es war die Stimme eines Schelms. Ich bin wieder unterwegs in Sachen Abenteuer. Kim Karlsen wartete auf den Pfeifton. Und nachdem er eine Weile gewartet hatte, auf diesen Pfeifton, da war auf einmal die Stimme wieder da, als wäre Kim Karlsen im letzten Augenblick noch etwas eingefallen, was er auf den Anrufbeantworter hatte sprechen wollen. Und jetzt war es kein Schelm mehr, den er da in der Leitung zur Svoldergate hatte, sondern ein verzagter, ernster Mann: Wenn du es bist, Eleanor, dann ruf ich garantiert zurück, versprochen. Dann kam der Pfeifton, und Kim Karlsen war mit einem Mal stumm, verzagt und ziellos auf seinem Bett im Sortland Hotel in Zimmer 313, wie die meisten, wenn sie eine Nachricht hinterlassen sollen, weil sich das immer so anfühlt, als spräche man mit einem mechanischen Gespenst, und deine Stimme wird im absoluten Gedächtnis dieses Gespensts gespeichert, vielleicht zu Spott und Hohn, und wenn du erst einmal angefangen hast zu reden, ist es auch schon zu spät. Und damit nicht genug – als er endlich den Mut aufbrachte und etwas sagen wollte, vielleicht spannte er sich einfach viel zu sehr an, da löste sich das Gebiss und hing ihm plötzlich schief im Mund wie eine alte Skibindung, und er musste sie hin- und herschieben und -ruckeln, um sein Mundwerk wieder in Betrieb zu kriegen, und dann sagte er wie ein zurückhaltender, ernster Mann zum anderen: Ich bin’s nur. Ich bin in Sachen Abenteuer unterwegs. Komme bald nach Hause.

Kim Karlsen legte auf, ballte die Fäuste und ließ den Kopf hängen.

Wenn das keine schlimm anzusehende Hand war, die er da vor sich hatte, die rechte, mit Narben in einem bizarren Muster zwischen den Knöcheln, oh doch, die war schlimm, ganz zu schweigen von dem Zeigefinger, der sich nicht wie die anderen Finger beugen ließ, sondern zeigte, wohin er wollte – nach hinten, nach vorn, hierhin und dorthin, nach oben und unten –, und die Faust höchst unvollkommen erscheinen ließ, ja, beinahe lächerlich. Er hatte sie schon einmal gesehen, diese verunstaltete Hand, die den äußersten Teil des Armes bildete, konnte sich aber nicht mehr daran erinnern, wann, und noch weniger, wie sie so geworden war, und wie die Romantiker das Auge als den Spiegel der Seele bezeichnen, so ist die Hand, wie gesagt, und das kann gar nicht oft genug gesagt werden, das Werkzeug der Seele oder wie auch immer dieses Wesen nun bezeichnet werden soll, das ist mir gleich, denn die Hand gibt und nimmt, die Hand streichelt und tötet, segnet und droht, deshalb ist es gar nicht so verblüffend, dass nicht nur Hellseherinnen und unverbesserliche Dichter Wissen über den Charakter eines Menschen und seinen Lebensweg in den Linien und Bogen der Handfläche suchen, denn sind es etwa nicht die Taten, die sie zu dem machen, was sie sind? Narben allerdings, tja, sind da etwas ganz anderes, Narben sind keine Zeichen, Narben sind nur Vergangenheit, Geschichte.

Wenn du es bist, Eleanor, dann ruf ich garantiert zurück.

In dem Taschenkalender standen noch weitere Telefonnummern. Die Welt ist voller Ziffern. Die Welt ist voller Codes. Alles, was nicht geschrieben steht, läuft Gefahr, verloren zu gehen. Ich, ja, nicht zuletzt ich, und das sage ich als der Spaßvogel, der ich gar nicht bin, ich weiß das besser als die meisten.

Er war es nur. Er käme bald nach Hause.

Kim Karlsen sah zu dem kleinen Kühlschrank in der Ecke hinüber, zur Minibar, zählte die Flaschen auf den Regalen, Bier, Wein, Selters.

Was sollte er damit?

Er hatte keinen Durst.

Trotzdem versuchte er, eine Flasche zu öffnen.

Anschließend stellte Kim Karlsen sich ans Fenster und schob erneut die Gardinen zur Seite. Es hatte nicht aufgeklart. Er sah die blauen Wände tief im Schatten hinter schiefen Gittern aus Schnee an einem unmöglichen Tag, einem umgekehrten Datum, das stillstand in der Zeitrechnung des Hotels, während derselbe Skispringer wieder im Nebel unterwegs war, und die Aussicht erinnerte gar nicht wenig an das Bild auf dem stummen Fernseher, mit anderen Worten, eine Wiederholung folgte der anderen. Stattdessen ging er zur Tür. Er studierte den Lageplan, der dort hing, eine geometrische Skizze der überraschend komplizierten Anlage des Gebäudes mit roten ebenso wie mit schwarzen Linien, die den Weg zu den verschiedenen Notausgängen wiesen für den Fall, dass es brannte oder eine andere Katastrophe eintrat.

Sortland Hotel, Zimmer 313, 4. Januar 2001.

Kim Karlsen öffnete die Tür, machte ganz vorsichtig einen Schritt vorwärts und blieb dann auf dem Flur stehen. Der Korridor wirkte leer und verwaist. Nirgends jemand zu sehen oder zu hören. Nicht einmal ein Paar Schuhe, die an Mitmenschen hätten erinnern können, standen vor den anderen Zimmertüren. Ein sonderbares Gefühl machte sich in ihm breit. War er der einzige Gast, ein gestrandeter Gast, war er das, ein gestrandeter Gast? Dann hörte er doch etwas, es schien, als pustete ihm jemand in den Nacken, doch das war lediglich die Tür, die sich mit einem schnellen Klappen von allein geschlossen hatte, und er konnte nichts mehr dagegen tun. Dann war alles wieder vollkommen still. Er tastete seine Taschen ab, doch da war nichts außer ein Schlüsselbund mit zwei Schlüsseln, die Brieftasche und sein Taschenkalender. Die Lochkarte lag also auf der anderen Seite dieser eigensinnigen Tür in Zimmer 313. Er rüttelte an der Türklinke. Es nützte nichts. Er war ausgesperrt. Kim Karlsen stand einsam und verlassen zwischen den verschlossenen Zimmern des Sortland Hotels, am 4. Januar 2001, und hatte im selben Augenblick vergessen, in welchem Zimmer er gewohnt hatte.

Ein Pfeil an der Wand zeigte eine bestimmte Richtung an, wie Pfeile es gemeinhin tun. Kim Karlsen folgte ihm und kam zu einem Fahrstuhl, drückte auf den einzigen Knopf, und sofort öffneten sich die Türen. Er trat in den engen, verspiegelten Verschlag ein, und die Spiegel warfen ihn in einem rücksichtslosen mechanischen Tanz im Kreis herum, er führte und wurde gleichzeitig geführt, er stand mit dem Rücken zu sich und trotzdem Auge in Auge sich selbst gegenüber, denn dieser Fahrstuhl war kein Kinosaal, in dem man alte Chaplin-Filme sah, der Fahrstuhl war ein regelrechter Koffer aus Spiegeln, also drückte Kim Karlsen den untersten Knopf, nein, er drückte auf alle Knöpfe, sicherheitshalber, die Türen glitten schnell und lautlos wieder zu, und dann bewegte sich der Fahrstuhl ruckartig durchs Hotel und auf die Rezeption zu, wo sich ihm alsbald ein seltsamer Anblick bieten sollte.

Denn als der Fahrstuhl schließlich endgültig anhielt und die Türen sich in der Mitte öffneten wie Wasser, ja, wie Wasser aus Metall flossen sie auseinander, konnte Kim Karlsen eine Reihe von Menschen an einem Tresen stehen sehen, eine ganze Versammlung war das, in der Mehrzahl Frauen in seinem Alter, vielleicht auch jünger, mindestens zwanzig an der Zahl, und sie trugen nicht gerade Uniformen, ähnelten aber dennoch sehr einem Trupp, einer Versammlung, es mussten Mitglieder von irgendetwas sein, und ihr Gepäck stapelte sich am Ausgang, sie führten sich in seinen Augen sonderbar auf, wie er anfangs fand, sie gestikulierten jäh und kantig, mit gespreizten Fingern und mitunter geballten Fäusten, während ihre Gesichter sich in allen möglichen Arten von Grimassen zu verzerren schienen. Zuerst glaubte er, sie weinten. Irgendwas Schreckliches musste passiert sein. Doch er sah keine Tränen. Waren sie etwa wütend? Waren sie wütend auf ihn? Hatte er etwas Schlimmes getan? Hatte er sie auf irgendeine Weise verärgert oder sie beleidigt, da sie, ausgerechnet hier und in versammelter Mannschaft, so schrecklich wütend wirkten? Oder war es der junge Mann hinter dem Tresen, der Rezeptionist, der mit den Schlüsseln, gegen den sich ihre Wut richtete? Oder war dieses Verhalten ganz normal? Verhielt man sich hier so, zu dieser Zeit? Nichts davon konnte Kim Karlsen wissen, und deshalb hätte er am liebsten den Fahrstuhl auf direktem Weg wieder zurückgenommen oder vielmehr nach oben, woher er ja gekommen war, doch nun war es zu spät. Kim Karlsen blieb stehen, an der Schwelle zum Fahrstuhl, mit offenem Mund, mit weit aufgerissenen Augen, gebannt und erschrocken, doch es waren nicht die übertriebenen Gesten, die ihm besonders auffielen, es war vielmehr der Mangel an Geräuschen, die Tatsache, dass nicht ein einziges Wort von der Versammlung zu hören war, wie sehr sie sich auch dahingehend anzustrengen schienen, und dieses offensichtliche Missverhältnis zwischen Gebärden und Stille, zwischen Grimassen und Schweigen, brachte ihn zum Lachen, und lassen Sie mich nur schnell einfügen, dass dieses nicht sein alter Trick war, der Stummfilmtrick überhaupt, nämlich ganz einfach den Ton abzuschalten, wenn die Welt zu laut, aufdringlich oder unerträglich langweilig wird, was er schon in vielen Zusammenhängen erlebt hatte, das heißt, eher überlebt, in erster Linie in der Schule, beispielsweise in den Norwegischstunden, wenn Lehrer Mütze, an den sich manch einer vielleicht noch erinnern wird, nicht jedoch Kim Karlsen, die Aufsätze zurückgab, Erzähl von deinen Plänen für die Zukunft,und nicht zuletzt während der nicht enden wollenden Sonntagsessen mit den Eltern, besonders im Herbst, wenn jene Zukunft ein für alle Mal sonntäglich abgesteckt werden sollte, ob nun Herbst oder kein Herbst, aber ganz besonders im Herbst, im Schatten gelber Bäume und straffen wilden Weins, der an den Fenstern raschelte und kratzte, ganz zu schweigen von der Konfirmation in der Frogner-Kirche, da war es nötig, im Stummfilmtrick Zuflucht zu suchen, weil der Pfarrer einfach kein Ende fand und nicht mehr viel fehlte, dann wären sie alle in der Hölle gelandet, und später zusammen mit Vorgesetzten, Psychologen, Wachtmeistern, Patienten, Missionaren, Buchhaltern, Hausierern, Ideologen und nicht zuletzt bei einzelnen Frauen, übrigens ohne sie alle auf eine Stufe stellen zu wollen, kurz: bei denjenigen, die eine Tendenz hatten, andere herumzukommandieren. Dieser Stummfilmtrick, für den er in weiten Kreisen bekannt war, beherrschte in keiner Weise Kim Karlsens Gedanken, als er verblüfft dastand und jenem beiwohnte, was seiner Meinung nach ein Zwischenfall an der Rezeption des Sortland Hotels sein musste. Ich möchte ihn uns nur gern ins Gedächtnis rufen, diesen zwiespältigen Zug in seinem Charakter, oder sollen wir es lieber anders formulieren? Die Glanznummer in seinem sozialen Repertoire. Doch nun beging Kim Karlsen einen großen Fehler, vielleicht den ersten, seit er sein Gedächtnis verloren hatte. Er lachte nämlich laut und von ganzem Herzen.

Und es war dieses Lachen oder aber sein glotzendes Gesicht, da war etwas, was sich zeigen sollte, also sein glotzendes, hippokratisches Gesicht, und kann man sich eine schlimmere Mischung vorstellen, einen offen stehenden Mund in einer faltigen, eingefallenen Maske, der die Aufmerksamkeit auf sich zieht und alle dazu bringt, in seine Richtung zu sehen. Sämtliche Gliedmaßen kamen zur Ruhe, die eifrigen, womöglich aufgebrachten Münder fielen zu schmalen Strichen zusammen, wie es schien, Finger lagen plötzlich ganz ruhig in den Händen, die Stille verdoppelte sich regelrecht, ohne dass die Stimmung dadurch freundlicher erschienen wäre, eher im Gegenteil.

Kim Karlsen hörte auf zu lachen.

Doch was nützte das?

Eine der Frauen, diejenige, die sich am auffälligsten gebärdet hatte und wahrscheinlich die Leiterin der Gruppe war, kam auf ihn zu, mit schnellen, entschlossenen Schritten, die keinen Zweifel an ihrer Absicht ließen, blieb direkt vor ihm stehen und setzte auch noch einen Fuß zwischen die Türen, damit er nicht die Möglichkeit hatte, mit dem Fahrstuhl wieder zu verschwinden.

»Lachen Sie über uns?«, fragte sie.

Ich muss noch hinzufügen, dass es schwer zu verstehen war, was sie sagte, sie brüllte, aber irgendwie war nur etwa jedes zweite Wort zu hören, doch auch die zweiten Worte waren nicht ganz leicht zu deuten, und als sie außerdem noch anfing, sich wieder mit Gebärden auszudrücken, machte das die Situation noch undurchsichtiger, und Kim Karlsen überkam ganz plötzlich das Gefühl, dass er an einem Ort war, wo er besser nicht sein sollte, er war auf fremdes Terrain geraten, er kannte die Regeln nicht, kaum die Sprache, und musste zusehen, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.

»Lachen Sie über uns?«, wiederholte die Frau.

Sie sprach jetzt langsamer, als hätte sie es mit einem Kind zu tun, das schwer und bleiern von Begriff war, aber der Gedanke war gar nicht so übel.

Kim Karlsen lachte, wie schon gesagt, nicht mehr.

»Ganz und gar nicht«, sagte er.

Die Frau beugte sich vor und ließ seinen Mund nicht aus den Augen. Sie starrte auf ihn hinab, während sie sich immer weiter vorbeugte. Kim Karlsen musste schier Zuflucht in dem engen Fahrstuhl suchen. Doch sie ließ ihn nicht davonkommen.

»Dummes Geschwätz! Sie haben über uns gelacht! Das haben Sie, oh ja!«

Kim Karlsen schaute in eine andere Richtung und sah nichts außer Spiegeln und wieder Spiegeln, die einen verlegenen Gesichtsausdruck von einer Wand zur anderen warfen, während ihm lange Strähnen über die Ohren und in die Stirn hingen, sie bedeckten fast die Augen, woran erinnerte diese Frisur ihn nur, sie erinnerte ihn an nichts, sie erinnerte ihn bloß an das, was er sah, in diesem Augenblick, in dem er es sah, viel, wenn auch schütteres Haar, das an der Wurzel bereits zu verrotten schien und in den Spitzen splissig war, und bleiche, konkave Wangen, ein Stundenglas aus Knochen, als söge der Betreffende, der also er sein musste, Kim Karlsen, die ganze Zeit so tief die Luft ein, dass er kurz davor war, seine Lippen zu verschlucken und dann den Rest dieser Visage.

»Das wollte ich nicht«, sagte er.

»Sehen Sie mich an, wenn Sie mit mir reden!«, rief die Frau. »Sehen Sie mich an!«

Gehorsam drehte sich Kim Karlsen langsam um und sah sie an.

»Ich sollte Sie bei der Polizei anzeigen!«, rief sie.

»Das ist wirklich nicht nötig«, entgegnete Kim Karlsen.

Vielleicht war es das Flehentliche in seiner Stimme oder besser gesagt in seinem ganzen Ausdruck, das die Frau zögern ließ, in einem Augenblick voll Mitgefühl, oder war es Schadenfreude, beides Gefühle ähnlichen Ausmaßes im menschlichen Repertoire. Doch das war es nicht.

»Was ist denn los mit Ihnen?«, fragte sie.

Und jetzt war Kim Karlsen derjenige, der Probleme hatte zu sprechen. Die Worte wollten einfach nicht loslassen. Sie zerbrachen in der Mitte. Es war offensichtlich irgendetwas mit ihm los. Es waren die Zähne, die sich gelockert hatten, diese verfluchte Einlegsohle, und er spürte, wie ihm die Kinnlade mit einem Ruck herunterfiel, er konnte sich vorstellen, wie das aussah, und dann doch wieder nicht.

»Ist etwas mit mir los?«

Die Frau zeigte auf seinen Mund, grinste breit und sagte deutlich, mit kräftiger Betonung auf jeder einzelnen Silbe: »Gebiss.«

Dann trat sie rücksichtsvoll einen kleinen Schritt zur Seite, damit die hartnäckige Gruppe an der Rezeption ihn ebenfalls sehen konnte, und wie sie lachten, sie lachten auf ihre ganz spezielle Art, über Kim Karlsen, sie lachten ohne Gelächter, aber sie lachten, oh ja, das taten sie. Als sie genug gelacht hatten und alle irgendwie quitt waren, gab dieselbe Frau ihm eine Art Broschüre, und er traute sich nicht, sie abzulehnen.

»In welcher Etage wohnen Sie?«, fragte sie.

Endlich hatte Kim Karlsen das Gebiss mit seiner Zunge wieder an Ort und Stelle bugsiert.

»Vierte«, sagte er.

Die Hände der Frau waren schlagartig wieder misstrauisch und hektisch.

»Vierte? Was Sie nicht sagen. Das Hotel hier hat aber nur drei Stockwerke. Machen Sie sich wieder über uns lustig? Wir sind nicht so blöd, das können Sie mir glauben. Glauben Sie mir das?«

»Ich meinte natürlich das oberste.«

»Glauben Sie mir das? Dass wir nicht blöd sind?«

»Natürlich.«

Kim Karlsen drückte auf den obersten Knopf, die Frau zog ihren Fuß zurück, die Türen glitten zu einem nahtlosen Wasserspiegel zusammen, und er war wieder auf dem Weg nach oben. Es schien, als stünde er still, während die Spiegel an ihm vorüberfuhren, dann hielt der Fahrstuhl endlich an oder die Spiegel, die Türen öffneten sich für ihn, und er lief auf die dritte Etage hinaus, mit anderen Worten dorthin, woher er gekommen war, aber daran erinnerte sich Kim Karlsen nicht mehr, er hatte wie gesagt sein Gedächtnis verloren, wie oft muss ich das eigentlich wiederholen, und nicht nur das, was Erinnerung genannt wird, dieser schräge, merkwürdige Katalog über die großen und kleinen Begebenheiten eines Lebens, in dem die Form einer Kastanie, das Spiegelbild in einer Radkappe oder der banale Refrain eines Lieds sich mit der gleichen Vehemenz niederschlagen kann wie Betrug, Wahnsinn oder Mord, sondern obendrein auch noch das Kurzzeitgedächtnis, das nicht weiter reicht als einmal umdrehen und das erfasst, was man mit bloßem Auge erkennt.

Und ich kann Ihnen versichern, dass das mühsam ist, besonders wenn man sich dagegen wehrt, wie es Kim Karlsen tat, zumindest für eine Weile und bis auf Weiteres.

Er befand sich auf dem Flur im dritten Stock im Sortland Hotel. Alles, was er hatte – bis auf das, was er am Leib trug, und sein Gebiss –, waren ein Schlüsselbund, eine Brieftasche mit fünfunddreißig norwegischen Kronen und ein Taschenkalender aus dem Jahr 2001, das seinen Namen, seine Adresse und seine Personenkennziffer enthielt, was wohl bedeutete, dass er geboren und im Staat Norwegen gemeldet war, außerdem vier Telefonnummern, von denen eine seine eigene war, sowie diese geheimnisvolle Nachricht, notiert am 3. Januar: Auftrag III, zufriedenstellend.

Nein, da war noch etwas, eine Broschüre oder vielmehr fast ein kleines Heft, Zeichen & Sprache,das diese wütende Person ihm in die Hand gedrückt hatte und das er immer noch bei sich trug. Es war ein Heftchen mit Informationen des norwegischen Gehörlosenbunds, Region Nord, zum Tag der Gehörlosen, der vor Kurzem erst initiiert worden war, genauer gesagt am 3. Januar, also am selben Tag, an dem Auftrag III durchgeführt worden war, und zwar anscheinend zufriedenstellend, und auf der Rückseite des Heftchens war eine Reihe von Zeichnungen einer Hand abgedruckt, die Finger in verschiedenen Positionen, und diese Zeichnungen waren mit einer Art Motto verknüpft oder sogar mit einer Botschaft, die nicht ganz ohne Jubel und Triumph formuliert zu sein schien: Die Sprache, die keine Grenzen kennt! Die Sprache, die alle verstehen, ganz gleich welcher Nationalität – das Handalphabet! Er blickte auf seine eigene Hand hinab, die rechte, die diese Broschüre des norwegischen Gehörlosenbunds, Region Nord, umklammert hielt. Es war eine Hand, die kaum für eine Fingersprache geeignet war. Es war sozusagen eine Hand mit Sprachfehler. Sie taugte in erster Linie dazu, Dinge hochzuheben, loszulassen oder in die Tasche geschoben oder bestenfalls auf den Rücken gelegt zu werden. Konnte man nur mit einer Hand reden? War das ungefähr das Gleiche wie zu flüstern, zu murmeln oder langsam zu sprechen? Betreten schob Kim Karlsen den Gedanken beiseite. Was ihm im Kopf blieb, waren spontane Einfälle, kaum das, und seine Gedanken bewegten sich nur mehr langsam entlang der Traumparzellen, wo sie wie Unkraut und Albdrücke wucherten. Aber ich will nicht übertreiben. Ich bitte um Verzeihung. Ich bin derjenige, der das Unkraut jätet. Kim Karlsens Acker lag eher brach. Die Blumen in seinem Beet waren abgeschnitten. Auf den ersten Blick ist Übertreibung vielleicht verführerisch, aber sie ist mitunter auch verlogen und führt in die Irre. Mein Maßstab, meine Leitlinie, mein einziges Lineal sind wie bereits erwähnt Rechtschaffenheit und Präzision, wie der exakte Meter, der in einem Gewölbe in Paris liegt und sich weder ausdehnen noch einschrumpfen lässt, und genauso bin ich, auch wenn es nicht immer so aussehen mag. Ich wiederhole: Kim Karlsen sah auf und dann weg, denn der Anblick der verstümmelten Hand war abstoßend. An der Wand hing ein Pfeil. Dieses Mal folgte er ihm nicht. Er ging in die entgegengesetzte Richtung, was auch keinen größeren Schaden anzurichten vermochte, als wäre er ihm gefolgt. Die Türen entlang des Flures waren samt und sonders verschlossen, sodass das Ganze eher einem Tunnel ähnelte. Auf dem Boden lag weicher Teppich, wie ein roter Läufer. Er konnte seine eigenen Schritte nicht hören. Kim Karlsen lief über den roten Teppich auf die große Premiere zu. Er kam zu einem Fenster. Dort hielt der rote Läufer. Das Fenster ließ sich öffnen. Draußen verlief eine Wendeltreppe oder, besser gesagt, eine Feuerleiter. Auch für all das, woran man sich nicht mehr erinnert, hat man letztendlich eine Verwendung: den Notausgang. Alle, die nach Hause wollen, müssen letztlich durch einen Notausgang. Kim Karlsen schob sich also aus dem Fenster und begann vorsichtig zu klettern. Es schneite nicht mehr. Der Himmel war stattdessen schwarz und tadellos, die Erde ebenso glatt wie dunkel. Unter Schwindelgefühl hatte Kim Karlsen noch nie gelitten. Er war an den merkwürdigsten Orten balanciert, über Gesimse, Denkmäler, Monolithen und Gebirge. Doch für einen kurzen Augenblick, als er auf einer der schmalen, geriffelten Stufen innehielt, wusste er plötzlich nicht mehr, ob er auf dem Weg nach oben oder nach unten war.

MAGICAL MYSTERY TOUR

Lassen Sie mich oder uns, wenn Sie so wollen – ich spreche hier ja für Sie –, ein bisschen verweilen. Denn das amüsiert mich. 1967 schossen die USA Lunar Orbiter 3 ins All. Die Sonde sollte sich in ihrer Umlaufbahn um den Mond bewegen und Bilder von möglichen Landeplätzen für die Apollo machen, was sie auch tat, sechs Fotos wurden am Ende zurück zur Erde gefunkt, doch dann ging irgendetwas schief, ein falsches elektrisches Signal, ein verkehrter Impuls, eine Ausnahme, denn während Lunar Orbiter 3 auf den Mond zudirigiert werden sollte, um dort in der Nähe des Meeres der Stürme aufzusetzen, geriet sie aus der Umlaufbahn und trieb auf eigene Faust weiter, ein unbemanntes Wrack im Universum, und nicht nur das, sie machte auch verdammt noch mal weiterhin Fotos, einfach so, aufs Geratewohl.

Haben Sie noch nie diese kurzen Klicks aus dem Weltraum gehört? Das ist kein erschrockener Gott, der blinzelt, oh nein, das ist nicht der alte Mann persönlich, der etwas ins Auge bekommen hat. Das ist die Kamera, die immer noch funktioniert.

Und ich möchte hinzufügen: Das gereicht mir gleichzeitig zur Freude und zur Sorge. Einige von Ihnen werden natürlich sofort an Ihr Privatleben, an die Unantastbarkeit Ihres Privatlebens denken, daran, dass das Leben privat ist, dass Sie sonst in unangenehmen Situationen erwischt werden könnten, bei einem Diebstahl, Unzucht, Untreue, dem ganzen menschlichen Repertoire, auf frischer Tat ertappt, wie es so schön heißt, in flagranti, doch sehen Sie es in größeren Dimensionen, nehmen Sie beispielsweise die Geschichtsschreibung, denn ohne diese Bilder würde die Geschichte, aus der Sie stammen, unberührt liegen gelassen, unbekannt und ungehört, die Schiffe in den Weiten, Gräber unter dem Weizen, der Schmuck in einer Mulde, die Skelette im Moor, all das, was gestrichen ist, verborgen, unbeachtet, zur Seite geschoben, diese bescheidenen Schattenspuren, die Sie sonst niemals entdeckt und durchwühlt hätten.

Das amüsiert mich wie gesagt.

Ganz zu schweigen von den Schallwellen. Warum auch nicht? Ich rede gern von Schallwellen. Auch das amüsiert mich, obwohl ich eigentlich nie ein Spaßvogel war, aber allein jetzt schon habe ich mich mehr amüsiert als Sie, zweimal in kurzer Zeit. Sie glauben vielleicht, dass alles, was Sie sagen, gestrichen wird, sobald es ausgesprochen wurde, abgesehen von dem Gedächtnis dessen oder derer, die es gehört haben mögen, doch auch die werden es bald vergessen, da können Sie sich sicher sein, sie werden sterben und die Geheimnisse, Formeln, Visionen, Geschichten und Witze mitsamt dem ganzen Rest ganz einfach mit sich nehmen. Doch darüber will ich gar nicht reden. Ich will darüber reden, dass Schallwellen nie ganz verschwinden. Sie entgleiten uns nur immer mehr, dünne Atemstreifen, unsichtbare Brandung, die gegen einen Strand am Rand der Dunkelheit rollt, auf den niemand je seinen Fuß gesetzt hat. Doch eines Tages kann der große Geheimdienst sämtliche Gespräche, Monologe, Zungenreden, Predigten, Berg- wie auch Strafpredigten, Befehle, Kalauer, Gerüchte und Lieder aufspüren, ja, jeder einzelne Laut, der von der Erde stammt, soll wie Schweiß aufgespürt werden, jeder einzelne Tropfen wird in riesigen Fässern gesammelt und zurückgebracht, Sokrates’ letzte Worte, Jesu Ausruf am Kreuz: Auch diese Worte sind irgendwo, oh ja, zusammen mit den Schreien aus der Schlacht bei Waterloo und denen aus den Schützengräben von Verdun, und selbst Chaplins Weinen, Houdinis vertrauliche Mitteilungen, das Kratzen von Botticellis Pinsel, das Schreien aus dem Eishockeystadion und Nurejews Schuhe, alles ist da, da können Sie sicher sein, die berühmte Edelweiß-Version der norwegischen Band Dirty Fingers