Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Lars Saabye Christensen - E-Book

Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval E-Book

Lars Saabye Christensen

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Beschreibung

Vom ganz gewöhnlichen Wahnsinn eines genialen Verlierers

»Ich war nicht der Verrückteste. Ich war nur der Zweitverrückteste. Mein Name ist Bernhard Hval. Und ich habe mehr Unheil angerichtet, als du dir auch nur annähernd vorstellen kannst.« Und dieser Herr Hval bleibt sich treu bis zum Schluss. Die Festrede zum 80. Geburtstag hält er sich lieber gleich selbst. Sie ist sein Vermächtnis. Und da soll ausnahmsweise mal alles sitzen. Dass seine Lebensgeschichte die Länge eines Romans annimmt, ist nur folgerichtig. Im Jahr 1900 geboren wächst er auf Besserud in Kristiania als Einzelkind auf. Er macht eine Ausbildung als Arzt und wird der Beste seines Jahrgangs. Doch Zwangsvorstellungen und bestimmte Unarten, Ticks, erschweren ihm die Ausübung des Arztberufs. Er war am besten bei den Toten, wie es hieß, heuerte deshalb bei den Pathologen an. Nun sitzt er in seiner Wohnung im Skovveien in Oslo und schaut auf ein ganzes Jahrhundert zurück. Er erzählt von einer außergewöhnlichen Dreiecksbeziehung, zwischen ihm selbst, seiner robusten Frau Sigrid und Notto Fipp – einem Sonderling wie er, einem äußerst sonderbaren Geher aus der Telemark, der nach dem Motto lebt: »Wenn ich gehe, denke ich weniger.« Bernhard Hval wird sein Leibarzt. Solcherart sind die Grundfesten gelegt für Freundschaft, Leidenschaft, Wahnsinn und Skandale …

Lars Saabye Christensen ist der geborene Geschichtenerzähler, warmherzig und witzig, ernsthaft und aufrichtig, mit untrüglichem Gespür für menschliche Marotten und lebensnotwenige Macken – seine Helden sind kleine Leute mit großen Schicksalen, denen der Wind gerne ins Gesicht bläst, die sich aber ihre Sehnsucht nach dem ganz großen Glück nie nehmen lassen.

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Seitenzahl: 853

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Lars Saabye Christensen

Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval

Roman

Aus dem Norwegischenvon Christel Hildebrandt

Die norwegische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel»Bernhard Hvals forsnakkelser« bei Cappelen Damm, Oslo

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2010 by CAPPELEN DAMM AS

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-08155-3

www.btb-verlag.de

SCHWANZ IM RIESENRAD

Ich möchte mich erst einmal in aller Deutlichkeit vorstellen, dann sind wir damit durch: Ich war nicht der Verrückteste. Ich war nur der Zweitverrückteste. Mein Name ist Bernhard Hval. Ich habe mehr Unheil angerichtet, als Sie sich vorstellen können. Ich habe in Anwesenheit des Königs Stutenprinz und Dudelsack gesagt. Und zwar damals, als ich im Dezember 1973 leider in der Holmenkollenbahn hinter ihm zu sitzen kam, nicht direkt hinter ihm, aber in der übernächsten Reihe, zumindest saß ich im selben Wagen. Ob das eine Rolle spielt? Aber auf jeden Fall. So kann ich zumindest hoffen, dass er nicht alles hörte, was ich sagte, bevor ich bei der nächsten Station resolut hinausgeworfen wurde, und zwar ausgerechnet in Besserud. Besserud! Oh, alle Anoraks und Glückskleeblätter des Teufels! Ich war gegen meinen Willen in alten Revieren gelandet. Ich war der Teufel in der Hölle! Und das war König Olavs Schuld. Außerdem hatte ich keine Skier mehr, denn die fuhren mit der Bahn weiter. Ich stand auf dem Bahnsteig meiner Kindheit, spuckte in die Hände und stützte mich auf die Skistöcke. Das Leben hatte reichlich Könige, Gelegenheiten und Stinknasen zu bieten. Ozäna in der Höhe! So ging ich den ganzen Weg hinunter in die stille, schneebedeckte Stadt, warf die Stöcke in einen Mülleimer, meine Zeit als Skiläufer war sowieso vorbei, schloss mich in die Wohnung am Skovveien ein, setzte mich ins Arbeitszimmer, drehte einen bereits vergilbten Bogen Papier um die Walze und begann auf die Tasten einzuschlagen. Ah! Oh! Hört, hört! Ich schlage Löcher ins Papier. Jeder Buchstabe, den ich schreibe, ist ein Loch. Hier sitze ich immer noch. Ich möchte sicherheitshalber darauf hinweisen, dass einzelne Begriffe, Wendungen und Obduktionen in diesen Aufzeichnungen von einigen als anstößig empfunden werden können. Ich habe vom Rednerpult in der Aula der Universität aus »Schwanz im Riesenrad« gesagt. Das haben zumindest die meisten gehört, die an diesem Abend, an dem die Absolventen der medizinischen Fakultät gefeiert wurden, anwesend waren. In gewissen akademischen und freigeistigen Kreisen war ich verrufen, wenn nicht bewundert, als wäre das etwas Erstrebenswertes. Ich strebte nach dem reinen Gegensatz. Wünschte nur, unbemerkt zu bleiben, was mir nur selten gelang. Du Dudelsack! Ich kann Purzelbäume und Salti rückwärts schlagen, wenn ich nur an diese Vorfälle denke. Und ich bin ein alter Mann, fast achtzig bin ich. Ich habe mich sogar versprochen, als ich der Braut eine Rede hielt, und das auf meiner eigenen Hochzeit. Ich konnte gerade noch mein Gesicht wahren. Mein Klosterlatein, das ich immer im entscheidenden Moment einstreue, wenn die Welt mir zu nahe tritt, rettete mich. Mein Zeugnis ist auch nicht zu verachten. Ich war trotz allem der Beste meines Jahrgangs. Ich war bei weitem nicht geschützt oder unangreifbar. Du zerreißendes Jungfernhäutchen! Der Urin einer Jungfrau muss dünn und zart sein und mit Saus und Braus gelassen werden. Oh, singe mit! Ohrwatsche! Woher habe ich das? Noch einmal, ihr alle! Vulnera puncta! Sticht man nur fest genug zu, kann alles als Waffe benutzt werden. Ich habe die meisten verärgert, viele schockiert und jene zerstört, die ich am meisten geschätzt habe. Und diejenigen, die ich verachtete, die habe ich gerettet und reingewaschen. Ich habe Nacht für Nacht wach gelegen und zu ihm da oben im Himmel gebetet, den meine Mutter in guten Momenten, als ich noch ein Kind auf Besserud war, das Antlitz nannte. Besserud! Doch niemand hat sein Antlitz zu mir erhoben, bis auf einen. Das sollte meine Mutter wissen, die tot und begraben in fremder Erde ruht, den Kopf zuunterst, und auch ich werde kein Antlitz zu ihr erheben. Ansonsten bin ich ein vorsichtiger und gebildeter Mann. Das will ich gar nicht leugnen. Alles andere habe ich versucht zu verbergen, all das, was in mir überflüssig ist und das ich am liebsten ganz allein in der Wohnung vorführen würde. Deshalb war ich seit dem Gespräch mit König Olav auch nicht wieder draußen. Das Essen wird mir auf die Schwelle gestellt, das Geld geht durch den Briefschlitz hinaus, die Waren kommen durch den Türspalt herein, so einfach ist das. Wasser hole ich aus dem Wasserhahn. Hoppla! Habe ich das Wort sich versprechen irgendwo benutzt? Ich verspreche mich nie. Das, was über meine Zunge kommt, muss dort auch wieder hinaus. Meine fehlplatzierten Worte sind wie Brennnesseln in einem Rosenbeet. Und kein Gärtner der Welt kann sie ausrupfen. Oh, du mein Dornenarsch! Lasst mich nicht bei diesen Widerwärtigkeiten verweilen. Sie sind nur als zweitklassig anzusehen. Außerdem habe ich nicht mehr lange zu leben, nur noch einen Sommer und den Anfang des Herbstes. Der Tag ist festgelegt. Das Mittel liegt in einem kleinen Etui auf dem Boden der Standuhr direkt hinter mir bereit: fünf schwarze Drops, ovale Opiumpillen, äußerst effektiv. Ich habe sie seit meiner Zeit in der Mäusehalle im Rikshospital aufbewahrt. Doch nicht einen Tag vorher, nicht einen Tag vor dem festgelegten Tag soll es geschehen! Disziplin ist unser Fach. Ich bezeichne uns als die Kantigen. Wir möchten gerne weich und umgänglich sein und sind stattdessen starrsinnig und nicht zur Vernunft zu bringen, wohl gemerkt, zur Vernunft der anderen. Wir möchten am liebsten in Ruhe gelassen werden, ziehen aber unablässig die Aufmerksamkeit auf uns. Wir wetzen uns an der Welt. Manches Mal wetzt sie sich auch an uns. Trotz allem gelingt es der Welt und uns nicht, ein dauerhaftes Verhältnis einzugehen. Wir können einen Abend lang tanzen. Doch dann ist Schluss. Wir sind ein zu ungleiches Paar. Wir halten uns am liebsten im Hintergrund. Doch wir sind dort, wo man uns am wenigsten vermutet. Und einer von uns stand ganz vorn, in all seiner Majestät und Größe: Sein Name war Notto Fipp. Er war der Verrückteste. Ich war nur der Zweitverrückteste. Ich war sein Arzt. Ich begegnete Notto Fipp, gesegnet sei er, zum ersten Mal im Monat August des Jahres 1929. Ursprünglich hieß er Notto Senum und stammte aus Evje im Setesdalen, wie ich später erfuhr. Dieser Spitzname oder Künstlername, als den ich ihn lieber bezeichne, hatte er aufgrund seines Spitzbarts gewählt, der nicht gerade eine Zier war, wie er da am spitzen Vorsprung seines Gesichts hing, nur ein paar lange, zottelige Strähnen, allerhöchstens vier Fransen, ein Spitzbart oder Fippsbart, wie er auch genannt wurde, daher der Name, Notto Fipp, und so wollte er es haben, sowohl den Bart als auch den Namen. Oh, wer würde es wagen, den Bart von Notto Fipp zu kritisieren! Sein Bart war eine Zier, eine Zier für uns alle! Da gibt es nichts daran zu deuteln! War ich etwa nicht neidisch, weil ich ohne Erfolg versuchte, einen ähnlichen Bart hervorzubringen? Ich hatte schließlich meine Medizinstudien, lasst mich in Klammern anmerken, dass ich der Beste meines Jahrgangs war, an der Universität in Oslo beendet. Mit anderen Worten war es nicht gerade wenig, was da von mir erwartet wurde, und nur ich wusste, dass ich keine dieser Erwartungen würde erfüllen können, eine Tatsache, auf die ich noch zurückkommen werde. Und noch einmal: du Dudelsack! Es gibt so viel, auf das ich zurückkommen werde, und so wenig, was vor mir liegt, dass ich fast aus den Augen verliere, wohin ich eigentlich will. Doch genau damals, an diesem strahlenden Sonntag im August 1929, da schob ich alle derartigen Gedanken beiseite, da war ich nämlich auf dem Weg zu meiner Verlobten in Drammen, ich und mein alter Fahrer, Alfred, in seiner abgewetzten, aber immer noch stattlichen Uniform, mit dazugehöriger Mütze, oder Kaskette, Handschuhen, Sonnenbrille und dem Ganzen und nicht zuletzt den Schuhen, einem großen und einem kleinen, sonst gab es nur ein Durcheinander mit den Pedalen, denn er hinkte nämlich. Alfred Melingen und der Roadster, wie Vater ihn nannte, den Wagen meine ich, er war das Einzige, was ich von meinem Vater geerbt hatte, abgesehen von einer Standuhr, die immer noch reibungslos läuft. Die Sonne hielt Hof über dem Land, und es war überhaupt ein besonderer Tag, eine besondere Zeit, sorglos und ewig erschien sie mir damals, und ich ließ sie mehr als gern so scheinen. War es mir jemals besser ergangen? Wohl kaum. Börsenkrach oder nicht, auf dieser oder der anderen Seite des Atlantiks, das war nicht meine Sache. Meine Familie hatte ihren Konkurs erlebt, und jetzt gab es nichts mehr zu verlieren. Hipp hipp! Ich saß auf dem Rücksitz, das Verdeck war heruntergelassen, ich rauchte eine milde türkische Zigarette im warmen Wind und genoss das Leben oder den Augenblick, ich genoss sowohl das Leben als auch den Augenblick, und das ließ sich nicht so oft behaupten, im Gegenteil, es war äußerst selten, dass das Leben auf diese Art und Weise aufging. Alfred unterbrach diese angenehmen Gedankensprünge.

»Es wird dir gut tun, eine Ehefrau an deiner Seite zu haben«, sagte er.

Ich wollte ihn necken. Nichts war unterhaltsamer, als Alfred zu verwirren.

»Tatsächlich? Bist du dir sicher? Ganz sicher?«

Alfred stutzte.

»Natürlich.«

»Aber du hast es doch nie versucht, Alfred.«

»Entschuldigung, was denn?«

»Verheiratet zu sein. Du bist ein alter, unverbesserlicher Junggeselle. Wie kannst du dann behaupten, dass es mir gut tun wird?«

»Nun, ich habe schließlich schon einiges gesehen, auch wenn ich keine Ehefrau habe. Und so viel weiß ich: Es sollten in einem Auto wie diesem zwei auf der Rückbank sitzen.«

»Denkst du vielleicht an meine Eltern? Du hast doch gesehen, wie das gelaufen ist.«

»So habe ich es nicht gemeint.«

Alfred sank über dem Lenkrad zusammen. Zum Schluss musste ich ihm lächelnd meine Hand auf die Schulter legen. Dass er es nie lernte.

»Ich habe doch nur Spaß gemacht, Alfred.«

»Ach so.«

»Um Gottes willen, kannst du nicht einmal einen Spaß vertragen!«

Alfred richtete sich wieder auf.

»Der war gut«, sagte er.

War es einem jemals besser gegangen?

Der Roadster brachte uns voran. Eine neue Zigarette. Wieder eine türkische. Eigentlich rauchte ich nicht, aber türkische, nun mal ehrlich. Denen konnte ich nicht widerstehen. Der Verlobungsring. Die Sonne, die ihn traf, ein Aufblitzen. Ich genoss den Anblick meiner eigenen langsamen Bewegungen während der Fahrt, auf der ich mich befand, 23 Kilometer die Stunde, meine rechte Hand, die Manschette, die Zigarette zwischen den Fingern, die Glut, der Arm auf der Türlehne, nonchalant.

Sitzt man nicht genau so auf der Rückbank in einem offenen Roadster, nonchalant? Und könnten wir nicht einfach so weiter zwischen Oslo und Drammen hin- und herfahren, ohne anzuhalten, nur wenden, wenn wir an dem einen Ort angekommen wären, und das Gleiche wieder tun, wenn wir den nächsten erreichten? Wäre das nicht eine fabelhafte Sache? Die Hupe des Roadsters weckte mich aus diesen angenehmen Gedankengängen. Alfred Melingen ließ die Hupe erklingen. Ein Stück vor uns entdeckte ich eine Gestalt, fast versteckt von dem Licht und dem Staub, den unsere Räder und sein Fußwerk in immer neuen Wolken aufwirbelten. Offenbar nahm er gar keine Notiz von der Warnung. Ich beugte mich vor und drückte und tutete auch. Kühe und alle anderen Arten von Tieren flohen über die Felder, hinein in die Wälder, wo ein dichter Teppich aus Vögeln sich von den Zweigen erhob, den Himmel beschattete, und alles wurde still, wie bei einer Sonnenfinsternis. Nur dieser Kerl ging einfach weiter. Wäre ich nicht gewesen, es hätte ein Unglück geschehen können, und zwar ein ernstes. Alfred hätte ihn mit einem Wimpernschlag niedermähen können, so schlecht war die Sicht, denn wir fuhren hinein in das Licht, den Staub und die Zukunft. Doch dazu kam es nicht, denn ich griff ein und hupte zum zweiten Mal. Ich bat Alfred, neben diesen Dickkopf zu fahren, man möge mir meine Worte vergeben, und mit eigenen Augen konnte ich sehen, dass der Mann, der da ging, so mager war, dass die Sonne durch ihn hindurchschien und seine Rippen einen Schatten warfen. Er trug einen Strohhut auf dem Kopf, ein paar Bartzotteln an der Wange, eine Papiertüte hing ihm über die Schulter, der Pullover, den er trug, war mit Sicherheitsnadeln zusammengehalten, in der Hand hielt er einen schwarzen Regenschirm, und an den Füßen hatte er abgelaufene Stiefel, die aussahen, als wären sie mit Pechdraht genäht.

»Langsamer«, rief ich.

Alfred drosselte die Geschwindigkeit, bis wir das gleiche Tempo wie der Mann hatten.

Dieser ging weiter, ohne sich um uns zu kümmern.

»Wollen Sie mitfahren?«, fragte ich.

Der Mann antwortete nicht und blieb auch nicht stehen.

Ich wiederholte mein Angebot.

»Ich weiß nicht, wie weit Sie wollen, aber Sie können auf jeden Fall ein Stückchen mitfahren.«

Jetzt redete der Mann zum ersten Mal:

»Evje. Im Setesdalen.«

»Das ist ein ganzes Stück zu laufen.«

»Das ist auch der Sinn.«

»Und wie lange laufen Sie schon?«

»Ich bin gerade erst in Gang gekommen.«

Wir fuhren ein kleines Stück, ohne etwas zu sagen. Mein Fahrer schüttelte nur den Kopf und hätte am liebsten Gas gegeben. Aber ich war neugierig geworden.

»Was wollen Sie in Evje?«, fragte ich.

»Umkehren und nach Oslo zurückgehen«, sagte der Mann.

»Zurückgehen? Legen Sie den ganzen Weg nach Evje zurück, nur um wieder zurückzugehen?«

Der Mann nickte und nahm den Schirm in die andere Hand, um sich vor der Sonne zu schützen.

»Ja.«

»Haben Sie nichts anderes dort zu erledigen, außer wieder zurückzugehen?«

»Nein.«

»Und Sie haben auch keine Familie oder Freunde in Evje, die auf Sie warten?«

»Nicht dass ich wüsste.«

Das sagte er einfach so. So war es. Er verkehrte im Frachtverkehr zwischen Oslo und Evje und hatte an keinem dieser Orte etwas zu erledigen. Aber hatte ich nicht gerade den gleichen Gedanken gehabt, einfach nur zu fahren und umzukehren, umzukehren und zu fahren? Er war nach meinem Geschmack.

»Darf ich im Vorbeifahren nach dem Namen fragen?«, fragte ich.

»Notto Fipp.«

Ich reichte die Hand über die Wagentür.

»Bernhard Hval.«

Notto Fipp ergriff meine Hand nicht, dieses Mal nicht, aus ganz natürlichen Gründen, das hätte ihn aus dem Takt gebracht. Man schüttelt einem Geher unterwegs nicht die Hand. Außerdem schien ihn der türkische Tabak zu stören, deshalb warf ich die Zigarette weg, so weit ich konnte, mit der Gefahr, Buskerud in Brand zu stecken. Wir folgten einander noch einige Meter. Notto Fipp hielt ein strammes Tempo, ja, es schien, als hätte er all seine mageren Glieder ein für alle Mal genau auf dieses Tempo eingestellt. Er war ein Studium wert. Den Torso benutzte er einzig und allein als Aufhängung für die Arme, als Behältnis für das Herz, und um den Kopf aufrecht halten zu können. Erst im Hüftbereich schien Notto Fipp eigentlich anzufangen. Von den Schenkelknochen abwärts bis zum letzten Teil der unteren Extremitäten, also der Fußsohle, konnte sich niemand mit ihm messen, übrigens auch nur wenige in den anderen Regionen, aber es war in erster Linie das letzte Stück bis zur Erde, das ihn auszeichnete, das war seine Signatur. Er unterschrieb die Erde, auf der er ging, mit jedem einzelnen Schritt, der ihn seinem Ziel näher brachte, an dem er einfach umkehren wollte, sobald er angekommen war.

»Darf ich fragen, warum?«, fragte ich.

»Warum was?«

»Warum Sie so gehen?«

»Wenn ich gehe, denke ich weniger«, antwortete Notto Fipp.

Diese Antwort machte Eindruck. Ich kann es nicht anders sagen, sie machte Eindruck. Wenn ich gehe, denke ich weniger. Wie oft habe ich diese sechs Worte seitdem nicht wiederholt? Oft. Ich kann es gar nicht zählen. Es war an der Zeit, Notto Fipp in Frieden gehen zu lassen. Ich gab Alfred ein Zeichen, dass er schneller fahren durfte, während ich mich umdrehte und diese seltsame Gestalt betrachtete, in Strohhut, Wanderschuhen und mit dem schwarzen Regenschirm, wie er im Licht und dem Staub, den wir hinter uns ließen, verschwand.

»Volltrottel«, sagte Alfred.

Ich ließ ihn noch ein Stück fahren, und Alfred fuhr, was die Riemen und das Zeug hielt. Er wollte das Versäumte wieder aufholen, die Zeit, die wir mit diesem Volltrottel versäumt hatten.

»Was hast du gesagt?«

Alfred musste schreien.

»Volltrottel! Der war doch nicht ganz dicht.«

»Meinst du?«

»Das sah man ihm doch an. Der gehört eingesperrt.«

Ich beugte mich vor.

»Kannst du mal anhalten?«, bat ich.

»Schon wieder?«

»Ja, halt an. Genau hier.«

Alfred fuhr an den Straßenrand, hielt dort an und hatte die Situation natürlich vollkommen falsch verstanden.

»Wenn es sehr dringend ist, kannst du unten in die Büsche gehen. Ich werde aufpassen. Aber ich möchte dich daran erinnern, dass wir in zwanzig Minuten bei deiner Verlobten sind. Wenn du es also bis dahin noch aushalten kannst …«

Ich unterbrach ihn.

»Ich will weder pinkeln noch scheißen«, sagte ich.

Alfred schaute zu Boden, peinlich berührt.

»Dann verstehe ich es nicht ganz.«

»Wie hast du den Mann genannt, dem wir gerade begegnet sind? Einen Volltrottel?«

»Das können ja wohl alle sehen, dass er einer ist.«

»Steig aus dem Wagen«, sagte ich.

Alfred blieb sitzen. Er glaubte wohl, dass auch das ein Scherz war.

»Steig aus dem Auto«, wiederholte ich.

»Ich verstehe nicht.«

»Ich dulde es nicht, dass du auf diese Art und Weise über Menschen sprichst.«

Alfred drehte sich zu mir um.

»Meinst du diesen Idioten mit dem Strohhut, an dem wir gerade vorbeigefahren sind?«

»Jetzt haben Sie es wieder gesagt. Raus aus dem Auto. Und zwar sofort.«

»Sie? Sind wir jetzt nicht mehr per Du?«

»Wie oft muss ich es noch sagen? Raus!«

Alfred Melingen öffnete die Tür und stieg aus, strich die Uniform glatt, die er seit dem letzten Jahrhundert trug, und stand wie in Habacht da. Fast amüsierte es mich, diese Ehrerbietung, die er mir erweisen musste, einem Grünschnabel auf dem Rücksitz, dem alles in den Schoß gefallen war, das heißt ein Automobil mit Chauffeur, ein toter, bankrotter Vater und eine Standuhr mit Süßigkeiten darin. Meine unanständige Mutter erwähne ich hier nicht.

»Gib mir die Mütze«, sagte ich.

Noch größere Verwirrung.

»Was willst du damit?«

»Was man normalerweise mit Mützen macht. Sie auf den Kopf setzen.«

Alfred zögerte, nahm die Mütze ab und gab sie mir mit einer leichten Verneigung. Ich setzte sie mir wie gesagt auf den Kopf. Die Mütze war ziemlich groß und rutschte mir in die Stirn. Alfred hatte einen größeren Kopf als ich. Er musste lächeln. Er wusste nicht, worüber er lächelte. Ich lächelte nicht und nahm seinen Platz hinter dem Lenkrad ein.

»Sie sind gefeuert«, sagte ich.

»Gefeuert? Wie meinen Sie das?«

»Genau so, wie ich gesagt habe.«

Er rüttelte am Wagengriff und packte mich beim Nacken.

»Das ist nicht dein Ernst!«

Mal sagte er du und dann sagte er Sie. Es war wohl die Mütze, die ihn verwirrte.

»Doch, das ist es.«

»Aber du kannst mich doch hier nicht stehen lassen! Mitten auf der Landstraße!«

»Nein«, erwiderte ich. »Hier können Sie natürlich nicht stehen bleiben. Sie können aber auf Ihren Füßen zurückgehen. Leben Sie wohl.«

»Der war nicht gut«, sagte Alfred. »Der war verdammt noch mal wirklich nicht gut, das muss ich sagen.«

»Was?«

»Dieser Scherz. Absolut nicht gut. Absolut nicht.«

Ich fand die richtigen Pedale.

»Du hast recht. Das ist kein Scherz.«

Endlich brachte ich den Wagen in Bewegung.

Alfred kam mir hinterhergelaufen.

»Dein Vater, Bernhard Hval, dein Vater war ein Mann von, ein Mann von …«

Das musste ich mir nicht anhören. Ich gab Gas. Alfred Melingen versuchte mich oder den ganzen Wagen aufzuhalten, das war lächerlich, und zum Schluss musste er aufgeben.

»Das wirst du noch bereuen!«, rief er.

Er drohte mir mit der Faust und schrie mir hinterher.

Doch ich fuhr weiter, Richtung Drammen, und Notto Fipps sonderbare Aussage wollte mir nicht aus dem Kopf gehen, und ich wünschte mir es auch gar nicht anders: Wenn ich gehe, denke ich weniger. Einen Moment lang überlegte ich, an einem Waldstück anzuhalten und weiter zu Fuß zu gehen, aber ich war nicht so stark wie Notto Fipp. Deshalb war ich ja auch nur der Zweitverrückteste. Außerdem war ich auf dem Weg zu meiner Verlobten, Sigrid Juell, die ich im selben Herbst heiraten sollte, eine Frau wie aus Holz geschnitzt, aus schönem, zähem Holz, buchstäblich gesprochen. Sie war eine gute Partie, wie es damals hieß, was man von mir nicht behaupten konnte, aber ich war trotz allem der Beste meines Jahrgangs. Sigrid Juell war 23 Jahre alt und trug ihre Jahresringe wie Schmuckstücke, solange es währte. Ihre gesamte Familie war aus Holz geschnitzt. Sie waren Wald und Fluss und Sägewerk, und so war auch ihr Temperament. Sie war Wasserfall und Wind. Sie war die Kreissäge. Sie war der Hobel, und ich war der Span. Ich war so verliebt in sie, dass ich sogar im Stande war zu hassen. Und war es nicht gerade mein Unheil, dem sie verfallen war? Gefiel es ihr etwa nicht, wenn ich ihr in dem Haus mit den hohen Decken während des Essens meinen Mund ans Ohr legte, schluckte und schluckte und sagte: Fotze, Fotze, danke fürs Essen und Prost? Dann wurde sie ein ganzes Sägewerk, würde ich sagen, zumindest anfangs. Wir waren für die Leidenschaft geschaffen. Wir bekamen keine Kinder.

ALLES MÖGLICHE

Wir schreiben das Jahr 1980. Der Winter war ungewöhnlich kalt. Ich fror von Januar bis März jämmerlich. Jetzt ist es April geworden, es tropft von den Regenrinnen, es schmilzt und rieselt überall, und in vier Monaten werde ich also sterben. Heiliger Strohsack! Ich betreibe immer noch meine äußerst bescheidene Praxis hier am Skovveien, in derselben Wohnung, die mir blieb, nachdem alles drunter und drüber ging, und in der ich auch wohne. Es ist lange her, dass jemand hierherkam. Vielleicht ist meine Approbation ja abgelaufen. Eine Zeitlang tauchten einige lichtscheue Gesellen auf, die Rezepte für das ein oder andere haben wollten, wenn alle Reisebüros der Stadt geschlossen hatten. Ich gab ihnen gern eine Tour in den Süden. Es geschah ungefähr auf die gleiche Art und Weise, wie es mit den Waren aus dem Lebensmittelladen läuft, nur in umgekehrter Reihenfolge: gelbe, eklige Finger schoben einen oder zwei Scheine durch den Briefschlitz, ich schob ein Rezept beispielsweise für hundert Atarax oder Kolamin hindurch. Die schwarzen Drops behielt ich übrigens für mich zurück. Dann wieder taten mir diese verwöhnten und verhärteten Kinder leid, und ich schob das Geld wieder durch den Briefschlitz hinaus, und Sie können sich vorstellen, dass sie außer sich waren, diese geizigen Junkies, da gab es nicht viel Schnauben und Stöhnen, nein, sie schnappten sich die Bezahlung und liefen um die Wette die Treppe hinunter. Was für Schwachköpfe. Aber auch das ist lange her. Zumindest steht »Bernhard Hval, Dr.« an der Tür, für den, der lesen kann, ein schmales Kupferschild, das ich nun nicht mehr sechzehnmal am Tag putze. Diese Unart habe ich abgelegt. Sagte ich Unart? Habe ich früher auch schon das Wort Unart benutzt? Zum Teufel! Da können Sie sehen, wie weit es mit mir gekommen ist. Unart ist kein Wort aus unserer Sprache. Unart, das ist im Bett rauchen, laut pfeifen, sich die Finger ablecken. Wir sagen Zwang. Sigrid hatte Unarten, das muss einmal gesagt werden. Ich hatte einen Zwang. Unarten und ein Zwang passen nur schlecht zusammen. Doch genau diesen Zwang habe ich abgelegt, den Zwang, das Schild sechzehnmal am Tag zu putzen. Aber dazu brauchte es sechzehn Jahre. Doch den Zwang zur Wiederholung werde ich nicht überwinden. Es gehört zu unserer Natur, dass wir uns wiederholen, ja genau, uns selbst wiederholen. Er ist ein Teil unseres Repertoires, die Wiederholung ist die erste Geige in unserem persönlichen Orchester. Ich begann mich bereits 1963, während der Kubakrise, darauf vorzubereiten. Während die anderen auf dem Hof aus Angst vor Atombomben und noch Schlimmerem Konservendosen hamsterten und dann, als sich herausstellte, dass der Konflikt im Großen und Ganzen gelöst war, jahrelang von diesen eingemachten Frikadellen leben mussten, das war nur eine kleine Schlacht in meinem eigenen Weltkrieg, aber immerhin. Das erste Jahr ging ich auf fünfzehnmal am Tag herunter, das nächste auf vierzehnmal, bis ich es nur noch einmal am Tag machte, putzte und putzte, und vielleicht glaubte ich ja, dass mein Name weiterhin an der Tür glänzen würde, doch das tat er nicht, er verblich und verschwand. Der Zwang war nicht mehr da. Er hatte sich von meinen Fingern und meiner Seele gelöst. Siebzehn Jahre dauerte das. Warum also nicht einfach das Schild abschrauben und in den Müll werfen? Dann hätte ich den Rest meines Lebens damit verbracht, nach dem Schild zu suchen, bewaffnet mit einem Putzlappen. Und hätte ich es gefunden, hätte ich es wieder an die Tür gehängt, es festgeschraubt und es sechzehnmal, nein hundertmal zusätzlich geputzt, um das nachzuholen, was versäumt wurde. Kennen Sie mich jetzt etwas besser? Wahrscheinlich nicht. Meine Vernunft ist nicht die Ihre. Meine Gesetze stehen nicht in Ihrem Gesetzbuch. Mein Zwang ähnelt nicht Ihren Gelüsten, die einen geraden Weg beschreiten, auf das Objekt der Lust zu, auf Frauen, Männer, Obst, Räusche, Äpfel, Kunst, Autos, während mein Zwang auf der Stelle tritt und nie zufriedengestellt wird. Warum glückte dann der Rückzug von der Tür? Weil mein Name verschwand. Die Welt um mich herum muss verschwinden, wenn ich meinen Zwang loswerden will. Und nicht nur die Welt, ich muss ebenfalls verschwinden. Alles, was überflüssig ist, muss verschwinden. Erst dann kann ich aufatmen. Ich bin also auf dem großen Rückzug. Nach vorn! Und während ich das schreibe, höre ich, wie die Stunden in der Standuhr hinter mir geschlagen werden, das Pendel, das Lot, die Zeiger, die sich um die Zahlen drehen. Bald werden sich die Sekunden losreißen und zu einer leeren, gewaltigen, lautlosen Ewigkeit werden. Wie sagte doch mein Mentor an der Universität, Herr Professor Lund in Person, später Direktor des Rikshospitals: Es ist ein Unterschied, gehärtet oder verhärtet zu sein, Bernhard Hval. Ich bin beides. Bevor ich ein für alle Mal aufhörte, aus dem Haus zu gehen, nach der Begegnung mit König Olav, pflegte ich einen Spaziergang um die Vigeland-Anlage zu machen, diese hässlichen Statuen und Monumente waren nämlich das Einzige, was mich in einigermaßen gute Laune versetzen konnte. Ist genug gesagt? Hätte mir doch nur jemand einen ganzen Park gegeben! Eines Vormittags, Ende Mai, ging ich am Frognerbad vorbei, um den Monolithen von Nordosten her anzugreifen. Doch es kam mir etwas anderes in den Weg, ein Mädchen. Sie lief barfuß über den warmen Asphalt, und plötzlich blieb sie stehen, was ich auch tat. Das Mädchen blieb also stehen und versuchte den Fuß heranzuziehen. Der hing fest, nicht am Asphalt, sondern an einem Kaugummi, den jemand ausgerechnet genau hier ausgespuckt hatte. Sie hob den Fuß, der Kaugummi folgte, sie trat, der Kaugummi blieb kleben, sie verdrehte den Fuß, das machte das Schlimme nur noch schlimmer, sie entkam diesem Klumpen, dem Kaugummi, nicht und fing an zu weinen. Und ich sah es in aller Klarheit: Sie war ein Zeichen, ein Bild. Sie war ich. Aber mein Kaugummi war größer, es war die Welt, sie klebte sich an meine Finger, meine Füße, an meine Seele. Ich ging zu dem Mädchen, beugte mich hinab und riss die dünne, zähe Kette ab, ich befreite sie. Sie sagte nicht einmal Danke, ganz im Gegenteil, sie schubste mich weg und war offenbar der Meinung, dass ich viel ekliger war als der Kaugummi, lief zum Eingang zu den Schwimmbassins, wo sie zusammen mit ihren leicht gekleideten und ebenso verhärteten Freundinnen stehen blieb und durch den Gitterzaun auf mich zeigte. Ich brauchte einige Jahre, um diesen Kaugummi loszuwerden, und noch heute sind meine Hände nicht sauber, noch heute hänge ich fest.

Aber lassen Sie mich jetzt zur Sache kommen! Mein Vater, Oscar Hval, war kein großer Humorist, obwohl er den bekannten Ausdruck hohl wie eine Kokosnuss erfunden hat. Das tat er auf seinem Grund und Boden mit einem Schuss in die Stirn. Ich sah es mit eigenen Augen. Mein Vater wollte mir nämlich zeigen, wie es gemacht wird. Außerdem benötigte er einen Handlanger. Er war bis zum letzten Moment ein Vorbild, ein wahrer Lehrmeister, und ich bin immer noch gelehrig. Übrigens begann mein Vater mit zwei leeren Händen, wie man so sagt, das heißt, ganz leer waren sie wohl nicht, und so gründete er Hvals Nadelfabrik, in der Nähnadeln, Stopfnadeln, Schneidernadeln, medizinische Nadeln, Sicherheitsnadeln hergestellt wurden, alle Sorten von Nadeln, und es wurden große Erwartungen in Hvals Nadeln gesetzt, ja, das war so sicher wie das Amen in der Kirche, denn wir waren auf dem Weg ins Jahrhundert der Manufaktur und der Mode, ein Jahrhundert, das die Nadeln nicht entbehren konnte. Aber was ich sagen will und was ich, wie ich manchmal fürchte, niemals werde sagen können, und es ist dieselbe Furcht, die ich dahingehend empfinde, dass mein vorwärtsstürmender Rückzug misslingen könnte: Ich kam am neunten September des Jahres 1900 aus meiner Mutter herausgestürmt, und vielleicht liegt ja eine gewisse Ironie darin, dass ich, der kantige Engel, das Licht der Welt zu dieser Zahl aus einem Guss erblicken sollte, doch wenn das heilige Antlitz glaubt, ich sollte bis zum Jahr 2000 aushalten, von einer runden Zahl bis zur nächsten, nur um ein Zeichen zu setzen, dann irrt sich dieses Antlitz ganz gewaltig. Denn eher bin ich es, der ihm ein Zeichen setzt, wenn ich mich ein für alle Mal von dieser Welt und dem Rest dieses Daseins abwende und ganz einfach verschwinde.

Die Geburt fand im Rikshospital in Kristiania statt, nachmittags, mit diesen langen Schatten in den Straßen und Räumen, und sie dauerte laut der Krankenhausberichte weniger als eine halbe Minute. Mein Vater schaffte es kaum, sich im Warteraum eine Zigarre anzuzünden. Ein Sohn! Und dazu noch ein ungewöhnlich gesunder und lebendiger Sohn, wie sie dachten. Das war es jedenfalls, was der Arzt, der gute alte Doktor Lund, der anwesend war, sagte: Der Junge hat ja schon Muskeln in den Fingern, Kraft in den Schenkeln, kräftige Kiefer, und sein Zeugungswerkzeug ist ohne jeden Tadel. Vater war also äußerst zufrieden mit dem Resultat und meine Mutter ein bisschen weniger nervös. Während der gesamten Schwangerschaft war sie nämlich davon überzeugt gewesen, dass sie eine Missgeburt gebären würde, das lag an einem Traum, den sie in der zwölften Woche geträumt hatte, eine Vorwarnung, und dann bekam sie doch noch eine Missgeburt ersten Ranges, ohne es zu wissen, denn an meinen Gliedmaßen fehlte nichts, ich war nur der Zweitverrückteste.

Der Kutscher, der immerwährende Alfred, wartete mit der Equipage in der Pilestredet, und bereits am selben Abend fuhren wir heim. Es war eine lange Reise, länger als die Geburt, und sie führte bergan. Noch bevor wir angekommen waren, war es dunkel geworden. Ich lag in eine Decke gewickelt auf dem Schoß meiner Mutter, während mein Vater an diesem Freudentag selbst die Peitsche schwingen wollte: ein Junge, ein Erbe! Ich bin überzeugt davon, dass ich noch heute den herrlich frischen Geruch von Pferdemist riechen kann. Das Pferd hieß Hammer und war mit Scheuklappen und Trense ausgerüstet, und ich habe oft gedacht, dass so etwas auch Teil meiner Kleidung sein sollte, Scheuklappen und Trense. Hammer zog uns hinauf nach Besserud, den steilen Hang westlich von Oslo hinauf, auf den fast nur die Abendsonne scheint. Zwei Kindermädchen, oder Hausmädchen, standen auf der Türschwelle und machten einen tiefen Knicks, mit weißen Schürzen und Kragen über schwarzen Kleidern, eine war alt und eine ganz jung, beide irgendwo aus dem Norden. Mutter übergab mich sogleich der Jüngeren von ihnen, ich glaube, Beate hieß sie, die mich ins Haus trug, wo ich ganz gewiss noch die taktfesten Donnerschläge der Standuhr zu erinnern meine, die neben dem Glasschrank stand, der immer, bis auf ein einziges Mal, abgeschlossen war und in dem sich die Waffensammlung der Familie Hval präsentierte, Pistolen, Revolver, Gewehre, Kleinodien von der Jagd, von Duellen und Kriegen, deren Namen ich nicht wusste, und so begann meine Kindheit, mein Leben und mein Ende.

EINE ALTE GESCHICHTE

Notto Senum, später Fipp, sah dagegen das Licht der Welt nicht in einem Krankenhaus, um anschließend in einer Pferdekutsche zur herrschaftlichen Villa gefahren zu werden, in der bereits das Kinderzimmer vollständig eingerichtet bereitstand. Oh nein, Notto Senum riss sich stattdessen von seiner Mutter, Olga Senum, mit Hilfe von Nachbarsfrauen in einer engen Stube irgendwo in der Vogtei des Setesdalen los, genauer gesagt in Evje bei Hornnes, am siebten Februar 1885, abends, es war dunkel und kalt wie in einer endlosen Moritat und im blassen Schein der Gaslampe kaum möglich zu erkennen, ob es ein Mädchen oder ein Junge war. Doch nachdem eine der Nachbarsfrauen die Nabelschnur durchtrennt und das widerspenstige, außergewöhnliche Würmchen in Olgas Arme gelegt hatte, da konnten sie ein Lächeln nicht unterdrücken, denn der Junge, ja, es war ein Junge, war nicht gerade sehr adrett, er ähnelte nichts, was sie bei ähnlichen Gelegenheiten auf den Höfen in der Umgebung gesehen hatten, oh nein, er war lang und schlaksig, und mitten auf seinem runden Kopf wuchs ein Haarbüschelchen wie graues Moos auf einem glänzenden Mühlstein. Und wie sie lachten! Es sind nur noch diese Worte hinzuzufügen: Er war bereits damals eine Klasse für sich. Doch dann wurde die Tür aufgerissen, und der Vater, der Bauer, Jäger, Fischer, Grubenarbeiter, also ein Mann für alles Mögliche und jetzt Vater seines einzigen Sohnes, der stand da und füllte die gesamte Türöffnung in Höhe wie in Breite aus, und fast schrie er: »Worüber zum Teufel lacht ihr? Verfluchtes Weiberpack!«

Augenblicklich wurde es still im Setesdalen.

»Du hast einen Jungen bekommen«, flüsterte die Ehefrau.

Der Vater trat einen Schritt näher, jetzt sanfter gestimmt, aber immer noch skeptisch.

»Und was ist falsch an ihm?«

»Nichts ist falsch an ihm.«

»Und warum habt ihr dann gelacht?«

Eine der Nachbarsfrauen duckte sich und wurde in all ihrer Schlichtheit ganz feierlich.

»Wir haben vor Freude gelacht, Herr Senum. Weil Sie einen gesunden Sohn bekommen haben.«

»Verdammt, dann soll er Notto heißen! Wie ich!«

Olga nickte, war aber nicht zufrieden. Notto Senum. Konnte der Junge nicht lieber einen normalen Namen kriegen, einen Namen, der sich nicht von den anderen unterschied, sondern der eins wurde mit den Namen, die die anderen trugen. Doch sie tröstete sich damit, dass ein Name ja nur ein Name ist, der konnte ausgetauscht, umgewechselt und verändert werden.

Drei Wochen später kam der Doktor von Evje vorbei, ein älterer griesgrämiger Mann, der sich immer noch um eine Stellung in einem der Krankenhäuser in den größeren Städten bewarb, doch langsam wurde die Zeit knapp, wenn er irgendwo anfangen wollte, bevor er in Pension gehen und sterben würde. Er war auf seiner monatlichen Reise durch das Tal, und mit jedem Monat fiel sie ihm schwerer. Verdiente er etwa nicht einen weißen Kittel, einen Operationssaal, eine Krankenschwester? Der Meinung war er wohl. Nach einem kurzen Blick stellte er fest, dass der Junge lebensfähig war.

»Er ist nur etwas aufgeschossen. Aber das wird er schon bald abschütteln.«

Abschütteln!

Und dieser Arzt, der nie Zeit hatte und weiter zu Krankheiten und Schäden musste, die ihn brauchten, ach, wüsste er nur, wie recht er hatte. Wäre er trotz allem gründlicher zu Werke gegangen, hätte er vielleicht eine andere, sorgfältigere Diagnose gestellt, zum Beispiel Dyspepsie, nervöse Dyspepsie. Deshalb füge ich im Namen der Gerechtigkeit hinzu: Der Doktor tat sein Bestes, bei den einfachen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen. Und nachdem er sich die Mühe gemacht hatte, ganz bis zu den Senums zu gehen, konnte er auch gleich einen Blick auf die anderen werfen, die Eltern des Sohnes. Er würde nämlich nie zurückkommen, was er natürlich nicht wissen konnte. Bevor er den nächsten Hof tief hinten im Tal erreichte, würde er von einer Apoplexia cerebri getroffen werden. Eine Ader platzte in seinem Gehirn, und letztendlich wurde sein Wunsch doch noch erfüllt. Er kam in das Krankenhaus von Kristiansand, aber leider als Patient. Das hier war mit anderen Worten seine letzte Amtshandlung. Über den Vater gab es nichts zu sagen, ein kräftiger Mann im besten Alter. Das konnte der Doktor sehen, auch wenn der Vater hinten am Schleifstein stand und ihm den Rücken zukehrte. Doch bei der Mutter fand er etwas anderes: Sie hatte ab und zu einen trockenen Husten, der hart und anstrengend klang und sie inwendig aufschürfte. Das konnte eine ganz normale Erkältung oder Reizung sein. Aber es konnte auch ein sehr viel unheilvolleres Zeichen sein für eine Krankheit der Lunge, der Atemwege, und er wollte kein Risiko eingehen. Der Doktor legte ihr einen wärmenden Umschlag um den Hals, stellte ihr ein Glas Gemeine Hundezunge hin, ein linderndes Pulver, horchte eingehend die Brüste ab, die vor Milch fast platzten, ja, es gab sogar Anzeichen für ungewollten Milchfluss, es tropfte von den angeschwollenen Brustwarzen. Er sagte mit entschiedener Stimme:

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