Die blaue Kuppel der Erinnerung - Lars Saabye Christensen - E-Book

Die blaue Kuppel der Erinnerung E-Book

Lars Saabye Christensen

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Beschreibung

Wenn eine Gitarre die Welt bedeutet ...

In jedem Missgeschick steckt der Ansatz für eine wunderbare Geschichte: Ein Autor fällt von einer Bühne in Paris – er sollte hier eigentlich über das Besondere an der norwegischen Literatur referieren. Das hat ihn irgendwie aus dem Takt gebracht. In diesem schrecklichen Augenblick, während er die Arme in die Luft streckt und sich für alle Zeiten von der Welt verabschiedet, sieht er sich plötzlich wieder auf den Straßen von Oslo stehen. Vor Bruns Musikaliengeschäft in der Bygdoy allé – in der Auslage eine unglaubliche, rote Fender Stratocaster bewundern. Er ist 13 Jahre alt und weiß nur eins: diese Gitarre muss er haben. Natürlich ist sie unerschwinglich. Da verdingt er sich als Blumenbote beim alten Finsen und dessen Frau, und plötzlich nimmt sein Leben buchstäblich Fahrt auf …

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In jedem Missgeschick steckt der Ansatz für eine wunderbare Geschichte: Ein Autor fällt von einer Bühne in Paris — er sollte hier eigentlich über das Besondere an der norwegischen Literatur referieren. Das hat ihn irgendwie aus dem Takt gebracht. In diesem schrecklichen Augenblick, während er die Arme in die Luft streckt und sich für alle Zeiten von der Welt verabschiedet, sieht er sich plötzlich wieder auf den Straßen von Oslo stehen. Vor Bruns Musikaliengeschäft in der Bygdoy allé — in der Auslage eine unglaubliche, rote Fender Stratocaster bewundern. Er ist 13 Jahre alt und weiß nur eins: diese Gitarre muss er haben. Natürlich ist sie unerschwinglich. Da verdingt er sich als Blumenbote beim alten Finsen und dessen Frau, und plötzlich nimmt sein Leben buchstäblich Fahrt auf ...

Mit »Die blaue Kuppel der Erinnerung« feiert Lars Saabye Christensen sein dreißigjähriges Jubiläum als Schriftsteller. Ein Autor auf dem Höhepunkt seines Erfolges folgt seiner Spur zurück in die Vergangenheit, bis hin zu einer Gitarre und einem Blumenladen in der Stadt, in der er aufwuchs. Nichts ist komischer als das Tragische. Niemand weiß das besser als Christensen, und kaum einer versteht es besser, diese schlichte Wahrheit zu nutzen, ohne seine Figuren zu verraten.

LARS SAABYE CHRISTENSEN, 1953 in Oslo geboren, ist einer der bedeutendsten norwegischen Autoren der Gegenwart. Seine Bücher sind vielfach preisgekrönt und wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Zuletzt feierte er mit seinem Roman »Der Halbbruder«, für den er den Nordischen Literaturpreis erhielt, in ganz Europa und den USA Triumphe. Der Autor lebt in Oslo.

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorCopyright

Ich fiel in Paris. Direkt vor den Augen meiner Verleger und Übersetzer, nicht nur aus Europa, den USA und Südamerika, sondern auch aus Australien, Neuseeland und Japan, nicht zu vergessen die Journalisten, die an diesem Abend natürlich auch zur Stelle waren; vor all ihren Augen fiel ich von der Bühne im ehrwürdigen Auditorium 2, während der großen Buchmesse in Paris, am 4. März 2005, um 19.03 Uhr. Ich war eingeladen worden, um über das Besondere an der nordischen Literatur zu sprechen, genauer gesagt über den norwegischen Roman, gern über meine eigenen, wenn ich denn eine besondere nordische oder norwegische Prägung in einem von ihnen finden könnte, und wenn ich etwas darüber sagen wollte, wie oder warum ich überhaupt zum Schriftsteller geworden war, dann war das auch herzlich willkommen. Der Rahmen war, um es höflich auszudrücken, weit gesteckt, und das hätte mich eigentlich wachsam machen sollen, aber Erfolg macht einen oft träge, unaufmerksam, fast gleichgültig, und ich muss zugeben, ich hatte Erfolg, wie man so sagt. Ich war also im Gefahrenbereich, ohne es selbst zu wissen. In diesem Zustand ging ich die fünf Stufen hinauf auf die schmale, wacklige Bühne, die eigens für diesen Anlass aufgebaut worden war und in keinem Verhältnis zu dem großartigen Interieur ringsumher stand. Sie war sicher von einer Firma bereitgestellt worden, die sonst für Sportvereine, den 14. Juli und kirchliche Basare arbeitete. Der Applaus brach los, sobald ich mich zeigte, und erstarb ebenso schnell wieder. Es lag Erwartung in der Luft. Ich verneigte mich. In meiner Jackentasche hatte ich einen Notizzettel, auf den ich nur drei Worte geschrieben hatte, drei Stichworte, in Verbindung mit dem umfassenden Thema des Abends, nämlich der Frage, was die nordische Literatur besonders auszeichnet, genauer gesagt den norwegischen Roman, und wie oder warum ich Schriftsteller geworden war, wenn ich Gelegenheit finden würde, darüber etwas zu sagen, und diese drei Worte lauteten Ich hatte bereits im Vorfeld die Organisatoren, schriftlich wie mündlich, um einen Stuhl gebeten, einen Stuhl, auf dem ich sitzen konnte, weil ich schnell unsicher werde und mir dann schwindlig wird, wenn ich stehen und gleichzeitig reden muss, das hat etwas mit meiner Atmung und dem Herzrhythmus zu tun, die Ärzte würden es sicher als supraventrikuläre Extrasystolen bezeichnen; sicher auf einem Stuhl sitzend, schlägt mein Herz ruhig und zuverlässig, ein Metronom aus Fleisch und Blut, aufrecht stehend kommen dagegen Doppelschläge am laufenden Band, wie bei einem Hund, den man am Brustkorb festgebunden hat. Und sie hatten den Stuhl nicht vergessen. Er stand ganz hinten an der Wand, die von einer riesigen Landkarte von Skandinavien bedeckt war, und es war ein enttäuschend gewöhnlicher Holzstuhl, ungefähr wie die Stühle, die man früher in der Schule benutzt hat oder die so gerne in erbärmlichen Wartezimmern bei unsensiblen Zahnärzten zu stehen pflegen, Sitz und Rückenlehne aus dünnen Spanplatten und ohne Armlehnen. Das würde schon seinen Mann erfordern, von diesem Stuhl aus inspiriert über Literatur zu sprechen, das begriff ich sofort, doch es bekümmerte mich nicht, denn ich war ja auf Erfolgskurs. Außerdem erschien es mir unpassend, so dicht vor der Landkarte von Skandinavien zu sitzen, ich verdeckte ja fast ganz Dänemark, das konnte zumindest irritierend erscheinen, vom Publikum aus gesehen. Deshalb zog ich den Stuhl zum Bühnenrand hin. Das hätte ich nicht machen sollen. Bevor ich nur ein Wort gesagt hatte, begann ich bereits zu fallen. Das eine Stuhlbein ragte über den Rand. Der Stuhl kippte vornüber. Ich konnte gerade noch sehen, dass die Uhr an der Tür ganz hinten im Saal 19.03 zeigte. Ich konnte gerade noch all die lächelnden, freundlichen Gesichter sehen, die noch gar nicht bemerkt hatten, was da passierte. Und dieser eine Augenblick dehnte sich in all seiner Grausamkeit aus und erstarrte in einer schrägen Narbe auf meiner rechten Stirnseite. So fiel ich in Paris. Der Stuhl verschwand unter mir. Ich fiel kopfüber, ins Publikum, auf den Boden, in den Abgrund. Es gibt Menschen, die benutzen den Ausdruck freier Fall. Entweder lügen sie, oder sie wissen nicht, wovon sie reden. Denn kein Fall ist frei. Derjenige, der fällt, ist unfrei. Mein Fall war so unfrei, wie ein Fall in aller Öffentlichkeit nur sein kann. Niemals war ich weniger frei. Wie eine schlackernde Puppe, eine wütende Marionette, aufs Geratewohl von den Fingern eines bösen Gottes an die Fäden geknüpft, hing ich frei in der Luft, zwischen Bühne und Saal, zwischen Kronleuchter und Parkett, und ich hörte bereits Rufe, die erschrockenen Rufe des Publikums, ich hörte bereits Schritte, die sich näherten, ich sah, dass die Uhr an der Tür immer noch 19.03 zeigte, und ich hatte bereits damit begonnen, darüber nachzudenken, wie ich aus dieser unanständigen Situation wieder herauskommen könnte, diesem beängstigenden Auftritt, mit einem Hauch, nur einem Schatten, einem Zipfelchen von Ehre, ich könnte bleich auf dem Boden liegen bleiben; ganz gleich, wie sehr ich mir weh getan hatte, könnte ich wie tot liegen bleiben und damit das Ungeschick zum Schicksal erheben, das Unglück zur Katastrophe, das Lachen zum Weinen, Ärzte und Rettungswagen müssten herbeigerufen werden, Wiederbelebungsversuche wären vonnöten, und dann, wenn ich im Rollstuhl säße, gelähmt vom Nacken bis zu den Zehen, könnte ich diese unfähige Firma verklagen, die diese schiefe Bühne gebaut hatte, diese schrägen Breitengrade, ich könnte ihn oder sie verklagen, die Person, die diesen lächerlichen Holzstuhl vor die Wand gestellt hatte, ich könnte die ganze Buchmesse verklagen, ja, ich könnte sogar Paris verklagen, Chirac, Le Pen, den Eiffelturm und Proust. Andererseits könnte ich auch Großmut zeigen und allen vergeben. Doch so weit kam ich nie. Ich streckte beide Arme in die Luft, als winkte ich ein allerletztes Mal zum Abschied oder wie in einem letzten, pathetischen Versuch, nach etwas zu greifen, um mich festzuhalten, einem unmöglichen, festen Anhaltspunkt, dem Schatten in meinem Leben, einem rauen Trapez in der blauen Kuppel der Erinnerung, und von diesem Augenblick an, diesem nachhaltigen Augenblick, konnte ich mich selbst vor Bruns Musikaliengeschäft stehen sehen, in der Bygdøy alle, wie ich die elektrische Gitarre bewunderte, die im Fenster ausgestellt war, zwischen Trompeten und Ziehharmonikas, nämlich eine fiestarote Fender Stratocaster, mit angeschraubtem Ahorngriff, Ahorngriffbrett, Volumenkontrolle und drei einzelnen Coilmikrofonen, und das Einzige, was ich wusste: diese Gitarre musste ich haben. Ich habe die Bygdøy alle schon erwähnt, dass ich in dieser Straße stand, in dieser hochherrschaftlichen Straße mit ihren vornehmen Fassaden, die in Neorenaissance und Barock gehalten waren, Oslos Pariserischer Boulevard, der vom Lapsetorvet bis zur Frognerkilen und zum Kongsgården selbst reicht und der nicht zuletzt durch das Lied Unsterblichkeit erlangte, wenn ich es so deutlich sagen darf, und das darf ich, vorgetragen ein für alle Mal mit sanfter Bravour von Jens Book-Jensen. Aber die Kastanien blühten nicht. Sie waren dabei, sich von den Zweigen zu lösen, und bald würden diese grünen Granaten, die Seeigel des Baumes, auf die Schädel nichtsahnender Fußgänger hinabsegeln, die jeden Herbst aufs Neue vollkommen überrascht schienen, dass die Kastanien in der Bygdøy alle herunterfielen, bis auf diejenigen, die einen Hut trugen, und das taten ja eigentlich die meisten, Frauen wie Männer, in der Bygdøy alle. Und nachdem das gesagt ist, kann ich ebenso gut auch das Datum nennen, einer Erzählung tut es nämlich nur gut, einen sachlich klaren Zeitpunkt zu haben, eine Erzählung findet nicht nur an einem Ort statt, sie findet auch zu einem Zeitpunkt statt, und die Zeit ist auch ein Ort: 10. September 1965, ich war auf dem Heimweg von der Schule, ich ging in die erste Realschulklasse in Vestheim, und war also gerade dort stehen geblieben, vor Bruns Musikaliengeschäft in der Bygdøy alle, um wieder einmal die elektrische Gitarre im Schaufenster zu bewundern. Und wenn jemand daran interessiert ist, was an diesem Tag sonst noch geschah, so kann ich den Ungarn Gyula Zsivotsky erwähnen, der bei einem Wettkampf in Debreczin einen neuen Weltrekord im Hammerwerfen aufstellte mit einem Wurf von 73,74 Meter, die Rolling Stones lagen mit an der Spitze der britischen Hitparade, und am Tag zuvor waren auf Blindern 58,7 Millimeter Niederschlag gemessen worden, was einen neuen Rekord für diese Wetterstation bedeutete. Jetzt war es jedoch trocken, mit einem kalten Zug in der Luft, an der Grenze zwischen Sommer und Herbst. Aber das hat nicht viel mit der Sache zu tun, das ist nur das wacklige Gerüst der Erzählung. Was zählt, das ist das Etikett, das mit einem Gummiband an der Schraube der untersten Saite befestigt war: 2250 Kronen. Ich hatte fünfzig Öre in bar, dreiundvierzig Kronen auf dem Konto im Djusklubben, eine Abkürzung für den »Jungs-Sparclub«, und dieses Konto war mit Stacheldraht und Vorhängeschloss bis zum nächsten Sommer verschlossen, und in der Woche bekam ich drei Kronen Taschengeld, dafür, dass ich den Müll hinunterbrachte, mein Essen aufaß, mein Zimmer aufräumte und auch sonst ganz vernünftig war, mit anderen Worten, eine Mauer an Kapital, eine ganze Geldgrube, eine schwindelerregende Summe, stand da zwischen mir und der Gitarre, nicht nur das blankgeputzte Schaufenster, das die Versuchung noch vergrößerte. Auch ein Erbe war in nächster Zeit nicht zu erwarten, denn meine Eltern standen noch mitten im Leben, wie sie jeden Samstag zu sagen pflegten, und waren verhältnismäßig gesund, obwohl meine Mutter bei Vollmond über Kopfschmerzen und mein Vater manchmal über seinen schmerzenden Rücken klagte, wenn eine neue Arbeitswoche die Wirbel wie eine Ziehharmonika zwischen Nacken und Gürtel zusammendrückte, es konnte natürlich ein Unfall passieren, Unfälle passierten immer, und die meisten Unfälle passieren außerdem ja im Haus, wo die Norweger die meiste Zeit ihres Lebens verbringen, daheim, Mutter konnte beispielsweise beim Gardinenaufhängen von der Leiter fallen und sich den Kopf am Türpfosten aufschlagen, und Vater konnte der Schlag treffen, wenn er von der Arbeit kam und sie auf dem Boden liegend vorfand, aber so weit dachte ich nicht, es war eine Sünde, solche Gedanken zu haben, denn man stelle sich nur vor, wenn diese Gedanken in Erfüllung gingen, was dann? Eine Möglichkeit bestand darin, die Gitarre zu stehlen, aber wie stiehlt man eine elektrische Gitarre, ohne erwischt zu werden? Ein Marsriegel, eine gefrorene Safttüte oder ein Hockeypuck, das war etwas anderes, das brauchte man nur schnell in die Tasche zu stecken, unter die Jacke, in einen Stiefel, nicht, dass ich das jemals getan hätte, ich habe nur gesehen, wie es andere gemacht haben, einer, der bereits polizeibekannt war. Eine Fender Stratocaster dagegen erforderte mehr Platz, so ein Instrument zu stehlen, das war kein Klauen mehr, das war regelrechter Diebstahl, dazu brauchte man sicher eine Strumpfmaske, einen Rollkragenpullover, eine tiefe Stimme und eine Waffe, diese Möglichkeit schob ich mit anderen Worten weit von mir. Und Geburtstag hatte ich erst wieder nächstes Jahr, und bis Weihnachten waren es noch drei Monate und zwei Wochen, und selbst wenn jetzt Heiligabend gewesen wäre, so hätte ich niemals eine elektrische Gitarre bekommen, auch wenn sie ganz allein auf meiner Wunschliste gestanden hätte; eine fiestarote Fender Stratocaster, und eine gewisse Anzahl von Scheinen vom Haushaltsgeld in der dritten Schublade rechts im Büfett im Wohnzimmer zu klauen, das würde bedeuten, direkt ins Gefängnis zu wandern, wo doch Vater Kassierer in der Bank am Solli plass war, und damit nicht genug, er war Hauptkassierer, was bedeutete, dass, wenn es darauf ankam, nur noch der Finanzminister, Onkel Dagobert und Gott über ihm standen und nicht ein Öre an ihm vorbeirollte. Mutter war übrigens meistens zu Hause, abgesehen von einem oder zwei Tagen im Monat, da war sie nicht da und zufrieden, und an diesen Tagen, es handelte sich normalerweise um einen Montag, bediente sie bei Lunds Kamera & Film in der Tidemands gate, manchmal entwickelte sie auch Filme, in der Dunkelkammer hinter dem Laden, und den Rest der Woche rochen Mutters Finger geheimnisvoll nach Chemie, und alles, was sie berührte, wurde zu Bildern, sogar ich, wenn sie mir ihre Hand auf die Stirn legte und Gute Nacht sagte, wurde ich zu einem Bild, das sich mit anderen Träumen vermischte. Aber all das können Sie erst einmal vergessen. Ich werde Sie noch rechtzeitig wieder an meine Eltern erinnern. Das Einzige, was Sie sich merken müssen, das ist die elektrische Gitarre, das Preisschild, 2250,— Kronen, und dass ich pleite war.

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