Die Bertinis - Ralph Giordano - E-Book

Die Bertinis E-Book

Ralph Giordano

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine großangelegte Familien-Saga, ein exemplarischer Zeitroman. Ralph Giordano formt einen bisher wenig beachteten Stoff episch aus: Er erzählt vom Schicksal sogenannter "jüdischer Mischlinge" in den Jahren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Die Vorgeschichte beginnt Ende des letzten Jahrhunderts, die eigentliche Handlung setzt vor 1933 ein und führt in die ersten Nachkriegsjahre. Ihr Schauplatz: Hamburg - von den Elbvororten bis zum Stadtpark, von Barmbek im Norden bis zum Hafen im Süden, mit unvergeßlichen, in den dramatischen Ablauf verwobenen Gestalten, Bildern, Situationen. Fast unglaublich ist diese Geschichte: Der Autor hat mit seiner Phantasie die nackte Realität überhöht; es ist ihm gelungen, eine sinnfällige Schilderung von Menschen unter bestimmten Bedingungen zu schaffen und eine Zeit zurückzurufen, die mit überwältigender Macht in das Leben aller eingegriffen hat. Er hat das Geschehen und die Figuren frei gestaltet. Hier sind die kleinen Leute mit ihren Schwächen unter dem grausamen Druck des herrschenden Bösen, mit ihren liebenswerten Zügen, mit dem Ausmaß des ihnen zugefügten Leides und der Fähigkeit zum Überleben. Nichts wird geschönt, keine bittere Erkenntnis verschwiegen. Doch was immer es an Furchtbarem gab: die Liebe zu Hamburg, diese ganz unsentimentale Heimatliebe, bleibt unerschüttert und ist entscheidend für die Zukunft der Bertinis.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1319

Veröffentlichungsjahr: 2010

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ralph Giordano

Die Bertinis

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Eine großangelegte Familien-Saga, ein exemplarischer Zeitroman. Ralph Giordano formt einen bisher wenig beachteten Stoff episch aus: Er erzählt vom Schicksal sogenannter »jüdischer Mischlinge« in den Jahren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Die Vorgeschichte beginnt Ende des letzten Jahrhunderts, die eigentliche Handlung setzt vor 1933 ein und führt in die ersten Nachkriegsjahre. Ihr Schauplatz: Hamburg - von den Elbvororten bis zum Stadtpark, von Barmbek im Norden bis zum Hafen im Süden, mit unvergeßlichen, in den dramatischen Ablauf verwobenen Gestalten, Bildern, Situationen. Fast unglaublich ist diese Geschichte: Der Autor hat mit seiner Phantasie die nackte Realität überhöht; es ist ihm gelungen, eine sinnfällige Schilderung von Menschen unter bestimmten Bedingungen zu schaffen und eine Zeit zurückzurufen, die mit überwältigender Macht in das Leben aller eingegriffen hat. Er hat das Geschehen und die Figuren frei gestaltet. Hier sind die kleinen Leute mit ihren Schwächen unter dem grausamen Druck des herrschenden Bösen, mit ihren liebenswerten Zügen, mit dem Ausmaß des ihnen zugefügten Leides und der Fähigkeit zum Überleben. Nichts wird geschönt, keine bittere Erkenntnis verschwiegen. Doch was immer es an Furchtbarem gab: die Liebe zu Hamburg, diese ganz unsentimentale Heimatliebe, bleibt unerschüttert und ist entscheidend für die Zukunft der Bertinis.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Helga Giordano meiner Frau

Die Figuren dieses Romans sind frei gestaltet. Wohl gibt es für einige von ihnen historische Ausgangspersonen. Doch diese haben sich im langen Schaffensprozeß selbständig gemacht und verfremdet. Nie war es die Absicht des Autors, jene bloßzustellen, mit denen er das Inferno gemeinsam durchlitten hat. Er hat Figuren gezeichnet, wie etwa die des Cesar Bertini, die im Verlauf des Geschehens unter dem Druck eines unmenschlichen Systems schwere persönliche Verformungen erleiden. Einzelne ihrer Handlungen, insbesondere sexuelle Vorgänge, sind Produkte der Phantasie des Autors und nicht einer real existierenden Person zuzuschreiben.

Erster TeilCHRONIK

1Wie sich der Schauplatz von Italien nach Deutschland verlagerte

Giacomo Bertini war fünf Jahre alt, als er beschloß, sein erbärmliches Geburtsnest Riesi im sizilianischen Regierungsbezirk Caltanisetta auf dem Rücken eines nachbarlichen Esels unabgemeldet zu verlassen – das Meer, Palermo, Musik! Aber er kam nur knapp auf den Weg. Noch im Weichbild der Ortschaft bockte das Tier, warf den jugendlichen Reiter ab und schmetterte ihm den rechten Hinterlauf so nachdrücklich ins Gesicht, daß das Blut spritzte – spitz durchstieß das Nasenbein die Haut.

Giacomo wendete.

Fortan sah man ihn häufig in die Olivenhaine verschwinden. Mit dem Rücken gegen einen Stamm gelehnt, wußte er einer primitiven, selbstgebastelten Flöte helle, überirdische Töne zu entlocken. Acht Jahre später, mit dreizehn, verließ er sich nicht mehr auf fremder Leute Esel. Nachts riß er aus, wanderte, wanderte gewaltig über die sizilianische Erde und erreichte, halbverhungert, auf der Höhe von Palermo das gläserne, vom Horizont violett gesäumte Meer. Betrat die Stadt. Stand staunend vor der Martorana des Georg von Antiochien, in Ehrfurcht gebeugt unter dem Portal der Politeana Garibaldi und weinte vor den rötlichen Rundkuppeln des San Giovanni degli Eremiti. Zitternd betastete er die Rosen an den Säulen. Wie immer, wenn er erregt war, schimmerte die Narbe an seiner Nase ganz weiß.

Giacomo ging bei einem Schneider in die Lehre, um des Brotes willen. Mühelos und genial beherrschte er mit fünfzehn ein halbes Dutzend Instrumente, allen voran die Trompete. Gab, nachdem der Schneidermeister ihn seiner störenden musikalischen Besessenheit wegen schließlich davongejagt hatte, ein kurzes, zähneknirschendes Intermezzo bei den Carabinieri, floh auch diese Organisation und spielte, zwanzigjährig, unaufgefordert einem großen Blasorchester vor, das Palermo etwas gönnerisch beehrte – die Herren waren Hauptstädte gewohnt. Giacomo schlich in eine Probe, unterbrach sie schrill mit seiner Trompete, blies, blies unerhört, jetzt engelhaft sanft, dann wieder mit mauersprengendem Schall, tremolierend, von schier endlosem Atem. Hielt inne, wartete, griff, als der Himmel nicht einstürzte, nach einem Cello, gab ein furioses Solo und stand nach dem letzten Ton, seiner schlotternden Glieder nicht mehr mächtig, da – Erfolg oder Untergang hatte seine Devise gelautet!

Alberto Druso, ein feiner, weißhaariger Mann, hielt die ganze Zeit seinen Stab gesenkt. Sizilianer aus Messina, engagierte er den ungebetenen Gast wortlos durch ein Kopfnicken. Sie schlossen sofort Freundschaft miteinander.

Das war 1890.

Vier Jahre zog Giacomo mit dieser Kapelle durch die Metropolen des Mittelmeeres – Alexandrien, Athen, Marseille, Konstantinopel, Rom –, ehe sie sich zum erstenmal nach Norden wandte.

Damals fand in Hamburg unter dem verheißungsvollen Titel »Venedig an der Elbe« eine Ausstellung statt, ein geschicktes Arrangement von Vergnügen und kommerziellen Interessen des Zitrus-Imports – die Leitung schrie nach einem original-italienischen Orchester. Alberto Drusos Musiker überwanden sich und die Alpen und trafen fröstelnd in Hamburg ein, wo ihr dunkler Charme sogleich grobe Verwirrung stiftete. Noch während des Debuts in der »Central-Halle« verliebte sich eine Zuhörerin aus der ersten Reihe sterblich in den Zweiten Trompeter, einen ebenso hübschen wie unbedeutenden Mann. Gleichzeitig mit ihrem vehementen Gefühl wurde auch ihr unheilvoller Plan geboren. Schon in der Pause bestrickte sie den Trompeter, wich künftig nicht mehr von seiner Seite und zählte bald zum Inventar. Zunächst noch unauffällig, begann sie, die Musiker, zwanzig zum Teil bärtige Italiener, zu beschenken, ehe sie daran ging, sie hemmungslos vor den Augen Alberto Drusos, um dessen Rücktritt es ihr ging, zu korrumpieren. Mammon und undankbares Verhalten obsiegten schließlich. Weinend und ohne verabschiedet zu werden, fuhr der vernichtete Druso nach Messina zurück, was den selbstlosen Gatten des liebestollen Frauenzimmers immerhin an die achtzigtausend Goldmark gekostet hatte.

Tatsächlich wurde der Zweite Trompeter auch zum Dirigenten erhöht, seine Talentlosigkeit für den neuen Beruf von den anderen aber nur noch in Hamburg widerspruchlos hingenommen. Schon in Berlin, der nächsten Verpflichtung, ließen sie sich den Menschen nicht mehr gefallen. Als er aufbegehrte, packten sie ihn, schleppten ihn an die Bahn und hielten die Türen so lange gewaltsam geschlossen, bis der Zug in südlicher Richtung davondampfte. Noch auf dem Bahnsteig wählten sie einstimmig und unter Absingen der italienischen Nationalhymne den Ersten Trompeter des Orchesters zu ihrem Oberhaupt. Der sagte kein Wort, keinen Dank, nichts regte sich in seinem Gesicht – nur die Narbe an der Nase leuchtete ganz weiß.

Damals, in Hamburg, hatte es einen Augenblick so ausgesehen, als wollte er dem fassungslos schluchzenden Alberto Druso nachstürzen. Er allein, der Erste Trompeter, hatte die Gaben der Verliebten verschmäht und die Frau keines Blickes gewürdigt. Aber er war geblieben, als sein älterer Freund und Förderer unfreiwillig nach Italien zurückkehrte. Am nächsten Tag, und niemals wieder, fehlte dem Orchester sein Instrument.

Gnadenlos regierte er fortan das Ensemble. Einen langen Säbel umgeschnallt, stand er kerzengerade auf dem Podium. Die Männer gehorchten ihm auf ein Zucken der Braue, nachdem er den Posaunist mit einem Faustschlag gefällt hatte, als dessen Einsatz um den unhörbaren Bruchteil einer Sekunde zu spät gekommen war. Oft probte er so lange, bis ihm das Wasser aus der Manschette troff. Er erweiterte das Repertoire des Erstklassigen Blasorchesters Bertini unter der persönlichen Leitung des Sizilianers Giacomo Bertini aus Palermo (!) auf 250 Märsche, 25 Polkas und 24 Mazurkas, ließ auf vier Seiten ein entsprechendes Programm drucken, ziffernmässig geordnet und unter Namensangabe des Komponisten, ohne zu vergessen, seine großen Lieblingsstücke deutlich herauszukehren, nämlich Aufforderung zum Tanz von Carl Maria von Weber, La danza delle ore von Ponchielli, Beethovens Egmont und Rossinis Wilhelm Tell-Ouvertüre.

Dann verwandelte er die Kapelle in ein »Philharmonisches Blasorchester«, führte es in noch nicht zwei Jahren über Berlin, London, Warschau, Paris, Moskau und St. Petersburg von Gipfel zu Gipfel, ein unbeherrschter, gesegneter Künstler, wie ein römischer Triumphator empfangen, von gekrönten Häuptern huldvoll in Augenschein genommen, glorienscheinumstrahlt, überall denkwürdig verabschiedet und von den Frauen vergöttert – Maestro Giacomo Bertini!

Eine erkennbare Anhänglichkeit trieb ihn immer wieder nach Hamburg zurück, dem Ausgangsort seines märchenhaften Aufstiegs. Nachts allein schweifend, las er dort in einem obskuren Viertel oberhalb des Hafens zwischen St. Pauli und Altona ein Mädchen namens Emma Ossbahr auf, Jungemigrantin aus Schweden, die er zur Stunde noch zu seiner Geliebten machte. Sie steckte ihn schwer, wenngleich nicht unheilbar, an. Zusammen mit dieser Entdeckung erfuhr Giacomo telegrafisch vom Tode Alberto Drusos, der irgendwo auf Sizilien die verbliebene Frist in schauerlicher Einsamkeit zugebracht haben sollte. Wie vom Schlag getroffen, fiel Giacomo um. Als er erwachte, hob er die Augen gen Himmel und wimmerte den Namen des toten und verratenen Freundes vor sich hin. Bald wurde er abermals ohnmächtig. Emma holte einen Arzt, der nach kurzer Untersuchung an Herz und Puls erklärte, Giacomo Bertini werde an einem Gehirnschlag sterben, während einer Erregung, morgen oder in dreißig Jahren, in jedem Fall jedoch an einem Gehirnschlag.

Um diese Zeit ging eine schreckliche Veränderung mit Giacomo vor sich. Er begann zu trinken, auf die Knie zu fallen und mit erhobenen Armen zu flehen. Dabei schaukelte er mit dem Oberkörper wie ein Bär hin und her, stürzte nach vornüber aufs Gesicht, riß, als sie ihm aufhelfen wollte, auch Emma zu Boden und liebte sie dort mit der Grazie eines Walfisches. Das jähe Erwachen aus der Besinnungslosigkeit körperlicher Wonnen in die gewissensgequälte Wirklichkeit hatte für seine Gefährtin fürchterliche Folgen. Giacomo hatte aus Petersburg, wo er vor dem Zaren dirigierte, ein Geschenk des Herrschers über alle Reußen mitgebracht, einen Stab aus Eisenholz, den er nun auf Emma tanzen ließ, bis sie mit geschwollenen Gliedern und unkenntlich verwüstetem Gesicht blutend zusammenbrach. Sein Zorn auf sich selbst verlieh ihm atemberaubende Kräfte. Einmal versetzte er während solcher Auseinandersetzung einer schweren Wanne aus Zink einen so gewaltigen Tritt, daß sie sich ausbeulte und dadurch unbrauchbar wurde. Ein anderes Mal hob er mit Händen, Schultern und Kopf einen Küchentisch hoch und schleuderte das Möbel gegen Emma. Es verfehlte sie nur dadurch, daß sie sich geistesgegenwärtig der Länge nach, flach zu ihm hin, zu Boden warf. Ließ Giacomo dann von ihr ab, so versprach er Besserung und lallte Alberto Drusos Namen vor sich hin. Dennoch mißhandelte er Emma gewöhnlich zweimal in der Woche auf diese Weise.

Eines Tages gestand sie ihm dabei, daß sie guter Hoffnung sei. Der schon erhobene Stock aus Eisenholz blieb in der Luft schweben und fiel dann auf die Erde. Neben ihm wand sich, das Gesicht in den Händen, Giacomo wie in Qualen. Aber als er aufsah, erkannte Emma, daß seinen Augen Tränen des Glückes entströmten. Während der folgenden neun Monate waren die Gebete nicht zu zählen, in denen er Gott anrief, ihm ein Zeichen zu senden, ob es Sünde sei, einem Sohn den Namen des verlassenen und betrogenen Freundes zu geben. Denn daß es ein Sohn werden würde, stand für ihn außer Zweifel.

Es wurde ein Sohn, aber Gott hatte Giacomo Bertini kein Zeichen gegeben. Emma hörte ihn die Nächte hindurch stöhnen. Das Kind wurde mit dem Namen Alfredo in die Papiere eingetragen, aber vom ersten Tage an Alf gerufen. Schon auf der Straße, vor der Tür der Hamburger Behörde, wollte Giacomo die Entscheidung wieder rückgängig machen und den Sohn umbenennen lassen. Als Emma versuchte, ihn zurückzuhalten, drang er vor den Passanten mit erhobenen Fäusten auf sie ein und lief dann, laut den Namen des toten Sizilianers rufend, taumelnd davon. Ergeben trollte Emma hinter ihm drein. Sie war längst sein unentbehrlicher Agent geworden, traf alle Abmachungen und schloß die Verträge.

Giacomo hatte die heimatlose Schwedin im Dezember des Jahres 1896, vier Tage vor der Geburt, um dieses Sohnes willen zu seiner Frau gemacht.

 

Frühe Fotos wiesen Alf Bertini als ein rundgesichtiges, mehr der Mutter nachgeratenes Kind in seltsam weißer Plusterkleidung aus. Als er stubenrein geworden war, nahm Giacomo den Sohn auf den Schoß und zwirbelte seine Ohrläppchen unter zärtlichem Schnurren zwischen Daumen und Zeigefinger, senkte den Kopf, murmelte, flehte gen Himmel. Nachts, irgendwo in Europa, auch nach den ungeheuren Anstrengungen eines Arbeitstages, stand er auf, verschwand in Kaschemmen, soff. Emma, das Kind auf dem Arm, lief mit verzerrtem Gesicht hinter ihm her, stellte sich, während er lallte, neben ihn und wich nicht von seiner Seite. Der Sohn schluckte Rauch, krächzte, erbrach sich. Schließlich entriß Giacomo ihn seiner Frau und flüchtete, von ihr verfolgt, durch die Tür. Unterwegs prophezeite er sich und den Seinen ein furchtbares und unentrinnbares Schicksal bis in ferne Glieder.

Mehrere Male in der Woche schleppte er Weiber mit nach Hause, warf Emma kurzerhand aus dem Bett und packte sich mit ihnen grunzend da hinein.

Vor dem Publikum aber saß jede Bewegung so exakt wie der lange Säbel, den umzuschnallen er nie vergaß. Kerzengerade stand Giacomo vor seinen Männern, hob die Brauen, schwang den Stock aus Eisenholz und nahm den Sohn, als Alf gehen konnte, mit auf die Proben. Und dabei geschah das Unglück.

Der Fünfjährige hatte hinter Giacomos Rücken nach einem Stock gefaßt, sich aufgestellt und unter unartikulierten Lauten stramm die Ärmchen bewegt – hingerissen vom Schall der Trompeten, dem Wirbel der Trommeln, dem Klatschen der Bässe, der majestätischen Figur des Vaters, vor allem aber, um eine später nur zu deutlich hervortretende Charaktereigenschaft vorweg anzuzeigen, von dem unwiderstehlichen Gefühl getrieben, in Erscheinung treten zu müssen, weil der Geltungstrieb es ihm befahl.

Giacomo, von den schmunzelnden Musikern vorsichtig aufmerksam gemacht, wandte sich um, trat verzückt zurück, sah mit geisterbleicher Rührung auf den wild hantierenden, offenbar ekstatischen Alf – seine Narbe an der Nase wurde schneeweiß. Und in der fürchterlichen Mischsprache aus Deutsch und Italienisch, die zwischen Emma und ihm zur lingua franca geworden war, schrie er nun: »Einär Wu- undärki-ind! Figlio mio isse einär Wu-undärki-ind!« Er gab seinen Leuten ein Zeichen, weiterzuspielen, ließ den Sohn fuchteln, hob die Probe angesichts Alfs schneller Erschöpfung dann aber auf und feierte das Wu-undärki-ind.

Mit diesem Titel wuchs Alf Bertini auf, immer wieder hörte er ihn aus dem Munde des Vaters. Das Wort wurde zu einem festen und selbstverständlichen Bestandteil seiner Kindheit und seiner Selbstbeurteilung, obwohl er den Auftritt nicht wiederholte oder von Giacomo dazu angehalten worden wäre. Denn hatte es mit der musikalischen Ausbildung nicht noch Zeit, viel Zeit? Vorerst betete Giacomo seinen einzigen Sohn närrisch an, wiegte ihn auf den Knien, zwirbelte die Ohrläppchen zwischen Daumen und Zeigefinger und schluchzte plötzlich laut einen Namen.

Alf Bertini genoß niemals eine gründliche und methodische musikalische Ausbildung. Sie ging unter auf der hektischen Straße des väterlichen Ruhms, seinem Trubel, dem heißen, vibrierenden Vagabundieren durch Europa. Immer, wenn sie in Deutschland gastierten, steckte Giacomo ihn in irgendeine Musikschule, ließ ihn heute von diesem, morgen von jenem Lehrer unterrichten, ohne die Geduld oder die Zeit zu haben, seine Fortschritte und sein Talent auch zu kontrollieren.

Dieses furiose und planlose Jahrzehnt mit seinen frenetischen Ovationen mußte Giacomo Bertini doch schwerer zugesetzt haben, als er je zugab. Er war jetzt, 1905, fünfunddreißig Jahre alt, aber mit seinem breiten, herrischen Gesicht, der deformierten Nase und der plump gewordenen Figur wirkte er älter. Manchmal, wenn er todeserschöpft und ausgezehrt vom Podium stieg, sah er aus wie fünfzig.

So brütete er lange, als ihm ein berühmtes römisches Konservatorium das Angebot machte, an geweihter Stelle die Position eines Musikdirektors zu übernehmen. In Wahrheit hatte er genug von den endlosen Reisen zwischen der britischen Hauptstadt im Westen und St. Petersburg im Osten. Er hatte in der letzten Zeit ohnehin seinen Radius beschränkt, hatte lieber mit Pologne in Leipzig abgeschlossen, mit dem Zeltgarten in Breslau, der Deutschen Musikhalle und dem Königs-Café Berlins. Auch hatte er inzwischen eine Wohnung in Hamburg genommen, im vierten Stock eines Hohelufter Mietshauses, wenngleich er diesen Beschluß als Intermezzo bezeichnete, improvisiert und aufhebbar. Italiens Boden hatte er nie wieder betreten. Manchmal ahnungslos nach dem Grund für diese Abstinenz gefragt, antwortete er mürrisch, der Reiz einer italienischen Kapelle beginne bekanntlich erst nördlich der Alpen. Seine Musiker sagten nichts und schlugen die Augen nieder.

Aber dann fuhr er doch nach Rom und nahm Alf mit. Als er dem Zuge entstieg, zögerte er, seinen Fuß auf die Erde zu setzen. Lange murmelte und flehte er vom Trittbrett zum Himmel hoch, ohne die Ungeduld der Wartenden hinter ihm überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Auch Alf schaute sich um, schnupperte, griff, rührend-hilflose Gebärde, nach der Hand des Vaters. Der krauste entschlossen die Stirn und betrat den Bahnsteig.

Fast wortlos, wie damals in Palermo, vollzog sich der Abschluß des Vertrages. Giacomo war allein zum Konservatorium in der Nähe der Thermen des Caracalla gegangen. Ins Hotel zurückgekehrt, hörte er den Sohn weinen. Der Vater erstarrte. In der Nacht lagen beide mit offenen Augen da und horchten auf Roms mannigfache Geräusche. Von Zeit zu Zeit seufzte Alf tief auf. Noch vor Morgengrauen erhob sich Giacomo, spazierte ziellos in der Stadt umher, blieb dann und wann stehen, faßte nach dem Vertrag in der Brusttasche, ehe er schließlich in Richtung der Zentralstation ausschritt.

Gegen Mittag kehrte er zurück, nahm Alf an die Hand und zog mit ihm stumm und fragend durch die heißen Straßen Roms. Alf Bertini starrte auf die glühenden Steine unter seinen Füßen. Auf der Via Francesco Crispi, nachmittags, legte Giacomo endlich beide Hände auf den Rücken:

»Fahrkarte oder Vertrag?«

Alf Bertini zog die zehnjährigen Schultern hoch. Das Hemd klebte ihm auf der Haut. Es war sengend heiß in der überhellen Stadt.

»Fahrkarte!« schrie er, verzweifelt, auf Deutsch.

Noch am Abend fuhren sie zurück.

Wieder eingetroffen, ließ Giacomo sich ungemein geschmacklose Briefbögen drucken. Oben, am Kopf, ein Tiefdruckbild von ihm, stehend, mit beiden Händen auf seinen sehr dekorativen Säbel gestützt, inmitten seiner Männer; zu seiner Linken eine große Trommel, so aufgebaut, daß die Aufschrift »Philharmonisches Blasorchester Bertini« deutlich sichtbar war. Auf beiden Seiten war der Briefbogen, der übrigens den Wohnort des berühmten Maestro ziemlich prosaisch mit Hamburg-Hoheluft, Roonstraße 31, IV links angab, durch zahlreiche Referenzen schwülstig eingerahmt. Die Orte in Fettdruck, war fein säuberlich jede Station für jedes einzelne Jahr seit 1896 aufgeführt. Diese protzige Aufstellung begann, übrigens unter Aussparung des beschämenden Hamburger Debuts, mit Berlin, Gewerbeausstellung und endete vorläufig, 1907, mit Lüttich/Liége, Walhalla. Dazwischen fanden sich Namen wie Trädgardsföreningen, Göteborg – Buff, Moskau – Eremitage, Kasan – Zoologischer Garten, Berlin – Helbigs Etablissement, Dresden und viele andere mehr.

Wären die Anrufungen Alberto Drusos nicht immer flehender und ungehemmter, die alkoholischen Exzesse nicht immer wüster geworden, so hätte man sagen können, daß nach der römischen Entscheidung das wilde Leben quer durch das Europa nördlich der Alpen weitergegangen sei wie eh und je. Tatsächlich aber gab es eine wesentliche Veränderung im Gebaren Giacomo Bertinis zu registrieren – nämlich daß seine Gewalttätigkeiten sich bald keineswegs mehr allein gegen seine eigene Frau richteten, sondern auch gegen andere, fremde Personen.

Das zeigte sich zum erstenmal in Jalta auf der Krim, wo Giacomo einer Sängerin huldvoll eine Probe gewährte. Er verneigte sich, als sie das Podium betrat. Dann singt sie. Eine Zeitlang begleitet Giacomo sie mit immer lahmerem Taktstock. Plötzlich schreit er auf: »Was Sie singen? Diese«, er weist auf die Sängerin, »diese nixe geht, ich nixe verstehen, ich nixe mehr dirigieren!« – und mit schräg von sich gestreckten Armen kommt er auf sie zu.

Die Sängerin, ausschließlich der griechischen Sprache mächtig und mit ihr bis jetzt überall glänzend durchgekommen, prallt entsetzt zurück vor dem rasenden, fuchtelnden Mann und hastet, als Giacomo weiter auf sie eindringt, laut heulend und am ganzen Leibe zitternd davon.

Überhaupt schlug Jalta ein neues Kapitel im Buche dieser Biographie auf. Als einmal während des Spiels die elektrische Beleuchtung ausfiel, unterbrach Giacomo abrupt und brüllte, ohne auf seine Umgebung Rücksicht zu nehmen: »Wo isse Nicolai?«

Nicolai war der Fachmann für die elektrische Anlage.

Erstarrt saß das russische Publikum da, aber das scherte Giacomo nicht. Mit sich überschlagender Stimme schrie er: »Wo isse Nicolai? Das kommen schrecklich, ich nixe sehen mehr! Eine Skandal, dieses eine Skandal. Ich nixe spielen mehr!« Sprach’s, verließ schnaubend seinen Platz und kehrte auch nicht zurück, als das Licht wenige Minuten später wieder aufleuchtete.

Daß seine Unbeherrschtheit nicht örtlich gebunden war, zeigte sich wenig später im Wintergarten zu Hannover. Als dort wichtige Noten verlegt worden waren, jagte Giacomo ihnen durchs ganze Haus nach. Dabei stieß er auf den völlig unschuldigen Bufettier: »Was Sie habben gemacht mit meinär Notten?« fuhr er den Verdutzten an. Als der eine verständnislose Gegenfrage wagte, ergriff Giacomo ein Glas Bier und goß es dem Mann ins Gesicht.

In Kopenhagen, ein Jahr darauf, entdeckte einer seiner Musiker, daß drei wertvolle Instrumente gestohlen worden waren. Als er den Fehler machte, die Hiobsbotschaft während der Ouvertüre von Rossinis Barbier von Sevilla dem Maestro flüsternd und stotternd zu hinterbringen, tobte der vor dem Publikum des City-Konzertsaales händeringend los, trommelte sich stöhnend die Fäuste vor die Brust und benahm sich vor aller Augen wie ein Berserker.

Dennoch war Giacomo Bertini auf eine, wenn auch sonderbare Weise humorvoll. Als am nächsten Tage seine typischen Stellungen von gestern als Karikaturen durch alle Zeitungen der dänischen Hauptstadt gingen und einige davon boshafterweise an die Fenster des City-Konzertsaales geklebt wurden, pflanzte er sich davor auf, feixte und parodierte unter dem schallenden Gelächter der Umstehenden seine eigenen Wutausbrüche meisterhaft.

In Wahrheit jedoch war das Zusammenleben mit Giacomo Bertini inzwischen lebensgefährlich geworden, denn er hatte sich bewaffnet. Das kam im schwedischen Malmö heraus, wo begeisterte Studenten ihn schon an der Pier erwarteten. Als er die Gangway herunterkam, packten sie ihn, der hier schon zwei Gastspiele gegeben hatte, hoben ihn auf ihre Schultern und warfen ihn, kreischend vor Begeisterung, hoch in die Luft. Giacomo, knallrot geworden, gab unartikulierte Laute von sich, wobei er mit der rechten Hand seine hintere Hosentasche wie mit einem Schraubstock umklammert hielt. Als die Studenten ihn endlich herunterließen, brach er weinend, der Sprache nicht mehr mächtig, zusammen, was allgemein als ein wunderbares Zeugnis seiner tiefen Erschütterung über den grandiosen Empfang betrachtet wurde. Tatsächlich jedoch war er halbwahnsinnig vor Furcht gewesen, daß sich ein Schuß aus einer Pistole lösen würde, die er seit vierzehn Tagen trug.

Giacomo hatte sie sich beschafft, als er wähnte, daß etliche seiner Leute aus Furcht vor ihm das Weite suchen wollten – ein handliches, gedrungenes Mordwerkzeug von, wie es hieß, ungeheurer Durchschlagskraft und mit einem Sechsermagazin. Nun, da sein Besitz durch die stürmischen Studenten ruchbar geworden war, versammelte Giacomo sein Orchester schon bei der nächsten Etappe, einem Göteborger Musiksaal, vollzählig, schloß selbst alle Türen ab, hob die Waffe sichtbar empor und erklärte, er werde jeden Flüchtigen einholen und eigenhändig niederstrecken, und zwar ungeachtet sämtlicher krimineller Konsequenzen.

Es entlief niemand, aber kaum wegen dieser Drohung. Es war sein Genie, durch das Giacomo Bertini alles Unerträgliche vergessen machte. Einmal am Abend, höchste Auszeichnung für Musiker und Publikum, blies der Maestro ein Solo auf der Trompete, jetzt zart, wie auf gespannten Härchen, dann berstend, daß der Ton wie eine Peitsche über das wohlig schaudernde Parkett hinwegschlug. Was immer geschehen war, in diesen Minuten stand er unangefochten, makellos, neugeboren da.

Die beiden letzten Jahre vor Kriegsausbruch waren die Krönung der kometenhaften, immer steileren Karriere des Giacomo Bertini. Zwar ging seine große Sehnsucht, eine sechzig Mann starke Kapelle zu dirigieren, nie in Erfüllung, aber die bedeutendsten Häuser Europas rissen sich um ihn, und der Kunstschein des Königlichen Konservatoriums von Dresden war nur eine von zahlreichen Auszeichnungen. Als 1914 die Fackel in Brand gesetzt wurde, gab es Stimmen, die fürchteten, daß wohl der Kontinent, nicht jedoch das »Philharmonische Blasorchester Bertini« zerstört werden könne.

Sie irrten, aber der Untergang folgte etappenweise.

Anfang August jenes Jahres spielte das Orchester im Hamburger Hase-Park. Die Kapelle war für die ganze Saison verpflichtet, danach sollte es nach Stockholm gehen. Noch gab es keinen Grund zur Beunruhigung, wenngleich gemunkelt wurde, Italien würde, wenn es in den Krieg einträte, gegen die Mittelmächte kämpfen.

Während die Musiker verdutzt auf die Raserei schauten, die sich Patriotismus nannte, und vorsichtig im Hintergrund blieben, erzeugte die vaterländische Begeisterung ringsum in Alf Bertini einen schweren Trotz, ein erbittertes Oppositionsgefühl. Störrisch erklärte er, er wolle nach Italien, um dort Soldat zu werden.

Als er mit dieser Absicht herauskam, waren die Koffer für Stockholm bereits gepackt. Die Kapelle sollte am nächsten Tag abreisen. Aber Alf wies Passierschein und Reisegeld nach Italien vor, beides erhalten vom Schweizer Konsul, der den italienischen vertrat. Giacomo war zunächst sprachlos, dann schnitt er seinem Sohn grob das Wort ab: er müsse selbstverständlich mit nach Stockholm, basta, für ihn sei die Sache erledigt.

Nicht so für Alf.

Im wüsten Trubel von Winken und Abschiedsweh auf dem Hamburger Hauptbahnhof entdeckte Emma Bertini zu ihrem Entsetzen, daß sich Alf nicht in dem eben abfahrenden Zug befand. Ohne Giacomo mehr zuzurufen als »Dein Sohn fehlt!«, ruderte sie mit kalkweißem Gesicht zur Tür und sprang ab. In diesem Augenblick kam der verstörte Alf, dem es allein doch unheimlich geworden war, die Treppe zum Bahnsteig herunter und hatte nun seinerseits große Mühe, die schreckschlotternde Mutter unversehrt gerade noch mit in den letzten Wagen zu verfrachten.

In Schweden, wo vom Kriege nichts zu spüren war, kühlte Alfs spontane Reaktion auf die deutsche Begeisterung merklich ab. Und als schließlich der italienische Konsul in Stockholm ein beängstigendes Interesse für seinen Jahrgang zeigte – der junge Mann würde im Dezember 1914 achtzehn werden –, flüchtete Giacomo geradezu wieder mit Kapelle und Familie nach Deutschland.

Jetzt folgte Schlag auf Schlag.

Italienische Musiker konnten schon nicht mehr öffentlich auftreten, obwohl noch kein Krieg erklärt war. Deshalb rieten die Orchestermitglieder zum Vernünftigsten, was sie tun konnten – nämlich nach Italien, in die Heimat abzureisen, solange es noch möglich sei.

Aber Giacomo wollte nicht. Doch griff er nicht, wie sie erwartet hatten, zur Pistole, um sie zum Bleiben zu bewegen, sondern übergab ihnen sein gesamtes Vermögen. Ohne Engagement, hatten sie keine andere Wahl – sie begannen, es zu verzehren.

Da saß der querköpfige Dirigent nun in Hamburg, zwar mit Frau und Kind, aber ohne Kapelle und in der Hoffnung auf bessere Zeiten. Inzwischen jedoch mußten sie von irgendetwas leben. Und just in dem Moment, als niemand mehr weiter wußte, ergab sich die Gelegenheit, mit einem Orchester nach Odense zu fahren – Giacomo als Posaunist, Alf als Pianist. Emma wurde als Marketenderin geduldet.

Dort in Dänemark galt die zwölf Mann starke Kapelle Tarquini als italienisch. Tatsächlich aber waren von dem Dutzend nur Giacomo und sein Sohn Italiener. Um das mißtrauische Publikum leichter zu täuschen, ließen sich die Blonden ihre Haare schwarz färben.

Giacomo Bertini machte die ganze Zeit über den Eindruck eines Schlafwandlers. Er, der gefeierte Maestro, der Star unter den europäischen Blasorchester-Dirigenten, der Liebling eines internationalen Publikums, nun Posaunist in einer drittrangigen Kapelle mit verlogener italianità …

Als das Orchester am 23. Mai 1915 an die deutsch-dänische Grenze kam, wurden alle anderen, nicht aber die drei Bertinis nach Deutschland hineingelassen – wenige Stunden zuvor hatte Italien, auf Seiten der Entente, den Mittelmächten den Krieg erklärt.

Dieser Tag zertrümmerte Giacomo Bertinis Lebenswerk auf einen Streich.

Zwar gelangten er und die Seinen unter Bewachung schließlich doch nach Hamburg, aber nur, um dort eine neue, endgültige Hiobsbotschaft entgegenzunehmen. Zu feindlichen Ausländern erklärt, waren ihm seine Italiener auf und davon gelaufen, waren ganz einfach von heute auf morgen verschwunden. Wie vom Fuchs bedrohte Hühner, so hatten sie das Weite gesucht – wenngleich die ungeheure Autorität des abwesenden Maestro sie immerhin bis zur Kriegserklärung wie mit unsichtbaren Fesseln an den Platz geschmiedet hatte.

Sie hinterließen ihm keinen Pfennig seines Vermögens, wohl aber einen Haufen Instrumente.

Lange stand er vor dem nutzlosen Blech, den Stock aus Eisenholz in der Hand, murmelte, stierte, begriff endlich und heulte seinen Schmerz, seine Fassungslosigkeit, seinen Untergang mit einem einzigen Schrei heraus.

Die Bertinis, italienische Staatsbürger, blieben zwar in Freiheit, mußten sich aber regelmäßig auf der Polizei melden. In der Not erinnerte sich Giacomo an sein ursprünglich erlerntes Handwerk, den ungeliebten und vergessenen Schneiderberuf, dem er fortan dumpf nachging. Noch nicht fünfzig, auf der Höhe seiner künstlerischen Laufbahn, nachdem ein halber Erdteil ihm zwanzig Jahre jubelnd zu Füßen gelegen hatte, zog er nun irgendwo in der Hamburger Innenstadt von morgens bis abends die Nadel durch fremder Leute Stoffe. In der Toilette der hanseatischen Firma unter den Colonnaden flehte er täglich auf Knien den verratenen Freund im Himmel an, er möge die Sünden des Vaters nicht den Sohn entgelten lassen.

Aber wie, um dieses Schicksal über das schon Unerträgliche hinaus zu verhöhnen, Erniedrigung und Enttäuschung ins Maßlose zu steigern, winkten ihm noch einmal riesengroß und scheinheilig Zukunft und Hoffnung.

1916 gab der Briefträger in der Hohelufter Roonstraße ein mit schwedischen Briefmarken beklebtes Kuvert ab, dessen Inhalt sofort Panik auslöste – Giacomo sollte umgehend Hauskapellmeister im Stockholmer »Bernd Salonger« werden, einem renommierten Haus, Sprungbrett vielleicht für eine neue, zweite Karriere in einem Land des Friedens und der Ruhe, vor allem aber die große Chance für Alf Bertini, seinen Sohn.

Eine kurze Korrespondenz genügte, alles klappte wie am Schnürchen, Vertrag, Pässe, ein märchenhafter Vorschuß. Blieb, als letztes vor der Abreise in den Norden, der Weg zur Fremdenpolizei, zuständige Behörde für die »feindlichen Ausländer« Giacomo, Emma und Alf Bertini, die nun ins neutrale Schweden übersiedeln wollten.

Die Hamburger Fremdenpolizei verweigerte allen dreien die Ausreiseerlaubnis.

Von diesem Tage an senkte sich Dunkel über Giacomos Leben.

Mochten seine Kollegen in der hanseatischen Schneiderwerkstatt glauben, er habe ständig Durchfall oder sei magen-, darm-, blasenkrank – immer häufiger flehte er alltäglich auf den Knien in der Toilette den betrogenen Alberto Druso an, er möge sich für das Verbrechen des Vaters nicht an dessen Sohn rächen.

Denn seine ganze Hoffnung, seine einzige Konfession hieß nun Alf. Jetzt schickte er den inzwischen Zwanzigjährigen auf das Konservatorium, das beste der Stadt, jetzt versuchte er unter Entbehrungen, die Versäumnisse von fünfzehn Jahren nachzuholen, jetzt beschwor er den Sohn, das beste zu geben und den Namen Bertini aufs neue zu Ruhm und Glanz zu führen. Es war diese Zukunft, die ihn beseelte, dem Dasein erhielt, den Untergang überleben ließ.

Alf Bertini war zu einem mittelgroßen Jüngling herangewachsen, der sich nach wie vor für ein Wunderkind hielt. Seinen Lehrern auf dem Hamburger Konservatorium wurde jedoch bei seinen Leistungen weder heiß noch kalt. Sie hatten, nach Giacomos ungestümer Anmeldung, einen Ausbund an Talent erwartet, einen zweiten Mozart, ein frühfertiges, hochbegabtes Fabelgeschöpf der Kunst. Statt dessen standen sie vor einem Durchschnitt, der seiner mangelnden musikalischen Vorbildung wegen eher noch mit der unteren Grenze Nachbarschaft hielt. Nach einer gewissen Zeit war auch die Frage, ob nicht doch wenigstens bisher verborgene Talente geweckt werden könnten, klar zu Alfs Ungunsten beantwortet. Er war ein ziemlich fleißiger, mürrischer Schüler, der seine Stunden bemüht absolvierte, aber mehr eben auch nicht. Als Giacomo von diesem Urteil erfuhr, stürmte er hochrot das Konservatorium, fuchtelte mit seinem alten Taktstock aus Eisenholz vor dem Gesicht des erstarrten Direktors herum und rief in seiner fürchterlich gebrochenen Mischsprache, daß es sich bei Alf Bertini, seinem Sohn, um »einär Wu-underki-ind« handele – die Narbe an der Nase war ganz weiß geworden.

Aber auch dieser Auftritt brachte keine Wendung zum Besseren. Der unter einem Schlagwort groß gewordene und von sich selbst betäubend überzeugte junge Mann gelangte nicht über den bisherigen Rang hinaus. Als ihm das offen gesagt wurde, sich auch in Zeugnissen ausdrückte, verlachte er seine Lehrer höhnisch und verkniffen – spürten sie nicht das Besondere, Einmalige, Außergewöhnliche an ihm? Pack! Er grüßte sie nicht mehr. Damals wurde Alf Bertinis pauschaler Menschenhaß geboren, der sein Wesen unwandelbar prägen und sein Leben lang bestimmen sollte. Damals begann er, seine Umwelt hämisch zu betrachten, befriedigt aufzulachen, wenn ihr ein Mißgeschick oder Schlimmeres passierte, und heftig und laut auf jeden Widerspruch zu reagieren.

Vorerst wurde sein voller Grimm aber noch gemildert durch eine liebliche Begegnung hier auf dem Hamburger Konservatorium, im Sommer des Jahres 1918.

2Wie Lea geboren wurde

Der Norden Hamburgs trug noch dörflichen Charakter, als Ahab Seelmann mit seiner Frau Kezia (was soviel wie Zimtduft heißt) aus dem Holsteinischen übersiedelte. Mitglied einer großen Sippe zwischen der Elbestadt und Lübeck – zu der er merkwürdigerweise sehr bald schon alle Beziehungen abbrach –, war der kleine, schmunzelnde, rundköpfige Jude früh selbständig geworden. Als Vertreter für bedeutende Hersteller in allerlei Kurzwaren führte ihn seine Route weit östlich, bis an Warthe und Weichsel, ja ins Ukrainische hinein. Und dort, in Winniza, wurde der Zweiundzwanzigjährige Zeuge eines Pogroms.

Die Straßen des Ghettos brannten, seine Einwohner wimmerten und beteten. Ahab, der Fremde aus Deutschland, blieb unbehelligt. Aber in die große Stadt an der Unterelbe zurückgekehrt, phantasierte er nachts häufig von um sich schlagenden Frauen: an ihren schwarzen Haaren über das Pflaster geschleift, die Röcke über die schreienden Münder gezerrt, seien sie unter freiem Himmel vor den Augen einer johlenden, gierstöhnenden Menge von riesigen Kerlen so lange geschändet worden, bis die schließlich nackten Körper nur noch einen einzigen grünblauen Fleck gebildet hätten. Erst dann seien im Lichte der kalten Sterne die Messer aufgeblitzt.

In solchen Nächten nahm Kezia, Ahabs herrliche Frau, seine fliegenden Hände in die ihren und lag still neben ihm. Er aber weinte an ihrem Leibe wie ein Kind.

Die Schreckensbilder verließen ihn nie. Als dem Paar 1875 eine Tochter geboren wurde, die es Recha nannte, glomm ihm das geheime Entsetzen seiner Rasse noch deutlicher hinter der Pupille. Obwohl in der Freien und Hansestadt, ja rings in weitem Umkreis überhaupt, keinerlei bedrohliche Anzeichen vorlagen, beobachteten Ahab und Kezia Seelmann das ahnungslos und prächtig gedeihende Mädchen doch mit Sorge. Seufzend und kummervoll fragten sie den Ewigen ihren Gott, ob sie recht daran getan hätten, ein jüdisches Kind in diese ungewisse, diese furchtbare, diese tödliche Welt zu setzen. Aber dann trösteten sie sich, daß die Zeiten des Mittelalters und der Verfolgung in diesem aufgeklärten Land, das keine Ghettos mehr kannte, für immer vorbei sein und nie wiederkehren würden.

Recha wurde ganz Kezias Sproß. Sie hatte das dichte schwarze Haar der Mutter, ihre dunklen Augen, das schmale, edle, großflächige Gesicht mit den hohen Backenknochen. Nur von der Größe Kezias – sie überragte Ahab um Haupteslänge – war nichts auf die Tochter überkommen, und ebenso wenig von der mütterlichen Sanftmut. Aber das blieb lange verborgen.

Hier Kindheit und früheste Jugend Recha Seelmanns zu schildern, hieße Platz und Zeit vergeuden. Ihr Dasein blieb geschichtslos bis zu jenem Tag, da Ahab von seinen östlichen Reisen einen adonishaften jungen Juden aus dem Galizischen mitbrachte. Recha, damals eben einundzwanzig geworden, besah ihn sich aufmerksam.

Großer Überredungskünste von seiner Seite hatte es gewiß nicht bedurft, daß sie sich nach kurzem schwanger fühlte. Und erst jetzt brachen seltsame und peinigende Eigenarten ungehemmt aus ihr hervor, gerade als hätte der männliche Samen sie freigelegt. Schon nach der ersten Liebesnacht benörgelte sie ihren Partner so ausführlich, kritisierte sie jede seiner Bemerkungen und Bewegungen so nachdrücklich, daß der schöne Mensch erschrocken fragte, ob sie ihn denn seiner Persönlichkeit und allen eigenen Willens gänzlich entkleiden wolle?

Mit dieser Frage entfachte er jedoch nur den Sturm zum Orkan, hätte es mit jeder anderen übrigens auch getan. Denn wenn jemand zu fragen hatte, dann sie, Recha Seelmann, nach der sich alle Männer die Augen aus dem Kopfe schielten! Und wenn jemand zu bestimmen hatte, dann sie erst recht, von vornherein und für alle Zeit, das war ihre Ordnung, die einzige, die sie annahm. Als der Mann nicht sogleich zu Kreuze kroch, behauptete sie, die ihm nur zu willig, ohne Gedanken an Zukünftiges, vielmehr entschieden beschäftigt mit der vollen, roten Wirklichkeit, beigelegen hatte: Zaubermittel habe er benutzt, um sie herumzukriegen, ja sie wollte sich sogar an Gewaltanwendung erinnern. Was Ahab und Kezia voraussahen, traf dann auch tatsächlich ein – Recha führte sich so dramatisch auf, daß der Liebhaber auf Nimmerwiedersehen verschwand, drei Monate, bevor sie niederkam.

Das war im Januar des Jahres 1897. Es wurde ein Mädchen, das den Namen Lea erhielt. Seinen Vater lernte es nie kennen. In die Geburtsurkunde und das standesamtliche Register aber wurde, der Wahrheit gemäß, als Religion des Erzeugers und der Mutter »mosaisch« geschrieben.

 

Um diese Zeit bezogen Ahab und Kezia Seelmann im nördlichen Stadtteil Barmbek ein Domizil, das sie bis zu ihrem Tode nicht mehr verlassen sollten – nahe der Hamburger Straße, im dritten Stock eines hohen und, wie es schien, für die Ewigkeit gebauten Mietshauses.

Während Recha, von diesem Stützpunkt aus, ihre Schönheit genoß, mit der Männerwelt spielte und nach der Enttäuschung mit des Kindes flüchtigem Vater außer Rand und Band geriet, wuchs Lea hier hinter einer Mauer jüdischer Sorge und Liebe auf. Nie ließen die Großeltern sie allein, nie gab es auch nur eine Sekunde ohne Aufsicht. Sie schenkten ihr, als sie größer geworden war, Hunde und Katzen, um sie ans Haus zu fesseln und Gedanken an draußen, an menschliche Gespielen, gar nicht erst aufkommen zu lassen – denn dort unten, vor der Haustür, auf der Straße, begann die feindliche Welt!

Glücklich beschäftigte Lea sich mit den lebenden Geschenken und hängte ihr Herz an sie. Ihr inniges Empfinden für alles Getier zeigte sehr früh Merkmale von Überschwenglichkeit. Wann und wo immer sie Hunden, Katzen, Pferden oder Vögeln begegnete, wenn Ahab und Kezia sie spazierenführten, brach sie ungeachtet ihrer Umgebung in Schreie der Wonne und des Entzückens aus, machte aufmerksam auf Halskrausen aus Fell, auf gespitzte Ohren, stämmige Läufe, wedelnde Schweife, auf artig gehobene Pfoten und samtiges Gefieder. Allmählich richteten die Großeltern dem Enkelkind einen wahren Hauszoo ein, daß Lea bei ihnen bleibe und sich wohlfühle.

Als sie ihre musikalische Begabung erkannten, an untadelig nachgesummten oder -gesungenen Melodien von oft erheblichen Schwierigkeitsgraden, erwarben sie sogleich ein Klavier, auf daß es dem Kinde nicht langweilig werde. Stundenlang, von ihren Tieren umkreist, saß Lea nun auf hohem Schemel vor dem kostbaren Instrument und klimperte, noch bevor sie eine Note kannte, unermüdlich eigene Phantasiekompositionen auf den schwarzen und weißen Tasten. Mit sechs Jahren erhielt sie ihren ersten Musikunterricht. Doktor Aaron, der Hausarzt der Seelmanns, mit dem Ahab gelegentlich vorsichtige und unverbindliche Gespräche über Segen oder Unsegen diverser Talmud-Auslegungen führte, warnte vor Überanstrengung und innerer Erregung – Leas Gesundheit sei zerbrechlich, das Herz zu schwach, und dieser organische Mangel verantwortlich für jenen scharfen Hustenreiz im Rachen, der das Kind zuweilen überfiel. Oft stand Doktor Aaron vor Lea, betrachtete sie lange und traumverloren und verschwand dann hastig.

Bei ihrer Erziehung und Pflege wurden Ahab und Kezia Seelmann tatkräftig unterstützt von Franziska Oppenheim, ebenfalls jüdischer Herkunft, blutjung und kurz vor Leas Geburt als Dienstmädchen ins Haus gekommen. Es war Franziskas höchste Aufgabe, Lea vor körperlichem Schaden zu bewahren und ihr alle möglichen Gefahren seherisch aus dem Wege zu räumen. Winters hatte sie vor die Öfen schwere Schutzbleche zu stellen, desgleichen vor den Herd in der Küche, während der Kessel das ganze Jahr über zur Wand gekehrt sein mußte, Handlungen, die Franziska im Laufe der Jahre in Fleisch und Blut übergegangen waren.

Eine natürliche Folge von Leas Abgeschlossenheit bestand darin, daß sie neugierig wurde auf die Welt, mit der sie unvermeidbar, wenn auch zum großen Kummer ihrer Großeltern, in der Schule zum erstenmal wirklich zusammenkam. Ihr Verhältnis zu den Menschen war sofort und unwandelbar fertig – sie behandelte sie so, wie sie selbst gern von ihnen behandelt worden wäre. Sie liebte und fürchtete sie zugleich, zeigte eine glühende Bereitschaft, freundlich zu sein, zuzuhören, lauter gute Worte zu sagen, sich aufzuopfern. Ihr üppig belegtes Brot verschenkte sie stets an Bedürftige und nahm dafür deren Margarineschnitten an, die sie, entgegen ihrem Geschmack, mit verdrehten Augen wie in höchstem Genuß vertilgte. Immerfort suchte sie sich als gefällig zu erweisen. Sie war abhängig vom Wohlwollen ihrer Umwelt. Ein unbewußt kühler, schon ein nur abwesender Blick von jemandem, dem sie sich nahe fühlte, konnte sie tief erschrecken.

»Magst du mich nicht mehr?« fragte sie schüchtern und mit angehaltenem Atem. Wurden ihre Ängste zerstreut, so strahlte sie übers ganze Gesicht.

Es war ein merkwürdiges Gesicht – blaß, schmal, von schweren schwarzen Haaren umwallt, die Nase vielleicht ein bißchen zu groß geraten. Und es vermochte einen unirdischen Ausdruck anzunehmen, wenn Lea nach der Schule Ahab und Kezia atemlos entgegenflog und jubelte: »Sie mögen mich, alle mögen mich!« Dann drückten die Großeltern das selige Kind an sich, schlugen aber, allein gelassen, stumm die Hände vors Gesicht.

Obwohl jüdisch bis ins Mark ihrer Knochen, waren Ahab und Kezia Seelmann nichts weniger als fromme Leute. Der letzte Besuch einer Synagoge lag so weit zurück, daß sie sich nicht einmal mehr an das Jahr erinnern konnten. Kaum, daß sie zu Sabbat-Beginn die Kerzen anzündeten. Wohl wurde ein Unterschied zu ihrer Umgebung spürbar, aber nicht als ein Problem von Gewicht. Und gerade so hatte es die kleine Lea empfunden, bis zu jenem Tage im fünften Schuljahr, als der Klassenlehrer sie nach dem Unterricht da behielt.

»Für den Aufsatz über das friedliche Zusammenleben deiner Hunde und Katzen«, sagte er unter vier Augen zu ihr, »hättest du zwar die Note 1 verdient, aber weil du eine Jiddsche bist, gebe ich dir eine 3.« Bis zu dieser Stunde war Lea wirklich Bösem nie begegnet. Sie begriff und versteinerte. Wie in eine Statue verwandelt, stand sie leblos da, nur ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen. Der Lehrer, auf dieses Bild nicht gefaßt, räusperte sich und floh.

Lea erzählte niemandem davon. Sie war gerade elf Jahre alt geworden. Es sollte fast auf den Tag weitere fünfundzwanzig dauern, bis Lea dem Antisemitismus abermals begegnete, wenngleich dann in staatlich organisierter Form und auf unvergleichlich bedrohlichere Weise.

Dennoch wurde diese eine Minute, allein in der Klasse mit dem Lehrer und seinem furchtbaren Satz, zu einem Urerlebnis für sie. Nie wieder, in ihrem ganzen Leben, sollte es ein anderes geben, das ihr mit ähnlicher Eindruckskraft die elementare Erkenntnis erschloß, daß sie Jüdin sei.

 

Damals bekam Lea fast gleichzeitig mit einer Adoptivschwester auch einen Stiefvater.

Was Recha Seelmann eigentlich veranlaßte, so lange nach der Geburt der unehelichen Tochter ein Waisenkind anzunehmen – ein gespenstisches Wesen von dunkelster Herkunft, gerade sechs Monate alt, ein Mädchen, dem Geschlechte nach zu urteilen, von abscheulichem Aussehen und mit ungeheurer Stimme begabt, – was also Recha dazu veranlaßte, blieb gerade so ihr Geheimnis wie die Wahl des Schlossergesellen Rudolph Lehmberg zu ihrem Mann. Recha, erst jetzt, um die dreißig, in der vollen Blüte ihrer Weiblichkeit, von wohlhabenden Herren gewohntermaßen und nicht immer erfolglos bedrängt, entdeckte ihn eines Abends zufällig auf einer Laienbühne am Steindamm, in der Nähe des Hauptbahnhofes, wo Rudolph Lehmberg nach getaner Arbeit an drei Wochentagen den jugendlichen Liebhaber mimte. Dem Hörensagen nach muß er von natürlicher, wenn auch naiver Begabung gewesen sein. Recha führte ihn ohne Vorankündigung bei den Eltern ein: »Ein Goj«, sagte sie zu Ahab und Kezia, »muß das ein Fehler sein?« Aber Vater und Mutter Seelmann antworteten nicht, sie hatten sich längst abgewöhnt, der Tochter dreinzureden. Der ruhige, bescheidene Mann, den sie anschleppte, gefiel ihnen sogar.

Recha holte den Schlosser sogleich von seiner geliebten Bühne herunter und verbat sich ohne Angabe von Gründen jeden weiteren Auftritt. Bereits von der zweiten Minute an ließ sie nicht den geringsten Zweifel aufkommen, wer von beiden das Heft in der Hand halten würde. Von seinem unerhörten Glück noch völlig benommen, sagte Rudolph Lehmberg, evangelisch, ein Jahr jünger als Recha, ohnehin zu allem Ja und Amen. Wenn sie ihn geheißen hätte, auf Dachspitzen zu jonglieren, mit zusammengebundenen Beinen durch die Mönckebergstraße zu hüpfen oder sich dem ambulanten Handel zu verschreiben – er hätte auch das getan. In Wahrheit kam er über das abrupte Ende seines schauspielerischen Amateurtums nie hinweg, und jene harmlosen, von Recha jedoch grimmig verfolgten Vorstellungen, die er später dann und wann seinen Enkeln zu deren Ergötzen geben sollte, waren wie eine letzte und wehmütige Trauer über ein verlorenes Jugendglück.

Sofort und ungemildert setzte mit Nörgeln, Berufen, Befehlen und Greinen Rechas ganze Technik der Unterjochung ein. Bis zur Hochzeit waren alle Menschen in ihrer Umgebung, der Bräutigam natürlich eingeschlossen, so gut wie dem Wahnsinn nahe. Niemand blieb von Rechas Hysterie verschont. Zu allem Überfluß fiel sie knapp eine halbe Stunde vor der Trauung in Ohnmacht, oder was sie dafür hielt, wurde aber noch so rechtzeitig wach, daß sie ihr Jawort hauchen konnte, ein Entschluß, den sie nach vollbrachter Hochzeitsnacht schon wieder verfluchte. Sie bezichtigte Rudolph Lehmberg, dessen Namen sie nun trug, des mehrfachen geistigen Ehebruches mit einem der weiblichen Hochzeitsgäste, bald darauf auch der körperlichen Untreue, ohne seine stillen Fragen nach Anhaltspunkten und Beweisen beantworten zu können. Waren sie unterwegs, so stichelte sie: »Die hatte es aber in sich, wie? Untersteh dich, Hirsch, nach so etwas noch einmal den Kopf zu drehen!« Oder: »Was bleibst du vor dem Schaufenster stehen? Denkst du, ich glaube, dich würden die Töpfe und Pfannen da interessieren? Die Pute hinterm Ladentisch hat’s dir angetan – Lüstling!«

Eines Tages war in der Hamburger Straße vor ihnen auf regennassem Pflaster ein junges Mädchen so unglücklich gestürzt, daß es die Besinnung verlor. Rudolph Lehmberg kniete nieder und bettete es vorsorglich mit dem Kopf in seinem Schoß, während Rechas Hilferufe die ohnehin herbeieilenden Passanten noch zur Beschleunigung anstachelten. Dann machte sie sich, bis ein pferdebespannter Krankenwagen kam, über das Mädchen her, betupfte seine Stirn mit Wasser, um das sie die Anwohner energisch ersucht hatte, und streichelte Wangen und Hände. Als aber der Wagen mit der Gestürzten davongezogen wurde, holte sie tief Luft und stieß bissig gegen ihren Mann hervor:

»So was möchtest du wohl mal allein im Arm halten, wie? Das gefiele dir, hm?«

Jüngst noch selbst dem Lebensgenuß hemmungslos hingegeben, bewies Recha eine so naturwidrige Eifersucht, daß Ahab und Kezia Seelmann auch den Schlosser schon auf und davon sahen. Aber Rudolph Lehmberg hielt aus. Trotz Rechas notorischem Widerspruch, ihrer Hysterie und den sinnlosen Eifersüchteleien behielt er sein ruhiges und besonnenes Wesen. Er hatte peinlich genaue Gewohnheiten, was die Ordnung der Kleider, die Ablage von Zeitungen, Zeitschriften und Büchermappen betraf. Er war sparsam, heftete jede Rechnung, die bezahlt war, wie eine Trophäe ab und schichtete sie nach dem Alphabet. Aber so sicher, wie sie ihm Unordnung übel genommen hätte, so sicher brachte auch seine Bedächtigkeit und Pedanterie Recha um den Verstand: »Einen Karteikasten habe ich geheiratet«, ächzte sie und schlug sich mit einer typischen Bewegung die flache Hand vor die Stirn, »einen Karteikasten!«

Überall sonst aber wurden Rudolph Lehmbergs solide Charaktermerkmale – Verläßlichkeit, Fleiß, Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit – anerkannt. An jeder seiner wechselnden handwerklichen Arbeitsstätten genoß er hohes Vertrauen und selbstverständliche Achtung. Seines defekten Herzmuskels wegen wurde er selten beschäftigt mit schwerer körperlicher Arbeit, die das Leiden nur verschlimmert hätte – seine Verträglichkeit schaffte Frieden. Allein zu Hause traf er auf kein Verständnis. Stumm ließ er Recha über sich ergehen.

Zunächst bewohnte das Ehepaar Lehmberg zwei Zimmer in der geräumigen Wohnung von Ahab und Kezia Seelmann. Zwischen Rudolph und Lea entspann sich sofort eine so herzliche Liebe, daß Lea ihrem flüchtigen Erzeuger aus Galizien eigentlich nie nachtrauerte. Eng, wenn auch nicht ganz so innig, war das Verhältnis zu ihrer Pflegeschwester, jener Waise, die nun auf den Namen Grete hörte und wohl ihr abscheuliches Säuglingsaussehen, nicht aber ihre starke Stimme verloren hatte. Rudolph Lehmberg trat sofort die volle Vaterschaft an, in einem selbstverständlichen Akt, ohne sich damit jedoch Rechas Wohlwollen einzuhandeln. »Wieso denn?« fragte sie scharf, »das war doch einfach seine Pflicht – seine Pflicht war das!«

Sie blieb nicht lange bei ihren Eltern und ihrem leiblichen Kind. Schon damals zeigte sich jene hektische Unrast oder Platzangst an Recha Lehmberg, die sie von einer Wohnung in die andere treiben sollte, sehr zum Kummer ihres seßhaften Mannes. Drei Monate nach ihrer Heirat suchte sie einen Makler auf und setzte ihn für sich in Bewegung. Zwar blieb sie dem inzwischen mächtig angewachsenen Stadtteil Barmbek treu, hatte ihn aber bis zum Ausbruch des Krieges – Rudolph Lehmberg wurde noch im August 1914 eingezogen und sogleich an die Westfront gebracht – von den Grenzen der Uhlenhorst bis an den Osterbekkanal und den Stadtparkrand kreuz und quer durchzogen. Überall entdeckte sie Mängel, schlimme Mängel, unerträgliche Mängel, wenn nötig an Boden und Keller.

Mit ihr zog Grete, die ehemalige Waise. Lea blieb bei den Großeltern. Recha Lehmbergs so lange verschüttete Muttereigenschaften gegenüber der leiblichen Tochter wurden erst mobilisiert, als anno 18 auf dem Hamburger Konservatorium jener Mann in Leas Leben trat, den ihre Mutter stets und von Anfang an den Schlehmil nennen sollte – Alf Bertini.

 

Gegen den Willen der amusischen Recha hatten Ahab und Kezia das Mädchen früh auf das Konservatorium geschickt, eine renommierte Musikhochschule, und sie hatten gut daran getan. Lea erwies sich als ungewöhnliche Begabung, avancierte in Kürze zur Zierde des Hauses und entfaltete so feinnerviges Können und künstlerisches Gefühl, daß sie, obschon selbst noch Belehrte, anderen Schülern bald Unterricht geben durfte, ein Fall, den diese Stätte zuvor nie gekannt hatte. Fachleute prophezeiten ihr eine sichere Zukunft als Pianistin von internationalem Rang.

Auf Alf Bertini, den Mitschüler aus einer anderen Klasse, wurde sie eigentlich erst spät aufmerksam, und zwar durch seine lauten und fanatischen Reden, mit denen er im Sommer des letzten Kriegsjahres begann. Er schwärmte von einer baldigen und glücklichen Menschheit nach dem Ende des Kampfes, den das kaiserliche Deutschland so gewiß verlieren würde wie es ihn um der Gerechtigkeit willen verlieren müßte, pries den Sozialismus, malte seine Siege aus und feierte sie im voraus.

Das war die rechte Religion für Lea – Friede, Brüderlichkeit und Güte überall, wohin des Menschen Fuß träte! Einander beistehen, freundlich sein zu jedermann, und also auch von jedermann selbst gütig behandelt werden – herrlicher Sozialismus! Sie geriet in Feuer, ihre maßlose, von Furcht und Liebe zugleich getriebene Bereitschaft reckte sich, das schmale, schöne, schwarzhaarige Ding, dessen etwas zu groß geratene Nase es womöglich noch interessanter machte, brannte förmlich. Die beiden jungen Leute fielen sich ins gemeinsame Wort, zogen bald allein los, hielten sich, ohne es zu bemerken, an der Hand, blieben wie selbstverständlich beieinander. Die tieferen Töne übersah und überhörte Lea, etwa daß Alf Bertini besonders gern und malerisch über den Strafen brütete, denen die Schuldigen ausgesetzt sein würden. Sie spürte nicht, wie er von Vergeltung sprach und welch ein unheimlich befriedigtes Aussehen er dabei annahm. Was sie nicht wußte, nicht wissen konnte, war, daß Alf Bertinis tiefer und unwandelbarer Menschenhaß in jene glühenden und wirren Ideen geschlüpft war. Alfs Wort war für Lea Evangelium. Sie unterwarf sich ihm von der ersten Stunde an. Sie hätte sich jedem, den sie liebte, unterworfen – ganz Dienerin, Zuhörerin, Heimat.

Leider nur stellte sich die Nachkriegszeit dann ganz anders dar, als Alf sie vorausgesagt hatte. Er hatte gepredigt, der Sozialismus, oder was er sich darunter vorstellte, werde sofort und ohne viel Federlesen, sozusagen im Selbstlauf, Deutschland erobern; werde, einem allgemeinen Bedürfnis entsprechend, allein durch die übergroße Zahl seiner Anhänger und den offenen Bankrott des monarchischen Staates, alle seine Feinde erdrücken und sich – nach strengster Bestrafung der Schuldigen, wie er zu fordern nicht müde wurde – Wohlstand, Kunstverständnis und Bildung zu verschaffen wissen, wobei ihm, Alf Bertini, gerechterweise eine bedeutende Rolle zufallen müßte.

Statt dessen nun schäumte er: daß sich hinter einer neuen Fassade die alten Stützen wieder einrichteten und Generäle und Sozialdemokraten gegen die Revolution gemeinsame Sache machten. Er schäumte aus gutem Grund, denn was sich da abspielte, war ihm vor allem deshalb zuwider, weil es ihm Pflichten stellte – nämlich anzupacken, seine Ideale zu verwirklichen, sich zu organisieren, zu disziplinieren, in die graue, alltägliche Politik zu stürzen und vielleicht sogar auf das zu hören, was andere anordneten.

Vor dieser enttäuschenden und bestürzenden Wirklichkeit kapitulierte Alf Bertini sofort. Er war ein Wunderkind, dem die reifen Früchte in den Schoß zu fallen hatten. Es war im Lande nichts geworden mit dem Aufbau des Neuen, mit dem Bertinischen Sozialismus, der schon durch Alfs bloße Mitgliedschaft geadelt und gesegnet gewesen wäre und den er so manche Stunde vor Leas offenem Ohr beschworen hatte. Es war nichts geworden mit der glücklichen Menschheit, mit Wohlstand, Kunstverständnis und Bildung. Wie feige nur, wie bequem und konservativ war die Mehrheit ringsum doch, den Mythen der kaiserlichen Vergangenheit in gemeiner Trägheit noch tief verhaftet – schlecht ging es dem Volke? Recht so, es sollte, es mußte ihm schlecht gehen, viel schlechter noch! Hatte es sich sein Los nicht selbst beschert, indem es Alf Bertinis Überzeugungen nicht teilte? Also sollte es verderben – und wenn er selbst dabei unterginge.

Es war peinlich anzusehen, wie Wut, Enttäuschung und Haß Alf belebten, ihn anfeuerten, beflügelten – Sturm, Hagel und Franzosen über die Deutschen, das Unglück des ganzen Erdballs!

Weil die Welt es nicht wert war, beschloß er, seinem Beruf zu entsagen. Dabei kam jenes ungewöhnliche, aber überaus bezeichnende Ereignis zustande, dem Lea bei größerer Menschenkenntnis und aufmerksamerer Beobachtung leicht ein gestörtes Verhältnis zur Realität hätte entnehmen können. Irgendwo fand Alf einen Geldgeber, der ihm einen Kutter samt Motor und Treibstoff finanzierte und dafür nach der Hälfte allen Gewinns trachtete: mit zwei angeblich kundigen Anonymi ging es hinaus vor Cuxhavens Küste, an die Gestade der Deutschen Bucht, auf Krabbenfang!

Schon in der Elbmündung aber war Alf mit seinen Bordgenossen restlos verzankt, verweigerte jede Mithilfe, freute sich innig, als von den genauso ahnungslosen Mitschiffern nicht eine Krabbe an Deck geschüttet wurde, und trug entscheidend zum vorzeitigen Scheitern des Projektes bei. Nachts strandeten sie vor Neuwerk, der Geldgeber verlor eine Unsumme an das spektakuläre Unternehmen, und Alf konnte froh sein, daß der Dunkelmann eines zwielichtigen Verhältnisses zur Justiz wegen ihm nicht noch gerichtlich auf den naß gewordenen Pelz rückte.

Zu einer solchen Initiative, zu einer von ihm in die Tat umgesetzten, wenn auch völlig sinnlosen Idee, raffte Alf Bertini sich sein ganzes Leben nicht wieder auf. Denn an den Gedanken, Lea zu heiraten, hatte er sich zwei Jahre nach Kriegsende, als er bei Recha und Rudolph Lehmberg darum einkam, bereits so sehr gewöhnt, daß der Schritt für ihn nur noch eine Formalität bedeutete.

Leas Mutter besah sich Alf genau, sie umschlich ihn förmlich, trat, mit schiefem Kopf, vor und zurück, und einen Augenblick schien es, als wollte sie ihn auch noch beriechen. Steif, sehr verkrampft, in trotziger Haltung, diese seltsame, durch nichts gerechtfertigte Einbildung zur Schau tragend, stand Giacomo Bertinis Sohn da. Als er gegangen war, sagte Recha: »Den Schlemihl willst du nehmen? Der wird dich unglücklich machen bis ins Mark«, hoch hob sie die Hände über ihren Kopf. »Nicht weil er ein Goj ist, es kommt nur darauf an, was für einer. Ich bin gewarnt, ich habe den Falschen genommen, ihr wißt es, ihr alle wißt es«, und anklägerisch zeigte sie auf Rudolph Lehmberg. Der sagte gar nichts. Er war, mehrfach verwundet, aus dem Großen Kriege zurückgekehrt, nannte manchmal mit sehr deutscher Aussprache französische Namen, Soissons, Cambrai, Douaumont, Verdun, hatte sich sonst aber noch tiefer in sich zurückgezogen.

Ahab und Kezia Seelmann hatten bei Alfs Antrittsbesuch still auf ihren Stühlen gesessen. Sie waren beide alt geworden, geschrumpft, todesreif. Sie faßten nach der Hand ihres geliebten Enkelkindes, das bei ihnen aufgewachsen war, und weinten. Niemand wußte genau, warum.

Aber Lea, die sanfte Lea, war unerbittlich, auch als die beiden Familien schon bei der ersten Zusammenkunft hart zusammenstießen.

Die Abneigung zwischen Recha Lehmberg und den Bertinis war elementar, organisch, ohne jede Entwicklung. Als Alf seine Eltern, von der Hoheluft kommend, nach Barmbek, in Ahab und Kezia Seelmanns Wohnung seitab der Hamburger Straße führte, sagte Recha, Giacomo und Emma von oben bis unten kühl musternd: »Meine Familie jedenfalls ist gesund!« Unglücklicherweise hatte Alf seiner zukünftigen Frau, froh, über Schlimmes sprechen zu können, von der peinlichen, wenn auch besiegten Frühkrankheit der Eltern berichtet, jener Ansteckung nach der ersten Begegnung auf St. Pauli. Und Lea hatte den Fall vor ihrer Mutter nicht verheimlicht, vor allem deshalb, weil sie ihm keinerlei Bedeutung beimaß.

Jetzt, nach dieser Ouvertüre, richtete Giacomo Bertini sich ahnungsvoll höher auf, seine Narbe an der Nase wurde ganz weiß, und mißtrauisch erkundigte er sich bei seinem Sohn: »Cosa dice dies-ä-r Fra-u? Was sie haben gesagt?« Und eine Sekunde sah es so aus, als würde er Recha das verabreichen, wozu Rudolph Lehmberg sich zu seinem und ihrem Schaden nie hatte aufraffen können – nämlich eine gehörige Tracht Prügel auf den immer noch recht attraktiven Hintern.

Ihre Rettung verdankte die Situation der merkwürdigen Beziehung zwischen Rudolph Lehmberg und Emma Bertini (die übrigens inzwischen, ihrer dunklen schwedischen Herkunft zum Trotz und in starkem Gegensatz zu dem nach wie vor schwer radebrechenden Giacomo, perfekt Deutsch sprechen gelernt hatte). Wie ruhende Pole in der Erscheinungen Flucht saßen sie nebeneinander und führten artig Rede und Gegenrede, wobei sich jeder mit der Antwort beeilte, um nicht in den Verdacht der Unaufmerksamkeit zu geraten. Dieses ursprüngliche Verhältnis sollte sich nie ändern. Später sahen sie sich nicht allzu häufig, mit Gewißheit nur an den verschiedenen Feiertagen, aber schon die Andeutung eines bösen Wortes zwischen ihnen wäre ganz unausdenkbar gewesen. Wahrheit allerdings war wohl auch, daß sie während der übrigen Zeit nicht einen einzigen Gedanken aneinander verschwendeten.

Rechas Einwendungen gegenüber Lea nach dem historischen Antrittsbesuch verpufften wirkungslos. Ihr Herz, das bisher kaum für die Tochter geschlagen zu haben schien, pochte plötzlich dumpf und schwer. »Unglücklich machen wird der Schlemihl das Kind«, schrie sie Rudolph Lehmberg an, »und du hast es nicht verhindert. Wehe über dich, wenn das Kind leidet!« Der Schlosser sah sich entschuldigend im Kreise um, seufzte, schwieg. Franziska Oppenheim, das Dienstmädchen und Hausfaktotum der Seelmanns, trat auf Lea zu und legte ihr ermunternd eine Katze in den Arm. Sechs Wochen später, im September des Jahres 1921, fand die Trauung in der nüchternen Atmosphäre eines Barmbeker Standesamtes statt.

Aus der Wärme ihrer jüdischen Behütung, dem unergründlichen Schoß großelterlicher Liebe, der ganzen Sorglosigkeit ihrer vierundzwanzig Lebensjahre, wurde Lea Bertini durch eigenen Entschluß, durch ihren beharrlichen und unbeirrbaren Willen, in das eisige und dürre Klima einer aussichtslos verfallenen Familie verschlagen.

Als Lea sie verließ, als die Tür dann hinter ihr zugeklappt war, fielen Rechas Arme herab. Und nun sagte sie, in einem ersten und letzten Anfall von trüber Poesie, über diese verworrene und im innersten gefährdete Paarung vor den Ohren ihrer nicht schlecht staunenden Angehörigen: da habe sich soeben ein dunkelsamtener Schmetterling mit einem Ochsenfrosch vermählt …

Zweiter TeilLindenallee

1»Ibbergeschrieben: der Veilchen«

Alf und Lea Bertini zogen in die Nähe des Barmbeker Bahnhofs, mit seinen zahlreichen Schienensträngen der Vorort- und Hochbahn schon damals der große Verkehrsknoten des Hamburger Nordens.

Die Lindenallee war eine breite, von Mietshäusern unterschiedlicher Höhe gesäumte Straße, die ihrem Namen alle Ehre machte. Es duftete herrlich, als der offene Möbelwagen von der Fuhlsbüttler Straße über die kurze Verbindung des Trockenwegs in die Allee einbog und vor der Nummer 113 hielt – die Linde am Rande des Trottoirs reichte hinauf bis zum zweiten Stockwerk.

Es war eine geräumige Wohnung, mit zwei hellen Zimmern nach vorn, während das dritte und die Küche auf den Hinterhof wiesen. Die Möbel waren gebraucht erstanden, aber, wie das schwarze Büfett oder der Bücherschrank und die Notentruhe aus Birnbaumholz, gut erhalten. Mitgeschleppt und auf dem Flur unter die Garderobe gestellt wurde eine riesige graue Kiste, in die Lea alles noch irgendwie Verwertbare hineingestopft hatte, eine Gewohnheit, die sich früh an ihr gezeigt hatte und von der sie nicht ablassen sollte. Wahrscheinlich war der Kiste diese noch nach Jahrzehnten in Lea lebendige Erinnerung zu verdanken: ein unbekanntes Individuum habe sich am Tage des Einzugs hinter dem Baum vor dem Hause versteckt gehalten und, in der eindeutigen Absicht, bei den Bertinis einzubrechen, dort auf die Dunkelheit gewartet – es habe wohl Schätze in der Kiste vermutet. Es sei eine lange Nachtwache geworden.

Tatsächlich aber wurde weder eingebrochen noch Reichtum in die Wohnung transportiert, ausgenommen jener breite, schwergoldene Reif, den Ahab Seelmann seiner Enkelin vor dem Auszug vermacht hatte, mit der Weisung, das kostbare Stück, komme was da kommen mochte, bei sich zu behalten und niemals herzugeben.

Selbstverständlich machte auch das Klavier den Umzug in die Lindenallee mit. Es wurde im Wohnzimmer aufgestellt, neben die Flügeltür, die in den anderen Raum, das sogenannte Eßzimmer, führte.

Alf Bertinis erste eheliche Handlung bestand darin, das künstlerische Selbstbewußtsein seiner Frau restlos zu zertrümmern. Er entschied, daß Leas Talent durchschnittlich sei und betont sentimental. Sobald sie eine Taste anrührte, begann er ihr Spiel herabzusetzen, aber nicht etwa böse oder heftig, sondern gönnerhaft und mit großer Überlegenheit. Die unablässigen Berufungen und Korrekturen, das ganze wohlwollend-mitleidige Gebaren Alfs stürzten Lea bald in schwere Selbstzweifel, sodaß sie immer häufiger beschämt und unglücklich den Deckel zuklappte und schließlich zur Pflege ihrer Begabung und zur eigenen Erbauung nur noch in Alfs Abwesenheit spielte. Die Fähigkeit, Anfänger in die Technik der Klaviatur einzuweihen, gestand er ihr allerdings gerade noch zu, konnte übrigens auch schlecht umhin, denn in dieser Ehe mußte Lea von Anfang an mitverdienen.

Alf Bertini hatte nach dem mißglückten nautischen Intermezzo verbittert zur Musik zurückgefunden, wenn auch nur als Pianist in Kaffeehaus-Ensembles, meist am Steindamm. Aber nirgends blieb er lange. Hatte er doch endgültig die eigene Person zum Nabel der Menschheit erklärt und sich, das Wunderkind, zum Maß aller Werte und Wesen bestimmt. Andere Ansichten als die seinen duldete er nicht, er versah sie sofort mit dem Odium des Kriminellen, und nun erst begann sich sein zügelloser Widerspruchsgeist voll und entsetzlich auszutoben. Obwohl er sich eher die Finger abgehackt hätte, als sich politisch zu organisieren, schlug er auf dem Podium während der Pausen langsam und genüßlich kommunistische Zeitungen auf, las Kollegen und Gästen unaufgefordert laut vor und behauptete bei der ersten Gegenmeinung, der Herr Widersacher sei ein Stehkragenproletarier, der vor den Großen auf dem Bauche krieche, seinesgleichen aber in den Hintern trampele.

Außer Lea überzeugte er keine Seele, und es verwunderte niemanden, daß er immer wieder in hohem Bogen hinausflog. Man hatte bald genug, übergenug von diesem Querulanten und seiner Prahlerei, er sei schließlich schon ein Wunderkind gewesen. Zu Hause tobte er dann weiter gegen die Stehkragenproletarier,