Mein Leben ist so sündhaft lang - Ralph Giordano - E-Book

Mein Leben ist so sündhaft lang E-Book

Ralph Giordano

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Beschreibung

Brillant geschrieben und von bestechender Eindeutigkeit – Ralph Giordanos Tagebuch »Ich kann nicht leben, ohne zu schreiben«, vertraut Ralph Giordano seinem Tagebuch an, aber er kann auch nicht leben, ohne die Stimme zu erheben, wenn Unrecht geschieht. Ein Jahr lang protokolliert Giordano, was ihn beschäftigt, aufregt und bewegt – vielleicht sein persönlichstes Buch. Ein Jahr lang, vom Geburtstag 2009 bis zum Geburtstag 2010, hat der große deutsche Publizist und Schriftsteller sich und seine Zeit kritisch und selbstkritisch unter die Lupe genommen. Dabei hat er ganz genau hingeschaut. Ob es um Bundeswehreinsätze in Afghanistan, Aufstände in Teheran, den Einsturz des Kölner Stadtarchivs, eine Huldigung an Herta Müller oder Einblicke in seine persönliche Arbeitsweise geht – es sind Aufzeichnungen, die zeigen, wie eng verbunden dieses Leben mit den großen Strömungen und Bewegungen unserer Zeit ist. Gleichzeitig aber gestatten sie einen tiefen Einblick ins Private, ohne Voyeure zu bedienen oder den Mutterwitz des Autors zu verbergen. Was den rastlosen 87-Jährigen jung hält, ist die Verteidigung jener Staats- und Gesellschaftsordnung, in der er sich nach den bitteren Erfahrungen seiner Jugend in Hitler-Deutschland einzig sicher fühlt: der demokratischen Republik, dem demokratischen Verfassungsstaat. Wann immer er sie bedroht wähnt, ob von rechts, von links oder von radikalen Muslimen, ist der scharfsichtige und unbestechliche Zeitzeuge zur Stelle. Seine offene Kritik an anti-emanzipatorischen und menschenrechtsfeindlichen Erscheinungen innerhalb der türkisch-muslimischen Parallelgesellschaften hat den versandeten Diskurs über das Integrations- und Migrationsproblem in Deutschland auf eine neue öffentliche Ebene gehoben. Diese Auseinandersetzung mit deutschen Multikulti-Illusionisten und integrationsabstinenten Muslimen führt Giordano an der Seite kritischer Muslime. Dass sich damit der Gefahrenpegel für ihn erhöht hat, nimmt er hin.

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Seitenzahl: 394

Veröffentlichungsjahr: 2010

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Inhalt

I. »Die Tränen kommen früher als sonst« März–Juni 2009 7 II. »Ja, das Leben kann schön sein« Juli–September 2009 69 III. »Aber es wird sich nichts an mir verändern« Oktober–Dezember 2009 149 IV. »Mein Leben ist so sündhaft lang« Januar–März 2010 213

[Menü]

I. »Die Tränen kommen früher als sonst«

März–Juni 2009

[Menü]

20. März 2009, Köln

Vormittags im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Gespräche über die nächsten Pläne: ein Tagebuch; heute beginnend über exakt ein Jahr hin, Erscheinungstermin: Herbst 2010; danach eine Auswahl meiner Reden, Vorträge, Lesungen der letzten zehn Jahre, Herbst 2011; schließlich das Thema, das immer offener zum Problem Nr. 1 der deutschen Innenpolitik wird, »Migration und Integration – Allah auf leisen Sohlen«, Herbst 2013.

Meine Großmutter mütterlicherseits hat, mir noch im Ohr, einmal gesagt: »Der Junge hat was Tollkühnes an sich.« Wie wahr! Würde die Verwirklichung dieser Pläne doch nichts anderes bedeuten, als mich noch als Neunzigjährigen über die Frankfurter Buchmesse humpeln zu sehen …

Der Verlag ist übrigens umgezogen – vom Stadtteil Marienburg in die City. Dagegen ist nichts einzuwenden – die neuen Räume sind licht, man kann ausschreiten und stolpert nicht mehr in engen Zimmern und schmalen Fluren über aufgetürmte Büchergebirge, ganz abgesehen vom Anblick auf den geradezu imperialen Hauptbahnhof. Dennoch ist der Ortswechsel für mich nur schwer zu verwinden. Brauchte ich doch über Jahrzehnte hin nur kurze Zeit, um vom Wohnpark Bayenthal durch das Nobelviertel und einen gepflegten Park zum denkmalgeschützten Haus Rondorfer Straße 5 zu gelangen: zehn Minuten zu Fuß, fünf per Rad, dieselbe Postleitzahl: 50968 Köln.

Damit ist es nun vorbei.

Wie mit den guten Vorsätzen – kein neues Buch mehr, zwanzig genügen. Aber die Welt dreht sich weiter, und ich kann nicht leben, ohne zu schreiben. Also das laufende Jahr unerschrocken unter das Mikroskop meiner späten Tage gelegt.

Heute bin ich übrigens sechsundachtzig geworden.

21. März 2009, Köln

Das erste, was ich nach dem Erwachen tue: Ich nehme Knuffi-Kirschauge in die Arme, drücke ihm einen Kuß auf die schwarze Nase und bin sprachlos, so inniglich schaut er mich an. Dabei sind seine Augen aus Glas, handelt es sich doch um einen Stoffwelpen, den mir ein alter Freund aus Bremen rechtzeitig zum gestrigen Tag geschenkt hat. Und das in Kenntnis meines lebenslangen, aber bis dato unerfüllt gebliebenen Wunsches nach einem Labrador mit hellem Fell. Rastlosigkeit und Arbeitswut ließen ihn schlicht nicht zu. Das habe ich einsehen müssen, deshalb dieser »Ersatz«. Aber was für einer! Wenn ich, wie jetzt, Knuffi von ganz nah tief in die Augen schaue, nehmen sie einen Ausdruck an, der von dem eines echten Hundegefährten kaum noch zu unterscheiden ist.

Da ist also gerade ein Ritual geboren worden.

28. März 2009, Köln

Endlich ist ein neuer Fahrstuhl installiert.

In den über dreißig Jahren Berndorffstraße 4, Köln-Bayenthal, bin ich mehrere Male zwischen Erdgeschoß und sechstem Stock steckengeblieben, und das bis zu einer halben Stunde – für den Klaustrophoben die Apokalypse schlechthin.

Ihre Ursache: September 1939, Geheime Staatspolizei, Leitstelle Hamburg. Der hölzerne Käfig, der eingezogene Kopf, die Halsstarre, das verbogene Rückgrat, die schmerzenden Knie – ich war sechzehn. Seither fürchte ich mich, wenn Türen hinter mir geschlossen werden, besonders in Fahrstühlen. In manchen Gebäuden bin ich die Treppen bis zu zwanzig Etagen und mehr hochgeklettert. Auch hier bin ich oft genug die sechsundneunzig Stufen per pedes hinaufgestiegen, aber das ist im Lauf der Jahre immer anstrengender geworden, das geben die Muskeln nicht mehr her. Und wegziehen will ich nicht.

So vertraue ich mich denn der neuen Technik an, lasse mich neuerdings in dem blitzblanken Käfig rauf- wie runterkarren und versuche mir einzureden, ich hätte etwas von der Furcht, eingeschlossen zu sein, verloren.

Und weiß doch, daß das nicht stimmt, daß es ein Selbstbetrug ist, weil nichts unvergessen ist, was von damals kommt.

5. April 2009, im Zug

Auf der Fahrt von Berlin zurück nach Köln.

In Bielefeld steigt eine Mutter mit Tochter und Sohn zu – das Mädchen zwölf, dreizehn, der Junge acht oder neun – Migranten. Sie setzen sich hin, still, schüchtern fast. Sofort ist in mir das alte Grundgefühl da, stärker als alles andere: sie zu beschützen – Allah hin, Mohammed her.

Die Kinder sprechen mit der Mutter türkisch, untereinander aber deutsch. Der Junge zeigt auf mich, lächelt, raunt der Schwester etwas zu. Beide sind langbewimpert und lösen einen nachhaltigen Zärtlichkeitsschub in mir aus. Ich kann es mir nicht verkneifen und streichle dem Jungen über die Wange, mit der Außenseite meiner rechten Hand, nicht der Innenseite – das wäre zu intim. Das Mädchen würde ich natürlich nicht mal mit der Fingerspitze anrühren. Ich habe ihnen inzwischen auf gut Glück die Namen Ayşe und Bassam gegeben.

Als sie Anstalten machen, in Hamm auszusteigen, schenke ich den Kindern ein paar Ostereier, vorsichtig, weil ich nicht weiß, wie sie reagieren werden. Sie bedanken sich artig, geben mir die Hand, auch das Mädchen, und lächeln, wie die Mutter. Ich sehe ihnen nach und habe dabei nur einen, einen einzigen Gedanken: Es soll ihnen gutgehen, es soll ihnen, verdammt noch mal, gutgehen!

Dieser Wunsch liegt allem, aber auch restlos allem zugrunde, was ich über Migration und Integration in der Öffentlichkeit gesagt und geschrieben habe oder je sagen und schreiben werde. Es gibt darin nichts, was gegen die Interessen von Ayşe und Bassam gerichtet wäre.

Zu Hause angekommen, bewegen das Erlebnis und seine Assoziationen mich dazu, den PC anzuwerfen und zu schreiben, eine Art »Charta«:

Es bleibt die Ehre der Nation, jeden Eingewanderten, Fremden oder Ausländer gegen die Pest des Rassismus und seine Sympathisanten zu schützen. Gleichzeitig aber ist es bürgerliche Pflicht, sich gegen Muslime zu wehren, die jenseits von Lippenbekenntnissen den freiheitlichen Errungenschaften des demokratischen Verfassungsstaates feindlich gegenüberstehen.

Deshalb Schluß mit der deutschen Feigheit, Kritik am inflationären Bau von Großmoscheen, an der Politik fundamentalistischer Verbandsfunktionäre oder gar am Islam selbst zu üben! Schluß vor allem mit dem niederträchtigsten aller niederträchtigen Totschlagargumente der Political Correctness: »Wer sich kritisch äußert, macht die Sache der Nazis von heute.« Umgekehrt wird ein Schuh draus: Haben doch gerade die deutschen Multikulti-Illusionisten, Dauerumarmer, Gutmenschen vom Dienst, Sozialromantiker, xenophilen Einäugigen und Beschwichtigungsapostel jene unerträglichen Zustände in der Migrantenszene geschaffen, auf die sich die Rassisten berufen.

Es sind diese professionellen Kreidefresser, die in die Misere der gescheiterten Integration gesteuert haben, jene total verfehlte Immigrationspolitik, die aus Furcht, ausländerfeindlich geschimpft zu werden, die berechtigten Eigennutzinteressen des Aufnahmelandes sträflich außer acht ließ.

Zur Lösung der Probleme gehört eine klare, furchtlose Sprache.

Hier stoßen zwei Kulturkreise von höchst unterschiedlichem Entwicklungsstand zusammen – der judäo-christliche, der in den letzten fünfhundert Jahren mit Renaissance, Aufklärung, bürgerlichen Revolutionen und ihrer Fortschreibung einen gewaltigen Sprung nach vorn getan hat, während der andere, der islamische Orbit nach kulturellen Höchstleistungen, die Europa nur beschämen konnten, seither auf verstörende Weise stagniert.

Es liegt im innersten Interesse der türkisch dominierten muslimischen Minderheit in Deutschland, sich von allen integrationsfeindlichen Kräften zu distanzieren und sie zu überwinden, Voraussetzung für eine Eingliederung, die diesen Namen verdient hätte.

Migration, Integration – sie sind längst zur Schicksalsfrage der deutschen Geschichte des 21. Jahrhunderts geworden.

Mein Standort in dieser Auseinandersetzung noch einmal: Es soll Ayşe, es soll Bassam gutgehen! Es soll ihnen, verdammt noch mal, gutgehen!

Und wer dagegensteht, ob von deutscher oder muslimischer Seite, der kriegt es mit mir zu tun.

15. April 2009, Köln

Im Fernsehen läuft die Verfilmung von Marcel Reich-Ranickis Autobiographie »Mein Leben«.

Ich stelle das Telefon ab, da darf nichts stören, nichts unterbrochen werden.

Und schrecke zusammen, als deutsche Soldaten in Warschau die Juden aus den Häusern holen – dieses Brüllen und Schreien, Laute, die einem das Trommelfell sprengen wollen. Bei ähnlichen Szenen in anderen Filmen habe ich oft gedacht: »Werden Zuschauer von heute, neue Generationen mit größerer Distanz zum Tatgeschehen, nicht sagen: »Ist das nicht übertrieben? Haben sich deutsche Soldaten wirklich so benommen?«

»Mein Leben« läßt keinen Zweifel an der Antwort.

Ein glaubwürdiger Film, weil er sich an die Glaubwürdigkeit des Marcel Reich-Ranicki hält.

Persönliche Gründe, ihm Kränze zu flechten, habe ich nicht. Er hat sich nie um meine Bücher gekümmert, ausgenommen ein einziges, gleich nach dem Erscheinen im Frühjahr 1982, und das höchst negativ – »Die Bertinis«. Das Buch hat nach seinem kometenhaften Aufstieg in eine internationale Longseller-Laufbahn bis heute eigentlich nur eine wirklich schlechte Kritik erfahren – eben die in der F.A.Z. Zwar hat sie ein anderer geschrieben, aber das unter Reich-Ranickis redaktionellem Zepter. Weil Heinrich Böll damals gerade im »Spiegel« eine verständnistiefe Eloge über meine Hamburger Familien-und-Verfolgten-Saga veröffentlicht hatte? Ich habe mir sagen lassen, zwischen ihm und dem »Literaturpapst« hätten die Dinge nicht zum Besten gestanden. Prüfen konnte ich das nicht, überdies – Tempi passati. Aber, das sei unverschwiegen, der Verriß ist mir lange nachgegangen.

Doch der Film über das Leben Marcel Reich-Ranickis und seiner Frau bis zur Befreiung hat mich tief erschüttert – ich konnte die Tränen nicht zurückhalten.

Sie kommen übrigens früher als sonst.

Barack Obama – omnipräsent.

Unvergeßlich für mich: Nach dem Wahlsieg bei den US-Präsidentschaftswahlen tritt er am 5. November 2008 mit einem lässigen »Hello, Chicago!« vor die Hunderttausenden seiner Anhänger – umwerfend.

Man spürt, da ist etwas Neues im Gange, und das ist groß. Enttäuschungen aber sind programmiert, wie immer bei zu hohen, wenngleich verständlichen Erwartungen.

Größere als diese hat es wohl selten gegeben.

»Fakt«, sozusagen die polnische »Bild«-Zeitung, erbittet von mir einen Artikel über die deutsch-polnischen Beziehungen. Nach einigem Zögern mache ich mich daran.

Kernpunkte: Keine Geschichte der Vertreibung ohne die Vorgeschichte, keine Vorgeschichte der Vertreibung ohne ihre Geschichte. Ich plädiere für Aussöhnung durch Wahrhaftigkeit und appelliere dabei auch an die Politiker und Staatsmänner im ehemals deutsch besetzten Europa, ihrerseits ehrlich zu prüfen, wo für sie nach 1945 die Wahrheit schmerzlich wird. Ich jedenfalls will weinen dürfen, wenn ich Bilder sehe, wie vertriebene Deutsche verprügelt und niedergeschlagen werden, mit blutenden Köpfen und bei Frost auf offenen Güterwagen. Wenn ich das sehe, will ich weinen dürfen, ohne mich schämen zu müssen und ohne daß das den Strom der Tränen mindert, die ich vergossen habe und vergießen werde über die Opfer des Holocausts, die ermordeten Polen, Sinti und Roma.

Dazu ein Wort über die Feindikone Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen. Für dessen Leitung gab es über Jahrzehnte hin überhaupt keine Vorgeschichte der Vertreibung, sondern nur »Deutschland – das Opfer der Geschichte«. Entsprechend war meine Haltung gegenüber dem BdV. In den Neunzigern kamen von dort dann plötzlich andere Töne: Gleichsetzung von Vertreibung und Holocaust sei falsch, der Völkermord an den europäischen Juden ein singuläres Verbrechen und der Krieg die Ursache der Vertreibung – Hitler habe die Büchse der Pandora geöffnet. Dieser Kurswechsel war verbunden mit der Vorsitzenden des BdV, Erika Steinbach, und führte zu einer vorsichtigen Annäherung meinerseits. Auf Dauer gehalten hat sie zwar nicht, weil die Vorgeschichte der Vertreibung in der Öffentlichkeitsarbeit immer noch zu kurz kommt.

Aber so zu tun, als hätte sich gar nichts geändert oder als wäre hier eine Revanchistin am Werk, das stieß dann doch auf meinen entschiedenen Widerspruch.

Deshalb als »Postskriptum« ein Appell an Erika Steinbachs polnischen Intimfeind, den »verehrten Władysław Bartoszewski«: »Lieber Mitpartisan und Vorreiter guter deutsch-polnischer Beziehungen, Sie waren der erste Pole, der 1999 in einer Rede vor dem Bundestag zum 50. Jahrestag der Bundesrepublik Deutschland das Leid der deutschen Vertriebenen beschworen hat. Helfen Sie nun bitte mit Ihrem begrüßenswerten Temperament und Ihrer höchst einflußreichen Stimme, das deutsch-polnische Verhältnis aus den Turbulenzen der Polemik auf den Boden einer so prinzipientreuen wie auch sachlichen Verhandlungsatmosphäre zu geleiten. Mit herzlichen Grüßen.«

Bin gespannt, ob »Fakt« das bringt.

Der brutale Militäreinsatz der Russen in Tschetschenien wird offiziell für beendet erklärt. Tatsächlich ist nur eine Wunde zugepflastert worden.

Ich habe bei den Nachrichten über die blutige Tragödie immer wieder aufgehorcht, wenn ein Name genannt wurde, der mir noch aus den Siegesmeldungen der Wehrmacht geläufig war – Grosny. Damals, Herbst 1942, hatte die Spitze der Panzerverbände die Stadt im Kaukasus fast erreicht und damit den östlichsten Punkt der deutschen Angriffsmaschine überhaupt. Lange halten konnte sie ihn nicht, der Versuch, an das Öl von Baku zu gelangen, scheiterte. Aber der Name blieb mir im Gedächtnis.

1942–2009 …

Zwei Überlegungen erschüttern mich: Grosny kennt bis heute keinen wirklichen Frieden. Und ich, damals neunzehn und in ständiger Todesfurcht, lebe immer noch.

Barack Obama setzt die CIA-Folter unter Straffreiheit.

Zu dieser Folter zählte auch, daß Männer in einen Käfig gesperrt wurden, wovon ich heute zum erstenmal höre. Also von der Methode, der ich 1939 durch die Gestapo im Hamburger Stadthaus ausgesetzt war und die ich heute noch in meinen Knochen spüre.

Ich falle aus allen Wolken – das tut mir weh, Amerika, das tut richtig weh. Fast mehr noch aber die Furcht, daß dies der Anfang einer Kette von Enttäuschungen sein wird.

18. April 2009, Köln/Kaisborstel

Der TV-Sender »Phoenix« hat es gebracht: Die Büffel sind vor dem Aussterben gerettet, es gibt jetzt ihrer wieder 150 000! Das sind zwar wenige, gemessen an den 60 Millionen, die einst in großen Herden über die Prärie, die Great Plains, donnerten. Aber am Ende des 19. Jahrhunderts waren die majestätischen Tiere bis auf einen Rest von 5000 nahezu ausgerottet.

Meine ganze Jugend war erfüllt von ihnen, ihrer gebuckelten Physis, gewaltigen Silhouette und der historischen Kulisse ihrer Gattung, dem Untergang der Ureinwohner Nordamerikas.

Ich habe ihn immer von den Kaffernbüffeln Afrikas oder den europäischen Wisenten zu unterscheiden gewußt, den »Indianer-Büffel«. Von Kindheit an gehörten Indianer und Büffel für mich zusammen, bald, sehr bald schon weg von Karl Mays falscher Romantik mit ihren rotgefärbten Germanen à la Winnetou und hin zu den ebenso großartigen wie bitteren dreihundert Jahren »Go West«.

Unheimlicher Gedanke: In dem Moment, als Christoph Kolumbus am 12. Oktober 1492 seinen Fuß auf die Insel Guanahani setzte, heute San Salvador, war das Schicksal der »Neuen Welt« entschieden …

Bei Günter Kunert, Kaisborstel, Schulstraße 7.

Draußen über der norddeutschen Flachlandschaft schwelt ein Apriltag vor sich hin, unentschlossen, ob er die Sonne scheinen lassen will oder nicht.

Ich bin gern hier, in dem alten Schulgebäude, in dem der Poet seit 1980 lebt.

Der alte Freund, Mitjude und DDR-Dissident, einer der großen Aufmüpfigen unseres Zeitalters, hat mich seit je inspiriert, zuletzt mit seinem Gedichtband »Als das Leben umsonst war«, dem er die Widmung »von Herzen – old Kunert« hinzugefügt hatte.

Ich habe in seinen Texten immer zuerst und quer nach Worten und Bildern gesucht, die nur von ihm stammen konnten, etwa »Der Südwest – Tanzmeister der Bäume«, »Krümel und Staub, die Imperatoren des Daseins«, »Auge zu sein meine einzige Gabe« – herrlich. Oder: »Die Schritte unhörbar, in leeren Gängen, wo ewige Lampen leuchten, Tür neben Tür, dahinter die Beichtbetten.« Da raste ich aus, da werde ich süchtig, da führt ein ganz Großer die Lyrikfeder, gerät ihm alles zu Poesie.

Dahinter dräuen dunkle Beispiele, Schwermut, Unwägbares, Überraschungen, Erbarmungslosigkeiten, mit der Pointe: »Ansonsten ist das Landleben gemütlich.«

Was da aufeinanderprallt, läßt mich vor Vergnügen krächzen. Obwohl von hier also meist keine frohe Botschaft gesendet wird, weigere ich mich, Kunert einen Fatalisten oder Pessimisten zu nennen. Genauer, treffender wäre »Exzentriker der Wirklichkeit«. Die läßt ja angesichts des nuklearen Multi-Overkills durchaus Endzeitphantasien für das Los der Menschheit zu. Aber da hockt dieser späte Nachfahre Heinrich Heines die ganze Zeit über in seinem nordischen Domizil und produziert ein Werk nach dem andern, Jahrzehnt um Jahrzehnt, bis in die letzte Zeile des Gedruckten. Das steilt dann auch an einer Bücherfront hoch, die einen schwindlig macht und nicht so aussieht, als bereite sie sich darauf vor, in einem Weltenbrand sang- und klanglos zu verglühen.

Wann immer ich in Norddeutschland bin, finde ich den Weg hierher, in ein Haus, in dem Katzen das Sagen haben.

Dann sitzen wir in dem großen Wohnraum, palavern über die Welt, halten Gericht über sie und über uns, bestätigen in der Regel gemeinsame Auffassungen und staunen wieder und wieder, Freunde geblieben zu sein. Inzwischen beide alt genug, um das schätzen zu können.

Am 14. Mai 2009 erhält Günter Kunert in Kiel den »Norddeutschen Kulturpreis«. Gerade hat er mich festgenagelt, die Laudatio zu halten.

Ich sage freudig zu, ganz fiebrig erfüllt davon, nach Boshaftigkeiten zu fahnden, hinter denen sich das Gegenteil versteckt.

20. April 2009, Köln

Besuch von Marie H., meinem armenischen Patenkind, sechzehn, eine begnadete Geigerin.

Ich hatte sie vor vier Jahren kennengelernt im Rahmen meiner Bemühungen, den Völkermord an den Armeniern 1915/16 im türkisch-osmanischen Reich in das öffentliche Bewußtsein zu bringen.

Ich hatte sie vorher nie gesehen und erlebte nun ihr Spiel. Das Auditorium war hingerissen und ich der Hingerissenste von allen. Ein Bogenstrich von solcher Kraft, daß man unwillkürlich aufschreckte, die Begegnung mit einer außergewöhnlichen Begabung von unbewußter Würde und Reife weit über ihr Alter hinaus.

Inzwischen ist aus dem kleinen Mädchen ein wunderhübscher Teenager geworden, mit dem ganzen Schmelz der Jugend, langbewimperten Rehaugen und überhaucht von dem eigenartigen Liebreiz armenischer Frauen. Jetzt ist Marie H. alt genug, um die Tragödie ihres Volkes zu begreifen und darüber zu sprechen.

Die Familie ist 1992 aus Armenien nach Deutschland gekommen und lebt in Düsseldorf. Ohne die Schule zu vernachlässigen, übt Marie ihre Kunst in zahlreichen Veranstaltungen und Wettbewerben aus und findet überall Anerkennung und Lob.

Ihr Besuch steht unter einem winzigen Hoffnungsschimmer. Es scheint so etwas wie Bewegung in die versteinerten türkisch-armenischen Beziehungen zu kommen. Der türkische Präsident ist nach Eriwan gereist, Hauptstadt der Republik Armenien, und hat sich dort mit der Regierung getroffen, eine Aufwartung, die von dieser bald erwidert werden soll. Ein Bekenntnis der Türkei zu ihrer historischen Altschuld ist das nicht, aber schon die kleinste Veränderung des Status quo wird freudig begrüßt.

Ich begleite den Lebensweg von Marie H. nun schon einige Jahre und will auch weiterhin das Meinige zu ihrem Wohl beitragen.

Vor dem Abschied führe ich, stolzer Godfather, Marie noch einmal vor das Hochzeitsfoto von Samar aus Beit Sahour – meine beiden Patenkinder, das armenische und das palästinensische, sind die schönsten auf der Welt!

(Ich nenne Marie übrigens nur »Mariechen« – der Ausdruck einer späten, aber zärtlichen Neigung, mir Menschen, die mir nahestehen, durch diese intime Veränderung noch näherzubringen.)

22. April 2009, Heidelberg

Gestern gelesen aus den »Erinnerungen eines Davongekommenen« im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma.

Eingeladen und vom Bahnhof abgeholt hatte mich sein Vorsitzender, mein Freund Romani Rose.

Wie mit den Armeniern, habe ich ein starkes Solidaritätsgefühl für die Sinti und Roma, befinden sie sich doch in einer viel schwächeren Position als die Juden und deren Verbände und Organisationen. Nach wie vor ist der Begriff »Zigeuner« negativ besetzt.

Deshalb habe ich es als meine Pflicht empfunden mitzuhelfen, das Schicksal der Sinti und Roma unter Hitler an das Licht der Öffentlichkeit zu bringen, auch wenn ich dabei auf manchen jüdischen Widerspruch und Widerstand gestoßen bin.

Beirren konnte mich das nicht.

Vielmehr war ich wieder tief erschüttert, als Romani Rose gestern auf der Fahrt in das im Zentrum Altheidelbergs gelegene »Hotel zur Alten Brücke« sagte: »Freu dich, ihr habt, wie gut, Israel …« Es traf mich wie ein Schlag.

Dabei fühlt er sich, 1946 in dieser Stadt geboren, hier durchaus heimisch, ja, stellt den Heidelbergern ein geradezu glänzendes Zeugnis aus. Was den Erhalt der Demokratie betrifft, so kommt im Gespräch mit ihm ein starkes Vertrauen in die Mehrheit der Deutschen zum Vorschein, und das mit so warmen Worten, daß ich angenehm berührt war. Trotzdem kennt er natürlich all die Vorurteile und Vorverurteilungen, denen Sinti und Roma hierzulande immer noch ausgesetzt sind.

Dennoch war der Lesungssaal gestern brechend voll und das Publikum mehrheitlich keine Sinti und Roma.

Notabene: Nach fünfundzwanzig Jahren Stehpult bei Lesungen bevorzuge ich seit kurzem einen Sitz am Tisch. Alle körperlichen Anstrengungen werden fühlbarer, die seelischen aber auch.

Jetzt, vor der Rückreise, gehe ich auf die berühmte Neckarbrücke, direkt am Hotel. Die Natur ist dieses Jahr geradezu explodiert. Sprühendes Sonnenlicht, die Schloßruine aber noch im Schatten – eine Idylle, wie sie deutscher nicht sein kann. Dahinein weht mir, dem hoffnungslosen Romantiker, denn auch ein Lied aus frühen Tagen zu, so daß ich summe »Ich hab’ mein Herz in Heidelberg verloren / in einer lauen Sommernacht / ich bin verliebt bis über beide Ohren …« und bleibe dann stecken. Habe ich aber doch einmal gewußt …

Die Fahrt nach Köln mit der Bahn geht linksrheinisch über Bingen und Koblenz, also die schöne Trasse, und nicht über den rechtsrheinischen Parcours, die ICE-Rennstrecke.

Kurz vor der Loreley schwöre ich, nicht wieder »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …« vor mich hin zu summen und nicht an Heinrich Heine zu denken. Und weiß doch, daß auch diesmal, wie schon hundertmal zuvor, alle Anstrengungen umsonst sein werden.

Manchmal trifft es mich wie ein Blitz – die unglaubliche Wirklichkeit, daß ich nahe, sehr nahe an die Hundert geworden bin und das mit klarem Geist in das Sprechgerät diktieren kann.

Dann rechne ich ab ovo zurück – 1923 –, kneife mich, ob ich auch wirklich noch da bin, und hoffe, wenn es dann soweit sein wird, daß es glimpflich abgeht und nicht in einem Schmerzinferno, einer physischen Apokalypse.

Welch ein Trost, daß es aktive Sterbehilfe gibt, welch ein Trost.

24. April 2009, Köln

Anmerkungen:

Beim Tinnitus, dem Dauergeräusch im linken Ohr, das ich seit fünfzehn Jahren habe, tröstet nur eines: daß es nicht noch lauter ist …

Ich habe schreckliche Träume, überall Hände, Hände – an Türen, Decken, Wänden.

Eigenmächtige Umwandlung des lateinischen Sprichworts: »Sine ira et studio« (»Ohne Zorn und Eifer«) in »Cum ira et studio« (»Mit Zorn und Eifer«)

Aber Vorsicht, Giordano, Vorsicht!

Erschreckend Menschen und Meinungen, die so tun, als seien Rechtsextremismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus läßliche Accessoires der Demokratie und nicht ihr Schandfleck.

In der letzten Zeit verstärkte Drohungen von Muslimen per Telefon, nachts, kurz, brüllend, haßtriefend, immer endend mit »Allah, Allah«, als wollten sie den Hörer sprengen.

Beim Anblick der Klagemauer in Jerusalem muß ich, der sich religionsloser Humanist nennt, immer wieder schlucken.

Eine Kollegin von der »Welt«, Hannelore Crolly, kommt aus Frankfurt am Main, um mich über mein Verhältnis zu Köln zu interviewen. Ich gebe ihr Antwort, so redlich wie möglich. Das geht bei Tee mit Zitrone über Stunden. Dann entdecke ich, daß sie, schon vorher hübsch, immer schöner und schöner wird – nachdem sie sich eine Brille aufgesetzt hat.

ARD und ZDF, die Öffentlich-Rechtlichen, kommen unter Finanzdruck. Große Ausfälle, nicht zuletzt durch hohe Arbeitslosenzahlen und Gebührenbefreiung aus sozialen Gründen. »Wir stellen uns auf magere Zeiten ein«, heißt es aus dem Olymp der Intendanzen.

Wer hätte das gedacht!

Erinnerung aus meinen Jahren beim NDR-Fernsehen, Ost-West-Redaktion, 1961–64, Ausspruch eines Kollegen: »Gott sei Dank, daß wir bei einer krisenfesten Institution beschäftigt sind.«

Wenn fast über ein halbes Jahrhundert hin etwas als absolut krisenfest galt, waren es doch, höchst abgesegnet vom Bundesgerichtshof und vom Verfassungsgericht, ARD und ZDF.

Auch hier bewahrheitet sich wieder: Nichts ist sicher – außer der Unsicherheit.

Die polnische Zeitung »Fakt« hat meine »Charta der deutschen Vertriebenen« (Keine Geschichte der Vertreibung ohne die Vorgeschichte, keine Vorgeschichte der Vertreibung ohne ihre Geschichte) wörtlich übersetzt gebracht.

Der »verehrte Mitpartisan« Władysław Bartoszewski hat sich nicht gerührt. Dabei wird es wohl auch bleiben.

30. April 2009, Köln

»Nee, das war mir zu vornehm.«

So der Altkanzler auf die Frage von Giovanni di Lorenzo, warum er in einem ganz unspektakulären Reihenhaus des Hamburger Stadtteils Langenhorn wohne und nicht an der Elbchaussee … herrlich!

Immer wieder läßt mich die Lektüre »Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt« hell auflachen – sei es über sein lapidares »Nee« und »Nö« oder wenn er eingesteht: »Sprechen habe ich erst im Laufe des Lebens gelernt.«

Was ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen kann. Dachte ich doch lange, ich spräche ein einwandfreies Hochdeutsch. Bis mich die Arbeit für Rundfunk und Fernsehen dann mit erschreckenden Defiziten konfrontierte – darunter dem nicht ganz reinen, zum O hin tendierenden A, den verschluckten Endsilben, der Neigung zum Nuscheln und einem öligen Singsang an Stelle von dem, was anderswo »Dialekt« genannt wird.

Da waren, ganz à la Schmidt, Korrekturen nötig.

Die Distanz zwischen unseren Geburten – 1918 und 1923 – beträgt fünf Jahre, die zwischen den Schauplätzen der Kindheit und frühen Jugend in Barmbek wenige hundert Meter.

Persönlich begegnet sind wir uns einige Male, im Rathaus, vor Mikrofon und Kamera, einmal auch im Refugium der Schmidts am Brahmsee.

Der Hausherr hatte »Die Bertinis« gelesen und dann nach der Lindenallee gesucht, jener Straße, die über eine lange Strecke der Hamburger Familien-und-Verfolgten-Saga der Hauptschauplatz des Geschehens war. Er habe sie aber nicht gefunden, erfuhr ich. Konnte er auch nicht, da die Straße nur im Buch so heißt, in Wirklichkeit aber die Hufnerstraße ist. Ich erinnere mich, daß ich einige Mühe hatte, mein Amüsement über die selbstverständliche Gleichsetzung von Roman und Realität zu verbergen.

Woran ich mich ebenfalls erinnere, waren die Bodyguards, die Tag-und-Nacht-Bewachung, die offenbar fest in das Leben von Loki und Helmut Schmidt integriert war. Wobei ich mich immer wieder bei der Frage ertappte, wie das auszuhalten sei.

Als ich dann selbst an der Reihe war, bewacht zu werden, wollte ich davon nichts wissen. »Lieber abgemurkst als nie allein«, erklärte ich. Und dabei ist es geblieben.

Helmut Schmidt ist mir seit den fünfziger Jahren ein Begriff, als SPD-Redner gegen Adenauer und sein Regime, vor allem aber als Chef des Kampfes gegen die große Flut vom Februar 1962 – über dreihundert Tote am Zusammenfluß von Norder- und Süderelbe. Auftritt im NDR-Fernsehstudio Lokstedt, ein martialischer Anblick: Hamburgs Innensenator in Parker und Stulpenstiefeln, ganz natürliche Autorität, ganz Gebieter, mit paramilitärischer Aura. Hinter vorgehaltener Hand wurde etwas vom »strammen Oberleutnant« gemunkelt.

Dazu gab es, viel später, einen Nachschlag.

Anfang der achtziger Jahre hatte ich einen öffentlichen Strauß mit Helmut Schmidt, damals noch Kanzler. Bei einer Moskauer Zusammenkunft mit dem Generalsekretär der KPdSU, Leonid Iljitsch Breschnew, hatte er gesagt: Er habe mit den Nazis nichts im Sinn gehabt, aber als Soldat seine Pflicht erfüllt …

Das war mir dann doch zu happig.

Ganz abgesehen davon, daß der »pflichtgemäße« deutsche Überfall die Sowjetunion zehn Millionen Militär- und fünfzehn Millionen Ziviltote gekostet hatte, diese Interpretation von »Pflichterfüllung« lag mir nun doch allzu nahe an der Legende vom »sauberen Waffenrock der Wehrmacht«. Denn wenn es damals »Pflicht« gewesen wäre, zu gehorchen, so konterte ich, dann wären nach dieser Logik Deserteure, Verschwörer und Widerständler gegen Hitler eben die Hoch- und Landesverräter gewesen, als die sie an Klaviersaiten aufgehängt oder erschossen worden seien.

Wenn Schmidt wenigstens erklärt hätte, er habe seinerzeit geglaubt, als Soldat trotz Hakenkreuz seine Pflicht tun zu müssen … War nicht inzwischen genügend Zeit verstrichen, neue Erkenntnisse zu gewinnen? Statt dessen aber nun eins zu eins die alten Wertvorstellungen.

Schmidts Replik habe ich nicht mehr in Erinnerung, kann mir aber nicht vorstellen, daß er heute noch auf dem gleichen Standpunkt steht.

Seinen Schwierigkeiten, Emotionen zu zeigen, habe ich immer Verständnis entgegengebracht, obwohl ich selbst so ungefähr das diametrale Gegenteil davon bin. Um so beeindruckter war ich dann aber von seiner Trauerrede zum Tod von Marion Gräfin Dönhoff in der Hamburger Michaeliskirche. Da konnte auch er Rührung, konnte auch er Bewegung nicht verbergen. Ich hatte danach das dringende Bedürfnis, ihm die Hand zu drücken.

Ich hoffe, daß Helmut Schmidt noch leben wird, wenn mein Tagebuch erscheint. Er ist zur Stunde dieser Niederschrift einundneunzig, fünf Jahre älter als ich, und kann nicht mehr gut gehen und hören. Er spricht selbst von »alt« und »wacklig«, aber das mit ironischem Unterton. Weinerliches gibt’s hier nicht. Ich kenne niemanden, dessen Kopf klarer wäre als der seine. Sein Wissen ist enorm, seine öffentliche Ausdauer bewunderungswürdig und sein lapidares »Nee« oder »Nö« unübertreffbar.

Deshalb, von Barmbeker zu Barmbeker: ein kräftiges, ganz kräftiges Masel tov, sehr geehrter, lieber Helmut Schmidt, masel tov!

2. Mai 2009, Köln

Gestern ist es an verschiedenen Plätzen der Bundesrepublik zu gewalttätigen Demonstrationen gekommen. Brachiale Zusammenstöße, eine neue Art der Bedrohung von rechts, sagen Kommentatoren.

Ich bin tief beunruhigt.

Da wird ein Bollwerk angetastet, hinter dem ich lebe, all die Jahre und Jahrzehnte, hier in Deutschland – die demokratische Republik. Ich habe mich dahinter sicher gefühlt, gewiß, daß es nicht eingerissen, ja, nicht einmal wirklich beschädigt werden könnte. Und nun? Wenn mir diese Gewißheit genommen werden würde, dann stürzte etwas ein, worauf sich mein ganzes Sein gründet.

Aber auch wenn es nicht so kommt, wenn ich mich unnötig fürchtete – schlimm genug, daß unsere Zeit mir solche Gedanken aufzwingt.

4. Mai 2009, Köln

Heute vor 64 Jahren sind wir befreit worden, von der 8. britischen Armee des Feldmarschalls Bernard Law Montgomery.

Hamburg hatte einen Tag zuvor, am 3. Mai 1945, kapituliert. Und wir, meine Eltern und drei Brüder auf der Flucht vor dem tödlichen Deportationsbefehl für die Mutter, lagen seit Monaten in einem dunklen, feuchten, rattenverseuchten Kellerverlies, zu schwach, um unseren Befreiern aufrecht entgegenzugehen. Seit Wochen abgeschnitten von jeglicher Nahrungszufuhr, wären wir verhungert, wenn die Briten nur wenig später gekommen wären. Doch sie kamen gerade noch rechtzeitig.

Das ist jetzt unendlich lange her, doch wird dieser Tag für mich immer der unvergleichlichste und unglaublichste meines Lebens bleiben. Aber auch der peinigendste.

Wieso?

In diesem Jahr erlebe ich den 4. Mai ganz allein – Eltern, Geschwister und sonstige Verwandte sind gestorben. Tatsächlich bin ich der letzte der Sippe, der buchstäblich allerletzte – und das kinderlos.

Warum? Mag ich keine Kinder? Unsinn – das Gegenteil ist der Fall. Je älter ich wurde, desto größer meine innere Nähe zu Kindern, desto neugieriger wurde ich auf sie und immer besorgter um ihr Wohl und Wehe.

Aber selber habe ich keine – und das beabsichtigt.

Heute überwinde ich mich und werde über die Gründe dafür schreiben und sie in mein Tagebuch eintragen.

Ich habe in meinen Büchern mehrfach die Mißhandlungen und Folterungen geschildert, die ich als Jugendlicher unter Hitler erleiden mußte, darunter die schwerste im August 1944 als Einundzwanzigjähriger im Haus der Rassengestapo Hamburg am Johannisbollwerk. Es ist die authentische Schilderung eines Menschen-Bashing bis hinein in die Bewußtlosigkeit. Unmittelbar vor dem Abtauchen in die Schwärze aber hatte sich eine Artikulation in mein Hirn eingestanzt, um es nie wieder zu verlassen, ein Wunsch, ein Schrei, den ich bis heute höre, abrufbar zu jeder Zeit: »Wärest du doch nie geboren worden, nie geboren, nie.«

Die Schlußfolgerung daraus, nachdem ich den Holocaust überlebt hatte, war: »In diese Welt setzt du keine Kinder, dieser Welt setzt du niemanden aus. Wer sagt dir denn, daß sie nicht Ähnliches erleben werden, wie du es erlebt hast, oder gar noch Schlimmeres? Wer sagt dir denn, daß sie dich nicht eines Tages verfluchen werden, weil sie geboren wurden?«

Heute weiß ich, daß meine Antwort auf diese Frage falsch war und daß mein Leben glücklicher verlaufen wäre, wenn ich Kinder, Töchter oder Söhne, gehabt hätte.

Und deshalb ein schweres Eingeständnis: Von allen Verbrechen, die die Nazis mir angetan haben – und sie haben mir vieles angetan, mich früh von meinen Spielgefährten und Freunden getrennt, mir die Seele aus dem Leib geprügelt und die erste Liebe getötet –, von all diesen Verbrechen ist dies das größte: daß sie mich zur Verweigerung eigener Kinder gebracht, daß sie mir den Mut zu eigenen Kindern genommen haben. Das ist von all ihren Verbrechen das größte. Und ich mußte alt werden, um es zu erkennen und zu bekennen.

Dabei herausgekommen aber ist schließlich doch eine Überwindung des Irrtums, und zwar jene mich immer wieder tieferwärmende Beziehung zu Kindern, auch wenn sie nicht die meinen sind.

Jetzt, nach diesem Geständnis, fühle ich mich erleichtert.

Liebe Eltern, liebe Brüder, liebe Schwester – so begehe ich mit für euch den 64. Jahrestag unserer Befreiung am 4. Mai 1945.

7. Mai 2009, Berlin

22. Verleihung des »CIVIS – Europas Medienpreis für Integration« im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestages.

Und wieder sind alle, alle gekommen – von ARD, ZDF, ORF, arte, Phoenix, 3sat, Deutsche Welle und dem Schweizer Fernsehen – ein Riesenaufwand. Fünfhundertvierundzwanzig Radio- und Fernsehprogramme hatten sich um die begehrten Auszeichnungen beworben, zwanzig kamen in die Endauswahl, elf wurden prämiert.

Darunter ein Beitrag über die Situation der Roma in Ungarn, mit Aufnahmen, vor denen man die Augen schließen möchte. Brennende Hütten und Häuser, verzweifelte Eltern, Kinder, die nicht lächeln können. Zustände, wie sie nicht nur in Ungarn, sondern auch in anderen Ländern des Kontinents herrschen. Europa – wo bist du? Warum läßt du das geschehen? Heftiger Wunsch, von hier zu fliehen oder unsichtbar zu werden.

Dabei ist es doch verdienstvoll, auf das Schicksal bedrängter Ethnien hinzuweisen, ja. Aber wo und wie geschieht das? Mir ist der Saal plötzlich zu lichtdurchflutet.

Und was habe ich, WDR-Pensionär von 1988, hier denn überhaupt zu suchen?

Von Mitte der achtziger bis in die erste Hälfte der neunziger Jahre war ich Vorsitzender der CIVIS-Jury gewesen, eine Funktion, die tiefen Einblick in die Probleme von Migration und Integration bot. Dazu kam nach der Wende ein wahrer Flächenbrand des Rassismus, eine Inflation ausländerfeindlicher Gewalttaten und Brandstiftungen, mit den Stichworten Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, bis hin zu den Mordanschlägen von Mölln und Solingen, denen acht Türkinnen und Türken zum Opfer fielen. Gleichzeitig wurden in ganz Deutschland jüdische Friedhöfe geschändet – ein schauriger Beweis für das Zwillingsverhältnis von Antisemitismus und Fremdenhaß.

Wie alarmierend die Situation war, zeigte sich schlagartig bei der Preisverleihung von »CIVIS 92« im Großen Sendesaal des Westdeutschen Rundfunks in Köln. Wie schon in den Jahren zuvor, hatte ich eingangs so etwas wie eine Bilanz seit der letzten Verleihung zu ziehen. Eine Ouvertüre mit folgenden Schlußsätzen:

»Seien wir einander Bundesgenossen, überlassen wir Deutschland nicht abermals seinen potentiellen Verderbern, sondern verteidigen wir diese kostbare Demokratie, verteidigen wir – ich fürchte nicht, es auszusprechen – unser Vaterland! Wir haben kein anderes.«

Der Stoß, der ganze Tenor dieses Aufrufes richtete sich eindeutig, ja ausschließlich gegen die Gefahr von rechts.

Obwohl alle Probleme der Migration und Integration von heute schon damals existierten und CIVIS hochkritische Filme, vor allem über die Stellung der Frau, prämiert hatte – kein Wort über den politischen und militanten Islam, keine Silbe gegen Sitten, Gebräuche und Traditionen innerhalb der türkisch-arabischen Minderheit, die mit dem Grundgesetz und den Werten der Demokratie unvereinbar sind.

Nicht ohne Verblüffung stelle ich heute fest: Eine kritische Hinterfragung von Migration und Integration als nationales Problem gab es damals so gut wie nicht. Auch »9–11«, mit New Yorks brennenden Twin Towers, hatte bei uns nicht dazu geführt. Erst als am Bau der Köln-Ehrenfelder Großmoschee vor laufender Kamera öffentlich Kritik geübt wurde – am 11. Mai 2007 bei einem Streitgespräch zwischen dem Funktionär der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB), Bekir Alboga, und mir –, erst von da an brandete jener öffentliche Diskurs auf, der mit der Auseinandersetzung um die kritischen Äußerungen Thilo Sarrazins den Point of no Return erreicht hat.

Ganz offenbar hatte ich etwas ausgesprochen, was viele nicht auszusprechen wagten. Anders jedenfalls waren jene Hunderte und Aberhunderte von Briefen nicht zu deuten, die ich nun aus ganz Deutschland bekam und die alle den gleichen Tenor hatten: »Wir sind wie Sie beunruhigt, wagen aber nicht, es öffentlich zu bekunden, weil wir dann in die falsche, die neonazistische, rassistische Ecke gestellt werden.« So die Wirkung des niederträchtigsten aller niederträchtigen Totschlagargumente der Political Correctness: »Wer den Bau von Großmoscheen kritisiert oder gar den Islam, der macht die Sache der Nazis von heute.«

Es ist die so wirksame wie schamlose Ausbeutung des nach wie vor überhängenden Schulddrucks aus der Nazizeit durch jene Multikulti-Illusionisten, deutschen Umarmer, Gutmenschen vom Dienst, Sozialromantiker und Beschwichtigungsapostel, die überhaupt erst jene unhaltbaren Zustände in den Parallelgesellschaften schufen, auf die sich Deutschlands ausländer- und fremdenfeindliche Rechte beruft.

Eingeladen als Jury-Ehrenvorsitzender a.D., finde ich mich nun hier bei der 22. Verleihung des CIVIS-Preises im Paul-Löbe-Haus wieder – und das mit wechselvollen Gefühlen.

Ich bin ziemlich sicher, hier wären Begriffe wie »schleichende Islamisierung«, »Scharia« und »Dschihad« (»Heiliger Krieg«) nicht willkommen, ganz im Gegensatz zu Parolen wie »die Migrations- und Integrationskonflikte haben mit dem Islam nichts zu tun«. Abonniert auf eher »ermutigende Beispiele«, dürfte hier nicht gefragt sein, was Necla Kelek »den harten Kern der kulturellen Differenzen« nennt (etwa die Rolle patriarchalischer Gewalt als alltägliche Erfahrung in türkischen und arabischen Familien). Der Hinweis gar, daß, bei allen Versäumnissen deutscherseits, die entscheidenden Hemmnisse für Integration aus der muslimischen Minderheit selbst erwachsen, dürfte einer Gotteslästerung gleichkommen.

Ich spüre deutlich diese unsichtbare und doch von allen akzeptierte Grenze, eine strenge, lautlose Disziplin. Es käme, fürchte ich, hier schlecht an, wenn ich fragen würde, warum Polizisten in bestimmten Vierteln unserer Städte nur noch in Mannschaftsstärke einziehen und Sozialarbeiter und Fürsorger ihrer Aufgabe nur unter Staatsschutz nachkommen können. Oder, konkret: Was ist mit den Zehntausenden von Kindern in Berlin-Neukölln, die in einem hochexplosiven Klima keinerlei Hoffnung auf Entfaltung haben, solange ihre integrationsunwilligen Eltern mit den Glacéhandschuhen einer selbstmörderischen Toleranz angefaßt werden?

Ich finde die Antworten nicht, weil die Fragen nicht gestellt werden. Gleichzeitig werde ich vor mir selbst gewarnt. Ich will den Beteiligten an CIVIS kein Unrecht tun, will nicht dem Irrtum eines Rundumkahlschlags anheimfallen, zumal unter den Versammelten viele, sehr viele sind, die ich kenne, achte und schätze, wie Cherno Jobatey, den Riesenkerl vom ARD/ZDF-Frühstücksfernsehen, oder Sonia Mikich von WDR-Monitor, die da im leichten Sommerkleid auftaucht, oder die rassige Anne Will, die souverän durchs Programm lenkt. Wäre es nicht viel klüger, den Frust für mich zu behalten?

Nur geht das nicht, weil die Stunde in mir einen Stachel zurückläßt.

Das war kein Durchbruch heute, kein Abschied von der Political Correctness, sondern ihre Bestätigung. Aber konnte es denn überhaupt etwas anderes sein, muß ein Preis mit dem Untertitel »für Integration« nicht unweigerlich von seiner Genesis her eine Schlagseite haben?

Paul-Löbe-Haus, Deutscher Bundestag, 7. Mai 2009.

Ich habe das Gefühl, dem Problem Nr. 1 der deutschen Innenpolitik über das ganze 21. Jahrhundert hin nahe, sehr nahe gewesen zu sein.

»Deutschland, deine Muslime«.

Rückfahrt ins Hotel Savoy, Fasanenstraße, meine Leib-und-Magen-Unterkunft bei Aufenthalten in Berlin.

Aber welch ein nicht mehr meßbarer Unterschied doch zwischen der Bonner Idylle und der Berliner Dynamik, dieses Grundveränderte.

Da will Nostalgisches in mir hochkommen, sich eine lächerlich sentimentale Sehnsucht nach Bad Godesberg anmelden, mit der Gefahr, die alte Bundesrepublik zu verklären. Die war in manchem schauerlich genug, um es vorsichtig auszudrücken, diese Republik der »zweiten Schuld« – wer hätte das ausdauernder angeprangert als ich? Aber sie war unbestreitbar auch eine Erfolgsgeschichte, wacker durchgehalten in manchem Sturm. Was es an demokratischer Nachkriegsgeschichte gibt, das kommt von ihr. Irgendwie hat sie tapfer und störrisch Kurs gehalten, und wie wunderbar, daß es heute zwischen Köln und Berlin kaum fünf Stunden Bahnfahrt bedarf, gemessen an den unvergessenen sieben oder gar neun im geteilten Deutschland (ganz abgesehen von den Atembeschwerden, sobald die innerdeutsche Grenze näher kam).

9. Mai 2009, Berlin

Zehnter Todestag von Jürgen Fuchs, Gedenkstunde in der Heinrich-Böll-Stiftung.

Neben mir Lilo Fuchs, die Witwe, eine zarte, blasse Person, die während der Feier ihre Hand in meine gelegt hat. Neben ihr Wolf Biermann.

Ich lernte den DDR-Dissidenten und Widerständler gegen das SED-Regime Fuchs 1976 kennen – Berlin, Tempelhofer Damm 54. Nach langer Stasihaft ohne seine Frau und die einjährige Tochter gerade ausgewiesen (und in völliger Ungewißheit, wann und ob er sie überhaupt wiedersehen würde), saß vor mir ein junger Mensch von großer Zerbrechlichkeit und unerschütterlicher Würde.

Er hatte wenige Stunden vor meinem Besuch gerade seine erste Erfahrung mit bundesdeutschen Medien gemacht. »Können Sie sich eine Ablehnung finanziell überhaupt erlauben?« So der Leiter eines Fernsehteams des Bayerischen Rundfunks, als Fuchs ein Interview verweigert hatte.

Der Affront zitterte noch nach.

Ich war Jürgen Fuchs vorher nicht begegnet, wußte also nicht mehr als das, was bis dahin an die Öffentlichkeit gedrungen war. Das aber hatte genügt, ihn mir zu einem Begriff zu machen – ein widerständiges Leben von früh an. Kritische Äußerungen des Abiturienten im Jahr der Studentenproteste und des »Prager Frühlings« 1968; Schwierigkeiten, einen Studienplatz an der Friedrich-Schiller-Universität Jena zu ergattern; mündlicher und schriftlicher Kritik wegen Zwangsexmatrikulierung und Ausschluß von allen Universitäten, Hoch- und Fachschulen der DDR; Juni 1975 Einzug mit Frau und Kind in das Gartenhaus von Robert Havemann, dem DDR-Dissidenten Nr. 1, wo Wolf Biermann bereits sein Domizil bezogen hatte. Nach Protest gegen seine Ausbürgerung Verhaftung von Jürgen Fuchs am 19. November 1976, eingefangen wie ein Schwerverbrecher auf offener Straße und ins Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen verbracht. Zelle 117, dreifach vergitterte und verriegelte Stahltür; nach 281 Tagen Stasihaft und internationalen Protesten Zwangsausweisung nach Westberlin. Erst Monate später folgten Lilo und Lilly Fuchs, Frau und Kind. Es blieben: 33 Aktenbände.

Da saß ich nun also vor ihm, spürte sofort etwas von einer geradezu gläsernen Ehrlichkeit und dachte: Wie soll dieser Mann dieses Deutschland aushalten?

Er hat es ausgehalten, und ich durfte dessen Zeuge werden. Seine »Gedächtnisprotokolle«, die minutiöse, ja sekundöse Niederschrift der Hafterlebnisse sind das Phänomenalste, was ein menschliches Hirn je an schmerzenden Erinnerungen rekonstruiert hat, die Einswerdung von Persönlichkeit und Dokumentation. Welch ungeheure Standhaftigkeit vor der Erbärmlichkeit der Vernehmer!

Die Liste seiner Publikationen ist lang, vom Geniewurf der »Protokolle« bis zu seinem letzten Roman »Magdalena«, eine schlaflose Produktivität, die einem einzigen Zweck gewidmet war: über das DDR-System aufzuklären.

Dabei blieb ihm der Todfeind auch im Westen dicht auf den Fersen – mit zerschnittenen Bremsschläuchen an seinem Auto, mit Bombenexplosionen vor seinem Haus und systematischem Rufmord – also der ganzen unerschöpflichen Stalker-Phantasie der Stasi.

Ich habe gesehen, wie er nach der Wiedervereinigung gelitten hat, daß auch diesmal, wie schon nach 1945, die Täter wieder davongekommen sind, der Rechtsstaat auch nach 1989/90 mit dem Erbe des vorangegangenen Gewaltregimes nicht fertiggeworden ist. Und wie er böse wurde, wenn man ihm vorwarf, beide Daten in einem Atemzug genannt zu haben. Natürlich, so konterte er, sei das Kriminalgewicht des Holocaust-Staates ungleich schwerer als das der Hammer-und-Zirkel-DDR! »Aber wird ein so scheußliches System wie das des real existierenden Sozialismus denn weniger scheußlich dadurch, daß es ein noch scheußlicheres gab?« Nein, wird es nicht.

Sein Zorn war der meine, wie mein Schwur, nicht aufzugeben, der seine war. Ich hoffte auf lange Gefährtenschaft.

Der Tod wollte es anders – oder die Stasi?

Jürgen Fuchs, 48 Jahre alt, starb am 9. Mai 1999 – an einem Blutkrebs, der auf Strahlenschäden hinwies. Sein krankheitsbedingter Tod nährt den Verdacht, daß er als Häftling des Ministeriums für Staatssicherheit vorsätzlich Gammastrahlen ausgesetzt war.

Heute ist in Erfurt eine Straße nach ihm benannt worden, in seiner Heimatstadt Reichenbach (Vogtland) eine Bibliothek. Wenig genug.

Zusammen mit anderen seiner Freunde und Weggefährten will ich das Meinige tun, sein Andenken zu bewahren.

Darum bin ich an diesem 9. Mai 2009 hier in der Heinrich-Böll-Stiftung zu Berlin.

In meiner Rede sagte ich:

Hier ein öffentliches Geständnis, in Trauer gebracht, daß ich es nicht mehr vor ihm selbst abgelegt habe: In diesen fast fünfundzwanzig Jahren war nicht ich, der um so viele Jahre Ältere, der Senior – er war es! Er, der mein Sohn hätte sein können – und es in gewisser Weise auch war. Ich sah mich ihm gegenüber in der Rolle des Juniors. Eine singuläre Erfahrung. Wenn ich in Zweifel war, fragte ich: Wie würde er reagieren, wie er entscheiden? Ich zählte auf seine Kundigkeit.

Es war das Fertige an ihm, weit über seine Jahre hinaus, das verblüffte und erstaunte. Er hatte früh zu sich selbst gefunden, dieser verletzliche Mensch, sehr früh.

Nach seinen Schwächen habe ich nicht gefahndet, sie gehörten zu ihm wie zu jedem Menschen. Anderes war exemplarisch: daß er transparent war, ganz wörtlich, durchscheinend.

Ich war sein Freund und bin es, weil er in dieser Welt der Gewalt, der Gegengewalt und einstürzender Gewißheiten so etwas wie ein Bannerträger war.

Ich war sein Freund und bin es, weil er in Haft war, gequält und in Angst um die Seinen. Da verharre ich und denke daran, wie ich in Haft war und in Angst um die Meinen.

So wird man einander Freund.

Als ich an meinen Platz zurückging, legte Lilo Fuchs ihre Hand wieder in die meine.

Jürgen Fuchs, ihr Mann und Vater von Lilly, wäre heute achtundfünfzig geworden.

12. Mai 2009, Köln

Der Prozeß gegen John Demjanjuk, den Schrecken des Vernichtungslagers Sobibór, wirft seine unguten Schatten voraus. Steht den KZ-Prozessen vor bundesdeutschen Schwurgerichten doch so etwas wie eine Premiere bevor. Zum erstenmal will sie einen ausländischen Schergen aus dem letzten Glied der Befehlskette belangen, weil er mithalf, die Mordmaschinerie in Gang zu halten, ohne daß ihm bis jetzt durch Zeugen eine persönliche Exzeßtat nachgewiesen werden konnte.

Nun soll nachgeholt werden, was über fünfzig Jahre als ebenso fester wie skandalöser Bestandteil bundesdeutscher Rechtsprechung systematisch unterlassen worden ist – nämlich die Handlanger des Holocausts zur Rechenschaft zu ziehen. Abgeurteilt wurde nur, wer einen eigenen, zusätzlichen Beitrag geleistet hatte.

Wer von den Wach- und Tötungsmannschaften des Vernichtungsapparates am »ordnungsgemäßen« Ablauf mitgewirkt hatte, dem passierte gar nichts. Erst wenn durch Zeugen bekundet worden war, daß der Angeklagte eine persönliche »Mehrleistung« über die »normale« hinaus vollbracht hatte, wenn er das Opfer auf dem Weg zur Gaskammer oder zur Hinrichtungsgrube totgeschlagen oder -getreten, einer Mutter das Kind vom Arm gerissen und dessen Kopf am Boden oder an einer Mauer zerschmettert hatte – erst dann sahen sich die bundesdeutschen Richter genötigt, eine Verurteilung in Betracht zu ziehen. Dem professionellen »Endlöser«, der hitlerhörig, effizient und ohne Gefühlsaufwand am Tötungsablauf beteiligt war, ihm fehlte in den Augen von Richtern und Geschworenen das Odium des Mörders. Nicht die diszipliniert und zuverlässig rotierenden Rädchen der gutgeschmierten Tötungsmaschine waren für diese Justiz verurteilenswert, sondern erst jene Täter, die der grauenhaften Szene noch ihren persönlichen Haß, ihre individuelle Wut hinzufügten. Nicht die Fließbandarbeiter der »Endlösung«, sondern die Brüller, die Treter, die Schläger, die KZ-Bestie, den NS-Sadomörder hatte sich die bundesdeutsche Rechtsprechung zum exemplarischen Tätertypus erkoren. Die anderen, die Stillen, die emotionslos funktionierten, sie fielen nach diesem Ausleseprinzip durch die Maschen des ohnehin ungenügenden Gesetzes. Die nahezu ausschließliche Fahndung nach dem Exzeßtäter – sie war das Schlupfloch, durch das die Masse der Holocaustpraktiker entschlüpfen konnte: organisierte Täterentsorgung.

Als wenn das Lager selbst nicht das Delikt gewesen wäre und alle Beteiligten zur justitiablen Täterschaft zählten: die die Pläne entwarfen, die Gaskammern und Krematorien errichteten, das Gas zuleiteten, die Deportationsbescheide verschickten und die Mordbefehle unterschrieben. Wer als Wachmann nach Sobibór kam, wurde automatisch zum Mordhelfer. Wird die Justiz das auch so sehen, die Regel durchbrechen und John Demjanjuk aburteilen, auch wenn er keiner Exzeßtat überführt werden kann? Die Todgeweihten aus allen Ecken des deutsch besetzten Europa wurden hier übrigens nicht durch Zyklon B ermordet, sondern von den Abgasen schwerer Panzermotoren – was den Erstickungstod bis zu einer halben Stunde verlängerte.

Bis jetzt hat der Ukrainer alles überlebt – den Häftlingsaufstand, der Sobibór im Herbst 1943 ein Ende setzte; zahllose Ermittlungen durch die Nachkriegsjahrzehnte; alle Anklagen der wenigen Überlebenden des Lagers; israelische Haft, weil Demjanjuk verwechselt worden war mit einem Mörder von Treblinka, ebenfalls ein reines Vernichtungslager (was zur Freilassung Demjanjuks aus israelischer Haft führte).

Es bedarf wohl keiner großen Phantasie, um sich diesen Mann nur einen Tag in Sobibór vorzustellen, eine einzige Stunde.

Und so steht die bundesdeutsche Justiz nun vor der Aufgabe, mit einer täterbegünstigenden Praxis Schluß zu machen in einem Verfahren, dessen Hauptzeuge der Holocaust sein wird.

Ich werde ihm nicht beiwohnen, das hielte ich nicht aus. Denn John Demjanjuk war der Typ, in dessen Hände zu fallen ich jahrelang furchtbare Angst hatte.

Ich weiß nicht, wie das Verfahren ausgehen wird, ich weiß nur eines: Im Falle eines Freispruchs würde in mir etwas beschädigt werden, das nicht reparabel wäre.

14. Mai 2009, Kiel

Die Sonne scheint. Von meinem Hotelfenster aus kann ich die Aufbauten einer der riesigen Ostseefähren sehen – Atlantikstürmer, viel zu groß für das Binnenmeer, will mir scheinen. Aber draußen dann doch Seegeruch und in der Luft kreischende Möwen – damit bin ich groß geworden.

Hier bin ich, weil Günter Kunert heute den von der HSH Nordbank gestifteten und vom Landeskulturverband Schleswig-Holstein verliehenen »Norddeutschen Kulturpreis 2009« erhält und ich die Laudatio halten soll.

Dazu ein Vorwort.

Ich hege seit langem und unter Einschluß schmerzlicher Selbsterfahrung den Verdacht, daß es manchem Preisgeber weit mehr darum geht, die eigene Person oder Organisation zu feiern als den Auszuzeichnenden. Das läßt sich am besten daran ablesen, an welche Stelle des Programms Laudandus und Laudator, also Belobigter und Belobiger, vom Veranstalter gesetzt werden. Die Regel: je egozentrischer der Veranstalter, desto später.