Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte - Ralph Giordano - E-Book

Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte E-Book

Ralph Giordano

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Beschreibung

Der Plan von der deutschen Weltherrschaft »Die nordische Rasse hat ein Recht darauf, die Welt zu beherrschen, und wir müssen dieses Recht der Rasse zum Leitstern unserer Außenpolitik machen. Glauben Sie mir, der ganze Nationalsozialismus wäre nichts wert, wenn er sich auf Deutschland beschränkt und nicht mindestens 1000 bis 1200 Jahre lang die Herrschaft der hochwertigen Rasse über die ganze Welt ausübt.« Dieser Satz Hitlers aus dem Jahre 1930 zeugt nicht nur von Größenwahn und Phantasterei. Er war Programm. Und auch das nicht nur. Denn in den Parteiämtern und Behörden des »Dritten Reichs« arbeiteten wenig später intelligente und willfährige Köpfe an der Ausfüllung dieses Programms, an detaillierten Plänen für die Zeit nach dem Endsieg.Wie Deutschland, wie Westeuropa, wie die Welt nach dem gewonnenen Krieg aussehen würde, das war beschrieben in zahlreichen Denkschriften, Direktiven, Verordnungen, die nur darauf warteten, aus der Schublade gezogen zu werden...

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Seitenzahl: 540

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Inhalt

TitelEinleitungI. Erst Europa, dann die WeltLebensraum – Ergänzungsreich – EndgegnerII. Arierherrschaft über die WeltDer Adler über der WeltkugelDie Sonne Afrikas über dem ReichDer andere Holocaust»Richter des Führers«»Europa marschiert« – die »Neuordnung der Sieger«Großbritannien unterm HakenkreuzVon Auschwitz nach HimmlerstadtUnd die Deutschen?III. Vom Triumph in der Niederlage»Taifun« – die Schlacht um MoskauNicht die Herren, die Fahnenträger Europas – die »Neuordnung der Verlierer«SchlussbetrachtungLiteraturverzeichnisBuchAutorImpressum

Einleitung

Einleitung

1.

Adolf Hitler hat den Krieg nicht gewonnen. Er hat ihn vielmehr samt seinem Deutschland mit Mann und Ross und Panzer verloren, zu Wasser, zu Lande und in der Luft, eine militärische Katastrophe ohnegleichen – mit Millionen Toten, den ausgeglühten deutschen Städten und einer großen und unwiderruflichen Einbuße an nationalem Territorium. Hitlerdeutschland ist derart gründlich geschlagen worden, dass selbst für eine Dolchstoßlegende wie nach dem Ersten Weltkrieg noch – »Im Felde unbesiegt« und »Die Heimat ist der Front in den Rücken gefallen« – nicht der kleinste Raum mehr blieb. Was viel heißen soll bei einer Nation, die seit 1918 nachweisbar große Schwierigkeiten hat, Niederlagen anzuerkennen, und deren Mehrheit dazu neigt, die Verantwortung für die eigene Geschichte und besonders ihre Katastrophen an fremde Mächte und Regierungen zu delegieren.

Diesmal jedoch war der Aggressor von den äußersten Rändern der Eroberungen bis zurück in seine Hauptstadt verfolgt worden, wo ihm der Garaus gemacht wurde – nachdem es ihm gelungen war, die widerstreitenden Weltmächte, westliche Demokratien und Sowjetunion, unter der gemeinsamen Bedrohung in ein überlebensnotwendiges Zweckbündnis zu treiben.

Die Geschichte kennt keinen Konjunktiv, keine Möglichkeitsform – sie stellt den ehernen Ist-Zustand von Vergangenheit und Gegenwart dar, die von Menschen gemachte und entweder begrüßte oder erlittene Wirklichkeit.

Weshalb dann: »Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte …«, da er ihn doch nicht gewonnen hat?

Darauf gleich hier zwei Antworten.

Erstens: Der Inhalt dieses Buches handelt gewiss auch, aber keineswegs nur, von Fiktionen oder reinen Fantasiegebilden, von Utopien, Halluzinationen, einer historischen Fata Morgana. Denn in ihrem zeitweise riesigen Herrschaftsbereich haben die Nazis eine ganze Reihe der Pläne realisiert und erprobt, die sie der ganzen Menschheit zugedacht hatten – wenn es ihnen gelungen wäre, die »Arierherrschaft« über die Erde, das »Großgermanische Weltreich« zu errichten, mit dem Adler über der Weltkugel, deren Zentrum das in »Germania« umgetaufte Berlin werden sollte. Die Pläne dafür gehen mit deutscher Gründlichkeit bis in letzte Einzelheiten.

Zweitens: Der Autor hat sich sechsundfünfzig seiner bisher sechsundsechzig Lebensjahre mit dem Nationalsozialismus und seinem Erbe auseinandergesetzt – bis zur Befreiung am 4.Mai 1945 in Hamburg als politisch und rassisch Verfolgter, dann, so hofft er, als Aufklärer. Heute, nach langer Arbeit an diesem Buch, kommt er zu der Erkenntnis, dass es keine Vollcharakteristik des Nationalsozialismus geben kann, ohne seine schlussgeschichtlichen Vorstellungen von der deutschen Weltherrschaft zu kennen und die Pläne eingesehen zu haben, die zum Endsieg führen und dann in Kraft treten sollten. Er hat vieles dazugelernt.

Der Autor bittet bereits hier um Vergebung, dass er, um die Authentizität zu bewahren, bei den zahlreich zitierten Originaldokumenten natürlich in deren Sprache bleibt, der »Lingua tertii imperii«, dem Idiom des Unmenschen – also Vokabeln wie »eindeutschen«, »umvolken« oder »germanisieren« verwenden muss …

2.

Ebenfalls sei gleich zu Beginn ein Irrtum korrigiert, den der Titel auslösen könnte – als trüge allein Hitler, oder mit ihm vielleicht nur noch eine ganz kleine Clique, die Verantwortung für das, was geschah und was geschehen sollte. Die bereits vorliegenden Arbeiten des Autors können ihn eigentlich in solchen Verdacht nicht bringen, und auch dieses Werk bestätigt noch einmal, dass eine Einengung der Verantwortlichkeit auf die Person Hitlers mit der geschichtlichen Wirklichkeit nichts zu tun hat, sondern dem offenbar unerschöpflichen Arsenal deutscher Schuldabwehr entstammt.

Es wird sehr deutlich, wie entscheidend Großindustrie und Hochfinanz zum innenpolitischen Sieg des Nationalsozialismus beigetragen haben, wenngleich sie sich in der Hoffnung verkalkulierten, Hitler danach beherrschen zu können. Er war nie jene »Marionette in den Händen des deutschen Monopolkapitals«, als welche ihn die – ansonsten für das Buchthema überaus verdienstvolle – Geschichtsschreibung der DDR immer noch verfälscht – in diesem Falle herrscht Dissens. Dass zwischen den Führungseliten der deutschen Wirtschaft und Hitler dem Sieger geradezu enthusiastische Übereinstimmung und Deckungsgleichheit der Interessen bestanden, dafür wird das Buch beredte Beweise vorlegen (wie auch für die Bereitschaft der gleichen Kräfte, sich später von Hitler dem Verlierer ohne Skrupel zu lösen).

Gegen die These von der Alleinverantwortlichkeit Hitlers aber spricht nicht nur die Allianz zwischen der nationalsozialistischen Reichsführung und den großindustriellen Eigentümern und Finanzmagnaten, sondern der nahezu kollektive Konsensus zwischen dieser Führung und einer überwältigenden Volksmehrheit, schon sehr bald nach dem 30.Januar 1933. Hitler hatte bei den damaligen Deutschen ins Schwarze getroffen, was sich nur dadurch erklären lässt, dass der Nationalsozialismus aus der Tiefe der deutschen Reichsgeschichte vorbereitet war. Wenn es dafür noch eines Beweises bedurft hätte, so war es – und ist es immer noch, bis in unsere Tage hinein – jene qualvoll langsame Loslösung von ihm nach 1945, die in meinem Buch »Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein« bezeugt wird.

Der Name Hitler im Titel ist also kein Entlastungssignal für die nationale Dimension der Verantwortung. Dennoch hat er innerhalb des Machtgefüges eine einmalige Position eingenommen, und der Autor gesteht, dass ihm auch dabei – dem Führerprinzip und seinen Konsequenzen – neue Erkenntnisse zugeflossen sind. Dieses Prinzip sieht Hitler eindeutig als höchste Autorität, als unumschränkten Gebieter über seine Umgebung, die den Staatsapparat beherrschte. Sein Wort ist Befehl, Direktive, bis in die Nebensätze hinein. Hitler war nie der »Primus inter pares«, der Erste unter Gleichen, sondern sein Abstand noch zu den Mächtigsten und Vertrautesten der Führungsspitze – Heß, Göring, Goebbels, Himmler – unermesslich. Er war die höchste Personifikation des Führerprinzips im staatlich institutionalisierten Nationalsozialismus. Dass er oft schwankend war, entscheidungsschwach, dass Hitler heute umstieß, was er gestern angeordnet, beschworen, gepriesen hatte, nimmt von der Einzigartigkeit seiner Stellung nichts weg – dann wurde eben getan, was jetzt galt. Seine Unantastbarkeit bestätigt sich nicht zuletzt aus der Fähigkeit seiner persönlichen Umgebung, sich ihm auch dann unterzuordnen, wenn das Verderben offenkundig war – was besonders auf die Generalität zutraf.

Das ändert nichts daran, dass der Name im Buchtitel die Vereinigung und Bündelung all jener Gewalten bedeutet, ohne die Hitler nichts gewesen wäre als ein extrem pathologischer Fall, eine lächerliche bis tragische Figur, die am Rande der Gesellschaft dahinvegetiert hätte. Mit diesen Gewalten jedoch, die ihn erst förderten und dann von ihm gelenkt wurden, ist er zum negativsten Weltbeweger geworden, den die Geschichte der Menschheit je kennengelernt hat.

3.

Das Buch teilt sich auf in drei Rubriken. Die erste befasst sich mit der Frage, wie und in welchen Etappen die Nazis den Krieg gewinnen wollten – »Erst Europa, dann die Welt – Die Stufen zum Endsieg«.

Die zweite, gemäß dem Untertitel zentrale, Rubrik legt die globalen Vorstellungen dar und dokumentiert gleichzeitig, welche von ihnen im deutschen Machtbereich bereits praktiziert worden sind – »Arierherrschaft über die Welt – Die Pläne der Nazis nach dem Endsieg«.

Hitler und sein Deutschland haben den Krieg verloren. Aber ihre Klientel – die wirtschaftliche, bürokratische und militärische Funktionselite – auch? Auf diese Frage geht die dritte Rubrik ein – »Vom Triumph in der Niederlage – Der gespaltene Endsieg«.

Noch ein Wort zum Titel des Buches.

Er ist, bei unverändert erhaltenem Untertitel »Die Pläne der Nazis nach dem Endsieg«, in drei Etappen gefunden worden – eine Suche, die die Beziehung des Autors zu seinem Thema charakterisiert.

Zuerst sollte es heißen: »Wenn wir den Krieg gewonnen hätten« – woraus sich zwei Schwierigkeiten ergaben. Einmal war der Autor unfähig, sich in das Wir zu integrieren, da dies nicht sein Krieg war, sondern ein Krieg gegen ihn. Außerdem aber wäre dieser Titel der refrainhaften Zeile des antimilitaristischen Gedichtes »Die andere Möglichkeit« von Erich Kästner entlehnt, auf das ganz am Ende des Buches noch einmal als ebenso grauenhafte wie erleichternde Schlusspointe eingegangen wird.

Die zweite Etappe der Suche definierte sich mit dem Titel »Wenn sie den Krieg gewonnen hätten …«. Er konnte sich jedoch, trotz klärendem Untertitel, angesichts seiner Beliebigkeit und blässlichen Ungenauigkeit nicht lange halten.

Die dritte Formulierung wurde dann die endgültige und bildhafteste, vorausgesetzt, dass der Inhalt des Buches den Verdacht entkräften würde, die Verantwortlichkeit werde auf den Namen im Titel beschränkt. Also »Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte …«.

Ja, was dann? Wäre solcher Sieg überhaupt möglich gewesen? Und hat der Autor ihn je befürchtet? Zur letzten Frage eine persönliche Fußnote, ohne die Antworten des Buches auf die erste und zweite vorwegzunehmen.

4.

In meiner Familie wurde nie über die Befreiung gesprochen. Sie war ein Tabu, seine Beachtung ein ungeschriebenes Gesetz, an das wir uns hielten. Aber so ungewiss sie war, so gewiss waren wir uns, dass Hitler den Krieg verlieren und sein Deutschland geschlagen würde an Haupt und Gliedern. Dies würde der Lauf der Weltgeschichte sein und ihre Gerechtigkeit, an der nicht gezweifelt wurde. Es war eine Zuversicht, die sich keineswegs am letztlich weit überlegenen Machtpotenzial der Kriegsgegner Hitlerdeutschlands, also unserer Befreier, orientierte. Sie hatte wenig damit zu tun, dass die Alliierten über mehr Divisionen, Panzer, Flugzeuge und Kriegsschiffe verfügten, als Deutschland ihnen entgegenstellen könnte – denn diese Zuversicht, diese Gewissheit und Überzeugung, sie waren metaphysischen Ursprungs. Der Glaube an den sicheren Untergang Hitlerdeutschlands war von allem Anfang an da und wurde in keiner Weise angefochten durch die militärischen Erfolge der Jahre 1939 bis 1942. Die Expansion der deutschen Fronten in alle Himmelsrichtungen, ihre äußersten Punkte, ob im norwegischen Narvik, am Nordrand der Sahara oder an den westlichen Grenzen Asiens, brachten keinerlei Erschütterungen unserer Zuversicht mit sich. Gleichwohl sahen wir uns bald historisch bestätigt – mit der ersten deutschen Niederlage, der vor Moskau im Winter 1941; der Vernichtung der 6. Armee an der Wolga bei Stalingrad ein Jahr später; der Landung der Amerikaner in Nordwestafrika im Herbst 1942; mit dem Ende des deutschen Afrikakorps vom Frühjahr 1943; dem unaufhaltsamen Vormarsch der Roten Armee seit ihrer Sommer-Offensive jenes Jahres und schließlich der ersten alliierten Landung auf europäischem Boden, dem Sprung nach Sizilien und von dort aufs italienische Festland. Die »zweite Front« im Westen würde nur noch den Epilog einläuten.

Und doch sollte es eine Minute des Zweifels geben, sollte der Glaube in die Unbesiegbarkeit unserer Befreier doch erschüttert werden – wenige Tage nach der anglo-amerikanischen Landung vom 6.Juni 1944 an den Küsten der Normandie.

5.

»Die Wunderwaffe, die Wunderwaffe – ganz Südengland steht in Flammen!«

Mit diesem Schrei stürzte eines Morgens der Vorarbeiter in den Fabrikraum, wo ich auf Geheiß der Geheimen Staatspolizei, Leitstelle Hamburg, Zwangsarbeit leisten musste. Das ist jetzt 45Jahre her und mir dennoch in der Erinnerung, als wäre es gestern gewesen. Ich hatte gerade an der Drehbank gestanden, um irgendeine mir völlig sinnlos erscheinende Arbeit zu verrichten, als die Tür aufgerissen worden war und die Stimme im Diskant höchster Erregung durch den großen, bis dahin lärmvollen Raum geschrillt hatte. Danach plötzliche Stille, aus der für mich ein riesiges Fragezeichen aufstand. Ich blickte von dem Manne weg durch das Fabrikfenster auf das phosphorvernarbte Gesicht des Hamburger Südostens und spürte, wie sich meine Kehle zuschnürte und so trocken wurde, als wäre sie noch nie benetzt worden. Hier, an dieser Stelle, während der endlosen, äonenhaften Sekunden nach dem triumphierenden Ausruf, wurde sie wankend, die Giordano’sche Gewissheit, dass die Vernichtung unserer Feinde, die militärische Niederlage Deutschlands, so sicher sei wie der morgige Sonnenaufgang, dass die Nazis niemals siegen, nimmer Herr werden würden über die Menschheit. Ich habe die Szene in meiner Hamburger Familien-Saga »Die Bertinis« geschildert und möchte jene Passage aus dem autobiografischen Roman zitieren, weil sie sich vollkommen mit der seinerzeitigen Wirklichkeit des Autors deckt – nämlich dem schrecklichsten Zuversichtsverlust, der mir je widerfahren ist. Und zwar mit einer Perspektive, die bisher keinen Platz in meinem Lebensgefühl gehabt hatte und die mich wie ein Schlaganfall traf: die Möglichkeit, dass dieses Deutschland den Krieg vielleicht doch gewinnen könnte …

Hier die Gedanken Roman Bertinis an jenem Junimorgen des Jahres 1944 – es waren auch die meinen:

»Was, wenn das Böse, wenn Hitlers Wissenschaftler eine Waffe erfunden hätten, die schrecklicher wäre als alle anderen? Die Deutschland mächtig machen würde über die gegnerische Koalition – über Russen, Amerikaner, Briten, Franzosen, über die ganze übrige Menschheit? Was, wenn solche Waffe nicht nur London, Moskau, New York, sondern ganze Nationen auf einen Schlag pulverisieren könnte und Hilflosigkeit herrschte vor ihrer Gewalt und die Welt ihr wehrlos ausgeliefert wäre?«

Unnötig zu sagen, dass ich damals keine Ahnung von der Atombombe hatte. Aber meiner und Roman Bertinis kenntnisloser Urangst lag – wie die Welt nach Hiroshima und Nagasaki dann im August 1945 erfuhr – die historisch-konkrete Fähigkeit von Wissenschaft und Technik zugrunde, eine Waffe zu fabrizieren, die einen Besitzer von der Skrupellosigkeit Hitlers in die Lage versetzt hätte, den Lauf der Weltgeschichte zu verändern.

Wir wissen heute, was zusammenkam, um eine Verwirklichung der apokalyptischen Vision zu verhindern. Einmal die Verweigerung deutscher Wissenschaftler (Otto Hahn: »Wenn aus meiner Arbeit Hitler eine Atombombe bekommt, bringe ich mich um!«Hinweis). Dann aber auch eine Atomforschung zu militärischen Zwecken, die aus verschiedenen Gründen das erstrebte Ziel nicht erreichte – so, weil es nicht gelang, reines Uran-235 zu gewinnen, ebenso wenig wie Plutonium zu erzeugen –, obschon sich große Mühe gegeben wurde (Carl Friedrich von Weizsäcker, der Physiker und Philosoph, heute völlig zu Recht eine öffentliche Friedensinstitution genannt, hatte trotz Ablehnung des Nationalsozialismus an der Bombe mitgearbeitet und später gestanden, er sei seinerzeit »nur durch göttliche Gnade gerettet worden – dadurch, dass es nicht gegangen ist«Hinweis).

Der moralischen Verweigerung, dem technischen und wissenschaftlichen Unvermögen fügte sich, drittens und wohl entscheidend, Hitlers unklares Verhältnis zur »Uranbombe« an. Wenn er gewusst hätte, welche Waffe ihm mit ihr in die Hand gegeben wäre, und wenn er den für ihn ungünstigen Kriegsverlauf vorausgeahnt hätte, er hätte keine Sekunde gezögert, die äußersten Mittel zum Bau der Bombe zu mobilisieren. Es ist jedoch offensichtlich, dass ihm das Gespür dafür gefehlt hat. Deshalb wird es Hitlers Entscheidung und nicht die seines »Generalbauinspektors« (GBI) Albert Speer gewesen sein, als der im Herbst 1942 bestimmte, die deutschen Atomforscher hätten sich von nun an nicht mehr auf eine Bombe, sondern auf die Fertigung eines Uranbrennertyps zur Energieerzeugung, etwa für U-Boote, zu konzentrieren.Hinweis

War es also »Zufall«, dass es keine deutsche Bombe gab? In mir sperrt sich alles gegen eine Bejahung der Frage. Das Defizit passt vielmehr genau in jenes NS-typische Amalgam des Rational-Irrationalen, von dem die ganze »unfertige Gesellschaft« des Dritten Reiches mit ihrem Ämter-Chaos, ihrer destruktiven Dynamik und ihrem Mangel an Zeit geprägt war. Die fehlende Bombe scheint so vielmehr die Bestätigung eines fundamentalen Prinzips der nationalsozialistischen Herrschaft und ihrer Ideologie zu sein, auf das an geeigneter Stelle noch näher eingegangen werden muss: ihre tiefe Realitätsentfremdung, ihre grundsätzlich entwirklichten Ziele – bei ansonsten ungeheurer Detailfreudigkeit und -genauigkeit …

Natürlich wurde damals, im Sommer 1944, schnell bekannt, dass Südengland nicht in Flammen stand, sondern dass es sich bei der »Wunderwaffe« um die sogenannte V 1 handelte, eine Rakete, die Hunderte von Kilometern weit flog und sich vornehmlich das Stadtgebiet von London zum Ziel nahm. Der ersten folgte bekanntlich die V 2 – schwerer, weiter reichend, tödlicher. Furchtbar genug, aber weder kriegswendend noch kriegsentscheidend. (Das V stand übrigens für »Vergeltung« …)

Was aber wäre geworden mit der Bombe in der Hand des »Führers«? Man könnte entgegnen, dass sich die Beantwortung der Frage durch den Indikativ des historischen Verlaufs erübrigte. Dennoch hat sich dem Autor immer wieder der Gedanke an »die andere Möglichkeit« eingeschlichen bei der langen Arbeit an einem Titel, der den entsetzlichsten Konjunktiv der bisherigen Menschheitsgeschichte beschwört – »Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte …«.

I.Erst Europa, dann die Welt

Die Stufen zum Endsieg

»Der Führer gibt seiner unumstößlichen Gewissheit Ausdruck, dass das Reich einmal ganz Europa beherrschen wird. Von da ab ist praktisch der Weg zur Weltherrschaft gezeichnet. Wer Europa besitzt, der wird damit die Führung der Welt an sich reißen.«Hinweis

Joseph Goebbels am 8.

Lebensraum – Ergänzungsreich – Endgegner

Von »Mein Kampf« bis »Barbarossa«

Obwohl schon so lange her, mehr als fünfzig Jahre, gellt es mir immer noch in den Ohren: »Wir werden weitermarschieren, wenn alles in Scherben fällt, denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt …«

Das schlug Mitte der Dreißigerjahre grell hoch an den Häuserfronten von Hamburg-Barmbek, aus den zehn- bis vierzehnjährigen Kehlen des lokalen Jungvolks oder den etwas raueren der Hitlerjugend. Lauter mir bekannte Gesichter, die nun jedoch einen ganz anderen als den gewohnten Ausdruck zeigten, besonders, wenn dann auch noch die Fanfaren schmetterten.

In unserer Republik der Verdrängung und Verleugnung der Nazivergangenheit ist mir immer wieder die beschwichtigende These begegnet, es habe gar nicht gehört, sondern hört geheißen. Dazu erfahren wir aus der Feder des Historikers Günter Moltmann: »… ein oft gesungenes und sehr bekanntes Kampflied der Nationalsozialisten, Erstveröffentlichung in ›Unser Trommelbube‹ Potsdam 1934. Es entbehrt nicht der Ironie, dass sein Verfasser, Hans Baumann, im Jahre 1936 von der nationalsozialistischen Regierung aufgefordert wurde, die provozierenden Textstellen abzuändern in ›… denn heute hört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt‹. Das auf Weltherrschaft bedachte Regime hielt es in einer Zeit, in der selbst der Auslandsarbeit des Nationalsozialismus aus taktischen Gründen Zügel angelegt wurden, nicht für opportun, seine wahren Intentionen der Welt preiszugeben. Seit 1936 enthielten die Liederbücher nur noch die revidierte Fassung. Indessen wurde fleißig weitergesungen, dass die Welt Deutschland gehören werde. Der Verfasser hatte den richtigen Spürsinn für das, was die ›Bewegung‹ wollte. Zweckmäßigkeitüberlegungen der Führung fanden nicht das Verständnis einer fanatisierten Gemeinde, deren Vertreter sich auch durch offizielle Sprachregelungen nicht verbieten ließen, zum Ausdruck zu bringen, was ihnen am Herzen lag.«Hinweis Ähnliche Tendenzen, den Nationalsozialismus sozusagen vor seinen eigenen Machtansprüchen in Schutz zu nehmen und sie zu verkleinern, zeigen sich auch an anderer Stelle. Zum Beispiel, wenn es um zentrale Begriffe dieses Kapitels geht – wie Weltmacht, Weltreich, Weltvorherrschaft oder deutsche Weltherrschaft. Im Sprachgebrauch der Nazis sind sie oft nicht genau bestimmt, was taktischer Natur sein, aber auch Unklarheit bedeuten konnte. Der Spiritus Rector all dessen, die große Quelle der NS-Ideologie und ihre authentischste Stimme, Hitler, dazu: »Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein.«Hinweis

So steht es im Leitfaden des Nationalsozialismus, dem von 1925 bis 1927 entstandenen Buch »Mein Kampf«, dessen Gefährlichkeit in diametralem Gegensatz zu seiner Ungelesenheit steht, trotz Millionenauflage. Aber auch dieser Satz klärt die Begriffe noch nicht: Deutschland Weltmacht – als eine unter anderen, miteinander konkurrierenden? Oder als Herrscher über die Welt?

Suchen wir die Antwort in weiteren nationalsozialistischen Selbstbekundungen.

Der zweite deutsche Anlauf, der von 1939, die Weltkräfteverhältnisse mit Waffengewalt – und diesmal endgültig – zu verändern, steht gewiss in der Kontinuität des ersten von 1914, in der Kontinuität der imperialistischen, hegemonialen und geopolitischen Ziele des Kaiserreichs. Aber mit Hitler bekommen Innen- und Außenpolitik eine ganz neue Dimension, und zwar nicht nur durch das sofort auftretende Rassendogma, sondern auch durch die grundsätzliche Maßlosigkeit seines Weltbildes.

Schon in den ersten politischen Bekundungen lässt Hitler die radikalsten Revisionisten, die schärfsten Gegner des Versailler Vertrages, weit hinter sich. Für ihn war der Versuch, die Reichsgrenzen nach einem Territorialverlust von rund 70000 Quadratkilometern als Kriegsfolge (von zuvor 540000 auf nun 470000) wiederherzustellen, kein Thema, sondern »ein politischer Unsinn von Ausmaßen und Folgen, die ihn als Verbrechen erscheinen lassen … Die Grenzen von 1914 bedeuten für die Zukunft der Nation gar nichts.«Hinweis Und er fährt fort: Deutschland sei heute keine Weltmacht. Was bedeute heute schon dem Planeten ein Gebilde, das in seinem Verhältnis von Volkszahl und Grundfläche so jämmerlich beschaffen sei wie das Deutsche Reich? In einem Zeitalter, in dem allmählich die Erde in den Besitz von Staaten aufgeteilt werde, von denen manche selbst nahezu Kontinente umspannten, könne man nicht von einer Weltmacht reden bei einem Gebilde, dessen politisches Mutterland »auf die lächerliche Grundfläche von kaum fünfhunderttausend Quadratkilometer beschränkt ist«.Hinweis

Volkszahl und Grundfläche – hier kommt etwas ins Spiel, was spleenig genannt werden könnte, verschroben, eine fixe Idee – wenn es nicht so tödliche Folgen gehabt hätte: die Bodengröße in Einklang zu bringen mit der Bevölkerungsziffer. Immer wieder beschwört Hitler diesen Grundsatz. Ein Volk könne nur leben, wenn Volkszahl und Bodenfläche in einem »gesunden Verhältnis« zueinander stünden. Die Außenpolitik des »völkischen Staates« habe das sicherzustellen, indem sie zwischen der Zahl und dem Wachstum des Volkes einerseits und der Größe und Güte des Grund und Bodens andererseits ein lebensfähiges, natürliches Verhältnis schaffe. Nur ein genügend großer Raum auf dieser Erde sichere einem Volk die Freiheit des Daseins – die These vom »Lebensraum«.

Wieder und wieder stellt Hitler Volkszahl und Bodengröße anderer Staaten dem deutschen »Missverhältnis« gegenüber. So schon am 10.April 1921 im »Völkischen Beobachter«, dem Zentralorgan der »Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei« (NSDAP), wo er das »Problem der ungerechten Bodenverteilung« folgendermaßen kommentiert: »Dass in Russland auf jeden erwachsenen Russen 18-mal so viel Grund und Boden trifft wie auf jeden Deutschen überhaupt, dass England 43 Kriege geführt hat, um heute, obwohl es nur 52 Millionen Einwohner zählt, ein Viertel der ganzen Welt zu beherrschen, will niemand wissen.«

An anderer Stelle dann, in einer Rede von 1937, wird Hitler ganz ausführlich: 44 Millionen Engländer herrschten auf 34 Millionen Quadratkilometern über 445 Millionen Menschen. 150 bis 175 Millionen Russen verfügten über 22 Millionen Quadratkilometer. Frankreich mit seinen 39 Millionen sei als Kolonialmacht Herr über elf Millionen Quadratkilometer mit 95 bis 100 Millionen Menschen. Diese Aufzählung wird von Hitler ermüdend fortgesetzt an weiteren Beispielen wie China, Brasilien, Portugal, Spanien und Japan, um dann zu schließen, dass das Problem der Deutschen mit 570000 Quadratkilometern nicht gelöst werden könne.Hinweis

Fast zwanzig Jahre vorher, bei der Abfassung von »Mein Kampf«, kommt Hitler zu dem Resümee, die nationalsozialistische Bewegung müsse auf jene Straße führen, »die aus der heutigen Beengtheit des Lebensraumes dieses Volk hinausführt zu neuem Grund und Boden und damit auch für immer von der Gefahr befreit, auf dieser Erde zu vergehen oder als Sklavenvolk die Dienste anderer besorgen zu müssen. Die nationalsozialistische Bewegung muss versuchen, das Missverhältnis unserer Volkszahl und unserer Bodenfläche – diese als Nährquelle wie auch als machtpolitischer Stützpunkt gesehen – zwischen unserer historischen Vergangenheit und der Aussichtslosigkeit unserer Ohnmacht in der Gegenwart zu beseitigen.«Hinweis

Hitler löst die »Grenzpolitik« des Kaiserreiches, die räuberisch genug war, ab durch eine »Lebensraum«-Konzeption, die eine klare Stoßrichtung hat: »Damit ziehen wir Nationalsozialisten bewusst einen Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit. Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Russland und die ihm unterworfenen Randstaaten denken.«Hinweis

So steht es im Kapitel »Ostorientierung und Ostpolitik«, dem 14. und vorletzten von »Mein Kampf«, ungeschminkt und für jedermann nachlesbar. Wo eigentlich – so fragt man sich angesichts solcher Schwarz-auf-weiß-Offenbarungen – hatten die verantwortlichen europäischen Politiker und Staatsmänner ihre Augen und Ohren, nachdem der Autor dieser unverhüllten Raubpläne zum Chef des mächtigsten Landes auf dem Kontinent geworden war?

Dass die Bekenntnisse zu Landraub und Annexion keineswegs nur die Delirien eines damals eher noch bedeutungslosen bayerischen Regionalpolitikers waren, geht aus einem Beitrag der »Zeitschrift für Geopolitik«, Berlin, aus dem Jahre 1926 hervor: »Russland, ein Sechstel der Erde, fiel niemandem zur Beute, und somit ist der Krieg noch nicht beendigt. Romanen und Germanen betrachten Russland als zukünftige Kolonie. Seine Ausdehnung schreckt niemanden ab. Ist der Bissen für den Einzelnen zu groß, dann wird er in Einflusssphären aufgeteilt. Vielleicht lässt man Russland den Schein der Unabhängigkeit, aber jede seiner zukünftigen Regierungen wird fiktiv sein, nur ein Organ der Kolonialherren. Russland tritt auf jeden Fall in ein neues Stadium seiner Geschichte: es wird Kolonialland.«

Mit Hitlers Germanenzug nach dem Osten schälen sich die ersten Konturen eines außenpolitischen Programms deutlich hervor: die Hegemonie, die deutsche Vorherrschaft über Osteuropa!

Der Sieg scheint ihm selbstverständlich zu sein, garantiert durch die innere Verfassung des maroden Riesenreiches. Das Schicksal selbst, so schreibt Hitler in seinem Grundwerk, scheine hier einen Fingerzeig geben zu wollen: Indem es Russland dem Bolschewismus überantwortete, raubte es dem russischen Volk jene Intelligenz, die bisher dessen staatlichen Bestand herbeiführte. Denn die Organisation eines russischen Staatsgebildes sei nicht das Ergebnis der staatspolitischen Fähigkeiten des Slawentums in Russland, sondern vielmehr nur ein wundervolles Beispiel für die staatenbildende Wirksamkeit des germanischen Elements in einer minderwertigen Rasse. Seit Jahrhunderten zehre Russland von diesem germanischen Kern seiner oberen Schichten. Er könne heute als fast restlos ausgerottet und ausgelöscht angesehen werden. An seine Stelle sei der Jude getreten.

Diese Geschichtsbetrachtung, die auch der geringsten kritischen Untersuchung nicht hätte standhalten können, setzt Hitler, ganz zur Sache kommend, folgendermaßen fort:

»So unmöglich es dem Russen an sich ist, aus eigener Kraft das Joch der Juden abzuschütteln, so unmöglich ist es dem Juden, das mächtige Reich auf die Dauer zu erhalten. Er selbst ist kein Element der Organisation, sondern ein Ferment der Dekomposition. Das Riesenreich im Osten ist reif zum Zusammenbruch. Und das Ende der Judenherrschaft in Russland wird auch das Ende Russlands als Staat sein. Wir sind vom Schicksal ausersehen, Zeugen einer Katastrophe zu werden, die die gewaltigste Bestätigung für die Richtigkeit der völkischen Rassentheorie sein wird.«Hinweis

Hinter dieser Verklammerung von Antibolschewismus und Antisemitismus dröhnen bereits die Hammerschläge zur Errichtung der Mordfabriken im Osten, peitschen schon die Schüsse der mobilen SS-Todesschwadronen in Gestalt der Einsatzgruppen. Judenherrschaft und Bolschewismus sind für Hitler identisch – unabhängig davon, dass der Begriff Weltjudentum von ihm auch als Judenherrschaft in den kapitalistischen Ländern, vor allem in den USA, interpretiert wurde, er also den gleichen Terminus auf unvereinbare, ja feindliche Gesellschaftsordnungen anwandte – was unlogisch ist. Übrigens sei an dieser Stelle vermerkt, dass Hitler fast ausschließlich von Russland spricht, selten von Sowjetrussland, noch seltener von der Sowjetunion – als hätte es die Zäsur von 1917 nie gegeben. Hier wird eine Art Gerinnung ursprünglicher Geschichtseindrücke sichtbar, eine starke Immobilität ihrer Fortentwicklung in Übereinstimmung mit gewandelten Wirklichkeiten.

Das Ziel ist immer klar: »Das Riesenreich im Osten ist reif zum Zusammenbruch …« »Wir sind vom Schicksal ausersehen …« Und dann, blitzhaft über die Kontinental-, die Europa-Hegemonie seines Programms hinausweisend und Rassendogma und Endvorstellung miteinander vereinend, kommen die Sätze:

»Ein Staat, der im Zeitalter der Rassenvergiftung sich der Pflege seiner besten rassischen Elemente widmet, muss eines Tages zum Herrn der Erde werden.«Hinweis

Man sollte sich einmal überlegen, wer dieser Adolf Hitler war, als er solche Weltherrschaftsideen ausbrütete und sie um die Mitte der Zwanzigerjahre zu Papier brachte. Ein bayerischer Regionalpolitiker, der »Führer« eines eher noch bedeutungslosen Parteihaufens, ein Mann, der wegen seiner Beteiligung an dem Münchener Staatsstreich vom November 1923 gegen die Reichsregierung in Berlin zu fünf Jahren Haft verurteilt worden war und gerade in Landsberg am Lech einsaß und dem mit dem Verbot seiner NSDAP alle Felle davongeschwommen zu sein schienen. Kurz – ein Zeitgenosse, dessen Chancen, sein Ziel zu erreichen, gleich null waren!

Es hat etwas Atemverschlagendes an sich, zu verfolgen, wie diese scheinbar so aussichtslose Biografie sich dann jedoch Etappe um Etappe verwirklichte und wie die Termine des im Hauptbuch des Nationalsozialismus festgelegten Kalenders zügelloser Aggressionen entsetzlicherweise bis zu einer gewissen Datumsgrenze eingehalten werden können.

Voraussetzung ist die Machtübernahme in Deutschland.

Ihr streben Hitler und seine Anhänger ohne jede Verstellung entgegen – unter frühen Bekundungen, sich mit Europa nicht zu begnügen. Dafür einige Beispiele.

Otto Strasser, der später mit Hitler brach (wie sein im Zuge des sogenannten Röhm-Putsches vom Juni 1934 ermordeter Bruder Gregor) – Otto Strasser gibt in seinem Buch mit dem beziehungsreichen Plagiat-Titel »Mein Kampf« ein Gespräch mit Hitler vom Mai 1930 wieder: Die nordische Rasse habe ein Recht darauf, die Welt zu beherrschen, und:

»… wir müssen dieses Recht der Rasse zum Leitstern unserer Außenpolitik machen. Glauben Sie mir, der ganze Nationalsozialismus wäre nichts wert, wenn er sich auf Deutschland beschränkt und nicht mindestens 1000 bis 1200Jahre lang die Herrschaft der hochwertigen Rasse über die ganze Welt ausübt.«Hinweis

Dieses »Recht auf Weltherrschaft« unter deutscher Führung bekräftigte Hitler am 13.November 1930 vor Studenten und Professoren der Universität Erlangen: Die erste Chance für Deutschland, die Weltherrschaft zu erringen, sei durch den Dreißigjährigen Krieg zerstört worden. Aber nur, wer dieses Ziel im Auge behalte – die Weltherrschaft –, gerate auf den richtigen Weg. Acht Tage vorher, am 5.November, hatte Hitler, und wieder mit Bezug auf die damals seiner Meinung nach verspielte Chance, in einer öffentlichen Versammlung unter dem tosenden Beifall seiner Zuhörer ausgerufen: »Kein Volk hätte mehr Anrecht gehabt auf den Begriff Weltherrschaft als das deutsche. Wir hätten das Recht gehabt und keine andere Nation.«Hinweis

Und noch eins drauf: »Das deutsche Volk (hat) vor der Geschichte Proben seines höchsten Wertes mehr als genügend abgelegt. Wäre die politische Führung in Jahrhunderten eine bessere gewesen, müssten wir Deutschen kraft unserer Leistungen sowohl als auch kraft unserer Opfer die Erde beherrschen.«Hinweis

In den zehn Jahren von 1920 bis 1930 hat Hitler immer wieder vom Ziel der Welteroberung geschrieben und gesprochen. Nicht wie von einem präzise entworfenen Fahrplan, wohl aber wie von einem hartnäckig und unbeirrbar beobachteten Fixstern, auf den seine Gedanken, Pläne und Vorstellungen gerichtet sind. Bis hierher wird ein Hitler erkennbar, für den es keine Koexistenz gibt, kein Zusammenleben der Völker, sondern nur Herrschaft über sie. Der Kompass seiner Außenpolitik heißt: Krieg! Und zwar andauernder, permanenter Krieg: »Wir werden zum Angriff schreiten, ganz gleich, ob er 10 oder 100km hinter den heutigen Linien zum Stehen kommen wird. Denn wo auch immer unser Erfolg endet, er wird stets nur der Ausgangspunkt eines neuen Kampfes sein.«Hinweis

Alles Theorie – noch.

Dieser Mann, dessen offen ausgesprochene Horroransprüche ihn von jedem anderen Staatsmann seiner Epoche fundamental und unvergleichbar unterscheiden, wird am 30.Januar 1933 Kanzler des Deutschen Reiches. Er bleibt seiner Rassendogmatik und expansionistischen Außenpolitik treu. Noch in der Nacht des Triumphes kommt er, wie immer endlos monologisierend, auf die eigene Rolle in der Weltpolitik und entwirft wie im Rausch die Vision: Er eröffne den Schlusskampf des weißen Mannes, des Ariers, um die Herrschaft der Erde. Die Nichtarier, die Farbigen, die Mongolen, seien schon im vollen Aufbruch, um unter dem Bolschewismus die Herrschaft an sich zu reißen. Doch mit diesem Tage beginne die größte germanische Rassenrevolution der Weltgeschichte.Hinweis

Hitler verliert keine Zeit. Schon am 3.Februar 1933 konkretisiert er vor den Oberbefehlshabern der Reichswehr die erste Phase seines Programms, die Eroberung des neuen »Lebensraums« im Osten, mit der Perspektive »rücksichtsloser Germanisierung«.Hinweis

Dass es dabei nicht bleiben würde, war klar. Dies war die erste von zahlreichen Reden Hitlers vor deutschen Offizieren, die über die europäische Phase seines Programms hinausweist und mit globalen Herrschaftsansprüchen spielt, noch taktisch, aber unverkennbar. Die Generalität, weitgehend geprägt von den Traditionen des untergegangenen Kaiserreiches und durchaus vertraut mit den Annexionsgelüsten eines wilhelminischen Siegfriedens – diese Militärs müssen erst noch auf weltweite Expansionspläne zugedrängt werden. Bei den Jüngeren stößt Hitler auf kritiklose Gefolgschaft. In seiner Geheimrede vom 23.November 1937 vor dem politischen »Führernachwuchs« auf der Ordensburg Sonthofen im Allgäu, in der er wieder breit das deutsche Missverhältnis zwischen Bevölkerungszahl und nationaler Bodenfläche beschwört, entfällt jede taktische Hemmung: »Wir wollen unser Volk ganz nach vorne führen! Ob sie uns lieben, das ist uns ganz einerlei, wenn sie uns nur respektieren! Ob sie uns hassen, ist uns einerlei, wenn sie uns nur fürchten!«Hinweis

Und vor den Oberbefehlshabern der Wehrmacht am 23.November 1939 in der Reichskanzlei: Es sei ein Rassenkampf ausgebrochen, wer in Europa und damit in der Welt herrschen werde. Und gleich hinterher: »Es muss entschieden werden, wer in Europa dominieren wird – und damit in der Welt … Die Erde ist für den da, der sie sich nimmt.«Hinweis

Hier spricht eine von Hitler viele Male dokumentierte Grundüberzeugung: Wer den Alten Kontinent in der Tasche hat, der hat die Hand auf den ganzen Globus gelegt – ein quasi automatischer Machtmagnetismus, ein unwiderstehlicher Sog der Geschichte, gegen den niemand ankommen würde.

Erst Europa – dann die Welt!

Einblick und Überblick lassen erkennen, dass Hitlers Programm auf einem Stufenplan fußt, einer Konzeption aufeinanderfolgender Eroberungen bis zur Erringung der Weltherrschaft, die in ihren Phasen erstaunlich detailliert ausgearbeitet waren, mit deutscher Gründlichkeit in des Wortes ursprünglicher Bedeutung.

Erste Stufe: Deutschland als europäische Vormacht, in einem blockadefesten, autarken Großraum vom Atlantik bis zum Ural, nach den Siegen über Frankreich und die Sowjetunion. Dieser deutschbeherrschte Kontinentalblock ist das Programm-Fundament, Sprungbrett nach Übersee.

Zweite Stufe: Errichtung eines großen »mittelafrikanischen Ergänzungsraums«, eine riesige Kolonie zwischen dem Südrand der Sahara und dem Sambesi, faktisch die Herrschaft über den gesamten Schwarzen Kontinent; Aufbau einer Überseeflotte mit Basen am Atlantik, der Gegenküste, Voraussetzung für die letzte, die –

Dritte Stufe: den Endkampf der verbliebenen zwei stärksten Weltmächte – Deutschland und die USA – um die Weltherrschaft.

Verkürzt heißt das: Herr über Europa – Herr über Afrika – Herr des »Großgermanischen Weltreiches« über die Erde. Dazwischen bleibt Diffuses, worüber noch zu reden sein wird: Stellung und Schicksal des britischen Empires und Japans.

Bis 1939 sind innen- und außenpolitische Voraussetzungen für die Verwirklichung dieser Pläne geschaffen: Hitlers unangefochtene Führerposition, nach der Ermordung seines störrischen Rivalen Ernst Röhm, Stabschef der SA, am 30.Juni 1934 (wobei gleichzeitig andere unliebsame Widersacher umgebracht wurden, darunter auch der General, Politiker und ehemalige Reichskanzler Kurt von Schleicher, der im Januar 1933 die Regierungsbildung durch Hitler verhindern wollte); der Erlass der Nürnberger Gesetze zum »Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«, die Charta des nationalsozialistischen Antisemitismus; die Ermordung des österreichischen Kanzlers Dr.Engelbert Dollfuß am 25.Juli 1934 durch einheimische, aber von Berlin ferngesteuerte Nazis, der erste Griff Hitlers über die deutschen Grenzen hinaus. Ferner: der Einmarsch deutscher Truppen in die entmilitarisierte Zone des Rheinlands, womit der Versailler Vertrag, ohne Widerstand seiner Urheber, de facto endgültig außer Kraft gesetzt war; die Annexion Österreichs im März 1938; die Einverleibung tschechoslowakischen Territoriums durch das Münchener Abkommen vom 29.September 1938 mit den Signatarmächten Deutschland, Italien, England und Frankreich – die als »Sudetenland« bezeichneten Randgebiete Böhmens und Mährens werden dem inzwischen »Großdeutschen Reich« zugeschlagen; die Nacht vom 9. auf den 10.November 1938, das bis dahin schwerste Pogrom gegen die bereits weitgehend entrechteten Juden im Reich; der Einmarsch deutscher Truppen in die restliche Tschechoslowakei am 15.März 1939. Und nicht zu vergessen: der Kampf aufseiten des faschistischen Generalissimus Franco gegen die rechtmäßige spanische Republik, das große Manöverfeld der deutschen Wehrmacht, vor allem der Luftwaffe, Modell für den künftigen Ernstfall.

Der trat am 1.September 1939 ein, mit dem deutschen Überfall auf Polen, ein ungleicher Kampf, der drei Wochen dauerte – Glacis, Aufmarschraum für das Zentralprojekt der ersten Stufe, den »Lebensraum« im Osten, gegen den verhassten Hauptfeind, die Sowjetunion. Sie hatte eine Woche vorher, am 23.August 1939, mit dem potenziellen Aggressor einen »Nichtangriffspakt« mit Geheimklauseln geschlossen. Es darf wohl als ausgemacht gelten, dass sich Josef Wissarionowitsch Stalin Hitlers »Mein Kampf« nie zu Gemüte geführt hatte …

Diese Unkenntnis kann im Lichte der kommenden Ereignisse als erschreckend bezeichnet werden. Aber das bezieht sich keineswegs nur auf Stalin. Es schließt auch die Staatsmänner der westlichen Demokratien mit ein. Denn was immer sie mit ihrem Appeasement, ihrer Beschwichtigungspolitik, vorhatten, ob es wirkliche Friedensliebe war oder auch der Hintergedanke, die beiden Großdiktaturen der Epoche, Hitlerdeutschland und die Sowjetunion Stalins, aufeinander losgehen zu lassen – es wird sie, die europäischen Westmächte, zuerst treffen.

Allen voran Frankreich.

Zum Etappencharakter eines deutschen Sieges über diesen stärksten westeuropäischen Kontinentalgegner und »Erbfeind« hatte Hitler sich hinlänglich und unverblümt geäußert, und zwar wieder zu einer Zeit, als ihn niemand ernst nahm.

Das Ziel der Außenpolitik liege im Erwerb der notwendigen Scholle für das deutsche Volk, so schrieb Hitler in »Mein Kampf«. Da man dazu aber Kraft benötige, der Todfeind Frankreich jedoch Deutschland unerbittlich würge und die Kraft raube, »haben wir jedes Opfer auf uns zu nehmen, das in seinen Folgen geeignet ist, zu einer Vernichtung der französischen Hegemonialbestrebungen in Europa zu kommen«.Hinweis

Und dann, wenige Seiten weiter, nach dem Bekenntnis, dass sich in der endgültigen Niederwerfung des feindlichen Nachbarn nicht das außenpolitische Ziel erschöpfe, sondern Deutschland sich in diesen Entscheidungskampf mit größten Schlusszielen hineinzuwerfen habe: »… erst dann wird man imstande sein, das an sich so unfruchtbare Ringen zwischen uns und Frankreich zum Abschluss zu bringen; allerdings unter der Voraussetzung, dass Deutschland in der Vernichtung Frankreichs wirklich nur ein Mittel sieht, um danach unserem Volk endlich an anderer Stelle die mögliche Ausdehnung geben zu können.«Hinweis

Die Reihenfolge ist dargelegt.

Am 9.April 1940 wird Dänemark besetzt, Norwegen angegriffen und nach kurzem Kampf ebenfalls okkupiert. Im Zuge der Offensive gegen Frankreich werden Holland, Belgien und Luxemburg überrannt, am 22.Juni wird im Wald von Compiègne der Waffenstillstand unterzeichnet. Der »Erbfeind« wird doppelt gedemütigt, denn an diesem Ort, im Wald von Compiègne, war am 11.November 1918 der Waffenstillstand zwischen Deutschland und der Entente abgeschlossen worden.

Im April 1941 wird die deutsche Wehrmacht auch Herr über Jugoslawien und Griechenland.

Im Frühling jenes Jahres gebietet Deutschland über das Europa von Narvik bis Kreta, von Warschau bis Calais. Es hat sich der Erfüllung der ersten Stufe des Programms, des großen »Germanenzugs nach dem Osten«, in kürzester Frist genähert. Aber: »Wir können Russland nur entgegentreten, wenn wir im Westen frei sind.«Hinweis

Doch Hitler fühlte sich nicht frei, gab es doch, getrennt durch eine breite Wasserstraße, einen unbesiegten Gegner: England!

Sollte Hitler sein Hauptziel, die Niederwerfung der Sowjetunion, sollte er das »Unternehmen Barbarossa« beginnen, ehe er mit dem Inselreich ins Reine gekommen war? Hitlers Verhältnis zum britischen Empire, die Rolle, die er ihm bei der Verwirklichung seines »Endziels« zugedacht hatte, die ganze schwankende Beziehung des Rassenfanatikers zu dem seiner Meinung nach arischsten Nachbarn in Europa – diese Ambivalenz ist es wert, dass ihr im Rahmen der These »Erst Europa, dann die Welt« ein eigenes Kapitel gewidmet wird.

England – die große Illusion

Wie viele Deutsche damals hatte auch Hitler eine zwiespältige Position zu England (er gebrauchte das Wort meist als Sammelbegriff, ohne zu unterscheiden zwischen Großbritannien, dem Vereinigten Königreich, dem Dominium und dem Empire. Das wird hier nicht nur bei den Zitaten unkorrigiert, sondern der Einfachheit halber insgesamt übernommen, soweit es nicht zu sinnentstellenden Irrtümern führt).

Hitlers Verhältnis war sentimental, im Stile rassendogmatischer Sympathien: Das englische Volk sei, natürlich hinter dem deutschen, das arischste der Welt – und Antipathien: Leider jedoch werde es von »jüdischen Dreckschweinen« regiert. Es war, ferner, grundbrutal – feindselige Gefühle erwiesen sich als ununterdrückbar und waren bei Widerstand oder Widerspruch englischerseits jederzeit zu mobilisieren. Und es war funktional, dieses Verhältnis – England und sein Empire hatten einen festen Platz in Hitlers Programm: Deutschland den Rücken freizuhalten bei der Eroberung des »Lebensraums im Osten« – entweder als Bündnispartner oder wenigstens als neutrale Macht. An der dreifaltigen Haltung Hitlers – widerwillige Bewunderung, aggressive Minderwertigkeitskomplexe und eiskaltes Machtkalkül – hat sich in den fünfundzwanzig Jahren seines politischen Wirkens nie etwas geändert, von der ersten Bündnisforderung in »Mein Kampf« an bis zu jenem letzten Versuch eines »Ausgleichs« vom Herbst 1944, von dem noch weiter unten zu sprechen sein wird.

Hitlers ganzes weltstrategisches Konzept baute darauf auf, dass England stillhalten würde, wenn Deutschland sich sein »Recht« im Osten gewaltsam holte – erklärtermaßen nach dem militärischen Triumph über Frankreich. Das war eine Fehleinschätzung sowohl des britischen Nationalcharakters als auch der realen und potenziellen Kräfte- und Bündniskonstellationen in Europa und Übersee, mit letztlich historisch entscheidenden Konsequenzen.

Hier entblößt sich die Kontinuität eines grundsätzlichen Irrtums deutscher Außenpolitik in der Geschichte beider Weltkriege. Sowohl der wilhelminische Imperialismus als auch der viel weitergehende nationalsozialistische Expansionismus hielten es für möglich, dass England die kriegerische Durchsetzung deutscher Herrschaft als kontinentale Hegemonialmacht entweder wohlwollend oder doch Gewehr bei Fuß hinnehmen würde. Beide Reichsführungen glaubten daran, dass die Interessen einer europäischen und also auch Weltmacht Deutschland mit denen des britischen See- und Weltreiches in Übereinstimmung gebracht werden könnten.

Allerdings bestand der Unterschied der Epochen darin, dass die russische Oktoberrevolution des Jahres 1917 eine neue internationale Situation geschaffen hatte. Sowohl in England als auch in dem traditionell mit ihm verbundenen Amerika gab es überaus einflussreiche Kreise, die, mehr aus antibolschewistischen als aus pro-deutschen Motiven, stark mit einem Festlandsschwert Deutschland gegen die Sowjetunion sympathisierten. Bekanntlich blieben sie nicht erfolglos und konnten ihre Sache immerhin bis zur Opferung der tschechoslowakischen Republik 1938/39 treiben. Historisch vermochten sie jedoch nicht zu obsiegen. Die Balance of power, das Gleichgewicht der Kräfte auf dem europäischen Kontinent, blieb die eiserne Regel und die Voraussetzung für den Bestand des Empires.

Im britisch-deutschen Flottenabkommen vom 18.Juni 1935, das die maritime Gesamtstärke Deutschlands gegenüber der Englands auf 35:100, bei der U-Boot-Tonnage auf 45:100 festlegte, scheint Hitler dieses Begehren auch faktisch akzeptiert zu haben. Der Vertrag, immerhin ein Entgegenkommen gegenüber einem militärisch offensichtlich erstarkenden Deutschen Reich, mag in Hitler die Illusion genährt haben, London würde ein übermächtiges Kontinentaldeutschland tolerieren.

Ohne dass der Nationalsozialismus fähig gewesen wäre, eine andere Macht als wirklich gleichberechtigt anzuerkennen, unterscheidet sich sein Verhältnis zu England doch von dem zu allen anderen Staaten der Epoche. Die Sonderstellung im außenpolitischen Koordinatensystem der Nazis ist offenkundig – obwohl das endzielhafte Überwältigungs- und Alleinherrschaftsprinzip selbstverständlich auch immer gegenüber dem britischen Empire galt.

Ein Gesamtüberblick über Hitlers Vorstellungen von Bündnis und Ausgleich mit England lässt keinen Zweifel daran, dass er es als eine von dem blockadefesten und autarken Kontinentalherrscher Deutschland abhängige Macht einstufte, die ihm bei der »Neuordnung Europas« helfen konnte und von deren weltweiten wirtschaftlichen und politischen Möglichkeiten er profitieren wollte.

»Wir suchten Fühlung mit England auf der Basis der Teilung der Welt«, schrieb Franz Halder, bis 1942 Generalstabschef des Heeres, in sein Tagebuch.Hinweis Ein ewiger Frieden war das also nicht, sondern eine vorübergehende Phase, bis das siegreiche Großgermanische Weltreich als stärkste Militär- und Wirtschaftsmacht der Erde dem dann keineswegs mehr gleichberechtigten und ebenbürtigen England die Bedingungen diktieren und der Bündnis-Idylle ein Ende setzen könnte. Dies mit zeitlich sehr weiträumigen Vorstellungen, die bei der Rolle Amerikas in der Stufenfolge von Hitlers Programm noch eingehender behandelt werden sollen …

Der Führer hat von vornherein keinen Hehl daraus gemacht, was er von Verträgen, Bündnissen, Allianzen hielt: »Ein Bündnis, dessen Ziel nicht die Absicht zu einem Krieg umfasst, ist sinn- und wertlos«, lautete einer seiner Glaubensartikel in »Mein Kampf«.Hinweis Er muss übrigens selbst befürchtet haben, jedenfalls nach dem Machtantritt, dass die offene Darlegung seiner Gewaltideen im Ausland Schaden anrichten könnte. Nur so lässt sich erklären, dass der monomane Selbstpropagandist eine vollständige Übersetzung seines Buches in andere Sprachen kraft seines Copyrights zu verhindern suchte. Die von ihm autorisierte englische Fassung war ausgesprochen bruchstückhaft. Aber dann missachtete ein englischer Verleger einfach das Urheberrecht und publizierte »Mein Kampf« wortgetreu.

Unter den Briten, die sich nicht täuschen ließen, befand sich auch der Historiker Sir Robert Ensor. Er erklärte nicht nur immer wieder, dass Hitler Krieg bedeute, sondern prophezeite schon 1935: Im Frühjahr 1938 werde Hitler Österreich annektieren, und im Herbst jenes Jahres stünde Europa dann vor der Wahl, wegen der Tschechoslowakei entweder gegen Deutschland einen Krieg zu beginnen oder vor ihm zu kapitulieren. Später gefragt, worauf seine präzisen Voraussagen fußten, antworte Sir Robert: »In erster Linie auf der Lektüre von ›Mein Kampf‹.«Hinweis

Erkenntnisse wie diese haben sich nicht auf Privatleute beschränkt. Es gab viele Engländer, die sich von Hitlers Bündnis- und Ausgleichs-Sirenen nicht beeindrucken ließen, allen voran ein Staatsmann, der ab 1933 immer markanter als der Widersacher des nationalsozialistischen Deutschlands hervortritt: Winston Churchill! Selbst ein Hardliner, unbluffbar, mit allen politischen Wassern gewaschen, eine große Vergangenheit bereits hinter, eine noch größere Zukunft aber noch vor sich, erkennt er wie kaum ein anderer den Todfeind.

Sein England wird die Phasenfolge der ersten Stufe durcheinanderbringen.

Es war EdwardVIII., König von Großbritannien und Nordirland, Haupt des Commonwealth, der Hitlers Bündnis-Illusionen offensichtlich ermutigt hat. Der Monarch hatte ihm, kurz nach der Krönung im Januar 1936, durch einen Verwandten, den Herzog von Coburg, mitteilen lassen, dass er eine Allianz zwischen Großbritannien und Deutschland für notwendig halte, ja dass daraus ein Militärbündnis werden könne. Er wünsche Hitler deshalb gern zu sprechen, sei es in Deutschland oder auf der Insel.

Tatsächlich kam es dann auch am 22.Oktober 1937 zu einem persönlichen Gespräch auf dem Berghof. Aber da war der hohe Besucher schon nicht mehr König, sondern nur noch Herzog von Windsor. Der Liebe zu Wallis Simpson wegen, einer bürgerlichen Amerikanerin, hatte er dem Thron entsagt. Hitler fand das Motiv zwar völlig unverständlich, den Herzog und seine Frau jedoch sympathisch. Später wird er ihn zum einzigen Engländer erklären, der die politischen Gegebenheiten seiner Zeit erkannt hätte. Der Herzog sei Deutschland so weit entgegengekommen, dass er ihm sogar den Norden Australiens als Kolonie habe abtreten wollen, um dort Deutsche als »idealen Schutzschild« gegen Japan anzusiedeln. Aber dieser Mann sei in England fortgeschickt worden, und statt des Ausgleichs mit Deutschland habe man die Bruderschaft mit den USA gesucht, einem Lande, das gar nicht über die nötige Moral verfüge, den Kampf um die neue Weltordnung zu gewinnen.Hinweis

1937 konnte der entthronte König ihm nicht mehr helfen. So bemühte sich Hitler, private Beziehungen zu hohen britischen Politikern zu knüpfen, darunter auch zu Churchill. Seltsamerweise versuchte er das ausgerechnet über Sir Oswald Mosley, Führer der damals rund neuntausend Mitglieder umfassenden »British Union of Fascists«, was man als eine totale Verkennung des erwünschten Gesprächspartners bezeichnen könnte. Der Zusammenhang bestand darin, dass Mosley 1938 die Schwester von Unity Walkyrie Mitford geheiratet hatte, eine erklärte Hitler-Verehrerin und Nichte von Churchill. Da die Trauung sinnigerweise in München stattgefunden hatte, war das Paar Gast in Hitlers dortiger Privatwohnung gewesen, eine Einladung nicht nur aus politischer Bruderschaft – vielmehr versprach Hitler sich persönliche Kontakte davon zu Churchill. Diese Hoffnungen blieben unerfüllt, zumal auch der Vater von Lady Mitford, Lord Redesdale, die ersehnte Verbindung nicht zustande brachte. Die Zurückweisung durch den Briten aus altem Adel mag dann zu den unflätigen Beschimpfungen beigetragen haben, mit denen Hitler später den Premier und unerbittlichen Gegner bedachte.

Immerhin war 1937 eine Begegnung zwischen Churchill und Joachim von Ribbentrop, damals Botschafter in London, über die weltpolitische Bühne gegangen, an die sich der damalige Parlamentsabgeordnete der Tories, Winston Churchill, so erinnerte:

»Ribbentrop war äußerst höflich; unser Gespräch streifte den ganzen Schauplatz Europas, sowohl was Rüstungen als auch was die Politik betraf. Der Kern seiner Ausführungen war, dass Deutschland die Freundschaft Englands erstrebe … Er meinte, er hätte deutscher Reichsaußenminister werden können, aber er habe Hitler gebeten, ihn nach London gehen zu lassen, um hier für eine deutsch-englische Entente oder gar ein Bündnis einzustehen. Deutschland würde gleichsam die Wache für die Sicherheit des britischen Weltreiches übernehmen, in all seiner Größe und Ausdehnung. Es würde vielleicht die Rückgabe der deutschen Kolonien fordern, aber das sei offensichtlich nicht der entscheidende Punkt. Es sei aber unerlässlich, dass England Deutschland in Osteuropa freie Hand einräume. Deutschland müsse für seine wachsende Bevölkerung Lebensraum haben. Deshalb müssten Danzig und Polen Deutschland einverleibt werden. Weißrussland und die Ukraine seien für die zukünftige Existenz Großdeutschlands mit seinen siebzig Millionen Einwohnern unentbehrlich. Mit weniger könne man sich nicht abfinden. Von der britischen Völkergemeinschaft und dem Empire verlange man nur, dass sie sich nicht einmischten.«Hinweis

Nur … Als Berlin zu erkennen glaubt, dass das Appeasement, die Beschwichtigungspolitik des Kabinetts Chamberlain, über das Münchener Abkommen nicht hinausgehen will, wird die Gangart der deutschen Außenpolitik gegenüber England schärfer, richtet sich hinter der Werbung die Drohung auf, wird die Hitler’sche Ambivalenz sichtbar: »Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt!« Der Führer am 9.Oktober 1938, grollend: »Es würde gut sein, wenn man in Großbritannien allmählich gewisse Allüren der Versailler Epoche ablegen würde. Gouvernantenhafte Bevormundung ertragen wir nicht mehr.«Hinweis

Im März 1939 dann, noch schärfer, die offiziöse »Deutsche diplomatische Information«: England werte alle Abmachungen und Probleme nur vom Blickpunkt der Machtposition aus, fühle sich als Feind jeder Stärkung der deutschen Position und versuche, Deutschland bei der Befriedung und Sicherung seines ihm zustehenden Lebensraumes Schwierigkeiten zu machen. Unter solchen Umständen würde Deutschland allerdings gezwungen sein, seine grundsätzliche Einstellung einer einschneidenden und gründlichen Revision zu unterziehen.Hinweis

Ribbentrop dämmerte es: »England will kein übermächtiges Deutschland in seiner Nähe, das eine ständige Bedrohung seiner Insel wäre. Dafür wird es kämpfen.«Hinweis

Zu diesem Schluss war Hitler, wenn auch äußerst widerstrebend, selbst gekommen, wie dem Protokoll seiner Besprechung mit hohen Offizieren der Wehrmacht vom 23.August 1939 zu entnehmen ist: »Der Führer zweifelt an der Möglichkeit einer friedlichen Auseinandersetzung mit England. Es ist notwendig, sich auf die Auseinandersetzung vorzubereiten. England sieht in unserer Entwicklung die Fundierung einer Hegemonie, die England entkräften würde. England ist daher unser Feind, und die Auseinandersetzung mit England geht auf Leben und Tod.«Hinweis

Die Zuspitzung überrascht eingeweihte britische Kreise nicht. Sie hatten klar erkannt, worauf die Außenpolitik des Dritten Reiches hinauslief, und trauten Hitler über das erklärte Ziel des »Lebensraumes im Osten« hinaus zu, dass Deutschland »die Welthegemonie anstrebt. Das ganze Nazisystem baut auf dem Prinzip ökonomischer und territorialer Expansion auf.« So ein Geheimbericht vom 17.Januar 1939.Hinweis Eine Woche später, am 24.Januar 1939, gelangt eine Denkschrift des War Office bei der Analyse von »Mein Kampf« zu dem gleichen Ergebnis: Hitlers Ziel sei die Welthegemonie.Hinweis

In dieser Ära hoher Kompression auf den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu, häufen sich späte Erkenntnisse britischer Diplomaten. In einem Memorandum des britischen Militärattachés in Paris an Außenminister Lord Halifax vom 1.Februar 1939 findet sich der Hinweis, dass der Konflikt mit den Westmächten zweitrangig sei, da die Auseinandersetzung mit dem Osten Vorrang habe. Hitlers Ziel aber sei die Weltherrschaft.Hinweis

Ein Schreiben des britischen Botschafters in Berlin, Sir Nevile Meyrick Henderson, lässt sowohl das Ausmaß nationalsozialistischer Entwirklichung erkennen als auch den Zweifel des Briefverfassers, dass daraus praktische Außenpolitik erwachsen könne: Das Streben nach Weltherrschaft oder auch nur nach Hegemonie über Zentral- und Osteuropa bedeute den Konflikt mit der ganzen Welt, mindestens mit den europäischen Nachbarländern. Kein noch so mächtiger Staat könne sich gegen eine geschlossene Abwehrfront durchsetzen. Noch bis zum frühen 19.Jahrhundert hätte zwar die europäische Hegemonialmacht das Weltherrschaftsziel anstreben können, im 20.Jahrhundert aber sei eine solche Auffassung ein Anachronismus. Hitler könne sich kaum solchen Hirngespinsten hingeben.Hinweis

Er tat es dennoch. Und beginnt den Kampf im Westen mit dem Überfall auf Polen, der ihm am 2. und 3.September 1939 die Kriegserklärungen Englands und Frankreichs einbringt.

Es gibt zahlreiche persönliche Zeugnisse dafür, dass Hitlers Bündnis- und Ausgleichs-Illusionen auch danach keineswegs erloschen sind.

Immer wieder spielt das nationalsozialistische Rassendogma in sie hinein, immer wieder kommt Hitler auf den arischen Rassekern Englands zurück, von dem er sich pro-deutsche Impulse verspricht. Was ihn nicht daran hindert, die unteren Schichten als Dreck zu beschimpfen, aber nur, um gleich darauf in einer bezeichnenden Mischung von Bewunderung und Minderwertigkeitskomplex die »wunderbare Menschenauslese in den oberen Schichten« zu preisen: Ihnen sähe man eine »tausendjährige Auslese« an, »auch der zähen, drahtigen, aber charmelosen englischen Frau dieser Schicht«.Hinweis Dass England mit 60000 Menschen 300 Millionen Inder leitet, reißt ihn mehrfach zu wahren Begeisterungsstürmen hin.

Schon im Kriege mit ihnen, erklärt er die britische Luftwaffe und Marine zu Repräsentanten des englischen Ariertums, unangefressen von der jüdischen Propaganda. Darauf setzt er Hoffnung: Die jüdische Propaganda müsse die tapferen Männer der britischen Luftwaffe verbittern, da sie auf der einen Seite zu militärisch völlig falschen Maßnahmen hetze, wenn diese dann aber mit hohen Verlusten und ohne Erfolg durchgeführt seien, sie sich andererseits auch nicht scheuen, die Männer der Royal Air Force als Feiglinge zu bezeichnen. Es sei verständlich, dass die Judenpropaganda gegen die besten englischen Kräfte in der Luftwaffe die Flieger langsam aber sicher in das Lager der Antisemiten treibe und sie sich eines Tages fragen lasse, ob es nicht unverantwortlich sei, lediglich der Dreckjuden wegen den Krieg führen zu müssen.

Ebenso wie die Luftwaffe sich von der jüdischen Propaganda nicht zersetzen lasse, da den jüdischen Dreckschweinen dort ein geschlossenes Führerkorps gegenüberstehe, so ließen sich auch die englische Armee und die englische Marine nicht zersetzen. Es sei ganz natürlich, dass gerade die Marine, die von der jüdischen Presse immer wieder in irgendwelche Abenteuer gehetzt und, wenn diese misslängen, getadelt werde, sich eines Tages dafür bedanke, in dem von ihr nicht gewollten Krieg nun den Prügelknaben zu spielen. Er glaube allerdings nicht, dass das Anwachsen der antisemitischen Tendenz bei den konservativen Elementen Englands sich bereits über kurz oder lang auf die Kriegführung auswirken werde.Hinweis

Und dann kommt Hitler auf den großen Widerpart all seiner England-Pläne zu sprechen, auf den Verhinderer seiner Wunschträume, den Zerstörer der Visionen von deutsch-englischer Harmonie, wie sie ihm vorschwebte – auf Winston Churchill. Er ist der Mittelpunkt eines persönlichen Hasses, in dem Untertöne unvergessener Zurückweisung mitschwingen.

Die Engländer sähen in Churchill den einzigen Mann, der für ihre politische Führung geeignet sei, und obschon sie sich seiner negativen Eigenschaften bewusst seien, empfänden sie ihn offenbar als Prototyp ihres eigenen Charakters. Wenn man den Führer der Engländer im Ersten Weltkrieg, den Fanatiker Lloyd George, Churchill gegenüberstelle, komme man nicht an der Feststellung vorbei, dass das Führungsformat in England erschreckend abgerutscht sei. Denn bei einer objektiven Beurteilung sei Churchill doch nichts anderes als eine »ausgemachte Quadratschnauze«, skrupellos, durch nichts in seinem Selbstbewusstsein umzubringen, auch privat kein Gentleman, sondern ein käuflicher Lügner und ein Mann, der sich nicht geniere, in seinen Reden immer wieder denselben Bockmist eines »Schnapssäufers« zu verzapfen … Dieses »charakterlose Schwein« sei 30 Prozent der Tageszeit besoffen.Hinweis

Und immer wieder das Rassendogma: Wenn sich unter den Gefangenen, die kürzlich bei dem englischen Vorstoß auf den deutschen U-Boot-Stützpunkt St.Nazaire gemacht worden seien, eine gewisse Uneinigkeit zeige, so sei das nicht eine Meinungsverschiedenheit zwischen den pro-deutsch und den pro-sowjetisch gesinnten Engländern. Der innere Spaltpilz sei vielmehr in der antisemitischen Richtung zu sehen, das heißt in den Leuten, die die Hintergründe des Krieges durchschaut und trotzdem geschwiegen und mitgemacht hätten. Hier müsse mal die deutsche Propaganda einsetzen.

Und dann, in der Phase höchster deutscher Machtentfaltung über Europa, im Glauben, den Sieg schon sicher in der Tasche zu haben, versteigt Hitler sich zu einer überaus charakteristischen Schlussfolgerung: »Ich bin sicher, das Ende des Krieges ist der Anfang der dauernden Freundschaft mit England. Voraussetzung dafür, dass wir mit ihnen in Ruhe leben, ist der Knock-out-Schlag, den der Engländer von dem erwartet, den er achten soll.«Hinweis

Nach dieser abenteuerlichen Verkennung britischer Mentalität und gleichzeitig unübertrefflichen Selbstentlarvung, was er unter »Freundschaft« verstand, ein letztes Zeugnis, in welcher Rangfolge Hitler dachte: Er hätte den Krieg gegen den Bolschewismus gern mit der englischen Luftwaffe und Marine geführt. Aber die Geschichte gehe ja unerbittlich ihren Gang und richte es immer so ein, dass das Problem des Nebeneinander auch bei Blutsgleichheit so gelöst werde, dass der Stärkere durch Kampf den Schwächeren unter seine Fittiche bringe und ein Dualismus nicht zugelassen würde.Hinweis

Noch im Herbst 1944, als die Träume vom Sieg längst verflogen waren und die alliierten Heere in Ost und West schon die deutschen Grenzen berührten, hofft Hitler auf ein deutsch-britisches Agreement, das angesichts der militärischen Lage gespenstisch anmutet: Deutschland garantiere den Bestand des Empires, wenn England zu einer Stabilisierung der Ostfront auf der Linie Memel–Kaschau unter enger Anlehnung an die Flüsse Narew und Weichsel bereit sei …

Ungeachtet der Frage, wie die Briten, selbst wenn sie gewollt hätten, die Rote Armee in ihrem stürmischen Siegesmarsch auf Berlin zu hätten aufhalten sollen – hier zeigt sich noch einmal die ganze Zählebigkeit der Hitler’schen England-Illusionen.

Das Angebot wurde natürlich abgelehnt, zumal Hitler auf der etwa 730 Kilometer langen Front zwischen die deutschen und die sowjetischen Linien einen Giftgas-Vorhang legen wollte. Nach dem »Tischgespräche«-Kommentar Henry Pickers hat Churchill die Vorschläge nicht nur zurückgewiesen, sondern gedroht, er werde als Gegenmaßnahme die gesamten britischen Giftgasvorräte von 32000 Tonnen Gelbkreuz und Phosgen über 2500 Quadratkilometer deutschen Großstadtraums »abregnen« lassen.Hinweis Ob der persönliche Einschub des Hitler-hörigen Stenografen nun stimmt oder nicht – Tatsache bleibt, dass die Große Illusion England bis ins letzte Stadium des Führer-Daseins nachweisbar ist.

Den vorauseilend unterbrochenen chronologischen Faden wieder aufgenommen: Ende Mai 1940 scheitern die Verhandlungen mit England hinsichtlich eines Ausgleichsfriedens auf der Basis der Teilung der Welt endgültig.Hinweis Acht Wochen später, Ende Juli 1940, fasst Hitler den Entschluss, die Sowjetunion anzugreifen. Das standhaft gebliebene England zwingt ihn, die Phasenfolge der ersten Stufe seines Programms zu vertauschen. Statt zunächst Bündnis- oder Ausgleichsfrieden mit England und danach Eroberung des Ostens heißt es nun: erst Sieg im Osten, um dann, wenn der britische Hoffnungsfaktor Sowjetunion ausgeschaltet sein wird, ein friedensbereites England vorzufinden – für den weitergehenden Stufenplan.

In den folgenden Monaten bis zum Beginn des »Unternehmens Barbarossa« äußert Hitler mehrfach Erwartungen dieser Art: Wenn für England die Hoffnung auf Russland wegfiele, dann fiele auch Amerika weg, weil der Wegfall Russlands eine Aufwertung Japans in Ostasien bedeute. Sei aber Russland erschlagen, dann sei Englands letzte Hoffnung getilgt. Der Herr Europas und des Balkans sei dann Deutschland.Hinweis

In diese Zeit fällt der Flug des Führer-Stellvertreters Rudolf Heß auf die Insel. Nach zwei missglückten und unentdeckt gebliebenen Startversuchen, landet er schließlich am 10.Mai 1941 irgendwo in Schottland. Seine »Mission« war gewiss nicht mit Hitler abgestimmt, und dennoch vertritt Heß, mit Zuckerbrot und Peitsche, nichts anderes als den Traum von einem deutsch-englischen Bündnis: Er kündigt furchtbare Bomberangriffe an (als die Masse der deutschen Luftwaffe schon nach dem Osten verlegt und die »Schlacht um England« an dessen Himmeln längst entschieden war); er prahlt mit den Erfolgen der bis dahin tatsächlich unbesiegten Wehrmacht, beschwört britisch-amerikanische Gegensätze, oder was er dafür hält, und wiederholt die alte Formel: Deutschland garantiere den Bestand des Empires, wenn London ihm freie Hand im Osten lasse.

Rudolf Heß sagte nur die Wahrheit, als er immer wieder erklärte, dies seien auch die Gedanken Adolf Hitlers.

Am 11.August 1939 hatte Hitler den Schweizer Historiker und Völkerbundkommissar für Danzig, Carl Jacob Burckhardt, empfangen. Nachdem er die deutsche Bereitschaft, Seite an Seite mit England gegen den Bolschewismus zu kämpfen, abermals bekräftigt hatte, sagte er, zur ausdrücklichen Weitergabe an die britische Regierung: »Wenn der Westen zu dumm und zu blind ist, um dies zu begreifen, werde ich gezwungen sein, mich mit den Russen zu verständigen, den Westen zu schlagen und dann – nach seiner Niederlage – mich mit meinen gesamten Kräften gegen die Sowjetunion zu wenden.«Hinweis

Die Hälfte dieser düsteren Prophezeiung hatte sich bis Mitte 1941 erfüllt. Hitler hatte sich mit Stalin verständigt, Frankreich war geschlagen und das Europa westlich der sowjetischen Grenze entweder von Deutschland besetzt oder unter seiner übermächtigen Kontrolle. Nur England – England war weder als Bündnispartner gewonnen noch neutral geblieben oder gar besiegt worden.

Als die Sowjetunion in den frühen Morgenstunden des 22.Juni 1941 mit der größten Feuerwalze aller Zeiten und dem stärksten Angriffsheer in der Kriegsgeschichte überfallen wird, ist der Rücken des Aggressors im Westen nicht frei.

Erst Europa, dann die Welt

Zur Niederringung der Sowjetunion waren drei bis vier Monate vorgesehen – in Fortsetzung jener Blitzkrieg-Strategie, die die deutsche Wehrmacht schon so erfolgreich an jeweils weit schwächeren Einzelgegnern in West-, Nord- und Südosteuropa erprobt hatte.

Wie sehr man sich des Sieges sicher wähnte, geht aus einem Dokument hervor, das bereits am 11.Juni 1941, also elf Tage vor dem Überfall, abgefasst und den Oberkommandos der drei Wehrmachtteile zugeleitet worden war – die »Weisung Nr.32«. Darin hieß es einleitend: Nach Zerschlagung der sowjetrussischen Wehrmacht würden Deutschland und Italien das europäische Festland militärisch beherrschen, vorläufig noch ohne die Iberische Halbinsel. Irgendeine ernsthafte Gefährdung des europäischen Raumes zu Lande bestehe dann nicht mehr.Hinweis

Tatsächlich wurden nach dem Überfall, auf den die Stalin’sche Führung unbegreiflicherweise nicht vorbereitet war, an einer Tausende Kilometer langen Front unter den Hammerschlägen der modern ausgerüsteten deutschen Angriffsverbände in wenigen Monaten des Sommers 1941 ganze Heeresgruppen der Roten Armee vernichtet oder gefangen genommen – Millionen, von denen die Mehrheit bis April 1942 umgekommen sein wird. Besetzt werden gewaltige Territorien der westlichen Sowjetunion, die deutschen Linien bis vor Murmansk, Moskau und über die Krim hinaus vorgetrieben.

Schon Mitte Juli 1941, also keine vier Wochen nach dem 22.Juni, gibt von Ribbentrop in einem Schreiben an den deutschen Botschafter in Tokio seiner Überzeugung Ausdruck, Deutschland und sein Bundesgenosse Japan würden sich noch vor Einbruch des Winters auf der Transsibirischen Bahn die Hände reichen:

»Mit dem Zusammenbruch Russlands aber wird die Position der Dreierpaktstaaten (Deutschland, Italien und Japan, R.